Björnstjerne Björnson
Absalons Haar
Björnstjerne Björnson

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

Harald Kaas war sechzig Jahre alt geworden. Er lebte nicht mehr, unbekümmert um alle Kritik, sein flottes Junggesellenleben. Im Sommer sah man seine Lustyacht nicht mehr an der Küste; seine Winterreisen nach England und dem Süden hatten aufgehört: ja, er kam selten nach seinem Klub in Christiania.

Seine Riesengestalt nahm sich im Thürrahmen nicht mehr groß aus wie in alten Tagen; er hatte abgenommen. Säbelbeinig war er immer gewesen, aber der Winkel war größer geworden. Die Herkulesbiegung des Rückens war jetzt auch runder; er ging gebückt. Seine Stirn war eine der breitesten gewesen; keines anderen Hut paßte zu seinem Kopf. Jetzt war sie zugleich eine der höchsten; er hatte nämlich nicht mehr Haar übrig als einen kleinen Rest an den Ohren und einen leichten Kranz im Nacken. Jetzt hielt er das Schnapsglas am liebsten mit beiden Händen; sie zitterten. Selbst die kleinen, starken, tabakgeschwärzten Zähne fingen an auszufallen. Sollte er sagen: sackerlot, so sagte er: schackerlot. Die Hände hatte er immer halb geschlossen gehalten, als faßten sie etwas; jetzt krümmten sie sich; er konnte sie nicht mehr ganz ausstrecken. Den kleinen Finger der linken Hand hatte ein Hüne, den Harald Kaas auf den Boden legte, in seiner Dankbarkeit abgebissen. Kaas erzählte, wie er den Burschen gezwungen, ihn auch gleich zu verschlingen. Jetzt saß Kaas gern da und liebkoste den Stumpf. Oft war das die Einleitung zu einer Erzählung seiner Abenteuer, die länger und länger wurde, je mehr er alterte und still saß.

Seine kleinen lauernden Augen saßen tief im Kopf und sahen einen fest an. In seiner Persönlichkeit lag Kraft, und kluger Verstand in seinem Schädel; auch besaß er ein hervorragendes mechanisches Talent. Seine unverrückbare Selbstbewunderung war nicht ohne Größe, und der Nachdruck, mit dem sein Leib und Geist auftraten, machte ihn zu einem der Originale des Landes. Weshalb wurde er nicht mehr?

Er wohnte auf seinem Gut Helleberge; längs der Küste hatte er große Wälder und Pachthöfe den Fluß entlang.

Einmal gehörte es dem Geschlecht der Kurte und war insoweit ihnen wieder zugefallen, als alle wußten, daß Haralds Vater kein Kaas, sondern ein Kurt war. Er hatte das Besitztum wieder gesammelt; wie und mit welchen Mitteln – darüber könnte ein Buch geschrieben werden.

Das Hauptgebäude sah auf eine inselumkränzte Bucht; weiter draußen lagen noch mehr Inseln und das Meer. Ein ungemein langer Bau, auf einer alten riesigen Mauer neu aufgeführt, der östliche Flügel nur halb eingerichtet, der westliche Harald Kaas' Wohnung; hier lebte er sein Sonderlingsleben. Beide Flügel wurden durch zwei eingebaute Söller vereinigt, der eine lag über dem anderen, mit Treppen an beiden Enden. Merkwürdigerweise lagen die Söller nicht nach Süden, dem Meere zu, sondern nach Norden, gegen die Felder und Wälder.

Zwischen den beiden Flügeln des Hauses war immer ein neutrales Gebiet, nämlich unten ein großer Speisesaal, oben ein großer Tanzsaal; in den letzten Jahren war keiner von ihnen benutzt worden.

Harald Kaas' Wohnung signalisierte von außen ein gewaltiger Elentierkopf mit ungeheurem Geweih, der über dem Söller festgenagelt war. Im Söller selbst hingen mehrere Bären-, Wolf-, Fuchs- und Luchsköpfe, dazu ausgestopfte Vögel von Land und See. Die Wände des Vorzimmers waren mit Fellen und Gewehren behangen und auch die Stuben lagen voller Felle und rochen stark nach Wild und Tabaksrauch; er selber nannte es Mausgeruch. Niemand vergaß ihn, der ihn einmal gerochen hatte. Kostbare, feine Felle an den Wänden, die Fußböden mit Fellen bedeckt; selbst das Bett bestand aus lauter Fellen; Harald Kaas lag und saß und ging auf Fellen, und alle diese Felle waren willkommene Gesprächsthemen, da er selber jedes Tier geschossen und abgezogen hatte. Freilich meinten einige, die meisten Felle wären bei Brandt & Co. in Bergen getauft und nur die Erzählungen zu Hause geschossen und abgezogen. Das halte ich meinesteils für Übertreibung. Aber sei dem wie ihm wolle, der Eindruck war doch gewaltig, wenn Harald Kaas in seinem Holzstuhl am Herde saß, die Füße auf Bärenfellen, und sein Hemd öffnete, um uns die Narben auf seiner behaarten Brust zu zeigen. Was waren das für Narben? Narben von Bärenzähnen; von damals, als Harald Kaas dem Untiere sein Messer bis an den Schaft ins Herz stieß, Alle die seltenen Gefäße, Schränke und geschnitzten Stühle hörten die Erzählung in gewohnter Ruhe an.

