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Damit begann die lange Studienzeit, für die sie während all dieser Jahre unter allerhand Qualen und Entbehrungen die Mittel aufgespart und auf die sie ihn gleichzeitig durch ihren Unterricht vorbereitet hatte. Das Gut war völlig erschöpft, mit Hypotheken belastet, der Wald nur zu Brennholz zu verwerten. Ihr Nachbar, der Propst, ein kluger, praktischer Mann, übernahm die Aufsicht. Man mußte sofort mit dem Fällen der Wälder beginnen, um Geld zu schaffen; Mutter und Sohn wollten das nicht sehen.
Sie kamen nach England wie zwei Flüchtlinge, die nach langen und harten Prüfungen um ihrer Liebe willen ein neues Heim und ein neues Vaterland suchen. Sie lebten unzertrennlich und unpraktisch in dem fremden Gewimmel und schlossen sich dadurch, wenn möglich, noch fester aneinander an. Er zählte damals zwölf Jahre.
Und doch – nicht lange nachher fand ihr erster Zwist statt.
Er war in die Schule gekommen, hatte sich mit der Sprache und den Kameraden befreundet und fühlte sehr das Bedürfnis, sich vorteilhaft zu zeigen. Er war sehr lang und schlank, wollte aber auch gern stark sein. Er legte sich auf den Sport, errang hier jedoch keine Lorbeeren. Dahingegen wußte er mehr als die Kameraden, dank dem Unterricht der Mutter, und es gelang ihm, sich dadurch interessant zu machen. Die Stellung, die er infolgedessen einnahm, mußte behauptet werden. Aber nichts wirkte so sehr, als wenn er mit Norwegen und den Heldentaten seines Vaters prahlte. Er erzählte freilich mehr, als er verantworten konnte, das war aber nicht sein Fehler allein; er konnte freilich Englisch sprechen, doch fehlten ihm die Mittelfarben der Sprache, er brauchte die starken Ausdrücke, die man stets bei der Hand hat. Es entsprach der Wahrheit, daß er von seinem Vater zwanzig Gewehre, ein großes Segelboot und mehrere kleine geerbt hatte; aber so vorzüglich, wie alle diese Gewehre und Boote jetzt wurden! Er wollte so wie sein Vater nach dem Nordpol und Eisbären schießen, ja, lud sie ein, ihn zu begleiten. Innerhalb dieser großen Linie gab es mehr, als er selber ahnte, aber es genügte trotzdem nicht, denn es gehörte unendlich viel dazu, um sie jeden Tag zu befriedigen. Er mußte förmlich studieren, um die Sache im Gange zu halten. So kam es denn, daß er eines Abends in Gesellschaft der Knaben zum Barbier hinabging und ihn ohne weiteres bat, ihm alles Haar abzuschneiden. Das mußte denn doch, zum Kuckuck auch! für eine ganze Weile vorhalten! Das Haar war Gegenstand des Spottes geworden, es hinderte ihn bei allen Spielen, er haßte es. Nach der Erzählung von Absaloms Empörung und Strafe durch das Haar war es ihm im geheimen auch ein Schrecknis geworden. Nie zuvor war er auf den Gedanken gekommen, zu einem Barbier zu gehen und ihn zu bitten, ihm das Haar zu schneiden. Die Kameraden waren auch ganz entsetzt: der Barbier fand, daß es ein Jammer sei: Rafael bekam schreckliches Kneifen im Magen. Aber gerade, daß es so etwas Schreckliches war, machte ihm Mut; jetzt sollten sie sehen, was er wagte. Der Barbier kam ja gar nicht auf den Gedanken, daß dies ohne das Wissen der Mutter geschah: da er aber unter dem Pensionat wohnte und vom ersten Tage an das Haar der Mutter und des Sohnes bewundert hatte, erlaubte er sich, Einwendungen zu erheben. Dadurch nahm das Kneifen, das Rafael in der Magengegend empfand, ganz ungeheuer zu. Aber jetzt durfte er sich nicht unterkriegen lassen.
»Weg damit!« sagte er und saß unruhig auf dem Stuhl.
»Ich habe niemals schöneres Haar gesehen«, sagte der Barbier bescheiden, indem er eine Schere ergriff, aber noch immer unschlüssig dastand.
Rafael sah, wie gespannt die Kameraden waren.
»Nur weg damit!« wiederholte er gleichgültig.
Der Barbier schnitt es so, daß er das Haar geordnet und gesammelt in der Hand behielt, und legte es vorsichtig in ein Papier. Die Knaben verfolgten jeden Schnitt mit den Augen, Rafael mit den Ohren; in den Spiegel sah er nicht.
Als der Barbier das Nachschneiden beendet und ihn gebürstet hatte, wollte er Rafael das Haar geben.
»Was soll ich damit?«
Er bürstete die Knie und die Ärmel ein wenig ab, bezahlte und ging, von den Kameraden gefolgt: eine eigentliche Bewunderung legten diese aber nicht an den Tag.
Er hatte im Fortgehen einen Schimmer von sich im Spiegel erwischt und fand, daß er abscheulich aussah. Er hätte alles hingegeben, was er besaß (und das war nicht viel), und er würde jegliche Qual ertragen haben, dachte er, wenn er nur sein Haar wiederhätte. Die verwunderten Augen der Mutter gingen in allen Nuancen vor ihm auf, seine eigene Jämmerlichkeit umtanzte ihn, seine Eitelkeit verhöhnte ihn; er schlich schließlich die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und legte sich ohne Abendbrot zu Bett.
