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An einem Samstagnachmittag im November hatten die Englein nichts zu tun und die himmlische Musik, die jeden Vor- und Nachmittag spielte, mußte sich ohne die Unterstützung behelfen welche sie ihr sonst durch ihren Gesang zu leisten hatten. Und das kam so. Am verflossenen Sonntag während der großen Himmelsandacht hatte der Herrgott zu bemerken geglaubt daß die Engelchöre nicht so frisch klangen wie er es sonst zu hören gewohnt war, ja daß kleine Rauhigkeiten die himmlische Harmonie störten auf deren ungeschmälerte Reinheit er sehr sah. Er ließ sich daher nach der Andacht den Kapellmeister und den Gesanglehrer kommen und stellte sie ziemlich verdrießlich über seine Wahrnehmungen unter dem Hinweis zur Rede, er könne nach einer arbeitsreichen Woche wohl verlangen daß ihm am Sonntag in der Himmelskirche eine anständige Musik vorgemacht würde. Das aber was er heute da hätte zu hören bekommen, erinnere ihn eher an üble irdische Katzenmusiken, die er nicht allzusehr liebe, als an eine Symphonia coelestis wie sie einzig hier am Platze sei. Der Kapellmeister, dem der Gesanglehrer durch Haltung und Gesichtsausdruck stumm beizupflichten sich bemühte, erklärte dem lieben Gott hierauf, daß er seine Wahrnehmungen nicht bestreiten könne; er müsse für die beobachteten Mißstimmigkeiten die Engel verantwortlich machen, von denen sich einige Schreihälse im Übereifer ganz heiser geschrien hätten und dadurch die Klangschönheit des Ganzen, wenn auch nur wenig, so doch für Gottes Ohr wohl vernehmlich beeinträchtigten. Der Herr hatte darauf befohlen daß Maßregeln getroffen würden, die solche Vorkommnisse für die Zukunft unmöglich machten, und die himmlische Vorsehung, welche für diese Dinge die zuständige Stelle war, erließ daraufhin eine Verordnung, wonach nicht nur den Engeln das Singen an Samstagnachmittagen überhaupt verboten sondern ihnen auch noch ans Herz gelegt wurde, sich nicht durch unnötiges Springen und Tollen zu erhitzen, Schreien und Zanken zu unterlassen und ihre Stimme für den großen Himmelskirchgesang am Sonntag möglichst zu schonen. Denn der Herrgott ging, weil er es nicht nötig hatte, nur Sonntags in die Kirche, im Gegensatz zu allen anderen Himmelsbewohnern, insbesondere den Heiligen, die schon aus alter lieber Gewohnheit in die Kirche gingen, und den vielen armen Sündern die, seit der Heiland die Auferstehung in der Welt eingeführt hatte, den Himmel bevölkerten und den Kirchenbesuch recht nötig hatten.
So saßen also an jenem Samstagnachmittage die Englein teils tatenlos auf den himmlischen Wolken herum, die Hände über den Knien und die Flügel über dem Rücken gefaltet, teils waren sie höchst überflüssiger- und unnützerweise damit beschäftigt festzustellen, wer von ihnen die schönsten Goldspitzen an den Federn hätte, oder sie standen an der Milchstraße und gafften dem endlosen Zug der Sterne nach, der an ihnen vorüber des Weges zog.