Harald Kaas war sechzig Jahre alt, als er eines Tages im Juli mit vier Damen in die Bucht gefahren kam, die er vom Dampfschiff abgeholt hatte: sie wollten bis in den August bei ihm bleiben. Eine ältere Dame und drei junge, alles Verwandte von ihm; sie sollten oben wohnen. Dort hörten sie ihn unten auf und ab gehen und brummen und waren anfangs nicht wenig furchtsam. Drei von ihnen hatten auch seine Einladung nicht ohne Bedenken angenommen, und diese Bedenken wurden nicht geringer, als sie am nächsten Morgen Kaas ruhig splitternackt vom Meer heraufsteigen sahen. Sie schrien und drängten sich in ihren Nachtgewändern aneinander, um wegen sofortiger Abreise zu beratschlagen. Als aber die eine sagte: »Du hättest uns nicht rufen sollen, Tante, dann hätten wir es nicht gesehen« – da mußten sie alle lachen, und damit war die Sache abgemacht.

Beim Frühstück verhielten sie sich zwar etwas reserviert; als aber Harald Kaas ihnen von seiner alten schwarzen Stute erzählte, die in einen jungen braunen Hengst des Propstes verliebt war und sich wütend gebärdete, wenn sich ein anderer an sie machte, dagegen ihren Kopf schmeichelnd seitwärts hielt und wie ein feines Fräulein grüßte, sobald der Hengst des Propstes laut wiehernd ankam – – nun ja, da nahmen die Damen es ruhig hin; hatten sie sich einmal aus Neugier hierher verirrt, so mußten sie auch die »Natur« ertragen. Aber trotzdem fürchteten sie in der nächsten Nacht für ihr Leben; er schoß gerade unter ihren Fenstern. Die Tante behauptete sogar, er habe durch ihr offenes Fenster hinein geschossen. Sie schrie laut auf, und die anderen fuhren aus dem Schlafe auf und standen mitten in der Stube, bevor sie sich dessen selber bewußt waren. Dann lagen sie in den Fenstern und spähten hinaus, trotzdem die Tante versicherte, sie würden geschossen werden. Sie mußten doch sehen, was los war. Ja, dort zwischen den Kirsch- und Apfelbäumen sahen sie ihn nach einer Weile umhergehen und hörten ihn fluchen. Aufs äußerste erschrocken flüchteten alle wieder ins Bett. Am nächsten Morgen hörten sie, daß er mit Schrot auf nächtliche Freier geschossen habe; der eine hätte eine halbe Ladung in die Waden bekommen, das wäre dem Burschen ganz gesund. Nicht deswegen, weil einer auf die Freite gehe, aber deswegen, weil er es hier thue. »Denn was hier auf dem Gute nötig ist, besorgen wir schon allein.« Die vier Damen saßen wie vier frisch angezündete Stearinlichte in einem Kirchenleuchter – bis eine aufsprang und heulte. Dann heulten sie allesamt.

Die vier Damen langweilten sich nicht. Dazu war Harald Kaas allzu reich an Unglaublichkeiten. Dann war auch Stimmung in den großen Wäldern, die nicht ausgeholzt waren, nachdem Harald Kaas das Gut übernommen hatte. Weiterhin gab es herrliche Spaziergänge den Fluß entlang und Fische im Fluß. Sie badeten, sie unternahmen amüsante Fahrten im Kutter und fuhren in die Kirchspiele der Umgegend, trotzdem die Wagen nicht von der neuesten Konstruktion waren.

Die jüngste der Damen, Kirsten Raon, fing an, nicht mehr mitzuthun. Sie hatte eine Leidenschaft für den östlichen, noch unfertigen Flügel bekommen; dort verbrachte sie lange Stunden vor offenen Fenstern. Dort standen die Bäume, große Linden, unbeschnitten und mystisch. »Hier sollten Sie nach dem Meere hin einen Altan bauen,« sagte sie zu Kaas, »sehen Sie, wie das Meer unter den Linden hindurchglänzt!« Worauf sie einmal verfallen war, das gab sie nicht auf, und als sie das vierte oder fünfte Mal damit kam, versprach er es zu thun. Aber kaum war er fertig, so kam mehr. »Unter dem ersten Altan muß unten ein noch breiterer Altan sein,« sagte sie mit ihrer zarten Stimme. »Und der muß auf jeder Seite eine Treppe nach dem Rasen haben, der Rasen ist gerade hier so herrlich.« Schon die unerhörte Dreistigkeit, so etwas von ihm zu verlangen, imponierte ihm. Über kurz und lang gab er ihr auch hierin nach.

