Theodor Birt
Moderne Novellen
Theodor Birt

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Das Opfer

Eine hessische Dorfgeschichte Nach einer Mitteilung aus den Akten des Landgerichts zu ... vom Jahre 1903.

Es hatte geregnet. Der Morgen war trübe. Wie silbern rieselte der Wind durch die jungen Weidenzweige am Ufer, und die Birkenkronen zitterten in beständigem Erschrecken. Es war ein stoßender Wind. Von den Obstbäumen stob ein weißer Blütenregen und wirbelte weithin über Fluß und Wiese. Wie lieblich, aber wie unstät! und wie vergänglich ist die Jugend, auch die Jugend des Jahres, der junge Lenz!

In den Städten, da kribbelt und wirbelt das Straßenleben von früh an, wie im Ameisenberg. Im Dorf ist es Vormittags still wie im leeren Taubenschlag; denn jeder geht draußen seinem Werk nach; so auch im Wiesendorf , von dem ich reden will, das, lang hingestreckt und mit seinem hübschen Kirchturm ein Schmuck des Landes, an das ansteigende Ufer der Lahn sich lehnt. Nur ein ältliches, bartloses Männchen stieß in das verbogene Blashorn, und der Mißklang ging wie ein stöhnendes Signal melancholisch den Fluß entlang. Die Gänse des Dorfs schnatterten zusammen unter seiner Obhut und ästen im Gras und watschelten in's seichte Wasser, bis sie auf einmal aufschrieen und mit den Flügeln schlugen. Es war ein großes Ereignis: sie hatten beim Wehr, wo der Mühlgraben begann, tiefes Wasser gefunden. Die Enten hatten das längst entdeckt, die eitel die fette Brust aus dem Wasser hoben und sich mit der breiten Schaufel ihres Schnabels die glitzernden Federn putzten. An der Flußwiese entlang lief die Chaussee. Da spielten die Kinder, rekelten sich an den Zäunen und wälzten sich jauchzend, die Beine hoch, im Sand, den sie mit ihren kleinen Händen griffen.

So ist es. Kinder können jauchzen; auch die, die schon zur Dorfschule müssen, sind noch so sorgenlos; sorgenlos auch der Bursch und das Mädel, die im Garten oder im hängenden Feld droben Arbeit tun. Sie gucken oft auf, und wenn ein Fremder – wie ich, der ich dies erzähle – durch's Dorf pilgert, grinsen sie mit trägem Behagen sich an, als dächten sie: Was will der hier? Hat er nichts zu sorgen und ist doch schon so alt?

Ja, das Alter und die Sorge! Es ist, als wären die Zwei unzertrennlich. Das Gesetz gilt seit Ewigkeit. Grämlich gebückt stapft der alte Ackersmann hinter dem Pfluge durch die Erdschollen. Wie lang soll er es noch so machen, wie er es schon durch fünfzig Sommer getan? und die Weiber verwittern früh, und der Glanz in ihren Augen ist so stumpf und erloschen, als läge alles Wünschen und Hoffen auf gute Tage weit hinter ihnen. Sie haben Glück und Hoffnung längst an Kinder und Enkel weitergegeben. Auf der steilen Treppe am Kirchhof kauert der Tobias tagaus, tagein, die Hand auf der Krücke, mit der Ziege, die er am Strick hält, und dreht den wackelnden alten Kopf wie ein Automat langsam nach rechts und links, da er sorgfältig hinter jedem dreinschaut; denn er kennt die Dorfleute alle und denkt: Niemand weiß, was kommt, und das Unglück lauert hinter jedem Zaune. Wer ist der nächste, den es packt?

Am Mühlgraben beim Wehr, im Halblicht unter den Erlen, da knieen ein paar Frauen und Mägde auf den Holzstegen und spülen Wäsche. »Das war eine feine Kirmes gestern«, ging ihr Geschwätz; »und mit dem Fritz ist es nun auch sicher. Der Fritz Wigand, nun freilich, so ein Bursche! dem mußte es schon glücken. In der Kanonieruniform, die Reitgerte in der Hand, so kam er auf Urlaub in's Dorf zurück, so hat ihn die Lene wiedergesehn. Und er ging ja auch früher schon immer mit der Lene, und gestern, spät...«

Hier brach die Rede ab. Es war die schwarze Grete, die so schwatzte, eine handfeste schwere Person mit groben Zügen und kahler breiter Stirn, um die ein spärliches, dünnes Zöpfchen wie ein Rattenschwanz taumelte. Aber sie sprach in Wirklichkeit nie, sie schrie immer nur, als verhandelte sie mit ihren Kühen im Kuhstall oder müßte den Henner, ihren Mann, das dumme Tier, aus dem Schlaf rufen.

Seitab, hinter dem breiten Weidenbaum, kniete die Marie am Wasser, ihre Nachbarin. Die sagte nichts, sah nicht auf und schien auch nicht zuzuhören. Da stellte sich die schwarze Grete hinter ihrem nassen Wäschehaufen aufrecht hin, die Hände auf den dicken Hüften, daß die Lunge in der breiten Brust sich dehnte, und schrie: »Ja, ja! der Fritz! der weiß, was recht ist. Aber der Hans? der Hans? wo bleibt der Hans?«

Die Frau Marie sah trotzdem nicht auf. Sie tat ihr den Gefallen nicht. Wie taub starrte sie in das Wasser hinab. Ihre Hände ruhten: eine Frau von kaum mehr als dreißig Jahren, aber schmächtig, blaß und früh gealtert; denn wo die Sorge ist, ist keine Jugend; Rock und Mieder verschlissen und abgetragen, die Hände so mager und schmal. Wie trauernd senkte der Weidenbaum seine weichen Zweige über sie, wie über eine Mutter, die am Grab ihres Kindes kniet.

»Der Fritz, ja der!« hörte sie wieder. »Aber wo bleibt der Hans? Warum holt er sich nicht auch einen Schatz aus dem Dorf? Er war doch auch auf Urlaub hier. Das macht, er mag die Mißwirtschaft im Hause nicht sehen. Die eigene Mutter verjagt ihn.«

Dann tat die Grete, als ob sie flüsterte; aber auch ihr Flüstern war wie ein Feldgeschrei: »Wie lang wird sie's noch ermachen, die Marie? Die letzte Kuh ist aus dem Stall; auch die Nähmaschine hat sie an den Händler weggegeben. Ich hab's mit angesehen. Ach je, ach je! das kommt davon (die Grete flüsterte noch geheimnisvoller), davon kommt's, daß sie den Matthias geheiratet hat, die junge Person den Matthias, den Wittwer, und hat doch ganz genau gewußt, wie es stand mit ihm. Gott soll mich bewahren!«

Die Marie verstand mehr, als ihr lieb war. Sie hielt es aus, wie ein Büßer, der sich peitschen läßt. Seufzend warf sie die Wäsche, die sie gespült, auf den Haufen. Das waren ihre eigenen arggeflickten Sachen und die der alten Anne, die mit im Hause half, und die ihres Söhnchens Gottlieb; denn sie hatte nur noch für ihren Gottlieb zu sorgen. Aber auch ein feines Herrenhemd war dabei: weiß mit rotgestreiftem Einsatz. Das war vom Hans. Das hatte sie noch von ihm. Wann würde er es wieder tragen?

Rauschend, aber trübe und gelb vom letzten Gewitterregen, schoß das Wasser unter ihr her und führte allerlei Astwerk und junge Blätter mit sich, die der Sturm abgerissen. Die jagten dahin, hinab, hinab! Wohin dies Unaufhörliche? Ein Gesang stieg süß gurgelnd aus der trüben Nässe zu ihr auf. Wer einmal – unglücklich und jung – am Strom gestanden, der weiß auch, was die Wasser singen: »Unser Bett ist tief, und wer nicht feste Wurzel hat, den nehmen wir mit und tragen ihn weich, und er fühlt nichts mehr und gleitet dahin, ein abgerissenes junges Blatt, ins Weite, in's Grenzenlose, in die wundervolle große Rast – Gottes Ewigkeit.« Ist es möglich? Gibt es einen Gott und Heiland, der uns aus solcher Tiefe, aus der Tiefe der nassen Flut in den Himmel hebt?

Welch fremdes Gefühl war das in ihr! Marie schüttelte sich: hu, der Graben war tief, und sie konnte nicht schwimmen! Die anderen Weiber waren schon gegangen. Rasch warf sie die Wäsche in den Korb und setzte den Fuß vor, um in's harte Leben zurückzukehren.

Es war wohl ein Anblick für ein Künstlerauge, wie sie, mit freiem Hals, das Kinn kräftig hochgezogen, den großen Korb auf dem Haupt wiegte, mit beiden Armen gleichmäßig zu der Last emporgriff und so, in ihrem schlanken und graden Wuchs, über die Wiese wandelte. Früher Kummer adelt. Sie trug die schlichten, treuherzigen Gesichtszüge ihrer Rasse, mit den kräftigen Backenknochen im schmalen Gesicht, das nußbraune Haar straff gescheitelt, den starken Zopf rundum wie einen weiten Kranz hoch um den Hinterkopf gelegt, die braunen Augen groß und voll Glanz, die Lippe immer noch voll und weich. Aber die Haut war ihr rauh in Spalten zerrissen, die Schläfe eingesenkt, und eine graue Müdigkeit hing in den Mienen. Die Sorge hatte sich in dies liebe Gesicht gegraben: enttäuschte Jugend, gescheiterte Kraft.

Gleich dort an der Dorfstraße lag Mariens Haus. Waldmann, der schläfrige Hund, rührte sich nicht, als sie kam. Das Gras wuchs im Hof zwischen den Steinen, der Lattenzaun war zerbrochen. Im Gärtchen blühten goldene Priemeln und die mattroten Glocken der Kaiserkrone; aber sie waren von wuchernden Nesseln fast erstickt.

Grete, die robuste Nachbarin, hatte nicht übel Lust noch einmal anzubinden. Sie stand in ihrem Hof hinter dem großen Jasmin, sah über den Zaun und weidete sich an dem Verfall des Matthias'schen Hauses. Wie schief hingen nicht dessen Wände, und der graue Lehm sah unter dem Stuck hervor. Wie anders ihr eigenes, hochgetrepptes Haus mit dem frischen Kalkbewurf, der wie Schnee flimmerte, mit den bunt angestrichenen Balken – blau und gelb wie ein Märchenvogel – und all' den hübsch entworfenen Blumenranken und Sinnsprüchen auf den Feldern der Wände! Alles war vor drei Jahren »renoviert«.

»So muß es sein, und unsere Häuser stehen gut beisammen«, sagte sie jedem, der ihr auf den Hof kam. »So sieht alle Welt, was ein ordentlicher und was ein schlampiger Haushalt ist.«

Da klapperte ein Schalter im Wind, und die Grete fuhr los: »Es ist aber doch eine Schand'! Die ganze lange Nacht hindurch das Gerassel; es ist nicht genug, daß Euch die Ziegeln vom Dache fallen. Den Schalter am Dachspeicher da mein' ich. Wann wird er einmal festgemacht? Das könnte auch schon der Gottlieb, der Nichtsnutz.«

»Kannst immer nur schimpfen? in Einem weg?« rief die Marie.

Da kam es jovial von der Straße her: »Alle Wetter, die Grete! Gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.«

Das war der gewaltige Herr Pfarrer Rosentraut, der größte Mann des Dorfs, wie ein wandelnder Kirchturm. Der Jasmin knackte; die Grete war schon verschwunden. Der Goliath aber im Kirchenrock und weißer Binde stand nicht allein vor der Marie; er hatte den Gottlieb an der Hand.

»Haben Sie Zeit, Frau Matthias? Dieser Strick! Wir wollen endlich einmal über den Gottlieb sprechen.«

»Doch nichts Schlimmes, Herr Pfarrer?« Marie sah nicht das rosige Schmunzeln in des Hochwürdigen bartlosem Gesicht, das von Idealismus und von einem warmen Frühstück glänzte, das ihm Petronella, seine liebe Frau, nebst einem Halbfläschchen eben zu Haus vorgesetzt hatte.

Dem Geistlichen oblag die Schulaufsicht in den Dörfern, und Pfarrer Rosentraut hielt auf seine Pflicht und auskultierte nicht blos, die langen Beine in einen Knoten geschlagen; er gab wohl auch oft höchstselbst eine Musterstunde.