Die Mutter aber erwartete ihn vergebens und hörte schließlich etwas davon, daß er wohl schon nach Hause gekommen sei; da ging sie zu ihm hinauf. Er hörte sie auf der Treppe, merkte sie an der Tür. Als sie hereinkam, war er mit dem Kopf unter das Deckbett gekrochen. Sie zog es fort, und beim bloßen Anblick eines Schimmers ihres Entsetzens ward er selber so verzweifelt, daß die Tränen, die ihm aus den Augen flossen, plötzlich versiegten. Bleich, schreckengelähmt stand sie da. Sie glaubte nämlich im ersten Augenblick, daß ihm jemand einen bösen Streich gespielt habe. Da sie aber kein Wort der Erklärung erhielt, ahnte sie Unrat. Er fühlte, daß sie eine Erklärung, eine Entschuldigung, eine Bitte um Verzeihung erwartete, aber er konnte für sein Leben kein Wort hervorbringen. Was sollte er auch nur sagen? Er verstand das Ganze ja selber nicht. Jetzt aber brach er in Tränen aus, heftig, qualvoll; er krümmte sich, die Hände um den Kopf zusammenpressend, der voll von stechenden Stoppeln war; er heulte. Als er wieder aufblickte, war sie verschwunden.
Ein Kind schläft, gleichviel welchen Kummer es hat; als er mit den demütigsten Vorsätzen in größter Zerknirschung hinabkam, lag seine Mutter noch, sie sei nicht wohl, sie habe keine Minute geschlafen; das alles bekam er zu hören, ehe er zu ihr hineinging. Er öffnete ängstlich. Da lag sie ganz elend. Und auf der Toilette, in einem weißseidenen Tuch, lag sein Haar, geordnet und gekämmt. Sie selber lag in ihren Spitzen mit gefalteten Händen, große Tränen rollten ihr von den Wangen herab.
Er war gekommen, sich über sie zu werfen und sie tausendmal um Entschuldigung zu bitten. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er das nicht dürfe – er wagte es nicht; sie lag gleichsam in Wolken, weit, weit weg. Sie lag wie in einem Gesicht. Etwas zugleich Gekränktes und Heiliges hielt sie an einem andern Ort fest; sie war rührend und erhaben dabei. Er wandte sich leise der Türe zu und trollte ab in seine Schule.
Sie lag sowohl an jenem Tage als auch am nächsten und ließ ihm durch das Mädchen sagen, sie müsse allein sein. Sie war gewöhnt, den Kummer so zu tragen, und daß er sich gegen sie auflehnen konnte, war der größte Kummer, den sie jemals empfunden hatte. Es war über sie gekommen wie ein Platzregen beim schönsten Sommerwetter. Jetzt halte sie eine Ahnung, wie sich sein Schicksal gestalten würde – und damit ihr eigenes! Die ganze Schuld suchte sie in seinem unglückseligen väterlichen Erbe; sie hatte keinen Begriff davon, daß eine ununterbrochene künstlerische Dressur und zu viel intellektueller Zwang sein Bedürfnis nach Unabhängigkeit wachgerufen haben konnte.
Die ersten Male, als sie ihn mit seinem kahlen Kopf wiedersah, der mehr und mehr die Form des Vaters annahm, rannen ihre Tränen leise. Wenn er dann auf sie zukommen wollte, erhob sie ihre feine Hand gegen ihn – er durfte nicht. Auch sprach sie nicht mit ihm. Wenn er sprach, sah sie ihn nur an, bis er in Tränen ausbrach. Denn er litt, wie man nur einmal leiden kann, wenn die Reue des Kindes neu und deswegen grenzenlos ist, und wenn sein Bedürfnis nach Liebe die erste Enttäuschung erleidet.
Als sie ihm aber am fünften Tage auf der Treppe begegnete – sie kam von oben, er von unten –, hielt sie an, ganz entsetzt über sein Aussehen. Bleich, mager, scheu; das fehlende Haar machte es schlimmer, als es vielleicht war. Fremd und arm blieb auch er stehen, die Augen trostlos ... Da füllten sich die ihren, da streckte sie die Arme aus! Er lag abermals in seinem Paradies, aber sie weinten beide, als müßten sie durch ein ganzes Wasser, ehe sie wieder miteinander reden konnten.
»Erzähl mir's jetzt!« flüsterte sie; es war in ihrem Zimmer, wo sie einander die ersten süßen Worte gesagt und sich wieder und wieder geküßt hatten. »Wie konnte es nur geschehen, Rafael?« flüsterte sie, ihren Kopf an den seinen lehnend; sie wollte ihn nicht dabei ansehen.
»Mutter,« erwiderte er, »es ist doch weit schlimmer, daß sie daheim auf Helleberg die Wälder vertilgen.«
Sie erhob den Kopf und sah ihn an. Sie hatte Hut und Handschuhe abgenommen, zog sie jetzt aber schnell wieder an. »Du, Rafael,« sagte sie, »wollen wir einen Spaziergang durch den Park machen, wie? Unter den hohen, alten Bäumen dort, wir beide?« Sie hatte seine Antwort genial gefunden.
Seit diesem Ereignis aber hatte sie einen Widerwillen gegen England, gegen seine Kameraden. Sie ersann allerlei, um ihn außer der Schulzeit von ihnen fernzuhalten. Das ward ihr nicht schwer, denn teils machte sie seine Schulaufgaben gemeinsam mit ihm, teils besuchten sie zusammen alle Fabriken, alle mechanischen oder chemischen Institutionen in meilenweitem Umkreis; sie liebte es, einen persönlichen Einblick zu gewinnen, und erweckte die Lust dazu in ihm. Fabriken, die sich sonst Fremden nicht erschlossen – eine feine, schöne Dame mit einem hübschen Jungen an der Hand, »die ja doch nichts von dem Ganzen verstand«, bekam fast alles zu sehen, was sie wollte. Schwierigkeiten suchte sie zu überwinden, indem sie sich direkt höheren Orts hinwandte, und es mißlang ihr nur selten. Was sie nicht verstand, beschäftigte sie unablässig, und sie suchte Hilfe. Und dann ward es eine neue Aufgabe, es Rafael zu erklären – die befriedigendste, die sie kannte.