»Die Zimmer müssen hergerichtet werden« befahl sie, und zwar ernst. »Das nach dem Altan, der hier unten her kommen soll, muß mit poliertem Kiefernholz hergerichtet werden und der Boden gebohnt sein.« Sie streckte ihre lange feine Hand aus und zeigte. »Alle Fußböden müssen gebohnt werden. Für das Zimmer oben werden Sie eine Zeichnung von mir bekommen. Ich hab' es genau durchdacht« – und ihre großen verwunderten Äugen tapezierten die Wände, stellten die Möbel auf und hängten die Gardinen auf in merkwürdigen Mustern. »Ich weiß auch, wie die anderen Räume eingerichtet werden müssen.« fügte sie hinzu, ging hinein und hielt sich in jedem eine Weile auf. Er folgte wie ein altes Pferd dem Zügel. Es war noch nicht die Hälfte der Zeit vergangen, welche die vier Damen bei ihm zuzubringen gedachten, da vernachlässigte er schon mit größter Gemütsruhe die drei anderen.

Wenn sie kam, strahlten seine alten Augen in heller Bewunderung; er suchte die Augen der anderen, um ihre Bewunderung als Zugabe zu der seinen zu erhalten; er ging, um sie herum wie ein alter Photographie-Apparat. der sich selbst aufstellen kann. Nachdem sie eines Tages ein französisches Lehrbuch der Mechanik aus seinem Bücherschrank genommen hatte und es nicht nur verstand, sondern sogar erklärte, für Mechanik habe sie eigentlich die größte Anlage, da war es ganz mit ihm vorbei. So oft sie nach diesem Tage nur zum Vorschein kam, stellte er sich in den Hintergrund als sprechende und handelnde Person. Sobald sie am Morgen in einer ihrer originellen Morgentoiletten erschien, lachte er still für sich, oder er starrte, starrte und sah auf die anderen. Sie sprach nicht viel; aber jedes Wort, das sie sagte, erweckte seine Bewunderung. Am allermeisten war er bezaubert, wenn sie still dasaß und sich um niemand bekümmerte; da glich er einem alten Papagei der in der Erwartung von einem Stück Zucker seinen Kopf seitwärts neigt. Sein Leinen war immer kreideweiß; sonst dachte er nicht viel an seine Toilette. Jetzt ging er in einem rohseidenen Rock, den er sich einmal in Algier gekauft, aber gleich wieder weggehängt hatte, da er ihm zu eng war. Darin sah er aus wie eine verschnittene Buchsbaumhecke.

Wer war nun diese Löwenbändigerin von einundzwanzig Jahren, die, ohne im geringsten es zu wollen, ja, ohne besonders viel aus sich zu machen (sie war nämlich die stillste von allen) das stärkste Tier des Waldes zwang, sich vor ihr in den Sand zu legen und sie in verlorener Demut anzugaffen?

Betrachte sie, wie sie jetzt dasitzt mit ihrem offenen, glänzenden, herrlich dunkelroten Haar; beachte ihre breite Stirn und hohe Nase, aber besonders ihre großen verwunderten Augen! Betrachte ihren Hals und seine Fortsetzung; verfolge den langen Leib und seinen schlanken Wuchs. Betrachte ihr Renaissancekleid genau, seine Form und Farbe, und du wirst neugierig; denn sie hat etwas besonderes an sich.

Kirsten Raon verlor ihre Mutter am Tage ihrer Geburt und ihren Vater, als sie fünf Jahre alt war. Er hinterließ ihr ein anständiges Vermögen in Schuldscheinen unter der ausdrücklichen Bedingung, daß das Kapital nicht angetastet und nur die Renten von ihr gebraucht würden, ob sie sich nun verheiratete oder nicht. Er meinte so ihren Charakter zu bestimmen. Sie wurde in drei verschiedenen Zweigen der großen Familie erzogen – die eher ein Volksstamm genannt werden konnte, da ihr gemeinsames Zeichen nur das Bedürfnis war, seine eigenen Wege zu gehen. Wo zwei Raone zusammenkommen, da sind sie in der Regel in allem was sie sprechen uneinig; aber wie gesagt, sie halten unwiderruflich zusammen.