»Marburg ist Universitätsstadt,« begann er jetzt mit Wichtigkeit. »Ich fahre jetzt eben nach Marburg, Frau Matthias, und will doch einmal sehen, ob ich dort nichts tuen kann für unseren Gottlieb. Aber nur, wenn Sie zustimmen. Natürlich! Gottlieb, geh'! Du brauchst das nicht mit anzuhören. Oder nein! bleib', antworte und zeige erst einmal der Mutter, was du gelernt hast.«

Und nun begann ein sehr ernsthaftes Examinieren, die Kreuz und Quer, über Heimatkunde und Bruchrechnen, die zehn Gebote und die Deutschen Helden, Arminius und Bismarck. »Und wer war König David?«

Da fing der kleine Gottlieb an zu kichern: »Das ist ja der, der den Goliath erschlug, und der Riese Goliath, das ist der Herr Pfarrer vom Wiesendorf, und der kleine David, das bin ich. Aber nicht böse sein, Herr Pfarrer. Ich tu' Ihnen ja nichts. Ich kämpf' auch für Sie, wenn ich erst so ein Ding, eine Schleuder hab'.«

»Nun seh' mir Einer an.« Der fromme Mann zerging in Wohlgefallen und zwinkerte erstaunt mit den Augen: »Jetzt aber geh', du Strick; häng' die Wäsche auf die Leine.«

Eine Pause entstand.

»Er muß studieren«, fuhr auf einmal der Pfarrer los.

Frau Matthias sank auf die Holzbank.

»Marburg liegt ja so nah. Wissen Sie, was eine Universität ist? Ich bin ganz vernarrt in den Jungen.

Die Nation braucht Talente! Was meinen Sie?«

»Ich hätte gemeint, vielleicht Buchdrucker... Aber warum?«

»Höher hinaus!« rief der Gewaltige und zählte an seinen fünf Riesenfingern die vier Fakultäten herunter, daß der armen Frau ganz schwindlig wurde. »Denken Sie sich, Euer Gottlieb stände hier einmal auf unserer Kirchenkanzel! Gottesmann wie ich! Er hat einen so lieben, frommen Blick. Aber nein! es wäre fast schade um ihn; er ist so extra-klug; er könnte auch Mediziner... Denken Sie, er führe als Arzt hier in der Chaise herum. Oder Jurist, Staatsanwalt! Denken Sie, Frau Matthias, Ihre Schwiegertochter vielleicht gar Frau Gerichtspräsident! Aber was red' ich? Rechtsprechen ist Recht brechen! Juristerei, dafür bin ich nicht. Schulmann, Pädagog, Philologe, das wäre das Beste, Köstlichste. Wer Freund der Bücher ist und Freund der Jugend, der ist mein Mann. Denn in den Büchern steckt Gottes Geist und der Geist der Menschheit, und in den Schulen, da steckt die Zukunft der Nation. Gottlieb, komm' her, du sollst uns gleich das Gedicht aufsagen, das Gedicht von heut'!« Der Pfarrer nahm eine Prise, schob auf der schnuppernden Nase den großen Zwicker weit nach vorn und beäugte so über die Gläser weg hoch von oben herab den kleinen Burschen. Der stand stramm in seiner dürftigen Figur. Das Knie guckte ihm durch's Hosenbein. Das Haar war ihm im Nacken in Stoppeln entsetzlich kurz geschoren, vorn aber hing es ihm wie Ährenbüschel in langen lockigen Streifen in die feine Stirn. Sein helles Auge flog keck zu Mutter und Pfarrer hin und her; dann begann er, und bei jedem Zeilenende warf er den Kopf vor Eifer in den Nacken:

»Wir glauben all an einen Gott, An keine Macht des Bösen. Der Herr will uns aus Angst und Not Und aller Schuld erlösen, Und keine Träne wird geweint, Wo seine Gnadensonne scheint. Steh' ich am frühen Morgen auf...«

»Halt, halt! genug!« unterbrach der geistliche Herr, der diese Verse selbst gedichtet hatte. »Sehen Sie, liebe Frau? der Junge behält alles, was man ihm einmal vorspricht. Sogar das schwere Wort Gnadensonne!«

Marie sah voll Andacht auf ihren Buben: »Er ist ja fast wie ein Schriftgelehrter!«

Da kam das Gottliebchen zu ihr und schmiegte sich an ihr Knie und merkte, daß eine schwere Träne in ihren Wimpern hing. Das machte ihn auf einmal nachdenklich, er trat vor den Pfarrer, faßte zutraulich an dessen Rock den untersten Knopf an, wurde dabei ganz rot und sagte: »Wenn ich was fragen darf...«

»Was hast du, Gottliebchen?«

»Meine Frage ist wohl sehr dumm...«

»Laß doch nur hören.«

»Warum weint die Mutter? Läßt der liebe Gott das zu? In den Versen heißt es doch: »und keine Träne wird geweint, wo seine Gnadensonne scheint«. Wenn ich Morgens zur Mutter an den Herd gehe, da weint sie so oft – und ich möchte mit weinen.«

Der Pfarrer legte dem Jungen triumphierend die Riesenhand auf's Haupt. In ihm regte sich nur der Pädagog. »Sehen Sie?« sagte er. »Er denkt nach, selbständig nach, der Gottlieb; und fragen tut er auch: am Fragen aber erkennt man den Forscher.«

Gottlieb hielt noch immer den Knopf. Er vermißte die Antwort.

»Deine Mutter sollte ja nicht weinen, mein Kind,« hörte er da. »Warten wir, warten wir. Das Leben selbst wird uns hoffentlich bald eine gute Antwort auf deine Frage geben.«

Da war der Bub' gleich wieder lustig und sprang zur Wäsche zurück. Dabei rief er voll Ernst: »Mutter, die Leine ist mir zu hoch. Könnte ich doch ein Wunder tun wie die heilige Klosterfrau.«

»Wie die Klosterfrau?«

»Das war eine heilige Frau, die hat bei Soden in einem Kloster gelebt. Wenn sie wusch, hing sie die Wäsche nicht auf ein Seil, sondern einfach in die Luft, und die Luft trug die Wäsche und trocknete sie, und alles kam und schaute das Wunder. Das lob' ich mir. Mir ist der Strick zu hoch. Ich möchte es ebenso machen.«

»Aber du bist ja selbst ein Strick,« lachte der Pfarrer. Er war ganz entzückt. »Ja, wie köstlich ist die Begabung und welches Wunder der Menschengeist, wenn er im Kind erwacht und zuerst seinen eigenen Verstand entdeckt, jung schillernd wie die Farben auf den Schwingen des Schmetterlings. Aus Afrika, da meldeten die Zeitungen, daß die Diamanten dort im öden Wüstensand zu Tausenden verborgen liegen und dort aufgefunden werden von uns Deutschen. So schlummern die kostbaren Begabungen auch bei uns hier auf dem Land, im Bauernstand, zwischen Dunghaufen und Schweinetrog und in den Hütten der Armut. Man muß sie entdecken, sie heben. Dazu bin ich da, und darum noch einmal: in diesem Sommer unterricht' ich den Gottlieb selbst, im Winter aber, da müßte er in die Stadt, auf das Gymnasium, und dann...«

»Er müßte, und wir hungern!« stieß da die Frau giftig hervor. Es klang fast verächtlich. »Ich brauch' den Jungen im Haus und kann ihm keine Butter auf's Brot legen. Ja, wenn der Hans käm'! Es sitzt mir am Hals. Und Sie, Herr Pfarrer, treiben wohl Ihren Spott mit uns. Hab' ich's Ihnen denn nicht vorgerechnet? das Geld für meinen Mann, baar auf den Tisch, und dann all' das entsetzliche geborgte Geld. Die Zinsen wachsen wie die Nesseln. Die grimme Not! Ich erstick' dran. Den Acker am Wald, den schönsten Acker, muß ich jetzt verkaufen. Ich kann ihn nicht retten. Der Hans kommt ja nicht. Und studieren?«

Der Pfarrer schlug sich auf die Hand, als hätte ihn eine Fliege gestochen. Sein strahlend geblähtes Gesicht fiel plötzlich in langen Falten zusammen wie ein Ballon, dem die Füllung ausgeht. »Geld? Geld? Dafür lassen Sie den sorgen, der die Stiele an die Äpfel macht.« So pflegte er wohl sonst in ähnlichen Fällen zu sagen. Aber dieser Fall war zu schwer. »Ja so, ja so,« machte er nur siebenmal. »Freilich, freilich, liebe Frau, es geht Euch nicht gut. Das ist ja wahr, und da ist schwer zu raten, schwer zu raten. Natürlich: von Schulden kann man nicht leben, und auch Horaz mußte erst satt sein, ehe er dichtete. Auch unser Schiller hat das gewußt. Freilich, freilich! Ich glaube, der Wagen wartet, der mich zur Station fährt...«

Er war schon auf der Straße. Verlegen und unvermittelt nahm er Abschied und brummte, als er in der Karrete saß, im tiefsten Erstaunen vor sich hin: »Ja ja! das Geld! das wächst nicht auf den Hecken. O wenn ich nur heute der Herrgott wäre. Woher soll die Frau es schaffen? Sie ißt nächstens Brennesseln statt Spinat. Es ist zu vieles unvollkommen hinnieden, und es ist gut, daß es ein Jenseits gibt, wo die aufblühen werden, die hier verkümmern ...«

Marie sah dem Pfarrer nicht nach, wohl aber tat das die alte Anne, Maries Schwägerin, die im Haus einsam am Fenster saß und mit gespanntem Auge alles verfolgt hatte. Sie hätte gar zu gern mit zugehört; aber sie war sehr taub und hinkte noch dazu und war zumeist auf ihre eigenen armen Gedanken angewiesen.

Der Pfarrer mußte in der Tat wissen, wie es stand. Denn er ging kraft seines Amtes seit zwanzig Jahren treulich in alle Häuser. Aber er war der vollblütigste Optimist, den Gott je geschaffen, vergaß immer das Schlimme über dem Guten, addierte immer nur, wenn er rechnen mußte, und kannte kein Subtrahieren. Daher auch der so unkirchliche Vers, den er die Kleinen lernen ließ: »Wir glauben all' an einen Gott, an keine Macht des Bösen.« Er glaubte eben wirklich nicht an das Böse. Aber das war nicht strenggläubig, und so optimistisch ist unsere Kirche nicht.

Marie war die zweite Frau des Ackermanns Christoph Matthias. Christoph Matthias war etwa 20 Jahre älter als sie und einst, wie man es nennt, ein rechter »Bauer in seiner Pracht« gewesen, mit leuchtenden blauen Augen, voll Kraft, Lachen, Scherz und Singen, aber maßlos in der Leidenschaft. Von seiner ersten Frau hatte er den Sohn Hans und noch zwei Töchter, die auswärts verheiratet waren. Als er seine zweite Frau nahm, die aus einem benachbarten Dorfe stammte, war er schon Trinker und die Wirtschaft schon in schlimmem Rückgang. Marie war damals erst 17 Jahre. Sie gab ihm zwei gesunde Kinder, zuerst den Gottlieb, dann noch ein Mädchen. Mit dem Verfall der Wirtschaft hatte aber das unselige Laster in ihm zugenommen. Seine junge Frau lebte nur noch in Angst vor ihm. Wenn sie ihm ihre Sorge zeigte, schlug er um sich.

Da hätte der Hans, ihr Stiefsohn, ihr eine Stütze sein müssen. Der war ein ruhiger, arbeitsamer Mensch. Aber schon fünfzehnjährig war er auf- und davongegangen; Marie hatte nie begriffen, warum? Wer durchschaut wohl eine verschlossene Knabenseele? Der Junge las viel Zeitungen, auch die Arbeiterzeitung, und entschloß sich auf einmal, nach Westfalen abzugehen. »Die großen Fabriken bezahlen gut. Was soll ich Futter hacken für die Schweine? mich als Bauer schinden mein Leben lang?« Das schien keine freundliche Rede. Seitdem war er nur auf Militärurlaub zweimal wieder im Wiesendorf. Aber er schien auch da ein schlechter Hausgenosse, voll Unwillen gegen den Vater, voll Scheu und Fremdheit gegen die Stiefmutter. Nur einmal hatte er wie aus Irrtum den Kopf an ihre Schulter gelehnt; es war, als er zum ersten Mal Abschied nahm; sie freute sich des; da war er schon davon.