Seine Anlagen und Neigungen gingen nach dieser Richtung, aber für einen dreizehnjährigen Knaben, den es gänzlich von den Kameraden und von allen Spiel fernhält, wird dies bald eine Plage. Kaum hatte sie dies bemerkt, als sie der Sache ein Ende machte. Sie verließ England und reiste nach Frankreich. Infolge der neuen Sprache war er wieder ausschließlich auf sie angewiesen: sie teilte ihn mit niemand. Sie ließen sich in Calais nieder. An einem der ersten Tage ihres dortigen Aufenthalts schnitt sie ihr Haar ab. Sie glaubte, es werde Eindruck auf ihn machen, daß, wenn er ihr nicht gleichen wolle, sie ihm gleichen und Knabe sein wolle wie er. Sie kaufte einen neuen, flotten Hut, sie komponierte eine neue, schneidige Toilette, denn mit dem Haar mußte alles geändert werden. Als sie aber vor ihrem Sohne stand wie ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, lustig, beinahe ausgelassen, da war er nur erschrocken. Ja, es währte, eine ganze Weile, ehe er sich darüber klar werden konnte, was dies eigentlich zu bedeuten hatte. Solange er sich seiner Mutter entsinnen konnte, waren ihre Augen in ein Antlitz mit einer Krone darüber eingerahmt; alles feierlicher, schöner. »Mutter,« sagte er, »wo bist du nur einmal geblieben?«
Sie erbleichte, ward still, stammelte etwas, daß es ihr so bequemer sei, daß rotes Haar sich nicht mache, sobald es anfange, die Farbe zu wechseln, und begab sich auf ihr Zimmer.
Dort saß sie, sein Haar vor sich und ihr eigenes daneben: sie weinte. »Mutter, wo bist du nur einmal geblieben?« Sie hätte antworten können: »Rafael, wo bist du nur einmal geblieben?«
Sie streifte mit ihm überall umher. Zwei schöne Menschen, stilvoll gekleidet, werden in Frankreich stets Beachtung finden, und das war ganz nach ihrem Sinn. Auf allen diesen Ausflügen sprach sie Französisch. Er bat sie so flehentlich, doch wenigstens hin und wieder ein wenig zu sprechen, was er verstehen könne. Nein, daraus wurde nichts. Wieder in alle möglichen und unmöglichen Fabriken mit ihm. So unpraktisch und zurückhaltend sie sonst war – handelte es sich darum, Zutritt zu einem Dampfofen zu erlangen, so war sie voller List und Koketterie. Im übrigen so besorgt um ihre Toilette – wenn es förderlich für Rafaels mechanische Einsicht war, kam sie mit Ruß und Schmutz bedeckt wieder heraus. Sie wich vor schlechter Luft zurück wie vor der Cholera – bewegte sich aber in Schwefelsäuregestank, als sei es Ozon, um Rafaels willen. »Mit eigenen Augen sehen, Rafael, das ist das Leben, alles andere ist nur der Schatten davon.« Oder: »Mit eigenen Augen sehen. Rafael, das ist das tägliche Brot, das andere ist Literatur.«
Er war nicht ganz derselben Ansicht. Er fand, daß » Notre-Dame de Paris«, ein Buch, von dem er täglich aufgescheucht wurde, die köstlichste Mahlzeit sei, die er jemals genossen hatte: Mazet et fils' Fabrik hauchte hingegen Totengeruch aus. Seine Lektüre – sie hatte ihn selber der Sprache wegen darin eingeführt und war ihm selber behilflich gewesen – gab ihr jetzt Anlaß zur Eifersucht. Sie war nicht zu bewegen, ihm ein neues Buch zu beschaffen.
Aber er wußte trotzdem seinen Zweck zu erreichen.
Sie waren mehrere Monate in Calais gewesen; er hatte Lehrer gehabt und fing an, sich zurechtzufinden, als eine Witwe aus einer der Kolonien in die Pension kam; sie hatte eine dreizehnjährige Tochter bei sich. Diese Neuangekommenen waren keine zwei Tage bei den Mahlzeiten erschienen, als der junge Herr schon versuchte, der jungen Dame den Hof zu machen. Dies wurde vom ersten Augenblick an sehr gnädig aufgenommen. Bald amüsierten sich alle in der Pension köstlich darüber, wie fließend er die Sprache sprechen lernte, ja zuweilen sogar mit eleganten Wendungen.
Sie lehrte ihn ohne eine Spur von Grammatik, in Anmut, Munterkeit und leichtem Geschwätz. Ein Paar treuherzige Augen und eine muntere Stimme genügten. Und von ihr bekam er ganz im geheimen einen Roman nach dem andern, denn heimlich mußte es zugehen. Heimlich hatte Lucie sich die Bücher verschafft, heimlich steckte sie sie ihm zu, heimlich wurden sie gelesen und heimlich wieder zurückexpediert. Er war ziemlich zerstreut bei seinem Unterricht; sonst aber verriet nichts seine literarischen Ausflüge, so ganz ungewöhnlich waren sie ja auch nicht. Frau Kaas sah die Courmacherei des Sohnes und lächelte mit den anderen über seine Fortschritte im Französischen; sie hatte weniger gegen diesen Verkehr, an dem sie selber bis zu einem gewissen Grade teilnahm, als gegen den in England, der sie ganz ausgeschlossen hatte. Sie nahm Mutter und Tochter oft auf kleinen Ausflügen mit und hatte Freude daran.