Kirsten war ein rezeptives Talent; sie las alles und erinnerte sich an alles; das heißt, sie war ein logischer Kopf; denn sich erinnern heißt ja ordnen. Folglich war sie Nummer Eins in allem, was sie anfing; dieser Umstand und der, daß, sie bei anderen war, die mit ihr ein wenig spekulierten und daher ihr schmeichelten, dies war ebenso bestimmend für ihr Wesen wie für ihr Geld. Sie war nicht im geringsten hochmütig; das lag nicht im Wesen der Raone; aber, zehn Jahre alt, wollte sie nicht mehr spielen, ging in den Wald und dichtete Heldenlieder. Zwölf Jahre alt, wollte sie nur in Seide gehen, und trotz einer Tante mit Locken und Spitzen setzte sie es durch. Sie war schlank und zierlich in ihrer Seide und immer Nummer Eins. Sie machte Verse über Ritter Aage und Jungfrau Else, über Vögel und Blumen und viel Herzeleid. Als sie in den Kreis der Erwachsenen getreten war, wo andere Mädchen, die die Mittel dazu haben Seide tragen, hörte sie damit auf. Des Glatten und Glänzenden war sie nun überdrüssig, ja, sie schwärmte jetzt für feine Wolle und teuern Sammet in allen Farben; Anzüge im Renaissancestil wurden ihre Lieblingskleider und Stoff für ihr Studium. Auf der Brust schnitt sie sie aus wie auf Leonardos und Raphaels Portraits und bemühte sich auch auf andere Weise ihnen zu gleichen. Sie schrieb nicht mehr Verse, sondern Erzählungen, streng stilisiert und mit Sinn für die Sprache, aber alles andere, nur nicht unmittelbar. Sie waren kurz, mit einer mehr oder weniger klaren Pointe. Erzählungen einer achtzehnjährigen Dame pflegen nicht Aufsehen zu erregen; aber diese waren besonders kühn. Ihr einziges Ziel war augenscheinlich das, anzustoßen. Sie zeichnete nicht mit ihrem Namen, sondern mit »Pus«; indessen war es zu verlockend, zu erzählen, daß der Verfasser, der in einer Zeit wo alle Verfasser anstoßen wollten, es mit der größten Gemütsruhe that, eine achtzehnjährige fein erzogene Dame aus der besten Familie des Landes war. Bald wußten alle, daß Pus die mit dem freien roten Haar war, die hohe Renaissancedame mit dem Tizianhaar. Das Haar war sehr dicht, leicht gelockt und glänzend; es lag frei über Schultern und Brust, eine Mode, die sie von Kind auf beibehalten hatte. Die Augen sahen gleichsam alles zum erstenmal und waren groß; aber der untere Teil des Gesichts ließ die breite Anlage nach oben etwas im Stich. Die Kinnbacken traten zurück, die hohe Nase machte den Mund kleiner als er war, und das Kinn existierte fast nur als ein Hinweis auf einen Teil weiter unten, und dieser andere Teil gab wieder einen zärtlichen Hinweis auf den Hals, besonders wenn sie den Hals vornüber beugte, was sie gewöhnlich that. Diesen doppelten Hinweis verdiente der Hals auch, er war fein von Farbe, edel und rund in der Zeichnung und prächtig mit der Büste verbunden; deshalb wagte sie auch nicht, die beiden zu trennen, sondern ging mit bloßer Oberbrust; denn auch diese war weiß und hoch gewölbt. Der oberste Rand des Kleides schloß ab wie angegossen, etwas, worauf sie genau achtete. Die Brüste lagen tief und traten nicht hervor; aber ihre feste Form, die schlanke Mitte darunter, die nicht starken Hüften in dem straff anliegenden Kleid, ihre Haltung, der runde Arm, die lange Hand machten sie so elegant und eigentümlich, daß man mehr als sehen, daß man studieren mußte. Zog man allen Schmuck und die Feinheiten des Kleides in Betracht, dann verstand man, wie viel Intelligenz und künstlerischer Sinn hier aufgewandt war.

Im Verkehr war sie freundlich, schlicht und still, immer mit etwas beschäftigt, beständig mit verwunderten Augen. Die diskreten und wohlerwogenen Worte, die sie sprach, waren nie zahlreich; dies und ihr ganzes Wesen waren der Grund, daß die Leute sich nicht recht an sie heranwagten. Besonders die, die wußten, wie klug die junge Dame war und welches Wissen sie besaß.

Freundinnen hatte sie eigentlich keine, aber die große Familie sorgte stets für Verkehr, Freundschaft, Schmeichelei und Lust; – sie mußte ins Ausland, um allein zu sein. Sie war die Prinzessin der Familie; man huldigte ihr nicht nur, man wollte sie auch um alles in der Welt verheiraten, was ihr absolut zuwider war. Von ihren Renten hatte sie von Kind auf eine bedeutende Summe zurückgelegt – aber lange nicht so viel, als die Familie behauptete. Die Sage von diesem Reichtum trug nicht wenig dazu bei, daß alle in sie verliebt waren, nicht allein die Junggesellen der Familie, das verstand sich von selber, sondern es umschwärmten sie auch Künstler und Kunstliebhaber, besonders die blasierten – la jeunesse dorée« (die in Norwegen dürftig genug ist) ohne Ausnahme.

Ein lebendes Kunstwerk von so und so hohem Preis, bewundert, pikant – sie wollten es in ihr Heim tragen und in ihrem Hause genießen. Bei ihr mußte sich eine reichere Intensität finden als bei einer anderen, ein diskretes Sich-hinein-verbergen in einen einzigen – der unerreichbare Traum der Lebensmüden. Mit ihr konnten sie ein bis zum äußersten stilvolles Leben führen in Kunst, Geschmack. Bequemlichkeit; ihre Bildung war ja die feinste und so völlig frei . . . unser kleines Land besaß in diesen Tagen kein appetitlicheres Ziel. Wenn sie sie sahen, wußten sie nicht, was sie thun sollten oder wie sie sich zeigen sollten, im Profil oder in ganzer Stellung, ob sie lächeln oder ernst drein sehen, sprechen oder schweigen sollten. Ich habe einmal eine hohe Hündin gesehen und um sie herum eine Anzahl kleiner Hunde, von denen keiner groß genug war. Weshalb hat kein Maler diesen komischen Stoff behandelt? Sie sehnsuchtsvoll dahineilend wie eine kranke Ballade, ohne zu finden –! Diese sehnsuchtsvoll mitkeuchend, trunken von Geruch und Lust, bald in rasendem Kampf, ohne irgend welchen Nutzen, nur zu vermehrter Qual.