Half der Hans nicht, so half ein anderer; das war der Händler, der Salli Wolff. Der Wolff versprach Diskretion, tiefste Verschwiegenheit, und ihm verfiel der alte Christoph Matthias mit Haut und Haar. Bargeld und wieder Bargeld! Ein blühender Wucher. Der Hof des Matthias mit zwei oder drei Morgen Wiesen und Acker und gutem Obstgarten, das war kein so übler Bissen. Hatte der Wolff nur Geduld, so mußte er schließlich den Zwangsverkauf erleben. So setzte er denn auch gelegentlich, ohne auf Zahlung zu dringen, ein Fäßchen Kartoffelschnaps im Haus des Matthias ab. Es war wie geschenkt. Marie erschrak jedesmal, wenn der Wolff vorfuhr; er brachte Gift, Gift, und er kam immer häufiger. Jede Nacht steigerten sich die tierisch-wüsten Scenen.

So geschah denn das Schaurige, daß der Alte, als er sich taumelnd auf das Bett warf, sein jüngstes Kind im Schlaf erdrückte. Das Kind war noch nicht zwölf Monate alt. Erstickt wurde es unter ihm hervorgezogen. Als er die entstellte kleine Leiche sah, brach er wie blöde zusammen. Der Pfarrer griff ein. Der Zerrüttete kam in das Asyl für unheilbar Trunksüchtige. Auch dafür mußte der Wolff vorläufig das Geld schaffen. Aber Maries Gemüt war vom Schwersten, Gräßlichsten zunächst befreit. Der Mann, der ihr einst wahrhaft lieb war und dem sie immer ergeben blieb, war ihr zur Qual, zum Grauen geworden.

Jetzt endlich konnte sie ungestört versuchen, die Wirtschaft zu heben: ein zähes Ringen! ein Verzweiflungskampf mit der grauen Not. Sie blieb mit der alten Anne allein, und es fehlte an Händen. Früher fuhr sie an den Markttagen mit ihrer Ware selbst zur Stadt. Jetzt mußte sie, was wuchs, an Zwischenhändler unter dem Preis verschleudern. Das ging nun schon so das dritte Jahr. Es war alles vergebens. Ja, wäre der Hans da! Da wäre gleich alles anders.

Sie hatte ihm gleich anfangs geschrieben und schrieb ihm wieder und wieder. Aber er schickte nur einmal ein Sümmchen Geld, und in seinen Briefen stand jedesmal nur das trostlose »Unmöglich«.

Sie grübelte: der Vater würde sterben. Und Hans war dann der Erbe. Der Zusammenbruch, der jetzt drohte, traf doch auch ihn. Für ihn, für den Hans mühte sie, die Stiefmutter, sich ab, und er wußte ihr keinen Dank. Steckten Weiber dahinter? hielten Liebschaften ihn fest? Das wäre schlimm, und doch, es wäre noch eine Erklärung! Sie wußte nicht, was sie glauben, hoffen, denken sollte. Aber die Leute im Dorf, die sagten: »Die Stiefmutter hält den Stiefsohn von seinem Erbe zurück; er kann die Mutter nicht leiden. Das ist's, da steckt's.« Das war das Schrecklichste.

Nun hatte sie ihm vor acht Tagen aufs Neue geschrieben: ein letzter Notschrei.

Das Feuer erlosch auf dem Herd. Der Gottlieb war im Holzstall, die alte Anne pflanzte Rüben hinterm Haus. Marie saß einsam, erregt, die Stirn an das niedrige Fenster gepreßt, und spähte fiebernd weithin die Straße entlang. Dort hinten am Steg, war das nicht die Mütze des Briefboten? Jetzt war seine Stunde. Aber nein! es war nichts, es war bittere Täuschung, und sie sank trostlos in sich zusammen.

Dicke Staubwolken flogen ans Haus: ein Automobil raste vorüber. Die jungen Gäule scheuten, die man zur Tränke ritt. Touristen schössen auf Fahrrädern dahin, und auch Buntkappen, ein ganzer Trupp Studenten, kamen marschiert: die hieben in die Luft mit den Stöcken, und »Wohlauf, noch getrunken« und »Lindenwirtin du feine«, so klang es bald aus dem nahen Wirtsgarten herüber. Tausend Menschen, die ihrem Ziel nachjagen, fröhlich und wohlgemut! Und sie? Sie verging vor Not und tätlicher Unruhe. Eine Entscheidung mußte kommen, heute noch. Sie fühlte es instinktiv voraus. Wenn Hans nicht kam, war alles zu Ende, und wenn er kam – sie vermochte nicht weiter zu denken.

Da pochte der Fritz Wigand an ihr Fenster. »Vom Hans, vom Hans! ich muß es Euch doch zeigen.«

Das Fenster flog auf. Eine Postkarte! »Vom Hans? Und was schreibt er dir?«

»Nun, was soll er wohl schreiben? Nur so ein Kartengruß, Gruß und Name. Weiter nichts. Aber dazu sein Bild; das ist auf der Karte. Da habt Ihr den Burschen: so groß und so ähnlich! Es ist fast protzig. Aber ganz der Hans, nichtwahr? Nur einen kräftigen Schnauzbart hat er hinzubekommen.«

Wortlos starrte Marie auf das Bild. Da legte der geschwätzige Bursche den Finger darauf: »Ein feiner Kerl ist er doch, und das ist er immer gewesen. An den reich' ich nicht; und ich will ihm auch gleich schreiben, daß ich mit der Lene versprochen bin. Das wird ihn freuen.«

Freuen? Marie hätte das Bild gern behalten. Sie warf noch einen hastigen Blick darauf. Das also war der Sohn, auf den sie hoffte. Diese hängende Haltung, dieses Auge, das zur Seite wegblickt: es war noch immer dasselbe wie damals. Auch noch immer der verschleierte Ausdruck, der Mißmut, der scheue Geist. Immer noch? Wie kam das? Daheim ist der Hans nicht glücklich gewesen, er ist es in all den Jahren auch in der Fremde nicht geworden. Er hat kein Frauenglück. Marie fühlte tiefes Mitleid.

»Er ist nicht froh,« sagte sie leise, als der junge Bauer die Karte wieder in seine Tasche schob, und fügte müde hinzu: »Ich wollt', er wäre so weit wie du, Fritz. Ich laß' auch deine Lene grüßen.«

Der Bursche ging. Sie schloß das Fenster und deckte die Augen mit der Hand. Nun hatte sie genug zu denken. Ihre Ratlosigkeit, ihr Kummer wurde noch größer. Es war so still um sie her. Auch die alte Wanduhr stand still. Keine Fliege summte: als ob Himmel und Erde leer wäre und sie wär' allein geblieben in der verlassenen Welt. Und an den Fritz also hatte der Hans gedacht. Warum nicht an sie? An den Fritz hatte er geschrieben. Es war zu lieblos. Warum war sie seine Mutter? Wenn sie nicht seine Mutter wäre, dann wäre alles anders! Wenn...

Da schrie draußen der Gottlieb: »ein Brief, ein Brief!« Der Gottlieb hatte dem Landbriefträger aufgepaßt und sprang in die Stube: »Er ist vom Hans!«

Das war ein Schreck, eine Spannung, ein Fürchten und Hoffen, unaussprechlich! Marie nahm das Blatt. Ihre Finger zitterten. Das Licht der Abendsonne durchsonnte die Stube. Halbgeblendet begann sie so, am Fenster sitzend, ein langsames, feierliches Entziffern. Und sie las: »Mutter, da du in Not geraten und geschrieben hast, daß alles davon abhängt, und da du dich auch um Gottlieb bangst, so komme ich und will bei Euch bleiben. Ich komme zum Wochenschluß, am Sonntag. Hans.«

»Er kommt und will bleiben!« Die Überraschung war fast zu groß. Marie schloß die Augen, von Schwäche überwältigt, und es währte lange, bis sie sich wiederfand. Dann küßte sie ihren Gottlieb und flog zur alten Anne in den Garten. Die aber sah kaum von ihrem Werk auf und knurrte nur: »An den Christoph denk', der dein Mann ist. Ich bete täglich, daß der Christoph uns noch gesund wird. Nicht der Hans, der Christoph muß kommen. Sonst werd' ich nicht froh, weiß Gott, und du auch nicht.«

Marie ließ sie stehen. Der Abgott der Alten war eben Christoph, ihr Bruder; ihr ganzes Herz hing von jeher an ihm. Sie zürnte noch immer, daß man ihn fortgebracht, und sprühte Gift, wenn man ihn tadelte. Man mußte ihr den Wahn lassen.

Das Wiesendorf merkte bald, daß es im Hause der Frau Matthias anders stand. Zwei kräftige Arme mehr! und ein Wille dazu! Der Hans war gekommen. Seine schnarrende, tiefe Stimme scholl über den Zaun. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft hatten ihn alle gesehn. Frau Marie saß gleich am Sonntag nach seiner Ankunft in der Kirche, zu der sie lange Zeit nicht den Weg gefunden. Sie war zu müde zur Andacht gewesen. In einer Last schwerer Röcke, in hübschem Käppchen, Zwickelstrümpfen und Schnallenschuhen (das waren lauter altererbte Sachen) saß sie wieder ganz stattlich im Gestühl und genoß die Predigt wie ein heiliges Ergötzen. Und auch der Hans war da und sprach vor der Kirchentür mit Alten und Jungen, und alle krausen Mienen glätteten sich, und man grüßte Marie wieder mit Achtung. Ja, die schwarze Grete schlug plötzlich einen taubenhaften Ton über den Zaun an und war zu jeder Hilfe erbötig.

Marie hatte zum Empfang für Hans das Haus gefegt, ihm das Bett geglättet und das Bettkissen mit dem schönsten blaukarrierten Bezug bezogen. Dann war sie mit Gottlieb zur fernen Bahnstation geeilt. Der Fluß lief neben ihrer Straße her und schoß in seinem Bett wie im Fluge dahin; sonnige Libellen flogen durch das Schilfgras. So fröhlich flog auch ihr Schritt talab. Der Lokalzug fuhr klingelnd ein. Das war wie ein festliches Glockenläuten. Und da stand er schon, der Hans, auf dem Trittbrett des Zuges, streng und in sich gekehrt, ganz wie auf dem Bilde. Jeder sah ihm an: der Mensch hatte einen eigenen Willen, der nicht zu brechen war. In ihrem Auge war dagegen nur Dank und dienstfertige Liebe. Nur, als Gottlieb ihn grüßte, lächelte Hans kurz; dann sagte er ernst und mit einem dunklen Stolz: »Ich bleibe, weil du es willst. Aber ich gebe viel auf, Mutter; das kannst du nicht verstehen. Aber du bist doch nicht krank gewesen? Du siehst schlecht aus. Ich rechne auf deine Hilfe.« Es war so, als sagte er: Nimm dich zusammen; denn eine schwächliche Person kann ich nicht brauchen. Sie stand bestürzt da und schüttelte den Kopf, sie schüttelte den ganzen Körper, als müßte jetzt augenblicks alle Schwäche von ihr abfallen. Da bereute er schon sein Wort und nahm ihre Hand: »Ich danke dir,« sagte er. »Du hast mich an meine Pflicht erinnert.«

Die Sonne senkte sich. Da schwamm vor ihm im goldenen Licht der alte Kirchturm seines Dorfs und all' die wohlbekannten Giebel und Dächer. So gar nichts verändert! Ein beglücktes Empfinden malte sich flüchtig auf seinem Gesicht. Heimkehr, Heimkehr in die Kinderzeit! Es war alles so still, wie ein Feiertag. Hier war er als Kind einmal wirklich froh gewesen, wirklich froh und dann nicht mehr! nie wieder! Es war damals, als er noch so jung wie der Gottlieb war. »Es ist gut, daß du da bist, Gottlieb,« sagte er. Dann wurde sein Ausdruck verstört. Sorgenvoll trat er in sein Vaterhaus.