Aber das Romanlesen, das die beiden verstohlen betrieben, hatte allmählich Unterhaltungen erwachsener Art zur Folge: sie sprachen von Liebe mit jener tiefen Erfahrung, die ihrem Alter eigen ist; sie sprachen mit noch größerer Sicherheit davon, wie eine Ehe sein müsse. Hierbei sagten sie einander indirekt mancherlei, was ihnen einen Genuß gewährte, ja wobei sie erzitterten. Als sie sich daran gewöhnt hatten, durch andere von sich selber zu sprechen, ihre eigenen Gefühle in denen fremder zu charakterisieren, ward es ihnen leicht, das Spiel in Gegenwart anderer weiterzutreiben. Ehe sie selber es ahnten, waren sie dadurch in eine symbolische Sprache hineingeraten. Frau Kaas fiel es eines Abends auf, daß das Wort »Rose« häufiger wiederholt wurde, als es das Interesse an einer Rose möglich erscheinen ließ. Gleichzeitig sah sie das amüsante Schmachten ihrer Augen. Da unterbrach sie sie durch die Frage: »Was meint ihr eigentlich mit der Rose, Kinder?«
Würde jemand in eine Rosenhecke hineingeguckt haben, wo sie zusammen saßen und sich küßten, was sie niemals getan hatten, so hätten sie nicht tiefer erglühen können.
Am nächsten Tage hatte Frau Kaas eine neue Wohnung fern von dem Kai, an dem sie jetzt wohnten, gefunden.
Rafael hatte sehr gelitten, als man ihn von England losriß, gerade in dem Augenblick, wo er von seiner hohen Leiter herabgeklettert war und sich gemütlich zwischen seine Kameraden gesetzt hatte. Aber es war nicht die geringste Rücksicht auf seinen Schmerz genommen worden. Auch die absolute Absperrung, selbst von den Büchern, die er liebte, war schwer für ihn gewesen. Bisher war er ja aber in dem fremden Lande und der fremden Sprache hilflos auf sie angewiesen gewesen. Jetzt lehnte er sich offen auf: Er kehrte ohne weiteres ins Hotel zurück, suchte Frau Mery und ihre Tochter auf, als sei nichts vorgefallen. Dies tat er jeden Tag, sobald er seine Studien beendet hatte. Lucie selber ward jetzt sein Roman, ihr widmete er seine ganze freie Zeit.
Und mehr als das – denn es genügte ihm nicht mehr, mit ihr bei ihrer Mutter zusammen zu sein – sie hatten Rendezvous auf dem Kai. Zuweilen begleitete ein Mädchen die kleine Lucie des Scheines halber, doch hielt es sich meistens in einer gewissen Entfernung. Bald waren sie an Bord von norwegischen Schiffen, bald segelten sie, bald suchten sie den Schutz einiger großer Bäume auf. Wenn er sie in ihrem kurzen Kleide aus der Tür kommen sah mit ihren munteren Bewegungen, wenn er schon von weitem einen fröhlichen Gruß mit dem Sonnenschirm oder mit dem Hut oder einem Blumenstrauß erhielt, schienen ihm die Kais, die Schiffe, die Ballen, die Tonnen, der Geruch, der Lärm, das ganze geschäftige Treiben zu spielen und zu singen:
»
Enfant! si j'étais roi, je donnerais l'empire
Et mon char et mon sceptre et mon peuple à genoux«
und er lief ihr entgegen! Niemals verstieg er sich weiter, als ihre beiden rundlichen, braunen Hände in die seinen zu nehmen, und niemals sagte er mehr als: »Sie sind entzückend, Sie sind sehr, sehr gut!« und sie kam niemals weiter, als daß sie ihn ansah, mit ihm ging, ihm zulachte und zu ihm sagte: »Sie sind nicht wie die anderen!«
Was in der Lebenserfahrung dieses dreizehnjährigen Mädchens lag, daß sie ein so großes Wort sagen konnte, weiß außer ihr nur Gott allein. Er fragte nicht danach, dazu war er viel zu überzeugt, daß es wahr war.
Sie lehrte ihn Französisch, wie wenn zwei Vögel einander aus dem Munde picken, oder wie derjenige, der aus einem Quell trinkt, sich gleichzeitig darin spiegelt.
Eines Tages, als Mutter und Sohn zusammen frühstückten, sah sie ruhig zu ihm hinüber: »Ich habe von einer ausgezeichneten Vorbereitungsschule für technische Studien in Rouen gehört. Ich schrieb dahin, und hier ist die Antwort: sie gefällt mir nach jeder Richtung hin: sie wird auch dir gefallen, wenn du sie liest. Ich denke, wir reisen dahin. Was meinst du?«
Er ward erst rot, dann bleich, legte sein Brot hin und seine Serviette, erhob sich und ging.
Späterhin am Tage fragte sie ihn wieder, ob er denn den Brief aus Rouen nicht lesen wolle. Er verließ sie, ohne zu antworten. Später noch einmal wieder, gerade als die Stunde nahte, wo er Lucie auf dem Kai treffen sollte, sagte sie, und diesmal mit Bestimmtheit, daß sie in einer guten Stunde reisen würden: sie habe gepackt. Noch während sie dastanden, kam der Diener und holte das Gepäck. Da fühlte er, wie gut er es verstehen könne, daß sein Vater ihr die Rute gegeben hatte.
Im Wagen, der sie zur Bahn führte, war sein Schmerz so groß, daß sie ebensogut hätte dasitzen und ihn mit einem Messer durchbohren können. Im Coupé sah er nicht nach ihrer Seite hinüber.