Das Bild stimmt nicht, aber es ist absichtlich gewählt. Was diese Freier in ihre Erzählungen hineinlegten, in ihre eigentümliche Kleidung, ihre verwunderten Augen und ihre stille Träumerei, war nicht das allerfeinste; damit vermehrten sie ihre Hoffnung und ihre Energie. Aber nun denke man sich ihre grenzenlose Enttäuschung, als es im Herbste hieß, daß – Fräulein Kirsten Raon mit Harald Kaas verheiratet war.

Man lachte laut auf vor Raserei, man höhnte, man schrie. Die einen hatten keine andere Erklärung, als daß dieser kahlköpfige Riese gewagt, was die anderen sich nicht getraut hatten.

Andere dagegen, die sie kannten und vor ihr die größte Achtung hatten, waren nicht weniger entsetzt. Sie waren mehr als enttäuscht, das Wort ist zu mild; viele trauerten geradezu. Wie in aller Welt war das gekommen! Auf Kirsten Raons unabhängige Stellung, ihren starken Charakter, ihren seltenen Mut, ihr Wissen, ihre Begabung und Energie hatten viele, besonders Frauen, eine Zukunft auch für die Frauensache gebaut; sie hatte ja bereits rücksichtslos dafür geschrieben. Ihr Hang zur Originalität und zu Paradoxen mußte ja, dachten sie, verschwinden, wenn der Kampf sie in die vordere Reihe stellte; schließlich mußte sie eine der ersten Vorkämpferinnen der Sache werden. Das Edle und Freie war stark in Kirsten und würde schließlich die Oberhand bekommen.

Aber jetzt –?

Die wenigen, die Handlungen mehr zu erklären als zu beurteilen suchen, fanden – wenigstens einige – daß der Trotz ihrer Erzählungen und ihre Oppositionslust im ganzen recht wohl auf eine Eitelkeit hinwiesen, die auf Abwege führen konnte. Andere behaupteten, sie wäre wesentlich eine romantische Natur, die durchgehend die eigenen Kräfte und die Lebensbedingungen überschätzte. Wieder andere hatten gehört, die beiden Eheleute lebten ein jedes in seinem Flügel, mit seiner Dienerschaft und von seinem Vermögen; weiterhin, daß sie gerade jetzt den Flügel auf eigene Kosten nach ihrem Herzen einrichtete und so vermutlich eine neue Art Ehe zu gründen gedachte. Aber einige behaupteten auch, daß nur die großen Linden am östlichen Flügel von Helleberges großem Wohnhaus an der Ehe schuld seien. Sie rauschten so eigentümlich am Sommerabend, diese Bäume, und das Meer unter ihren Zweigen erzählte berückende Märchen. Viel mehr als der Mann Harald Kaas waren für sie die alten Wälder; es stehen ja kaum sonst noch welche im armen Norwegen, Ihre Phantasie, sagten sie, hing an den Bäumen fest; da kam Harald Kaas und nahm sie. Die Gegend, den Hof, das Klima, die freie Stellung in ihrem eigenen Flügel, das hatte sie gewählt. Kaas war eine Art Kobold, den sie hatte mit dazu nehmen müssen.

Aber es war zweifelhaft, ob diese Vermutung richtiger war als die anderen; man kam niemals dahinter. Sie gehörte nicht zu denen, die man gern fragte oder die dann antworteten.

Alles Rätselraten, selbst das interessanteste, bekommen die Leute auf die Dauer satt. Schließlich wollte man ihren Namen nicht mehr hören – als sie vier Monate nach der Hochzeit im Parkett des Christianiaer Theaters saß, ganz wie in alten Tagen, nur etwas bleicher. Alle Operngucker waren auf ihr rotes Haar und ihre breite Stirn gerichtet. Sie verbarg sich nicht hinter dem Fächer; sie strahlte in heller, fast weißer Tracht, viereckig ausgeschnitten wie immer. Sie sah sich mit den verwunderten Augen um. als hätte sie gar nicht gewußt, daß auch andere im Theater wären, oder daß es jemand einfallen könnte, sie anzusehen. Selbst die rasendsten von diesen Aufdringlichen mußten doch einräumen, daß sie geistig und körperlich einzig war und bezaubernd in ihrer Art.

Aber als sie eben wieder in aller Munde war, verschwand sie. Später hörte man. daß ihr Mann ihr in die Stadt nachgereist wäre, trotzdem fast niemand ihn gesehen hatte. Man vermutete, daß sich die ersten Wolken am Ehehimmel gezeigt hatten.