Im engen Flur hing die ausgestopfte Eule noch wie früher an der Wand; ihr gegenüber aber sah Hans die alte Anne stehen, an die Wand gelehnt, eine zweite Eule. Der alte Vogel hatte die Glasaugen verloren, die alte Anne sah dagegen scharf. Forschend und kühl hing sich ihr Blick an den Neffen, und sie sagte nichts als: »Sieh' an, sieh' an! Ich wollte, ein Anderer wär's. Dann wär' uns besser.«

Auf enger Stiege hinan: da fand Hans seine alte Schlafkammer wieder, die er mit Gottlieb teilte. Links daneben lag die Kammer der Eltern. Der Gottlieb aber begann gleich schüchtern sein kluges Fragen und lebhaftes Erzählen und nahm des Bruders Herz wie im Sturm (das war seine liebe Art, der niemand widerstehen konnte); bis er plötzlich einschlief. Hans war mit sich allein.

Ein Geruch bäuerlicher Armut war in dem Raum. Er stieß das enge Fenster auf. Das Mondlicht fiel mächtig herein. Da stand der alte Birnbaum noch am Haus, der treue alte Hausfreund, und rieb am Dachgebälk klappernd seine windbewegten Äste. Wie oft war Hans einst in den Baum geklettert! Er sann und blieb wach, bis im Morgengrauen die ersten irren Vogelstimmen, der erste Hahnschrei sich regte. Der Gegensatz von gestern und heut' war zu groß, die Heimkehr zu schwer. Aber er hatte alles durchdacht und überlegt, und sein Plan stand fest.

Damals, als er konfirmiert und als gleichzeitig der Gottlieb geboren war, da hatte der Hans sich aus dem Hause davongemacht. Fünfzehnjährig trat er in der großen Maschinenfabrik in Iserlohn als Lehrling in Stellung, dann in der Dampfkesselfabrik von Lange und Lersch in Essen und besuchte dabei zugleich die Fortbildungsschulen und lernte zeichnen bis zu seinem 18. Jähr. Dann kam die Militärzeit. Zweimal kam er als schmucker Husar auf Urlaub nach Haus, ein brauner Bursch wie aus den Zeiten Martin Luthers: »gerad' an Leib, schön von Angesicht, schamhaftig von Sitten,« jedenfalls nicht einer von denen, die an allen Türen hängen bleiben und nach den Händen der Weibsleute greifen. Aber mit dem Dortchen, der Tochter der schwarzen Grete, tanzte und sprang er doch nach Herzenslust. Warum sollte er mit dem hübschen Ding nicht tanzen? Er hatte mit ihr ja schon immer als Kind gespielt, und sie kam ihm sichtlich entgegen. Aber zu Weiterem kam es nicht. Er wollte warten, und sie war auch zu dörflich und täppisch. Sie taugte für das große städtische Leben nicht, das er vor sich sah. Denn kaum hatte er den Husarenrock abgelegt, als er schon in der großen Fabrikstadt Dortmund als Tagearbeiter eintrat, in die Walzwerke der Dortmunder Union. Als tüchtiger Mensch wurde er bald gut bezahlt. Ein Tagearbeiter unter Tausend! Aber dies Leben nahm ihn ganz ein. Rausch und Betäubung! Nicht der Trunk, die Arbeit berauscht: das Zischen der Kessel, das Stampfen der Kolben, das Pochen und Hämmern, die großmächtige Rhythmik der Arbeit war wie ein atemloser dröhnender, wirbelnder Tanz.

Je komplizierter das Getriebe, je mehr wuchs in dem jungen Mann der Verstand, das Interesse, die kaltblütige Liebe zur Maschine. Seine Aussichten waren die besten. Auch legte er seit langem Geld auf Zins und verspielte nicht wie so viele Seinesgleichen den Wochenverdienst am Wochenschluß in den Kantinen. Die Briefe der Mutter warf er achtlos bei Seite. Wie? er sollte jetzt auf's Dorf zurück? Wer konnte das von ihm verlangen? Als aber Marie's letzter Notschrei zu ihm drang, da stürzte auf einmal alles zusammen. Ein Dr. Lohmeyer war der Inspektor der vielköpfigen Arbeiterabteilung, der Hans Matthias angehörte. Der Herr hatte längst wohlwollend auf ihn Acht gegeben: ein Mann von tiefgehender volkswirtschaftlicher Bildung, der sich um die Wohlfahrt der handarbeitenden Bevölkerung auf das umsichtigste bemühte. Hans faßte sich ein Herz und legte ihm seine schwierige Lage dar. Da wurde ihm klare Antwort: »Der Sohn muß zur Familie stehen: das ist das Erste. Das heißt, wer ererbte Pflichten hat, der soll keine neuen Pflichten suchen. Und jeder Stand in unserem Volk ist der Ehre wert: das ist das andere. Wir wollen auch den Bauernstand hochhalten.«

Hans erkannte, daß er in diesem freundlichen Herrn einen wahren Gönner gefunden. Der Mann versprach kräftigen Vorschuß, gab ihm gleich ein blaues Papier schenkweise zur ersten kleinen Hilfe, beriet alles Weitere eingehend mit ihm und verlangte regelmäßige Nachricht.

Das war es, was Hans jetzt in den Nachtstunden zehnfältig rechnend überdachte, bis ihm doch endlich das Bewußtsein schwand. Er schlief, und im Schlaf stand er wieder in seinem Fabriksaal und am zischenden Kessel. Der Feuerschein der Esse, Dampfwolken, gleitende Räder und Riemen, Ruß, Funkensprühen, Kohlenstaub, Gasluft, rauchgeschwärzte Dächer, riesige fensterlose Brandmauern, die Glocke der Fabrik: ein vibrierendes Durcheinander, der wirre Nachklang des vergangenen Lebens, in dem er noch gestern gestanden. So träumte er. Aber kein Frauenbild erschien ihm im Traum.

Mit Sonnenaufgang stand er schon vor der Mutter, unten in der großen gedielten Stube. Er hatte den alten abgetragenen blauen Bauernkittel seines Vaters an, und er ließ der Mutter nicht Zeit zu Worten. Sie erfuhr sogleich: dem Wolff konnte er das Nötigste zahlen. Dann sollte die neugegründete Volksbank helfen. An Verkauf der Äcker war nicht zu denken. Wohl aber an Kauf. Ein paar Kühe in den leeren Stall: die wollte er schaffen. Das sollte das erste sein. »Ein Kalb und eine Kuh deckt alle Armut zu.«

Der Kauf geschah. Das war ein Ereignis. Welch liebliches Getön, als es drinnen wieder am Eisenring riß und zerrte und langgezogen ein dumpfes Gebrüll sehnsüchtig durch die offene Stalltür dröhnte: es war für Marie wie Orgelklang. Nun hatte das Grasschneiden wieder Sinn, und der Haushahn schlug die Flügel wieder stolzer auf dem wachsenden Dunghaufen, und die Milchwirtschaft begann: mit blanken neuen Milchkannen ging es wieder zur Bahnstation. Die leeren Töpfe steckten zum Austrocknen auf dem Lattenzaun. Der Hans liebte auch die Blumen. Im Vorgarten pflanzte er Malven und Dahlien in einer dichten Reihe; die sollten im Herbst sich hoch über den Zaun strecken und den Leuten draußen verkünden, daß das Leben hier neu zu blühen begann.

Die alte Anne sprach sonst jeden Abend inbrünstig ihr Gebet für den Bruder Christoph und seine Genesung. Aber jetzt sperrte sie den zahnlosen Mund vor Staunen auf und vergaß ihr Beten ganz. Sie durfte wieder im warmen Stall auf dem Schemel reiten und Kühe melken.

Das war ein Aufleben. Nur der Hans selbst blieb, wie er war, trübsinnig, verschlossen und ungesprächig, und alle helle Freundlichkeit der Mutter schien vergebens. Er rechnete und plante nur, die Stirne gefurcht: wie lange würde er noch in dieser Baracke hausen müssen? Er wollte umbauen, neu bauen. Mit Ingrimm zahlte er auch das Geld für den Vater. Er schlief nicht und verzehrte sich in Ungeduld. Und die Mutter? Er ließ sie gehen und ihr Werk tun und gab Acht, daß sie rechtzeitig ihre Ruhe fand. Das war alles.

Oft stand, wenn er im Hof hantierte, Nachbar's Dortchen drüben am Zaun und versuchte ein Geplauder, eine Spaßerei, mit ihm: »Hans, Hans, kommst nicht herüber?« Sie war ein dralles, rosiges Ding, mit allerliebsten Mäusezähnen, wenn sie lachte, und der Hals wuchs ihr voll und weich aus dem losen blauen Mieder. Der Hans aber biß die Zähne zusammen. Er hatte nicht Lust. Das ging drei-, viermal so. Er wollte nicht. Seitdem höhnte sie ihn und steckte die Zunge aus, wenn er nahe kam. Oha! Sie hatte ja auch sonst Burschen genug, die nach ihr frugen.

Marie war mit Hans in der Sonntagsfrühe allein. Da hielt es sie nicht länger, und aus ihrem Herzen kam es voll Trauer und Zärtlichkeit: »Hans, du bist nicht froh bei uns. Sehnst dich fort? In der großen Stadt, da war gewiß ein viel besseres Leben?«

Sie nahm sein Haupt zwischen ihre Hände, aber er machte sich los. »Ja, hast schon recht; schön war es dort, Mutter,« sagte er zögernd, »und ich denke oft danach zurück. Aber das ist es nicht...« Er brach ab und brütete vor sich hin.

»Was hast du noch?«

»Findst du nicht auch,« begann er langsam, »daß ich Reu' haben muß, darum daß ich dich so lang hier allein ließ? und daß ich gar als junger Bursch von Euch gegangen bin? Das war eigentlich schlecht von mir. Denn dadurch bist so blaß und elend geworden. Aber bei Gott, ich konnt' nicht anders...«

»Aber Hans, was red'st? das ist ja nichts! Mir ist ja jetzt so unbeschreiblich gut. Und ich hab' dir auch mein Lebtag nicht gezürnt.«

»Aber ich dir,« fuhr er auf. »Ich hab' dir gezürnt, Mutter! Sollen wir einmal auf's Reine kommen?«

Was hatte er? Sie fürchtete sich fast. Er zauderte und ließ sie warten. Was zu tief im Schacht des Herzens sitzt, das will nicht heraus, und die Zunge kann es nicht heben. Ihm kamen die Tränen.

»Ich gedenk' an meine Kinderzeit,« kam es langsam und rauh hervor. »Die Martha und die Hedwig, meine beiden Schwestern, waren deine Stieftöchter. Du hast sie gezwungen, sich als Dienstmädchen in der Stadt zu vermieten und auswärts zu heiraten. Die Leute sprachen: das war, weil du allein im Haus herrschen wolltest. So kam's. Der Gottlieb ward geboren. Da ging ich auch weg, weißt du nun, warum? Ich dachte, sie wird doch nur Liebe für ihren eigenen Sohn haben. Der Stiefsohn ist ihr auch im Weg. Und so war es auch. Darum bin ich gegangen, bin Arbeiter geworden und hab' gar nie zurück gewollt, auch nicht, als Vater krank wurde. Ich habe Groll in mir getragen, Mutter, gegen dich, und wenn ich so alles überdenk: ich hab' ihn noch. Ich hab' mich nach deiner Liebe gesehnt, nach Mutterliebe. Aber du hattest nur Augen für den Vater und für dein eigen leiblich Kind.«

Er hob den gesenkten Kopf. Es tat ihm wohl, das gesagt zu haben. Es tat ihm auch wohl, daß sie jetzt sagte:

»Nun weiß ich es, Hans. Ich habe wider Wissen und Willen an dir gesündigt. Ich habe über dich weggesehn. Es wird so gewesen sein. Ich entschuldige mich nicht. Bedenk', daß ich noch so jung und unklug war. Und es ist lange her. Kann ich's nicht wieder gut machen?«

»Hab' mich lieb, Mutter,« sagte er warm und griff nach ihren Händen und legte sie sich weich auf Stirn und Wange. Er sah, daß sie lächelte. In ihrem Lächeln war die Bejahung. Es war ihr ja so selbstverständlich, daß sie den braven Menschen liebte. Da kam der Gottlieb hereingerannt; den liebten sie beide, und es war, als ob die goldene Frühlingssonne aus grauen Winterwolken sprang: ihre Herzen waren auf einmal frei und froh geworden.