Im Gegensatz zu den Englein hatte am nämlichen Nachmittag der heilige Petrus alle Hände voll zu tun. Vor dem Himmelstor drängte sich gerade eine besonders große Menge von Einlaß begehrenden Seelen; denn zu der sich ziemlich gleich bleibenden Anzahl an andern Wochentagen kamen am Samstag noch diejenigen hinzu welche sich mit ihrer Auferstehung besonders aus dem Grunde beeilt hatten, um den Sonntag im Himmel und alle Erbaulichkeiten dieses Tages mitzugenießen und solchergestalt im neu angetretenen ewigen Leben ja nichts zu versäumen. Außer seinem Torhüteramt hatte aber der heilige Petrus auch noch die Aufsicht über die Sterne zu führen, von denen eine sehr große Zahl nicht im eigentlichen Himmel sondern außerhalb desselben im ewigen, unendlichen Raum verteilt war; und diese Aufgabe, welche ihn in seinem himmlischen Torwärterhäuschen keinen Moment schlafen ließ, machte ihm keine geringe Sorge. Denn gerade wieder einmal hatte sich unter den Sternen, besonders unter den kleineren, die bedauerliche Neigung eingestellt, ihren Platz plötzlich zu verlassen oder mit glänzenden Stücken um sich zu werfen, die sie planlos in das Weltall und nicht zum geringen Teil auf die Erde hinabschleuderten deren Bewohner diese Vorgänge in klaren Novembernächten teils mit Bewunderung teils mit Furcht beobachteten. Denn sie konnten sich von dem Herkommen dieser Sternschnuppen, wie sie die lichtglänzenden, am Himmel dahinfahrenden Sternstücke nannten, keine rechte Vorstellung machen. Besonders in dem Sternbilde der Leoniden war in diesen Tagen wieder einmal der Teufel los, wie der heilige Petrus sagte wenn er das Himmelstor hinter sich zugeschlagen hatte und im weiten Raum allein war, um an irgendeinem besonders rebellischen Punkt nach dem Rechten zu sehn und dem Verschleudern des kostbaren Sternenmaterials Einhalt zu tun.
Als er daher an jenem Samstagnachmittag die Engel so nichtsnutzig und nichtstuerisch herumlungern sah, kam ihm in seiner Arbeitsbedrängnis der Gedanke, ob er sie nicht in irgendwelcher Weise für sich anstellen könnte; und da er ihnen die himmlische Torhüterstelle unmöglich ohne das Umstoßen aller geheiligten Traditionen anvertrauen konnte, so machte er sie in der anderen ihm aufgebürdeten Obliegenheit dienstbar. Diese schien ihm für ihre geistigen Fähigkeiten, die er nicht allzuhoch anschlug, auch nicht zu schwer, zumal er sie anwies, etwaige widerspenstige Sterne die das Schnuppen nicht lassen wollten, sofort von ihrem selbständigen Platz im Raume ab- und dem großen Strome derer zuzuführen die auf der Milchstraße ihre leicht übersehbare und kontrollierbare Bahn am Himmelsgewölbe dahinziehen mußten. Die Englein, froh einmal aus dem goldnen Himmelsgitter herauszukommen, unterzogen sich belustigt ihrer neuen Aufgabe und begaben sich in gesonderten Trüppchen, immer ein größerer Engel mit einigen kleineren, auf die ihnen zugewiesenen Posten.
Anfänglich und bis in die Dämmerung hinein ging alles ganz gut. Sei es daß sich die Sterne aus Galanterie gegen den himmlischen Besuch von allem Unfug fernhielten, sei es daß sie fürchteten, auf eine Anzeige der aufsichtführenden Engel beim heiligen Petrus wirklich zur Milchstraßenwanderung verdammt zu werden, was ungefähr dem Schicksal gleich zu achten war, wenn Menschen von freien luftigen Höhen mit herrlicher Aussicht auf denen sie wandeln plötzlich für immer auf die staubige Landstraße versetzt würden wo sie mit allerlei Volks in Sonne und Unbehagen ihres Weges ziehen müßten, kurz: sie begaben sich zunächst völlig ihres aufgeregten Wesens und zogen still und geordnet, wie es ihnen zukommt, ihre vorgeschriebenen Bahnen. Kaum aber war die Dämmerung vorüber und die Nacht über das blanke Himmelsgewölbe als ein schützendes schwarzes Tuch gegen mutwillige Beschädigungen der Himmelspolitur ausgebreitet worden, als nach allen Seiten ein heftiges Feuerwerk und Bombardement mit Sternschnuppen vor sich ging und die Engel, welche einsahen daß es eine unmögliche Aufgabe sei, die weggelaufenen Sternlein oder ihre losgeschleuderten Bestandteile wieder einzufangen, nichts weiter tun konnten, als die Schuldigen aufzuschreiben, um sie dem heiligen Petrus beim Rapport zur Meldung zu bringen. Dies alles wäre nun freilich nicht so schlimm gewesen, zumal der heilige Petrus in den Monaten August und November an solche Vorkommnisse reichlich gewöhnt war; als aber plötzlich aus dem Sternbilde der Leoniden so etwa um halb neun Uhr ein entsetzliches Geschrei und Gejammer und darauf ein gottserbärmliches Geheul und Geschluchze gehört wurde, da wußte er daß etwas Unangenehmes und Außerordentliches passiert