Wirkliche Klarheit über ihr Eheleben bekam man niemals. Die Versuche der Verwandten, dahinter zu kommen, mißglückten vollständig. Nur so viel stand außer Frage, daß sie guter Hoffnung war. Mit größter Sorgfalt hatte sie auch das zu verheimlichen gesucht.

Es kam keine Anzeige und kein Brief; aber im nächsten Sommer schob sie einen Kinderwagen durch die Hauptstraße von Christiania mit so verwunderten Augen, als hätte ihr ihn jemand in die Hände gedrückt. Sie war jetzt frischer und schöner denn je. Im Wagen lag ein Junge mit ihrer breiten Stirn und ihrem roten Haar, reizend angekleidet und ebenso wie der Wagen mit so viel Phantasie ausgeputzt und so im Einklang mit ihr selber, daß alle die Antwort verstanden, die sie gab, wenn Bekannte sie grüßten und nach den hergebrachten Glückwünschen fragten: »Bekommen wir nicht bald wieder eine Erzählung von Ihnen?« – »Eine neue Erzählung? Hier ist sie!« –

Aber trotz dem absoluten Glück, das sie auf der Straße zeigte – es konnte nicht länger unbemerkt bleiben, daß sie mehr von Helleberge fern als zu Hause war, und daß sie niemals ihres Mannes Namen nannte. Versuchte jemand ein Gespräch über ihn in Gang zu bringen, so ging sie niemals darauf ein.

Bald wurde es sogar offenkundig, daß sie Helleberge zu verlassen beabsichtige. Damals war der Junge etwa ein Jahr alt. Sie hatte in Christiania für längere Zeit gemietet und reiste nach Hause, um ihre Anordnungen zu treffen; sie sagte selber, in einigen Tagen würde sie wiederkommen.

Aber sie kam niemals wieder.

Am Tage nach ihrer Rückkehr, als die vielen Diener von Helleberge, die Kätner, ihre Weiber und Kinder sich auf dem Hofe versammelten – es war die Zeit der Kartoffelernte – da kam Harald Kaas und schleppte sie wie ein Paket unter dem linken Arm. Er kam bedächtig mit ihr gegangen; in der rechten Hand hielt er ein Bund langer, frischer Birkenreiser. Ein Stück vor dem Söller machte er Halt. Indem er sie auf sein linkes Knie legte, begann er sie auf ihren bloßen Körper zu schlagen, bis er blutig wurde.

Sie gab keinen Laut von sich. Als er sie frei gab, ordnete sie zitternd zuerst ihr Haar. Sie zeigte dabei ihr Gesicht, wie eben das Blut daraus zurückwich; es war so bleich, so bleich, die Thränen rannen vor Schmerz und Scham – aber kein Laut. Sie ordnete ihr Kleid, aber die Unterkleider schleppten zerrissen hinterdrein, als sie langsam ins Haus ging. Sie schloß die Thür hinter sich, mußte sie aber noch einmal öffnen; die Unterkleider hingen fest.

Die Frauen standen entsetzt; ein paar Kinder schrien vor Schreck, sie steckten die anderen an und schluchzten im Chor. Die Männer, die sich größtenteils niedergesetzt hatten, um ihre Pfeife zu rauchen, waren wieder aufgesprungen. Erbittert standen sie da.

Harald Kaas war zu der Handlung nicht ohne starke Qualen geschritten! das zeigte sein Gesicht und sein Wesen seit langer Zeit –und auch jetzt; aber er hatte ein schallendes Lachen für seine seltsame That erwartet, Das ging deutlich hervor aus der grandiosen, ruhigen Art. wie er mit ihr gegangen kam, und noch mehr aus den rachefreudigen Augen, mit denen er nach der That um sich blickte.

Aber erst Totenstille, dann Weinen, dann Schluchzen, dann Erbitterung – er stand eine Weile und ließ es über sich ergehen. Dann ging er ins Haus wie ein geschlagener, unwiderruflich besiegter Mann. In allen Zusammenstößen mit dieser feinen Gestalt hatte der Riese verloren.

Aber sie verließ den Hof seitdem nie wieder. Sie zeigte sich in den ersten Jahren vor niemand außerhalb des Hofes und kaum vor jemand auf dem Hofe.

Man sah sie entweder, wie sie ihren Jungen ausfuhr oder späterhin an der Hand führte, oder allein, und dann in der Regel in einen großen Shawl gehüllt, je nach ihrer Kleidung verschieden. Sie hielt das Tuch fest um sich. Es war für sie so charakteristisch, daß ich heute noch die Leute davon reden höre, als wäre sie nie anders gesehen worden.

Was trieb sie nun? Sie studierte. Die Litteratur gab sie aus, sie war ihr aus irgend einem Grunde widerwärtig geworden. Sie häutete sich geistig, indem sie sich ganz der Mathematik hingab, der Mechanik, Chemie und Physik, Berechnungen und Analysen anstellte und sich für ihre Zwecke Bücher verschaffte.