Das war nun eine schöne Zeit. Jetzt gewann Marie endlich mehr Frische, sie gewann Farbe und Jugend zurück. Hans aber hatte für Gottliebs Lernbegier offenen Sinn; er ging jetzt zum Pfarrer Rosentraut; der mußte einen Bericht aufsetzen, den Hans an das Landratsamt, aber auch an seinen Gönner in Dortmund sandte, und der menschenfreundliche Herr versprach auch für Gottlieb Hilfe, sobald die Zeit es erforderte. Das war ein Jubel. Der Gottlieb erzählte es jedem: »ich soll studieren!« Maries Herz schwoll vor Stolz. Das ganze Dorf hörte die Nachricht mit andächtigem Erstaunen und zählte nun die Familie Matthias wieder zu den vornehmen. Und gar die alte Anne! Sie fand Abends ihr Bett nicht mehr, so eifrig strickte sie. Fragte man, was sie strickte, so sagte sie voll Ehrfurcht: »Studentenstrümpfe«.

Sonntags wandelten die drei regelmäßig zusammen zur Kirche, der Hans in seiner städtischen Montur mit steifem Stehkragen und gestickter Weste. Das imponierte den Leuten sehr. Den Rest des Tages blieb Gottlieb dann meist beim Pfarrer, der es nicht für gottlos hielt, auch am Sonntag zu arbeiten. Er unterrichtete den Knaben und streute den ersten schweren Samen des Latein in das junge spröde Ackerfeld. Des Abends kam der Bub' dann mit heißem Kopf nach Haus. Hans aber ging indes mit der Mutter zur Sonntagsfeier über die Felder, in den Wald. Sie freuten sich der Schönheit des Himmels über ihnen und ließen ihre Augen klar in den Tag hinausschauen, jeder vor sich hin, jeder zufrieden, aber doch in dem Gefühl, daß es nicht immer so bleiben konnte.

Sie hatten im Wirtshausgarten bei einem Glas Milch und Bier gesessen und strichen langsam durch die duftenden Wiesen. Aus der Ferne scholl der weiche zweistimmige Gesang der Mädchen, die in langer Reihe auf der Straße Hand in Hand gingen. Da begann Marie: »Sag' mir nur, warum bist gegen das Dortchen so kurz? Das ist nicht gut; sie ist eine Reiche...«

»Dies Schandmaul, die Kröte! die schwarze Grete! Sie waren schlecht zu dir, Mutter. Das ist mir genug.«

»Aber du solltest heiraten!« Sie blieb stehen und lachte ihn an: »Du bist so einer, der kann sich auch eine Reiche holen. Oder auch eine, die nicht reich ist. Das ist immer eine Hilfe. Gelt! und ein paar kleine Kinderchen auf dem Hof! das fehlt uns auch, Hans. Raum ist ja genug. Ich würde unten bei unserer Alten schlafen.«

»Und der Vater?«

Hans hieb mit dem Stock ein paar Blüten vom Zweig, daß sie taumelnd durch die Luft flogen.

»Wenn nun doch der Vater wiederkäm', mein' ich.«

Marie lächelte leichthin: »Das glaubst du selber nicht.« Sie hatte den Christoph eben ganz vergessen.

Da kam der Herr Pfarrer mit seiner Frau und dem Gottlieb daher: »Nun, das sind wir gewohnt. Mutter und Sohn einträchtig beisammen!« So ging die Begrüßung. Die Frau Pfarrerin war in ihren besten Handschuhen; ihr Mann aber sah unter einem gelben Sonnenschirm hervor, der für ihn viel zu klein war, und auf seinem gewaltigen Haupt tronte etwas schief ein winziges Strohhütchen mit blauem Band. Trotz der Handschuh' machte sich die Frau Pfarrerin mit Gottliebchens Hilfe einen schönen Feldblumenstrauß. Der Pfarrer aber sah den Hans prüfend an: »Heiraten mußt du,« sagte er wuchtig. Hans stutzte. Hatte der Mann ihr Gespräch erraten? Er blickte fast ehrfurchtsvoll zu ihm auf.

»Du gehst immer mit der Mutter, Matthias. Das ist ja schön. Aber die Leute wundern sich. Bist du zu gut für uns andere, du Stadtmensch, daß du dich nicht gemein machen willst mit den Leuten hier? Oder bist du zu schlecht und hast was auf dem Gewissen, daß du nicht grad' so frisch und fröhlich wie die andern bist?«

»Herr Pfarrer, rechnen Sie, bitte, nach,« sagte Hans. »Ich hab' für den Vater zu zahlen, ich soll Mutter und Bruder ernähren und auch die Wase, die alte Anne, und wir stecken noch immer in Schulden, und der Wucherer steht hinter uns. Heirat' ich, da hab' ich in vier Jahren noch drei, vier Bälge mehr. Ich muß Junggesell bleiben. Das ist mein Los. Das ist unser Leben.«

Der Pfarrer stand mit großen, glückverheißenden Augen da: »Selbstlosigkeit ist Tugend, mein Sohn, und der Herr will Opfer, aber kein Opfer des Fleisches und der gesunden Triebe. Das rächt sich. Die Heirat in jungen Jahren ist gesund. Du kennst ja das Kätchen, unsere alte Köchin aus Hesselbach. Ich will sie dir nicht aufschwatzen, oh nein! Denn sie ist 50 Jahr. Aber beiläufig, sie sorgt für alles bei uns wie die liebe Vorsehung. Wenn ich auch nichts sag', hab' ich doch im Winter immer die Wärmflasche im Bett. Und dann, sie kocht dir!...«

Der Pfarrer schnalzte unwillkürlich mit der Zunge, ehe er fortfuhr: »Nun also. Besagtes Kätchen hat eine Nichte in Hesselbach, das ist die Lisabet, die sich Elisabet Erdmann schreibt. Der Erdmann ist ein schwerer Bauer, und sie – nun wirklich und wahrhaftig, ein hübsches Ding. Ich hab' sie bei uns in der Küche gesehn.« Der Pfarrer schnalzte leise wieder und mußte dann über sich selber lachen. »Kurz und gut, geh' hin, Hans, geh' nach Hesselbach. Sie weiß schon von dir.«

»Eine Reiche nimmt den Armen nicht,« warf er ein.

»Versuch's, versuch's!«

Hans sah nach der Mutter. Ihr Auge traf ihn so bittend, überredend. Er stand verlegen und sagte kein Wort mehr.

Vor dem Schlafengehen saß er gedankenvoll, mit umwölkter Stirn. Sie trat auf ihn zu, streichelte ihm das Haar zurück und sah ihm freundlich dringend in's Auge. Er zuckte zusammen.

»Faß' einen Entschluß, Hans,« sagte sie. »Tu's mir zu lieb.«

Er wußte nicht, wie ihm war. Er wurde tief betrübt. Ihm gingen die Augen über. So saß er mit nassen Augen lange Zeit und starrte durch's Fenster in den dunklen Nachthimmel.

Es folgte die heiße Zeit der Ernte, und auch im Herbst ging die Feldarbeit weiter. Die Abende längten sich. War die Sonne unter und die Suppe und die Bratkartoffeln verspeist, saß der Gottlieb noch mit schmierigen Tintenfingern über seinen Lernbüchern, die alte Anne saß bei ihrem Strumpf, Hans aber lag schwer müde auf der Ofenbank ausgestreckt, stopfte sich die Pfeife und qualmte und las das Wochenblatt, bis es ihm entfiel. Er war eingenickt. Blickte er dann aus dem Schlaf auf, so freute er sich, daß die Mutter mit ihrem Nähwerk an seinem Kopfende saß und daß er ihren freundlichen Blick auffing, der auf ihm ruhte. Er war doch ein rechter Muttersohn, das mußte er sich sagen. Die verlorene Mutterliebe wollte er jetzt wieder einbringen. Das war's. Er vergaß es ganz, daß Marie nur seine Stiefmutter war. Marie aber sagte an jedem Abend zu ihm, wenn er so glücklich dreinschaute: »Überleg' es, Hans, vergiß es nicht. Tu, es mir zu Lieb'.«

Der Samstag kam. In Hesselbach war Kirmes, Tanzmusik für zwei Tage. Der Marie fiel auf, daß der Hans heute schon vor Sonnenaufgang bei den Kühen war und in welcher Hetze er die Arbeit tat, grad' als fürchtete er, etwas zu versäumen. Richtig, als es Mittag war, da hatte er schon seinen städtischen Anzug an, mit dem keck gespaltenen grauen Filzhut mit grünem Band, der ihm schräg saß. Er guckte in den kleinen Wandspiegel. Er sah so recht zum Verlieben aus.

»Hans! Wohin? nach Hesselbach?«

»Ja, Mutter. Erst in die Stadt, zur Bank, und wegen der Maschinen, und dann...«

Nach Hesselbach! Eine große Befriedigung erfaßte Marie. War der Hans auch noch unschlüssig, er ging doch; er war gutwillig und verständig. Die schwarze Grete sah, daß Hans fortmachte; sie griff sich den Gottlieb und fragte ihn aus: »wohin?« Sie dachte sich ihr Teil, und in ihr kochte es.

Als Marie nach der Vesper zum Brunnen kam, um Wasser zu holen, stieß Grete ihren Eimer fort und schrie sie an: »Fängst wieder an, dich breit zu machen? Gib Acht. Auf den Gottlieb solltest du Acht geben, den infamen Bengel. Das Diebsgesindel! Steigt mir täglich in den Garten und frißt sich voll. Die Reinetten! grade die feinste Sorte! Meint Ihr, die sind für Euch gepflanzt?«

Marie rief nach ihrem Gottlieb. Der wurde ganz rot: »Ich schoß mit den Pfeilen, die mir Hans gegeben; die flogen hinüber. Da kletterte ich nach, und ich hab' wohl auch ein paar Äpfel gegessen.«

»Da hast du's! und unsere zwei besten Enten sind weg! Nun weiß ich auch, wo die Enten sind,« ging es weiter. »Jawohl! Armut und Ehrlichkeit sind selten zusammen. Der Bub' hat sie gestohlen und du, du hast sie in der Stadt verkauft. Kinder kann man nicht vor Gericht stellen, und die Mutter füllt ihre Taschen und weiß von nichts.«

Da schoß Marie der Zorn in's Gesicht: »Beim lebendigen Gott, das ist nicht wahr, das ist erlogen.« Sie sah, wie die Weiber neugierig zusammenliefen, und sie bezwang sich nicht und sagte streng, so daß alle es hörten:

»Achte du auf deine eigenen Kinder. Dein Dortchen mein' ich, das Jungfernkind. Wie soll's die Dirn' anders treiben als du? Wann wird bei ihr nicht eingestiegen? Seit diesem Sommer weiß ich's. Ich müßte taub sein, wenn ich's nicht hörte. Die Mannsleut' steigen deiner Tochter in den Obstgarten, und du, du weißt es selber. Ich brauch' dich nicht erst zu warnen: Grete, gib Acht!«

Da war ein Zurufen und Lachen. Die Leute um den Brunnen stießen sich mit den Armen an. Grete aber gab mit gesenkter Stimme zurück: »Der Hans ist schlecht gegen mein Kind gewesen. Das kann ich laut vor allen sagen, und daher kommt's. Wenn das Kind heut nicht gut tut, so ist er daran Schuld, der Lump. Und wer weiß, wem der Hans jetzt nachstellt? Aber ob er alle Tag' nach Hesselbach läuft, ihn nimmt keine, die auf Ehre hält.«

Marie war ruhig geworden. Sie zuckte nur die Achseln und sagte nichts mehr. Da kreischte die andere: »du meschante Person!« und stellte sich drohend hin: »Du belauerst mein Haus und ich deines. Warte nur! Ich werde von nun an ein Auge auf ihn haben.«

Ihr voller Eimer schlug um. Das Wasser klatschte. Die Grete hatte ihn in ihrer Wut umgestoßen. Marie füllte ruhig den ihrigen und ging mit Gottlieb davon.

Sie war schlafen gegangen. Es war Mitternacht. Da knarrte die Stiege. Hans trat in die Schlafkammer der Mutter. Sie fuhr erstaunt in die Höhe.