Alle die ersten Tage in Rouen antwortete er nicht, fragte er nicht: er hatte ihre eigene Taktik angenommen. Er führte sie mit einer Grausamkeit durch, von der er selber keine Ahnung hatte. Lange hatte er Kritik an ihr geübt: jetzt breitete sie sich über alles aus, was sie tat und sagte: der Geist der Anklage, ihr Wesen, ihre gemeinsame Vergangenheit wurden ausgegraben und verwandelten sich. Die gebeugte Gestalt des Vaters unten im Stuhl auf den haarlosen Fellen, im Schmutz und Gestank – jetzt erhob sie sich gegen sie da oben in den reich ausgestatteten, gelüfteten, oft parfümierten Räumen! Von dem Augenblick an, als Rafael über der Leiche des Vaters gestanden, hatte er gefühlt, daß schlecht gegen den alten Mann gehandelt worden war. Ihn selber hatte man verleitet, seinen Vater zu vernachlässigen, ihn zu meiden, seine Befehle zu umgehen. Bisher hatte er die Schuld auf die Leute auf dem Gute verteilt.
Jetzt buchte er alles der Mutter an! Sein Vater hatte sie ja angebetet, und die Liebe hatte sich in wilden, selbstverzehrenden Haß verwandelt. Was war geschehen? Er wußte es nicht. Daß aber die Mutter die Fähigkeit besaß, Funken aus einem Halbtoten zu schlagen, das fühlte er. Er sah Lucie mit ihren Blumen daherspringen, sah, wie sie sich strahlend nach ihm umschaute, den ganzen weiten Weg entlang, immer weiter und weiter vornübergebeugt, dann so still. Er konnte nicht ohne Tränen daran denken – und wie er da haßte!
Doch ein Kind ist ein Kind: fürs Leben hält so etwas nicht vor. Dadurch, daß der Ort neu und geschichtlich berühmt war, dadurch, daß das Studium begann und sie stets zugegen war, ging es vorüber. Aber die Spannung war da, und zwar von beiden Seiten. Die Kritik, die in England begonnen hatte, verließ ihn nicht mehr.
In den Studien führten sie ein fruchtbares Zusammenleben: er war ihr Schüler gewesen und endete als ihr Lehrer; sie wollte ihm das Geleite geben, und dies Geleite ward ihm eine Hilfe infolge ihrer fast kleinlichen Genauigkeit und ihrer verständigen Fragen.
Auch außerhalb der Studien hatten sie schöne Stunden, aber sie wußten beide, daß es etwas gab, was aus ihrer Unterhaltung ausgeschlossen war, was nie wieder hineinkommen würde.
Wenn sie gute Freunde waren, sah er ihre vorzüglichen Seiten und ihr aufopferndes Leben: standen sie sich feindlich gegenüber, so sah er genau das Gegenteil. Waren sie gute Freunde, so tat er in der Regel alles, was sie wünschte – er war im Lande der Höflichkeit und unter ihrem Einfluß: standen sie sich feindlich gegenüber, so tat er das Schlimmste, was er nur erdenken konnte. Er trieb sich früh mit lockeren Kameraden umher und gab sich früh Ausschweifungen hin. Er war der Sohn der Empörung.
Hinterdrein litt er dann entsetzliche Qualen. Sie sah es, und sie wollte, er sollte fühlen, daß sie es empfand. »Ich bemerke eine fremde Atmosphäre hier – pfui! Jemand hat seine Atmosphäre mit der deinen vermischt – pfui!« Und dann besprengte sie ihn mit Parfüm! Er erglühte wie eine Georgine und hätte in seinem Jammer und seiner Schmach gern den Kopf in den Kamin gesteckt. Machte er aber den geringsten Versuch, zu reden, so ward sie steif wie ein Pfahl, streckte die schmale Hand aus: »Taisez-vous! Des égards, s'il vou plait!«
Es sei zu ihrer Entschuldigung gesagt, daß sie trotz der kühnen Erzählungen, die sie einst geschrieben hatte, im Leben ohne alle Erfahrung war: sie besaß gar nicht die Form zu einer solchen Vertraulichkeit.
So kam es, daß sie, die einstmals alles in seinem Leben, jeden Gedanken darin hatte beherrschen, die ihn mit niemand, ja nicht einmal mit einem Buch hatte teilen wollen, allmählich dahin gelangte, daß sie ihr Verhältnis zu ihm ganz auf seine Studien beschränkte.
Die französische Sprache eignet sich vorzüglich zur Rücksicht aus der Ferne, zur Diplomatie, dies machten sie sich zunutze: ja, von Anfang an hatte sie ihnen vielleicht zu dieser Form des Zusammenlebens verholfen, sie gab Anlaß zu weniger Zusammenstößen, und sie war billiger. Sobald das Geringste vorlag, hieß es: »Monsieur mon fils!« oder schlecht und recht: »Monsieur!« – » Madame ma mere!« oder schlecht und recht: » Madame!«
Eine Zeitlang sah es so aus, als müsse es ihm schlecht ergehen. Sein starkes Wachsen und die angestrengten Studien, zu denen sie ihn anhielt, erlaubten ihm nicht, seine Kräfte noch anderweitig zu vergeuden.
Aber dann geschah etwas.
In einer französischen Chemikalienfabrik stand er eines Tages, neunzehn Jahre alt, und sah, daß die Hälfte der Treibkraft gespart werden konnte. Sah es mit einem Blick, als sei ein Blitz herniedergefahren. Der Sohn des Besitzers war sein Studiengenosse: er hatte ihn dahin geführt, ihm vertraute er sich an.
Den Plan zur Ersparnis arbeiteten sie mit fieberhaftem Eifer zusammen aus, bis auf die geringsten Einzelheiten; er war sehr zusammengesetzt, weil der ganze Betrieb es war. Der Vorschlag ward dann von dem Besitzer, seinem Sohn und deren Gehilfen gründlich geprüft und man beschloß, den Versuch zu machen.