sein müsse, ließ sofort von einer himmlischen Posaune in den Raum hinaus Appell blasen, warf das Himmelstor einem Einlaß begehrenden Sünder rasselnd vor der Nase zu und begab sich eiligst und Böses ahnend nach dem ihm wohlbekannten Gestirn. Von dort kamen ihm schon auf halbem Wege sechs Engel entgegengelaufen, die fünf kleinen heulend und die Fäustchen in die beiden Augen gedrückt und der größere ganz fassungslos vor sich hinweinend. Auf seine Frage erhielt Petrus zunächst keine Antwort aus der er etwas hätte machen können, und bugsierte also die heulende Gesellschaft zunächst in sein Geschäftszimmer, wo er sie, nachdem sie sich etwas gefaßt hatten, auszufragen begann. Da erfuhr er nun daß sie erst ihrer sieben gewesen seien, daß aber auf einmal das kleine Englein Coelestina beim Versuche, eine nichtsnutzige Sternschnuppe wieder einzufangen, so schnell in der Richtung nach der Erde verschwunden sei daß sie vermuteten, es sei diesem Himmelskörper zu nahe gekommen und dann von der dort herrschenden Schwerkraft, vor der sie ja freilich oft genug gewarnt worden seien, da die kleinen Engel sie mit ihrer geringen Flügelkraft nicht überwinden könnten, auf sie herabgezogen worden. Sie hätten zwar alle gerufen und geschrien, aber das fallende Englein sei bald in dicken, grauen Regenwolken, welche die Erde umgaben, ihren Blicken entschwunden. Als das der heilige Petrus hörte, wurde er sehr zornig; denn wenn die verlorene Coelestina nicht wiedergefunden wurde, so gab es für ihn eine Menge Schreibereien die er haßte und am Schlusse noch eine lange Auseinandersetzung mit dem Herrgott. Man konnte es ihm daher nicht verübeln, wenn er den aufsichtführenden Engel unter harten Worten gehörig an den Flügeln zauste, daß er Federn lassen mußte, die fünf kleinen Engelknirpse aber einen nach dem andern über sein heiliges Knie legte und ihnen mit seiner heiligen Hand eine Strafe verabfolgte, wie er sie noch von seinen irdischen Zeiten her kannte.
Damit war nun freilich nicht viel gebessert; im Gegenteil: alle sechs heulten von neuem los und die kleinen brüllten sich ganz heiser, was doch gerade durch die von der himmlischen Vorsehung angeordnete Samstagsnachmittagsruhe hatte vermieden werden sollen. Und so blieb ihm nichts übrig, als den Rest einer Lakritzstange unter sie zu verteilen, die er sich einmal in Kapernaum nach seinem berühmten großen Fischzug gekauft hatte, da er sich dabei einen starken Schnupfen und einen leichten Husten zugezogen. Dieses Mittel hatte insoweit den gewünschten Erfolg als sich die Engel bei seinem lange währenden Genuß beruhigten und ihre geröteten Stimmbänder allmählich wieder zu einem zarten Rosa verblaßten, so daß in der Kirchenmusik am darauffolgenden Sonntag die Stimmlein frisch und rein klangen als ob nichts geschehen wäre. Der heilige Petrus aber, welcher wegen der Anstellung der Engel in seinen Diensten ein böses Gewissen hatte, beschwichtigte dieses mit der unbegründbaren Hoffnung, des verlorenen Engleins doch vielleicht in den nächsten Tagen auf eine ihm noch unklare Weise wieder habhaft zu werden, und beschloß daher, vorläufig von dem ganzen Vorfall dem lieben Gott nichts zu sagen. Als aber Tag um Tag verrann ohne daß sich das Englein an der Himmelstür wieder einfand oder von einem befreundeten Kometen daselbst abgegeben wurde, war der heilige Petrus durch die Unterlassung der sofortigen Meldung von dem Begebnis erst recht in eine prekäre Lage versetzt. Und so kam er auf die Idee, die Sache überhaupt zu vertuschen, da Engelzählungen nur alle Jubeljahre einmal stattfanden und Namenslisten nicht geführt wurden. Dies war nämlich insofern unnötig, als die Engel von Rechts wegen aus dem Himmelsgitter nie herauskamen, also wer darin war auch darin blieb; nur über die etwa zu frommen Kindern abkommandierten wurde eine Liste geführt, deren Einträge der heilige Petrus beim Aus- und Eingang dieser Engel am Himmelstore selbst besorgte. In diese trug er nun den Namen der kleinen Coelestina mit dem Zusatz »auf unbestimmte Zeit« ein, obgleich eigentlich so unerfahrene Engelkinder zu derartigen Missionen nicht verwendet zu werden pflegten. Die an der Geschichte beteiligten sechs Engelchen aber hielten fein dicht, eingedenk der Tracht Prügel die sie weg hatten und der Federn die sie hatten lassen müssen; und selbst wenn sie etwas davon hätten laut werden lassen, so würde es die himmlische Vorsehung, der sie es hätten anbringen müssen, doch nicht geglaubt sondern ihnen vermutlich noch das alberne Geschwätz verboten haben. So blieb es im Himmel unentdeckt daß das Englein auf die Erde hinabgefallen war.