Die Leute auf dem Hofe betrachteten sie fast wie ein übernatürliches Wesen; vom ersten Augenblick an hatten sie ihre Schönheit und Feinheit bewundert; so etwas bewundern alle, nur der Grad und die Art ist verschieden. Bald wurde sie ihnen ein Wesen, das über ihre Begriffe hinaus lebte und dachte. Sie suchte niemand von ihnen; aber wer zu ihr kam, erhielt Hilfe ohne Ausnahme – mehr oder weniger. Sie verschaffte sich guten Bescheid; sie hintergingen sie nicht. Gab sie viel oder nichts – es geschah nie auf Bedingungen, niemals mit einer Rede. Ihre Meinung lag in der Summe ausgedrückt.

Das Verhältnis des Mannes zu ihr war derart, daß sie nicht hätte dort bleiben können, wenn sie nicht beliebt gewesen wäre. Er bereitete ihr nämlich so viel Verdruß und leistete so viel Widerstand, als er nur vermochte; aber die Leute wehrten das ab.

Konnte der Junge nicht ein Bindeglied werden? Einige behaupteten gerade, daß erst seit Geburt des Kindes das Verhältnis der Eltern sich verschlechtert habe. Als ihn der Vater zum erstenmal sah, kam er, wie die Hebamme bemerkte, wie ein Magnat und ging wie ein Bettler; – die Wöchnerin lachte, und das hatte die Hebamme noch keine Wöchnerin thun sehen.

Hatte er erwartet, daß der Junge niemand anderem als ihm gleichen könnte – und nun sah er das Ebenbild der Mutter?

Sobald der Junge gehen konnte, ging er gern zum Vater hinüber; denn bei ihm gab es viel Seltsames zu sehen, und der Vater nahm ihn freundlich auf. Er unterhielt sich mit ihm und freute sich über seinen Verstand. Nur verschnitt er ihm gern das Haar; die Mutter ließ es frei und lang wie ihr eigenes wachsen, und der Vater verschnitt es. Dem Jungen gefiel es, daß er's los wurde; aber als er etwas älter geworden, verstand er, was der Vater meinte, und da sah er sich vor. Den Sohn ergriff scheue Bewunderung, als die Leute auf dem Hofe ihm Züge aus den sagenhaft ausgeschmückten Berichten des Vaters über seine Riesenkraft und seine Abenteuer zu Wasser und zu Lande erzählten. Aber er fühlte auch das unleidliche Joch immer stärker, das der Vater über ihr Leben legte, ja über alles, was auf dem Hofe lebte. Es wurde des Knaben heimliche Religion, ihm Widerstand zu leisten und der Mutter beizustehen, denn sie litt. Er wollte ihr bis aufs Haar gleichen, er wollte sie decken, sie belohnen; es war ihm nur unendlich lieb, wenn der Vater auch ihn leiden ließ.

Ja, es war sein Stolz, wenn der Vater ihn Raphaella nannte anstatt Raphael, – dies war sein Name; die Mutter hatte ihm den teuersten gegeben, den sie kannte.

Niemand durfte die Boote benutzen, niemand fahren, niemand durfte durch den Wald gehen; er wurde abgesperrt. Reparaturen wurden nicht vorgenommen; wollte die Frau eine auf eigene Hand vornehmen, so wurden die Handwerker weggejagt. Kein Zweifel war mehr möglich; er wollte, daß alles zu Grunde ging. Das Gut wurde schlechter und der Wald – ja, die Bewohner des Gutes wußten es, es wurde immer mehr und mehr bekannt, daß der Wald überreif war. Die größten und besten Bäume faulten an; nach und nach würde das mit allen so gehen.

Zwölf Jahre alt, saß Raphael in der Schule beim Propst neben Helene, dem einzigen Kinde des Propstes; sie war vier Jahre jünger als Raphael und ihm so unendlich lieb. Der Propst unterrichtete sie in Religion, dem einzigen, was die Mutter ihren Sohn nicht lehrte. Der Propst erzählte von David. Die Erzählung zog mit Erklärungen und Einschaltungen vorüber. Raphael sah es in Bildern – so hatte die Mutter ihn alles gelehrt. Assyrische Kriegsleute gingen an Stelle von jüdischen; spitzbärtige Kriegergestalten mit schiefen Augen und länglichen Schilden zogen in Scharen vorbei. Blaugrüne Weingärten auf den Hügeln, schlanker Palmen schmächtiger Schatten und staubige Wege. Dann alle in einen Wald, einen Wald mit wohlriechenden Bäumen, da hinein flüchteten die Krieger nämlich – als die Erzählung von Absalon kam.

»Absalon erhob sich wider seinen Vater; denkt wie entsetzlich,« sagte der Probst, der ein gestrenger Herr war, »sich gegen seinen eigenen Vater zu erheben!« Ohne es zu wissen, sah er Raphael an, der blutrot wurde.

Denn Raphael dachte ja an nichts anderes, als kräftig genug zu werden, um sich gegen seinen Vater zu erheben.