Es gelang bis zur Vollkommenheil: weniger als die Hälfte der Treibkraft genügte.
Er war nicht zugegen, als alles fertig war; er befand sich in einer Grube. Seine Mutter war nicht mit ihm; er konnte sie niemals bewegen, mit in eine Grube zu kommen. Gleich nach seiner Rückkehr eilte er mit ihr hin, um sein Werk in Augenschein zu nehmen. Sie sahen es: sie erröteten beide über die Ehrerbietung, mit der die Arbeiter ihnen begegneten. Sie waren ganz bewegt, als der Besitzer herbeigerufen wurde und sie seine stürmische Freude sahen und hörten. Der Champagner floß, und man hielt begeisterte Reden. Der Mutter ward das schönste Blumenbukett überreicht.
Ganz wirr von all der Ehre und dem Wein, stolz darauf, ein Genie genannt zu werden, schritt er von dannen, die Mutter am Arm. Er hatte das Gefühl, als befände er sich auf der einen und die ganze Welt auf der anderen Seite! Seine Mutter hielt die Blumen in der Hand und war glücklich.
Rafael halte einen neuen Überrock an – ganz so einen, wie er ihn sich gewünscht hatte: sehr lang, mit seidenen Aufschlägen: er freute sich darüber. Es war ein klarer Wintertag, der spiegelte sich in der Seide und in noch anderem. »Kein Flecken am Himmel, Mutter«, sagte er. – »Und auch keiner auf deinem neuen Rock«, fügte sie hinzu: auf dem alten waren nämlich eine Menge gewesen, und sie hatten alle ihre Geschichte gehabt. Er war jetzt zu groß, um sich zu ärgern, und auch zu glücklich. Sie hörte ihn eine Melodie summen; es war die norwegische Nationalhymne. Wie aus Elysium kommend, kehrten sie in die Stadt zurück: alle Vorübergehenden schauten sich nach ihnen um, die Leute ahnen das Glück. Rafael war auch einen Kopf größer als die meisten, blonder von Farbe; er führte seine elegante Mutter, die den Blumenstrauß in der Hand trug, in schnellem Schritt und schaute, einen Lichtkranz ums Haupt, von dem sonnenbeschienenen Hügel über den Boulevard hinaus.
»Es gibt Tage, an denen man sich neu fühlt«, sagte er.
»Es gibt Tage, die einem große Schätze zuführen«, bemerkte sie.
Er preßte ihren Arm an sich.
Sie kamen nach Hause, legten das Überzeug ab und sahen einander an. Die Entwürfe zu dem, was sie eben ausgeführt gesehen halten, lagen da, auch einige Zeichnungen. Die nahm sie und drehte sie zu einem Stab zusammen.
»Rafael,« sagte sie und stellte sich halb lachend, halb bebend auf, »knie nieder! Ich will dich zum Ritter schlagen.«
Er fand das nicht unnatürlich; er tat es.
» Noblesse oblige!« sagte sie und berührte sein Haupt mit der Rolle. Dann aber ließ sie den Stab schluchzend fallen; er mußte aufspringen und sie in die Arme schließen.
Am Abend feierte Rafael ein fröhliches Gelage mit den Kameraden, die ihm wild huldigten. In der Nacht aber lag er, von Mutlosigkeit überwältigt, in seinem Bett. Das Ganze konnte ja schließlich nur ein Zufall sein! Er hatte ja so viel gesehen und besaß so viele Kenntnisse, folglich war es keine Erfindung. Aber was denn sonst? Er war gewiß gar kein Genie, das mußte Übertreibung sein. Konnte man sich ein Genie ohne Siegeszuversicht vorstellen? Oder hatte sein eigenartiges Leben dem Siegesbewußtsein Abbruch getan? Stets eine Spannung, die der Hingebung schadete! Stets ein schlechtes Gewissen, ein entsetzlich, abscheulich schlechtes Gewissen! Diese unüberwindliche Angst, war sie eine Vorbedeutung? Warnte sie vor der Zukunft? –
Ein halbes Jahr später konzentrierten sich seine zerstreuten Studien auf die Elektrizität, und dies führte sie dann später nach München.
Während dieser Studien kam es ganz von selber, daß er anfing zu schreiben. Die Studenten hatten einen Verein, und dort sollte er etwas leisten. Aber das, was er schrieb, war so eigentümlich, daß man ihn bat, es dem Professor zu zeigen, und dieser ermunterte ihn sehr. Der Professor ließ auch seinen ersten Aufsatz drucken.
Eine norwegische technische Zeitschrift nahm einen seiner späteren Aufsätze auf, und dies ward der äußere Anstoß, daß sich seine Gedanken auf Norwegen richteten.
Norwegen war für ihn das gelobte Land der Elektrizität: seine unzähligen Wasserfälle können die ganze Welt versorgen! Er sah das Land in winterlichem Dunkel daliegen, umglüht von elektrischem Glanz: er sah es auch als Weltfabrik, vor der die Schiffe lagen. Jetzt hatte er einen Zweck, heimzukehren!
Seine Mutter teilte seine Vaterlandsliebe nicht und hatte kein Bedürfnis, in Norwegen zu leben. Aber das Geld, das sie zu seiner Ausbildung aufgespart hatte, war längst verzehrt; Helleberg hatte seinen Teil gefordert. Einkünfte gab das Gut nicht; es bestand ja im wesentlichen aus Waldungen, und der Wald war noch zu jung.
Also heim! Ein paar Jahre allein auf Helleberg, das war gerade, was er wünschte.
Aber jedesmal, wenn der zur Abreise festgesetzte Zeitpunkt heranrückte, trat irgendein Hindernis ein.