»Schon heut zurück?«

»Ja,« sagte er und lehnte behaglich am Pfosten. »Ich hab's eilig gemacht. Ist dir's nicht recht? Ich bin schwer müd'. Aber komm. Hast du nicht noch Kaffee für mich? Oder eine Flasche Bier? Ich will dir erzählen...«

»Es ist ja nicht viel zu erzählen,« sagte er, als sie unten in der Stube saßen. Er trank das Bier rasch und sah sie glücklich an. »Es ist ja nur, daß ich dich noch etwas seh', Mutter.« Und er sprach von dem, was er in der Stadt geschafft; eine Maschine zum Rübenwaschen hatte er sich angesehen; die war für alt zu kaufen. Er hatte sich mit dem Fritz Wigand zusammen getan; der Kauf würde wohl zu Stande kommen. Das war wieder ein Fortschritt. Und von der Volksbank hatte er Geld erhoben; er wollte noch im Herbst das Dach erneuen.

»Und Hesselbach? und Erdmanns?«

Er blinzelte sie übermütig lustig an und sagte nichts.

»Und die Lisabet?«

»Ganz recht, zum Schluß war ich auch in Hesselbach bei Erdmanns. Nun ja! da haben wir den Dreher getanzt, daß die Röcke flogen. Auch gesungen haben wir. Sie gefiel mir wirklich ganz gut und hätte mich wohl auch recht gern bis morgen früh bei sich behalten. Aber es eilt ja doch nicht, Mutter. Es hat mich heimgetrieben. Ist es nicht schöner so, daß ich so zur Nacht wieder bei Euch bin?«

Dabei gähnte er und streckte sich auf die Ofenbank. Die Mutter saß, wo sie immer saß. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter, wie er es einst, ein einziges Mal, als Knabe getan. Ihr Hals stand offen. So schlief er rasch ein, und sie rührte sich nicht, sie wagte sich nicht zu rühren: als er den Arm auf einmal hob und sie umschlang und an sich zog. So hielt er sie fest. Dann öffnete sich sein Auge, und er sagte dämmernd in einem seligen Ton: »du süße« und küßte sie.

Der Hans war wohl nur betrunken gewesen. »Das ist so, wenn einer von der Kirmes kommt.« Das sagte sich Marie am andern Morgen. Sie fand ihn ganz unbefangen und aufgeräumt. Sein Blick ruhte in einem ruhigen Glück in ihrem Auge.

Am nächsten Sonntag bestand sie darauf, mit ihm zusammen nach Hesselbach zu gehen. Es war der schönste Herbsttag. Die Lisabet zeigte das freundlichste Gesicht und zwei so strahlend rote Backen wie die Äpfel, die sie anbot. Auch Kaffee gab's und Frischgebacknes. Die Männer rauchten und spuckten und gingen bald zum Kegeln. Marie aber sprach mit dem Mädchen offen und in mütterlicher Sorgfalt über den Hans und daß er jetzt bald heiraten könne. Es herrschte ein Ton des Vertrauens. Lisabet sagte ohne Zögern, sie sei dem Hans gut und wolle kommen; sie würden sich gewiß schon vertragen, wenn der Hans nur wolle. Als man Abschied nahm, sprach auch der Hans mit ihr, in seiner knappen Art: der Winter solle erst überstanden sein; nach dem Winter – o ja! er könnte wohl noch zwei Hände mehr im Haus brauchen, zumal der Gottlieb fortgehe.

Der Gottlieb ging. Vor seiner Abreise gingen die beiden Brüder noch viel zusammen und hatten sich viel zu sagen. Wenn da der Hans vom Leben in der Großstadt erzählte, da riß der liebe Junge die himmelblauen Augen weit auf vor Lernbegier. Dann packte er seine Bücher wohl sieben mal und sprang treppauf, treppab in rastloser Freude. Nur in der Abschiedsstunde stürzten ihm die heißen Tränen. Denn auch die Mutter weinte und war auf einmal so ernst. Ihr war, als ob auf einmal das Licht erlosch, als laure etwas im Dunkeln, als ginge ihr sicheres Glück von ihr.

»Aber der Hans bleibt ja bei dir, Mutter, und er erzählt so schön,« sagte der Junge mit einem klugen, zärtlich ermunternden Blick und ging rasch, winkte noch lange von der Straße her und war verschwunden. Hans brachte ihn selbst zur Stadt und zu dem Herrn Oberlehrer, der den jungen Gymnasiasten in Pflege und Aufsicht nahm. Gottlieb bekam die blaue Kappe des Unter-Tertianers, blau mit goldenem Streifen. Er schien sich fast schon ein Student.

Als Hans Abends heimkehrte, hatte die Alte sich schon gelegt. Marie saß einsam und lauschte in das Stöhnen des Sturmwinds, der wild und unheimlich um das Haus fuhr. Das aufgelöste Haar fiel ihr auf den Nacken. Sie zitterte und erschauerte. Hans sah triumphierend aus. Aber ihr trat das Wasser in die Augen: »Er ist fort, und du bringst ihn nicht wieder. Läßt er mich grüßen? der liebe Junge!«

»Wir sind allein, Mutter,« war das Einzige, was er antwortete. »Wir sind allein, und das ist auch schön.« Er legte den Arm um sie, als wollte er sie trösten. Sie war so bewegt; sie gab ihm nach und legte den Kopf an seine Brust, dankbar für seine Liebe, geborgen in seinem männlichen Schutz – als er ihre Hüfte umfaßte, sie eng an sich zog und küßte. Es war ein Kuß wilder Leidenschaft.

»Was tust du?« Sie mußte kämpfen, um sich loszureißen; ihr Mieder war unter seinem Griff aufgesprungen. »Hans, Hans, tu' das nicht wieder.« Und als er schwieg und mit schwimmenden Augen sie anstarrte: »Das ist Verirrung. Gott, Gott, was hab' ich verbrochen? Was hast du, daß du mich so anstarrst?«

»Es ist wie eine Sehnsucht,« stammelte er fiebernd und zerknirscht. »Aber es soll nicht sein, es soll nicht sein...«

Seitdem wußte Marie nicht, wohin. Was wollte das Schicksal mit ihr? »Zu Not und Ängsten auserlesen,« das galt nun von ihr: zuerst die Angst, weil der Hans nicht kam und ihr fernblieb, und, nun er da war, die Angst vor ihm selber!

Der Dachdecker war dagewesen; das schadhafte Dach war ausgebessert, das Pochen und Hämmern vorüber. Hans selbst hatte fleißig mit angefaßt. Er war befriedigt; der Winter mochte nun kommen.

Und der Winter kam mit frühem Schneetreiben, aber geringer Kälte, mit Schmutz und Nässe und lichtloser, träger Dunkelheit. Es war für den Tätigen, als gähnte eine einzige lange Winternacht auf, als stürzte der Eilzug des Lebens in einen dunklen Tunnel ohne Lichtschacht, der nicht enden wollte, und schliche in stumpfer Blindheit dahin.

Er ging wenig aus. Er bestand darauf im eignen Haus zu sitzen. Nahe bei ihr. Das fühlte sie. Eingesperrt mit dem Sohn in den kahlen Räumen, in den langen Nächten!

»Und erlöse uns von dem Übel,« schrie sie heimlich zu Gott. »Denn dein ist das Reich und die Kraft – ja, dein ist die Kraft...«

Sie war zu Hans nicht unfreundlich, aber sie war jetzt kühl und fremd, hielt sich ihm räumlich fern, so gut es die Enge des Raumes zuließ, saß nicht mehr auf der Ofenbank und hielt stets die alte Anne in ihrer Nähe. Trat er ihr nah, stand sie, den Kopf zurückgeworfen, die Arme verschränkt, stolz, vorwurfsvoll und unnahbar. Sie versuchte es, sich mit der Hoheit der Mutter zu umgeben.

Es gelang ihr. Aber er war gewohnt, seinen Willen zu haben; er wurde jetzt eigensinnig, mürrisch, verdrossen, ja rauh, besonders gegen die alte Anne, der er mit bissigem Hohn das verdammte laute Beten verbot. Marie bewahrte tapfer ihre Haltung.

Da fing er zu trinken an. Schnaps ließ er auf den Hof fahren. Der Händler Wolff selbst brachte ihn. Die alte Anne erhob ein Geheul, wie sie es sah. Er trank jetzt wie der Vater. Grauen! Marie fand ihn eines Nachts schwer betrunken vor ihrer Kammer liegen.

»Tu' es nicht,« bat sie ihn, als er auf sie hörte. Ihre Stimme hatte wieder den milden, gütigen Klang, der ihm zu Herzen ging.

»Sei gut zu mir, Mutter,« flehte er. »Dann will ich auch gut sein.« Er holte den Ton tief aus dem Herzen. Es erschütterte sie. Da wurde sie wieder freundlich zu ihm, aber mit Angst im Herzen. Sie betete viel: »Gott hilft den Verirrten, er wird auch ihm helfen« – aber sie saß wieder bei ihm, sie ließ ihm auch ihre Hand; sie duldete es, wenn er ihr Bilder zeigte – es waren Zeichnungen landwirtschaftlicher Maschinen –, daß er dabei seine Wange an ihre legte. War es unrecht? Es war Schwäche. Sie konnte nicht schroff sein. Es wird ihn beruhigen, dachte sie. Er heiratet nicht, weil er für mich und den Gottlieb sorgt. Er ist einsam, er braucht ein Etwas von Zärtlichkeit. Aber er wird heiraten, und alles wird gut.

Die alte Anne aber war scharfsichtig und sah mehr, als sie sollte. Drohend schrie sie sie an: »Der Christoph kommt,« daß die Köpfe auseinander fuhren. »Ja, ja! ich hab' ihn im Traum gesehn. Marie, vergiß den Christoph nicht.«

Marie erschrak heftig, Hans aber sprach ihr in's Ohr: »Die Alte ist verrückt. Die Nachrichten vom Vater sind immer dieselben. Verblödung! Da ist nichts zu fürchten.«

»Da ist nichts zu hoffen!« verbesserte die Mutter, aber sie war ganz blaß geworden.

Gewöhnung bestärkt das Begehren. Wenn es nachtstill im Hause war und die Anne in Schlaf fiel und die beiden rechts und links in ihre Kammer gingen, da wuchs ihre Bedrängnis. Er ließ ihre Hand nicht. Er wich nicht von ihrer Tür. »Niemand sieht uns. Jetzt, jetzt! nur einen Augenblick!« Er sagte es nicht; sie fühlte nur, daß er es dachte. Sie stieß hinter sich den Riegel zu. Dann stand er allein, finster in der Finsterniß, und horchte zu ihr hin, den bösen Stachel im Herzen.

Da kam Rettung. Der Gottlieb kam zum Weihnachtsfest. Das war Reinigung. Erlösung! Ein frischer Luftzug in die Stickluft. Auf ihn stürzte sich die Mutter, aber auch Hans war gleich von dem Jungen erobert. Wie war der Gottlieb gewachsen! Die Jackenärmel waren ihm schon zu kurz geworden. Und wieviel hatte er zu berichten, und wie ähnlich war er dabei seiner Mutter! ganz wie aus dem Gesicht geschnitten. Er erzählte von den vielen guten Lehrern und von einem Lehrer, der so dumm war, daß er immer einen Zettel im Buch hatte, zum Nachsehen, wenn er nicht weiter wußte. »Den Zettel haben wir ihm aus dem Buch gestohlen – haha! – und er mußte ganz still sein und durfte uns nicht strafen.« Beim Stall, da schaufelte der Junge den Schnee zusammen zu einem gewaltigen Kastell, mit einem Tempel oben darauf; das war das römische Kapitol, das der böse Brennus belagerte. Dann rief er alle Gänse zusammen und befahl ihnen, das Kapitol zu retten, und richtig, die klugen Gänse schnatterten, und Gottlieb, der der Brennus war, ergriff die Flucht. Dann setzten sich Marie und Hans artig auf die Bank, der große Hans bekam die kleine Tertianerkappe auf den Kopf, und Gottlieb trat als der Herr Klassenordinarius mit vorgestülpter Unterlippe vor sie hin und exerzierte das Latein »Cicero, Ciceronis, Ciceronem ,« daß den beiden angst und bange wurde.