Als Coelestina dem Sternknirps aus dem Leonidenschwarm, welcher mit unglaublicher Geschwindigkeit der Erde zustrebte, nachsprang um ihn an seinen Platz zurückzuführen, hatte sie ursprünglich nur vor, ihn bis zu der Wolkenschicht zu verfolgen, welche grau und schwer ihr die gefährliche Nähe der Erde deutlich genug anzeigte. Aber von dem tollen Hinterherjagen war sie dermaßen im Schwung daß sie noch ein ganz beträchtliches Stück über diese Grenze hinaus- und in die dichten feuchten Massen hineinfuhr; und als sie dann unter Aufbietung aller Kräfte mit den Flügeln schlug, um wieder nach oben zu kommen, waren diese so naß geworden daß sie nur noch unvollkommen ihren Dienst taten. Schon fühlte das Englein, wie die Schwerkraft, welche es sich wie eine große vielarmige Spinne vorstellte, seine Beine ergriff und da verließ es bald aller Mut und damit auch die letzte Kraft für weiteren Widerstand. Die Erde zog es unbarmherzig an sich, es sank unter müdem Geflatter wie ein krankes Vöglein tiefer und tiefer bis es endlich, etwas hart wie ihm schien, im Kohlgarten eines Bauern auf dem Boden aufstieß. Es war ganz erschöpft und außer Atem und die irdische Luft kam ihm schwer und drückend vor im Vergleich mit der durch den Äther verdünnten himmlischen Atmosphäre. Da stand es nun fremd in einer fremden Umgebung und wußte nicht was beginnen. Denn es war unterdessen stockfinstere Nacht geworden daß man nicht die Hand vor den Augen sah, und kein Stern vermochte mit seinem Licht die dicke dunkle Wolkenmauer zu durchdringen, welche einförmig und steinern die Erde vom Himmel abschloß; der Mond aber wurde in jener Nacht wieder einmal seiner Aufgabe als Himmelslicht gar nicht gerecht, da er erst Tags zuvor von seinem vertragsmäßigen monatlichen Urlaub heimgekehrt war, nach welchem er zum Ärger der Mutter Erde immer so schmächtig und glanzlos war daß sie einen halben Monat mit ihm zu tun hatte, bis er wieder rund und voll wurde. Dazu legte sich der erste stille breite Frost über das Land und Coelestina, die außer ihren Flügeln nichts anderes an hatte, sah sich daher frierend nach einem Obdach um. Aber die Bauern im Dorfe hatten längst ihre Lichter gelöscht und sich ihr zunächst befindliche Gehöfte, zu dem der Gemüsegarten gehörte, konnte sie in der Dunkelheit nicht entdecken. So fühlte sie sich wirklich ganz von Gott verlassen und weinte, da sie nicht zu rufen wagte, noch eine Zeitlang still vor sich hin. Dann aber duckte sie sich unter eine große Kohlstaude, brach von der danebenstehenden noch einige Blätter ab, die sie über die frostigen Beinchen legte, breitete die Flügel über Schulter und Rücken soweit sie reichen wollten, und schlief, indem sie die Knie eng an sich zog, sie mit den Armen umfaßte und ihr Köpfchen darauflegte, bald vor Ermüdung fest ein. Als sie am andern Morgen hungrig und frierend erwachte, hatte der Frost Bäume und Sträucher mit blitzendem, starrem Reif überzuckert und alles ringsum sah so prächtig aus daß sie zuerst dachte, vielleicht doch nicht auf der Erde sondern in einem Märchenlande zu sein. Unter diesem Eindruck und unter dem Hunger der sie zu plagen begann, brach sie von einem nahestehenden Strauch ein bezuckertes Ästchen ab, das sie unverzüglich in den Mund steckte. Aber da es kein Zucker war, wie es im Märchenlande hätte sein müssen, vielmehr genau so fade schmeckte wie wenn sie an einer Regenwolke geleckt hätte, deren Geschmack sie früher mit ihren englischen Gespielen öfters in dieser Weise untersucht hatte, so bemerkte sie wohl daß es doch die Erde sei auf welche sie verschlagen worden war. In den Betrachtungen über ihr bitteres Los, denen sie sich gerade von neuem hingeben wollte, wurde sie durch die barsche Stimme des Bauern gestört, der hinter einer Scheune herumkam um seinen Gemüsegarten zu besuchen und nachzusehen, ob der Frost seinem Kohl gut zugesetzt hätte.