Zuerst schützte er eine kleine Erfindung vor, auf die er ein Patent nehmen wollte. Bisher hatte er nur Ideen entworfen, die sich andere zunutze gemacht hatten: jetzt sollte das anders werden. Die Erfindung ward patentiert und einem Agenten zum Vertrieb übergeben. Aber noch immer reisten sie nicht, was stand dem im Wege? Eine neue Erfindung mit neuem Patent, leichter zu verkaufen als die erstere, die leider nicht ging. Auch dies Patent wurde aufgenommen, kostete Geld und ward zum Vertrieb übergeben. Konnte er denn jetzt nicht reisen? Ja, er glaubte wohl.
Frau Kaas aber begriff bald, daß es nicht sein Ernst war. Da nahm sie die Hilfe eines jungen Verwandten, Hans Ravns in Anspruch. Er war Ingenieur wie die meisten Ravns, und Rafael hielt große Stücke auf ihn. Hauptsächlich wohl, weil er selber seinem Temperament nach ein Ravn war, was er bisher nicht gewußt hatte; das war eine förmliche Entdeckung! Er hatte geglaubt, die Ravns seien wie seine Mutter, hörte nun aber, daß sie gerade etwas ganz anderes war.
Zu Hans Ravn sagte Frau Kaas geradezu, jetzt müßten sie reisen! Die Abreise sei auf den letzten Mai festgesetzt, und das solle er erzählen, denn es würde helfen, wenn es allgemein bekannt sei.
Hans Ravn erzählte die Neuigkeit an alle, teils weil das seine Force war, teils weil er wollte, daß etwas geschehen sollte, zum Beispiel ein Abschiedsfest, wie man etwas Ähnliches niemals erlebt hatte.
Ein Abschiedsfest kam auch wirklich unter allgemeiner Beteiligung zustande und endete damit, daß die ganze Gesellschaft in geschlossenem Zuge den Ehrengast nach seiner Wohnung begleitete. Dabei gerieten sie in eine Schar Offiziere, die auf gleiche Weise nach Hause zogen – fast wäre es zu einem Streit gekommen; aber man versöhnte sich, und die Ingenieure brachten ein Hoch auf die Offiziere aus und die Offiziere eins auf die Ingenieure. Am nächsten Tage stand die ganze Geschichte von dem Abschiedsfest und dem Zusammenstoß in den Zeitungen.
Dies sollte Folgen haben, wie sie Frau Kaas sich nicht hatte ahnen lassen.
Zuerst eine sehr angenehme. Der Professor, der Rafaels ersten Versuch hatte drucken lassen, hielt mit seiner Familie in einem Wagen vor Frau Kaas' Wohnung: er stieg die Treppe hinauf und fragte, ob sie nicht in ihrer Gesellschaft noch einmal das Schönste von der Umgebung Münchens in Augenschein nehmen wolle. Sie fühlte sich geschmeichelt und fuhr mit ihnen. Unterwegs sprachen sie ja nur von Rafael. Teils von seiner Person – er war ja aller Damen Liebling –, teils von der Zukunft, der er entgegenging: der Professor meinte, er habe nie einen begabteren Schüler gehabt. Frau Kaas hielt einen vorzüglichen Krimstecher in der Hand; jedesmal, wenn die Bewegung sie übermannte, hielt sie ihn vor die Augen, und die Lobpreisungen ergossen sich über die Architektur und die Landschaft wie Sonnenschein. Die kleine Gesellschaft speiste zusammen und fuhr am Nachmittag zurück.
Als sie ihre Zimmer betrat, schlug ihr ein betäubender Blumenduft entgegen. Einige Bekannte, die bisher nicht gewußt hatten, wann sie reisen würden, wollten sich ebenfalls feierlich verabschieden. Übrigens habe es den ganzen Vormittag geschellt, erzählte das Mädchen.
Nach einer Weile kamen Rafael und Hans Ravn und ein paar befreundete Familien; sie wollten durchaus gemeinsam zu Abend essen. Der Verkauf des letzten Patents schien zu glücken; man mußte das Ereignis im voraus feiern. Frau Kaas war in rosigster Laune, und man machte sich auf den Weg. Draußen war der Frühlingsabend so herrlich, daß man ihn in ländlicher Umgebung genießen mußte – deswegen weit aus der Stadt hinaus!
Man speiste im Freien und eine ganze Menge Menschen bewegte sich rings um sie her. Da war Musik und Frohsinn und, als die Dämmerung hereinbrach, eine weiche, wogende Stimmung. Die Lampen wurden angezündet, und nun halten sie zu der einen Seite den Lichtglanz, der über der großen Stadt lag, zur andern das Halbdunkel mit schimmernden Punkten, und dies ward bildlich ausgelegt in den Reden, mit denen man die Heimwärtsziehenden feierte.
Da strichen ein paar Damen an Rafaels Stuhl vorüber, langsam. Frau Kaas saß ihm gerade gegenüber und sah es, er nicht. Eine Strecke von ihnen entfernt, standen sie still und warteten, jedoch ohne bemerkt zu werden. Dann wieder zurück, hart an seinem Stuhl vorüber, langsam. Wiederum vergebens!
Dies verstimmte Frau Kaas. So stark war ihre Persönlichkeit, daß ihr Schweigen einen leichten Schleier über die ganze Gesellschaft breitete. Man brach auf.