»Aber Absalon wurde auch auf eine wunderbare Art bestraft.« fuhr der Propst fort; »Absalon verlor die Schlacht und blieb auf der Flucht durch die großen Wälder an seinem langen Haar hängen. Das Pferd, lief unter ihm weg, und er wurde von einem Spieß durchbohrt. –«

Raphael sah Absalon hängen – nicht in langen assyrischen Kleidern, nicht mit spitzem Bart; nein, zart und jung, in Raphaels enganschließenden Kniehosen; in seiner Sammetbluse und an seinem eigenen roten Haar! Er sah es so deutlich, deutlich, wie das Pferd weiter lief, das graue von daheim, auf dem er heimlich ritt, wenn der Vater Mittagsschlaf hielt. Er sah den dünnen, langen Jüngling sich rundherum drehen und schwingen mit einem Spieß im Leibe. Deutlich, deutlich!

Dieses Bild, über das er mit keinem Menschen sprach, wurde er nicht los. Welch seltsame Strafe, weil er sich gegen seinen Vater erhoben, an seinem eigenen Haar hängen zu bleiben –!

Die Geschichte kannte er ja von früher her; aber niemals hatte er sie beachtet.

An einem Freitag schlug die Geschichte bei ihm ein, am Sonnabend-Morgen erwachte er davon, daß die Mutter sich über ihn beugte, mit ihren allergrößten verwunderten Augen. Das Haar war noch für die Nacht geflochten, die eine Flechte traf seine Nase, davon wurde er munter, noch bevor sie sprach. Sie stand über ihn gebeugt und starrte, wie in Schrecken, auf ihn; sie stand in ihrem langen, weißen, spitzenbesetzten Nachtkleid in bloßen Füßen. Niemals würde sie sich ihm so gezeigt haben, wenn nicht etwas Entsetzliches sie herein gejagt hätte. Weshalb sprach sie nicht, sondern starrte ihn nur an? Oder war es nicht der Schrecken, der sie trieb?

»Mutter!« rief er und richtete sich auf. Da beugte sie sich dicht zu ihm herab und flüsterte: »Der Mensch ist tot.« Sie nannte seinen Vater »den Menschen«; nannte ihn niemals anders. Raphael verstand es nicht oder war wie gelähmt davon. Sie wiederholte laut, lauter: »Der Mensch ist tot, der Mensch ist tot!« und dann richtete sie sich hoch auf, steckte ihre nackten Füße unter dem Leinen hervor und tanzte. Nur ein paar Takte – Dann eilte sie zu der halb offenstehenden Thür hinaus. Er sprang auf und ihr nach. Da lag sie auf dem Sofa und schluchzte. Sie fühlte ihn hinter sich, stand schnell auf, drückte ihn an sich und schluchzte. Er fühlte, wie sie am ganzen Leibe zitterte wie in Krämpfen. – –

Als sie vor seiner Leiche standen, zitterte ihre Hand noch so in der seinen, daß er den Arm um sie schlang: er dachte, sie würde fallen.

Wenn er späterhin daran dachte, verstand er, was sie im stillen ausgehalten hatte, verstand, welchen unbeugsamen Willen sie zum Kampfe eingesetzt hatte, aber auch, was er gekostet hatte.

Jetzt im Augenblick verstand er's nicht. Er meinte, sie litte an dem Entsetzlichen, was sie nun sahen, so wie er litt. Da lag der Riese kümmerlich und elend. Er, der einmal mit seiner Reinlichkeit geprahlt und sie von allen verlangt hatte, lag schmutzig und unbarbiert in fettigen, stinkenden Fellen, in einem Hemd, so zerrissen und unreinlich, daß kein Arbeiter auf dem Gute es schlechter hatte. Die Kleider lagen auf dem Stuhl am Bette, zerschlissen, bekleistert mit Schmutz, Schweiß und Tabak, stinkend wie alles in der Stube. Sein Mund war verzerrt, die Hände geballt; er war an einem Schlagfluß gestorben.

Und wie öde und verlassen war es um ihn herum. Weshalb hatte der Sohn das nicht eher gesehen? Weshalb hatte er nicht gefühlt, wie einsam und verlassen sein Vater war? Man konnte ja gar nicht sagen, wie er es gewesen war.

Raphael fing an zu weinen. Und sein Weinen wuchs, bis es das Zimmer, ja alle Zimmer füllte.

Einer nach dem anderen kamen die Leute vom Hofe herein; sie wollten ihn sehen. Das Weinen des Knaben gab eine so unwillkürliche Erklärung, daß alle eine neue Ansicht bekamen. Der da lag, war unglaublich unglücklich, verlassen, hilflos gewesen. Der Herr sei uns allen gnädig!

Als Harald Kaas' Leichnam hergerichtet war, das Gesicht barbiert, die Augen geschlossen, da gab sich auch die Verzerrung, und da sahen sie das leidende Gesicht, aber auch die männlichen Züge. Sie fanden ihn schön. – –

Wenige Tage nach dem Begräbnis waren Mutter und Sohn in England.


 


 << zurück weiter >>