Dann pries er seine Mitschüler. Ja, die hatten schöne Schlittschuhe, und er hatte keine; sie hatten auch Handschuh' und so schöne feine Taschentücher mit gesticktem Namenszug und blauem Rand, und er hatte keine. Das alles erzählte er ohne jeden Neid und sang glückselig ein hellklingendes Lied nach dem andern, daß es durch's Haus schallte. Denn er hatte auch Singstunde. Das war ein neues Leben.

Und der Herr Pfarrer blieb nicht aus. Er kam und lud das ganze Haus Matthias zu sich zur Festbescherung. Da putzte sich jeder zur großen Feier. Die alte Anne brauchte wohl einen halben Tag dazu, und ehrfürchtig schritten dann die Vier über den knirschenden Schnee die Dorfstraße hinan.

Wie lang hatte Hans sie nicht erlebt, die Weihe der Christnacht! Seine Kinderzeit umgab ihn wieder. Er sah auf den Gottlieb hin. Ja! so harmlos und strahlend fröhlich wie der Gottlieb, so war er damals auch gewesen. Glücklich der, der bei den Seinen daheim ist!

Die Dorfkirche stand schon tief im Dunklen; aber ihre hohen Fenster glommen voll Lichtglanz, als wäre die Sonne selbst darin eingefangen, und die Glocken schwangen sich im heiligen Eifer und streuten ihr Geläut weit über das horchende Tal und hinein in alle Stuben, deren Fenster weit offen standen, um die heilige Nacht einzulassen.

Beim Pfarrer waren auch dessen Kinder und Enkel zugegen. Das waren seine Leute aus der Stadt. Für jeden Gast stand ein Teller mit süßem Gebäck auf dem Tisch und dazu noch irgend ein artiges Bild in bunten Farben; für Gottlieb aber noch sechs, sage sechs Taschentücher mit blauem Rand. Welche Überraschung! Die waren von der lieben Frau Pfarrerin.

Dann schritt man in den großen Saal, wo, gewaltig wie ein König, der Christbaum auf sie wartete. Aus dem einsam verschneiten Forst da draußen war der Baum als ein hoher Wunderzeuge Gottes gekommen; denn er hatte den Stern der Verheißung am Himmel selbst geschaut, und stand nun in seinem glitzernden Ornat, in seinem Würzeduft, funkelnde Sterne und Lichter auf seinen wiegenden Armen, und der Spiegel hinter dem Baum verdoppelte seine heilige Pracht.

Dann erklang das Weihnachtslied aus Kindermund, und nachdem der Pfarrer den Wundertext verlesen, redete er noch fröhlich erhebende Worte nach dem Spruch Salomo's (Pred. VII, 15), der da lautet: »Am guten Tag sei guter Dinge, und auch den bösen Tag nimm für gut;« denn er war nun einmal der Mann, der nicht an das Böse glaubte. Dann kam das »Friede auf Erden.« Es klang so feierlich. Es war alles so beweglich. Die Seelen stiegen rein wie aus einem Bade der Heiligung. Jedes Auge füllte sich wie mit Glanz von oben. Friede! Hans wagte lange nicht aufzusehen. Dann sah er befangen zur Mutter hinüber und gewahrte den Frieden in ihr. Sie wandte das klare Auge von ihm nicht ab, und er konnte den Blick ertragen. Auch in ihm war Friede geworden, eine tiefe Beruhigung. Marie faltete die Hände unter der Schürze und dankte Gott.

Wenn nur das Feuer nicht noch unter der Asche glomm! An einem der folgenden Tage kam die Lisabet aus Hesselbach, wie sie es lange versprochen, mit der alten Frau Erdmann, ihrer Mutter, zum Besuch. Das war, was Marie gehofft hatte. Es schien just eben der rechte Zeitpunkt. Mit ihrem Stumpfnäschen, rotem Mund und vollen runden Armen war die Lisabet so nett, so herzbeweglich anzusehn, und sie fand an Hof und Haus der Frau Matthias, an Küche und Kammer wirklich ein so natürliches Gefallen; der Hans mußte ihr alles zeigen; sie blinzelte den Hans auch so erzlustig an, als die zwei im Holzverschlag beieinander standen. Hans lachte sie lustig wieder an. Es ging gar nicht anders. Die Dirne gefiel ihm wirklich.

Da merkte er den ungeschickten Eifer seiner Mutter. Die Mutter hatte die beiden absichtlich eben allein gelassen; den Gottlieb hatte sie schon vorher aus dem Haus getan, und Hans sah, wie die Mutter jetzt mit der Frau Erdmann hinter der Stalltür stand und herüber lauschte. Ärgerlich rief er nach ihr. Es kam ein Trotz in ihm auf. Er merkte: sie wollte ihn zwingen, daß er jetzt Ernst machte mit dem Verloben, und er verglich die beiden miteinander, die Lisabet mit seiner Mutter. Mutter? Sie war ja gar nicht seine Mutter, und sie war immer noch jung genug. Er sah: ihr Leib war voll in's Blühen gekommen. Wahrhaftig! er wußte es ja. Keine war wie sie. Er liebte den lauen Hauch ihrer Nähe.

Als ihm Lisabet mit ihrer Mutter Adjes gab, war er trübe wie ein Sturmabend. Tags darauf reiste auch der Gottlieb fort. Hans selbst beschleunigte die Abreise des lieben Knaben. Als Marie schlafen ging, stand jemand in ihrer Kammer. Sie schrie. Er löschte ihr Licht und langte nach ihr, um sie mit Übermacht niederzuziehen. Die Kerze fiel zu Boden. »Schrei' nicht, Marie!«

Ihr Herzschlag stockte; aber sie war schon draußen, die Stiege hinab, und schlug im Sturz mit dem Hinterkopf auf die Stufen, daß ihr die Sinne schwanden. Da war er schon bei ihr, über ihr: »Die Nacht ist zu graus ohne dich, zu sehnsüchtig dunkel,« hörte sie ihn flüstern in ihrer Betäubung; »und der Vater ist schon wie tot, und du liebst ihn nicht, und ich, ich... Laß mich nicht so allein, Marie!«

»Sünde, Hans,« stammelte sie mit keuchendem, engem Atem. »Weg! weg! Gott bewahre uns. Du willst im Bett deines Vaters liegen...«

Er schlich davon. Ihr Herz zog sich zusammen. Frieden auf Erden? Nein, nein! Angst, Angst, frierende Angst.

Seitdem war sie kalt wie Eis. Kam Hans nah, sträubten sich ihre Brauen schmerzhaft und voll Widerwillen. Wie ein Verstoßener, Verurteilter schlich er sich zu den Mahlzeiten scheu an der Wand entlang zum Tisch, stahl er sich Abends fort, um sich auf seinen Bettsack zu werfen. Kein Blick mehr von ihr, keine Anrede. In ihrem verhärmten Gesicht standen die Augen dunkel und anklagend, als riefen sie: Satan! Auch die alte Anne war wie gelähmt. Ihr Beten verstummte. Es betete niemand mehr im Haus. Es schwebte ein Etwas, ein fliegender dunkler Punkt, ein unsichtbarer Keim der Sünde in der dumpfen Stubenluft, auf den alle drei starrten, als müßte er vor ihren Augen plötzlich greifbar, sichtbar werden, sich entfalten und furchtbar anwachsen, schwarz, schwarz wie ein Sargtuch, und auf einmal wäre alles damit zugedeckt, verschlungen in den hohlen Schlund der Hölle.

Hans stemmte die Ellenbogen breit auf den Tisch, das Kinn auf beide Hände, und so, in böser Gier, starrte er sie an, stundenlang, mit hungrigen Blicken. Seine Arbeit ließ er liegen. Er tat nichts mehr.

Die Januarstürme heulten um's Dach. Die Schneewolken jagten. Der Schnee begrub alles. Der alte treue Birnbaum am Haus zerbrach krachend unter seiner Last. Marie erlahmte; sie wurde bleicher als der Schnee und zitterte, von Frost durchschauert, auch wenn in der Stube die Glut aus dem Herde schlug.

Er aber? was sollte er? Aus dem Haus? in die Wirtsstuben laufen? Aber er fürchtete den prüfenden Blick der Leute, die Neugier der schwarzen Grete, er fürchtete ihre Fragen, als könnte schon irgendwer irgendwas vermuten, erraten. Sollte er sich betäuben, sich betrinken? wie der Vater? täglich? vor ihren Augen? Der Wolff kam auf seinen Wink schon mit einem Faß angefahren. Aber er wies ihn wieder vom Hof. Er zerschmiß das Glas. Er konnte es nicht. Das Laster war ihm im Innersten zuwider. Er trat zur Mutter. »Es muß ein Ende nehmen. Marie, du mußt...« Sie saß aschfahl und versteinert. Zur Nacht pochte er an ihrer Kammer. Vergebens.

Es war ein Freitag. Sie pflegte gegen Abend die leeren Milchkannen von der Station zu holen. Als sie von ihrem Ausgang zurückkam, da sah sie des Hans Reisekoffer vor seiner Kammertür stehn. Sie klappte ihn auf: seine Kleider lagen darin. Sie erriet, was er wollte. Hans blieb den Abend unzugänglich auf seiner Kammer. Draußen stöhnte der Wind. Das Unwetter wuchs. Die Lichter waren im Haus ausgelöscht. Da schlug er laut an der Mutter Tür: »Mach' auf oder ich geh...«

Nur der Wind draußen gab Antwort.

»Hörst du nicht? ich geh', Marie; es muß ein Ende nehmen: in den Sturm, in die Nacht! Nach Westfalen, an die Fabrik geh' ich zurück und komm' nicht wieder. Ich komm' nicht wieder, Marie. Mag der Wolff hier alles schlucken. Ich kann euch vor ihm nicht retten. Jetzt gleich...«

Er preßte die Tür: »Hörst du nicht?«

Sie antwortete nicht.

»Soll ich gehn, Marie?«

Er hörte nur ihr Ächzen. »So, ohne Abschied von dir?«

Da kam es gequält: »Ach ach! Hans, Hans!«

»Sag' mir, was ich tun soll.«

»Nein, verlaß' uns nicht! O Gott, allmächtiger Gott, die Angst! nun wieder allein ohne ihn!«

»So nimm mich zu dir. Ich will...«

»Geh nicht!« wiederholte sie dringender; und dann: »Ich war unfreundlich und liebe dich doch, und Gott helfe mir in meiner Not (sie schluchzte) – ich will auch wieder freundlich sein.«

»Und läßt mich hier stehn?«

Er warf sich gegen die Tür. Sie verstummte. Minuten vergingen. Keine Minuten, es waren Ewigkeiten. Sie blieb stumm.

Da hörte sie sein: »Nu Adjes, Marie!« Seine Stimme brach sich in Wut und Erregung.

Sie war gerettet. Er war gegangen. Draußen raste der Nachtsturm. Jetzt riß er seine Kammertür auf, jetzt schlug er sie wieder zu. Die Holzstiege knackte. Sie hörte, daß er hinunterging und seinen Koffer schleppte. Der Koffer schleifte auf der Treppe nach; auch sein schwerer Stock schlug auf. Waldmann, der alte Hund, der im Flur an der Haustür lag, begann ein Winseln und ein Geheul, schwermütig und langgezogen. Was hatte das Tier? Es hallte so wehevoll durch das dunkle Haus. Hans stieß das Vieh mit dem Fuß.

Da setzte er plötzlich den Koffer ab und fuhr sich mit den Händen in das Haar vor grellem Schreck und frohem Grausen. »Hans, Hans!« kam es hinter ihm. Er stürzte zur Stiege. Es war stockfinster, und er sah nicht, daß eine Halbtote in seinen Armen lag. Er sollte nicht geben. Sie hatte ihm aufgetan.

Die Sturmnacht war vorüber. Am Morgen rief die alte Anne, als sie aus ihrer Kammer kam, nach der Marie und schlug die Hände zusammen: »Es war etwas,« sagte sie. »Er, er war da! Der Christoph ist gekommen. Diese Nacht. Er ist wieder gesund. Gott sei gelobt. Ich hab' ihn im Traum gehört. Der Christoph ging zu dir in die Kammer hinauf, Marie!«

Die Alte lachte. »Hä, hä! Du willst es nicht verraten.« Sie hatte ein sonderbares, meckerndes Lachen. Marie erschauerte bis in die Knochen und sank an die Wand, kreidebleich, mit geschlossenen Augen. Sie glaubte, sie müsse in den Boden sinken.