Am nächsten Vormittag – Rafael war wieder aus im Interesse seines Patents – schellte es. Das Mädchen kam mit einer Rechnung, die sei gestern auch schon dagewesen. Die Rechnung war von einem der größten Restaurateure und keineswegs klein. Frau Kaas halte keine Ahnung, daß Rafael Schulden halte, und noch dazu bei einem Restaurateur! Sie ließ sagen, ihr Sohn sei mündig, sie sei nicht sein Kassierer. Es schellte wieder, und das Mädchen kam mit einer neuen Rechnung, die ebenfalls gestern schon dagewesen war; sie war von einem bekannten Wildhändler – auch dieser Betrag war nicht unbedeutend. Es schellte. Diesmal war es eine Blumenrechnung, eine beträchtliche Summe. Auch die war gestern schon dagewesen. Frau Kaas las sie zweimal, dreimal, viermal; es wollte ihr nicht in den Kopf, daß Rafael Geld für Blumen schulden könne – wozu brauchte er die nur? Es schellte; eine Rechnung vom Goldschmied kam. Jetzt war Frau Kaas so nervös geworden durch all dies Schellen und alle diese Rechnungen, daß sie die Flucht ergriff. Das also war der Grund, weshalb Rafael nicht reisen wollte; er saß fest! Deswegen dieser Eifer, das Patent zu verkaufen – er mußte sich loskaufen.
Kaum war sie zur Haustür hinaus, als eine kleine, bescheidene, ältere Dame auf sie zutrat und ängstlich fragte, ob sie vielleicht Frau von Kaas sei. »Noch eine Rechnung?« dachte Frau Kaas und betrachtete die Dame. Es war eine dünne, geplünderte Rosenhecke mit einigen verspäteten welken Blüten; sie schien arm und unerfahren in allem, ausgenommen in Demut.
»Was wünschen Sie von mir?« fragte Frau Kaas teilnehmend, entschlossen, diese Ärmste sofort zu bezahlen, was es auch sein möge.
Die Kleine bat tausendmal um Verzeihung, aber sie sei eine Beamtenwitwe und habe in der Zeitung gelesen, daß der junge von Kaas abzureisen gedenke, und darüber waren sie und ihre Tochter so verzweifelt, daß sie den Entschluß faßte, zu Frau von Kaas zu gehen, die ja die einzige sei – hier fing sie an zu weinen.
»Was will Ihre Tochter von mir?« fragte Frau Kaas bedeutend weniger sanft.
»Ach, tausendmal um Verzeihung, gnädige Frau!« Ihre Tochter sei mit Hofrat von Aachen verheiratet ihrer großen Schönheit wegen: ach, sie sei so unglücklich, denn Hofrat von Aachen trinke und sei brutal. Auf einem Künstlerfest habe Herr von Kaas ihre Bekanntschaft gemacht – »und dann, wissen Sie, zwei so junge, reizende Leute –«
Sie schaute zu Frau Kaas auf wie aus einem Kellerfenster bei Regenwetter.
Frau Kaas hatte aber ihre ganze steife Haltung wiedergewonnen: hoch oben aus dem zweiten Stock hörte die kleine Geplünderte: »Was wünscht Ihre Tochter von meinem Sohn?«
»Tausendmal um Verzeihung!« Aber sie seien auf den Gedanken gekommen, ob ihre Tochter nicht mit nach Norwegen reisen könne. Norwegen sei ja ein so freies Land, »und die zwei Jungen haben sich so gern.«
»Hat er ihr das versprochen?« fragte Frau Kaas mit der Kälte, die dem Schatten eines hohen Hauses eigen zu sein pflegt.
»Nein, nein, nein!« klang es erschreckt. »Nein, nein, nein!« Die beiden, Mutter und Tochter, seien heute auf den Einfall gekommen, als sie in der Zeitung gelesen hatten, daß der junge von Kaas abreisen wolle. Herrgott im Himmel, wenn die Plagen ihrer Tochter auf einmal ein Ende haben könnten. Frau von Kaas könne sich nicht vorstellen, was für eine treue Seele, welch eine zärtliche Gattin ihre Tochter sei ...
Frau Kaas eilte auf die andere Seite bei Straße hinüber, nicht gerade wie jemand, der hinter seinem Hut herläuft: aber der kleinen Person, die drüben im Schatten mit gefalteten Händen und angsterfüllten Augen stehen blieb, schien es, daß sie schneller entwich als die Hoffnung des Armen.
Auf der anderen Seite stand ein schönes, junges Blumenmädchen und wartete auf die elegante Dame, die herüberkam: »Bitte, gnädige Frau!«
»Noch eine!« dachte die geängstigte Mutter; sie schaute sich nach Rettung um, eilte die Straße hinauf, so schnell sie konnte, als eine zweite Dame gerade vor ihr auftauchte, die Augen so sonderbar auf Frau Kaas richtend. Nun flüchtete diese in die Mitte der Straße und rettete sich in eine Droschke.
»Wohin?« fragte der Kutscher. Er sah, daß sie Eile hatte.
Daran hatte sie nicht gedacht, antwortete aber resolut: »Bavaria!« Sie hatte sich wirklich mit dem Gedanken beschäftigt, vor ihrer Abreise Stadt und Umgegend vom hohen Kopf der Bavaria aus in Augenschein zu nehmen.
Da draußen waren viele Menschen, aber Frau Kaas kam bald an die Reihe, hinaufzusteigen, und gerade, als sie den Kopf der Riesenjungfrau erreicht halte und sich anschickte, um sich zu schauen, hörte sie hinter sich eine Dame flüstern: »Das ist seine Mutter!« Wahrscheinlich waren mehr Mütter als Frau Kaas oben im Kopf der Bavaria; sie aber nahm ihre Röcke zusammen und stürzte wieder die Treppe hinab.
Rafael kam nach Hause, um seine Mutter zum Essen abzuholen. Er war in rosigster Laune, er hatte sein Patent verkauft. Seine Mutter aber fand er in der hintersten Sofaecke, den Krimstecher in der Hand. Als er mit ihr sprach, antwortete sie nicht, richtete aber den Krimstecher auf ihn, die kleinen Gläser nach außen, die großen vor die Augen haltend: sie wollte ihn so weit wie möglich von sich distanzieren.