Hans legte leise die Hand auf ihre Schulter. Die Anne erwartete ja auf ihre Frage keine Antwort. Aber es war ein Geheimnis, das sie jetzt eng verband, Mutter und Sohn; es war ihr Geheimnis allein. Niemand sonst konnte etwas ahnen. So mußte es bleiben.

Was war denn geschehen? Sünde? Verbrechen? Es war nur wie eine Schwäre am gesunden Leib, die anschwillt, bis sie reif ist, und die abstirbt, wenn sie aufgegangen. Nun war sie aufgegangen, und sie war im Absterben. Das Fieber hatte sich ausgetobt: Das Fieber erlosch. Hans fühlte es. Er taumelte wie von einem Abgrund zurück. Sein Gewissen schrie: »Meines Vaters Weib! und der Vater lebt! Es darf nichts geschehen sein. Ich will sie heilig halten, und es kann noch alles gut werden. Gewiß! es soll, es soll.«

Marie sah nicht um sich. Aber sie klammerte sich an das Leben. Automatisch tat sie ihr Werk wie bisher. Erst nach Wochen, als sie wahrnahm, daß Hans nicht war wie sonst, daß er ruhig und auf einmal ein ganz anderer geworden, schlug sie wieder die Augen auf. Aber umsonst umgab er sie mit fast ehrfürchtiger Sorgfalt. Sie war wie eine Abgeschiedene neben ihm. Es fiel kein Licht in ihre Seele.

Der Schnee schmolz. Der süße Vogelsang regte sich draußen; der Frühlingswind fächelte, und es sproß und keimte auf Wiesen und Hecken. Die Sonne warf ihr warmes Licht in die Stube und machte die Diele glänzen. Marie sah dem Hans mit Staunen zu. Seine Willenskraft wuchs. Er war voll Hoffnung. Die schreckliche Sturmnacht war vergessen. Vergessen?

Die Kundigen sagten: dies Jahr sollte ein wundervolles Jahr werden. Der Hans wollte es wahr machen. Mit gewaltsamer Freudigkeit streckte er seine Arme zum Zugreifen. Er brauchte Menschen, ein erregtes Getriebe. Von seinem Gönner aus Dortmund erhielt er Hinweise auf neue Ackermaschinen; er stellte solch' Wunderwerk auf seinem Hofe auf, und die Menschen kamen in Haufen, um es zu sehen. Sein Ansehn im Kreise wuchs. Dann kamen die Maler und machten ihr Gerüst um das Haus. Das Haus wurde »renoviert« und schimmerte in frischen Farben. Wie ein Schmuckkasten war es jetzt; wie schön, darin zu leben! Marie hörte nicht hin, sah nicht hin. Ihre Augen waren noch immer voll Angst. Das Wort war ihr verdorrt im Munde.

Wann würde sie endlich lernen, zu vergessen? Hans wollte den Gottlieb für sie kommen lassen. Aber da schrie sie herzzerreißend auf: »Nein, nein, nicht jetzt, um alles nicht! und ob ich ihn niemals wiedersehe.«

So gab es denn nur eine Beruhigung, eine Hülfe. Hans war zu allem entschlossen. Die Erinnerung an das Geschehene wollte er mit dem Fuß zertreten. Er ging hinüber nach Hesselbach. Eine junge Frau im Haus und alles war gut; und schon hörten alle im Wiesendorf die große Nachricht von dem Verlöbnis. Im Herbst sollte Hochzeit sein, eine Prachthochzeit mit Böllerschüssen und Vorreitern und Peitschenknallen. Die schwarze Grete barst vor Neid: »Wer das Glück hat,« zischte sie, »dem kalbt auch ein Ochse!«

Der Hans stand aufrecht mit heller Stirn und entschlossener Miene. Die Ereignisse selbst hatten ihn geschoben; die Woge des Lebens hob ihn. Jetzt nur resolut gehandelt, und alles war gewonnen. Ein Rausch faßte ihn, Zuversicht, junge Lebenswonne. Daran mußte sich endlich auch die Mutter erwärmen. Warum tat sie es nicht? warum schlich sie immer noch wie ein Schemen einher? Ihre Schwäche irritierte, ergrimmte Hans. Fürchtete sie sich vor der zweiten jungen Frau im Haus? War ihr die Lisabet zuwider geworden?

Der August ging zu Ende. Da war großes Sängerfest im Wiesendorf, und die Lisabet sollte mit ihren Eltern dazu herüberkommen. Marie raffte sich endlich zusammen, sie hatte das Haus festlich geputzt, hängte am Morgen noch einen Festkranz über die Tür, weil Hans es so wollte, und säuberte ihm mit lautlosem Fleiß seinen Sonntagsanzug; denn er sollte heute beim Festzug selbst das Banner tragen. Mit gehetzten Blicken verfolgte er sie. Er ertrug ihre beklemmende Stillheit nicht und schüttelte sie: »Du, du hast's gewollt! darum hab' ich die Braut! Mutter, Mutter, freust du dich nicht?«

Aber ihr gelang kein Lächeln.

»Mutter, Mutter!« rief er in bitterem Flehen.

Sie wandte sich. Schwerfällig ging sie auf ihre Kammer und öffnete die große Truhe, um ihren schönsten Feststaat herauszuholen. Denn Hans verlangte, sie sollte heute ihr Bestes tun. Der schwere Deckel öffnete sich knarrend. Da lag obenauf das ausgeschnittene grüne Sammtmieder und das seidene veilchenblaue Busentuch; dann kamen die bunten Schürzen, die geblümten Strumpfbänder mit flatternden Schleifen; die vielen Halstücher mit Fransen; tief unten endlich die faltenreichen schweren Röcke mit glitzernden Borten, wohl acht an der Zahl. Wie lange hatte sie diesen alten Staat nicht angerührt! Nun war ein großes Freudenfest gekommen. Freude! Freude!

Sie kniete an der Lade, hin und faltete die Hände, horchte und wurde still und stiller, in Sehnsucht nach Rast, in Sehnsucht nach Besinnung, in Sehnsucht nach dem Unbegreiflichen, nach großer, überschwänglicher, schattenloser Freude. Ach, ach! Nur einen Tropfen davon auf ihre lechzenden Lippen!

Da packte sie das Entsetzen. Sie fiel flach hin und wand sich vor Schmerz. Sie war zu feige gewesen. Sie hatte es dem Hans bis heut' verheimlicht. Die Zeit kam nah', die gräßliche Stunde, daß sie gebären sollte. Das Messer saß ihr im Herzen. Es war nun alles aus.

Sie hatte in den Tod gehen wollen, aber ihr gebrach der Mut. Sie hatte gedacht: wenn die Natur es doch noch anders wendete! Es ist unmöglich, daß Gott mich so straft. Es muß anders kommen! Wer beten könnte! Gottes erbarmende Hilfe herniederbeten!

Der Sohn kam herauf, sie zu holen. Sie stammelte, sie sei krank. Der Jubeltag wurde ohne sie gefeiert. Das Juchzen, Blasen und Singen scholl mitleidslos zu ihr herauf. In einem einzigen qualvollen Augenblick sah sie da alles, was nun kommen mußte. Wohin sich verkriechen? Sie wollte alles dulden; aber was sollte aus Hans werden? aus Hans?

Und es kam alles, wie sie voraussah. Auf die Gasse mußte sie ihr Elend tragen. Da stand schon die schwarze Grete vor ihr am Brunnen: »Das ist die, die mir mein Dortchen beschimpft hat. Wer ist nun bei dir eingestiegen? Ihren Mann hat sie weggeschafft. Der Sohn gefiel ihr besser.«

Die Unglückliche zerbiß sich die Zunge: ein Martyrium der Schande. Das Gerede lief schnell herum; es lief bis nach Hesselbach. Nur die alte Anne wußte es besser. Die sagte jedem: »Der Christoph war bei der Marie. Ich hab' nicht umsonst gebetet. In der Winternacht, in der Sturmnacht, da ist er gekommen, die Stiege hinauf. Ich hab' ihn selbst gesehen.«

Sie wollte es vor Gericht beschwören. Aber niemand glaubte ihr.

Ratlos, zerbrochen, ein Verbrecher stand Hans vor der Mutter. Reisen? fliehen? fort, fort? Er konnte es nicht. Er stürzte ihr an den Hals: »Marie, Marie, warum bist du in unser Haus gekommen? Ich habe dich immer geliebt, jetzt weiß ich es – schon damals als Knabe, als ich vor dir aus dem Hause floh.«

Der alte krumme Tobias saß immer noch auf der Kirchhofstreppe und drehte das weiße Knochengesicht hin und her und wartete mit gläsernen Augen auf das Unheil, das hinter jedem Zaun lauerte. Das arme Gänsemännchen hütete noch immer seine Gänseherde auf der Flußwiese und stieß, als seufzte er, melancholisch in sein Hörn. Krächzend fielen die Raben in das öde Stoppelfeld jenseits des Flusses. Der Mühlgraben war hoch voll Wasser, und die Weiber waren da und wuschen. Es war ein bleicher Novembertag. Keines von ihnen sprach ein Wort. Die Marie fehlte unter ihnen. Sie hatten Scheu; sie fürchteten sich. Alle dachten an sie, und keine mochte von ihr reden. Da entdeckte die Grete eine Kinderleiche im Wasser.

Am folgenden Tag – es war ein Sonntag, zur Mittagsstunde; ein flotter Studentenschwarm war eben wieder in's Dorf eingefallen, und »sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren,« tönte es ausgelassen aus der Schenke; ein Maschinenklavier hämmerte einen grellen Walzer –, da wurde unterhalb des Wiesendorfs eine Leiche gelandet. Eine Frau im braunen Tuch. Auf der Karre fuhr man sie die lange Dorfstraße entlang. Der alte Tobias sah hin, und die Augen traten ihm aus dem Kopf vor Schreck. Die Verunglückte war vom reißenden Wasser so weit im Fluß hinabgetrieben, bis sie im weichen Schilfgras hängen blieb. Eine vergilbte Windenranke hatte sich in ihrem Haar verfangen.

Es war Nacht gewesen, als Marie zum Fluß rannte. Sie hatte einen Sohn geboren, der seines Vaters Bruder war. Es war nur ein Augenblick: eine schwere Hand legte sich auf sie und drückte sie rasch unter die Flut. Das Kind, das sie trug, entglitt im Fall ihren Händen. Die Wasser aber sangen über der Ertrunkenen: Unser Bett ist tief, und wer nicht feste Wurzel hat, den nehmen wir mit, und er fühlt nichts mehr und gleitet dahin, ein abgerissenes Blatt, in's endlose Weite – wohin? wohin?

»Was ist denn unser Sterben? Ein Ertrinken ist's, so oder so. Wir versinken alle im Meer des Lebens, wenn wir die Kraft verlieren. Und Sünde? wo ist sie? die Macht des Bösen? Macht? Ich bleibe dabei; es gibt nur eine Ohnmacht des Guten. Ihr ist diese beklagenswerte Frau erlegen. Denn alle Macht ist bei Gott. »Und führe uns nicht in Versuchung,« so flehen Millionen bange Herzen zum Himmel. Gott aber will uns versuchen. Er tut es selbst. Seine Versuchung erprobt die Besten, und wer redlich kämpft und unterliegt, den zieht er rettend an sein Herz und ruft ihn zu sich in seinen erhabenen Frieden.«

So sprach zu mir der Pfarrer. Sein Glaube war hochgewachsen wie seine Gestalt.

»Und dazu,« fragte ich erschüttert, »und dazu dies Leben voll Angst und Herzeleid? ein tägliches Selbstopfer, das in Verzweiflung endet? Elend um Elend! Wo ist da Gottes Gerechtigkeit? und warum hilft die Gesellschaft nicht? Gott und die Gesellschaft! Gott und Mensch! Beide stehn ohnmächtig vor der gräßlichen Not des Augenblicks.«

Der Pfarrer seufzte schwer; seine Augen feuchteten sich; seine Riesengestalt bog sich mutlos zusammen: »Des Hans wird sich das Gericht bemächtigen. Was soll aus ihm – und was soll aus meinem Gottlieb werden? aus meinem Gottlieb?«

Man sah ihn eine Woche nicht. Er war krank vor Betrübnis.


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