»Ei, was will es denn unter meinem Kohl?« rief er grob. »Gewiß einige fette Stauden mitgehen heißen!«
Da er aber näher kam und das Englein so ganz nackt wie es vom Himmel gefallen dastehen sah, mit ungeordneten nassen Flügeln, triefendem Haar und einem ebenso triefenden blau gefrorenen Näschen, mit verweinten Augen und am ganzen Körper zitternd vor Frost, daß es sich in Gedanken über seinen Anblick vor sich selbst schämte, blieb er stehen und betrachtete sich das seltsame Wesen genauer. Und da er noch keinen Engel gesehen hatte, hielt er es für irgendeine seltene Art Federvieh, wie es vielleicht auf dem Monde zu Haus sein könnte. Er stellte also zunächst keine Fragen mehr sondern stieg mit einigen großen Schritten über die schmalen Beete, ergriff das Englein wie ein junges Gänschen bei den Flügeln und trug es so aus dem Garten über den Hof in die Stube, um das Wesen dort näher zu besehen. Dort erkannte er freilich daß es kein Vogel sei sondern eher ein Menschlein mit ein paar kleinen ihm sehr untauglich und unnütz vorkommenden Flügeln und so fragte er es, woher es komme. Das Englein aber schwieg darauf und konnte es nicht übers Herz bringen, zu sagen daß es ein Englein wäre und stracks aus dem Himmel käme; denn es fühlte gar wohl welch eine jämmerliche Figur es in diesem Moment abgab, und da gedachte es lieber insoweit inkognito zu bleiben. Da der Bauer also keine Antwort bekam, fragte er weiter, wie es heiße.
»Coelestina«, antwortete das Englein nach einigem Zögern gedehnt, wobei es sich auf den Fersen hin und her drehte.
»Coelestina?« sagte der Bauer. »Ach was, dummes Zeug! Coelestina ist überhaupt kein Name und außerdem viel zu lang.« Und indem seine Gedanken eine andere Richtung annahmen, fügte er, die kleine Gestalt mit den Augen von neuem überfliegend, hinzu; »Ich will dir etwas sagen: schön bist du nicht aber vielleicht nützlich.« Zu diesen Worten, deren Sinn Coelestina nicht verstand, dachte er sich daß er das Knirpslein, da er keine Kinder hatte, behalten wollte, damit es seine Gänse hüten oder seiner Frau, deren Augenlicht nachließ, mit seinen jungen Augen und zarten Fingern beim Linsenlesen behilflich sein könne. Denn Linsen und Sauerkraut war des Bauers Lieblingsgericht. Damit er aber sicher wäre daß das Englein ihm nicht wieder durch die Luft entwische, wie es durch die Luft in den mit Zäunen und hohen Hecken umgebenen Garten gekommen war, ergriff er eine große Schere, mit der er sowohl jene Hecken als die Flügel seiner Gänse zu verschneiden pflegte wenn diese die Gefahr des Entfliegens in sich zu tragen schienen, und stutzte dem Englein die Schwingen um ein solch beträchtliches Stück daß von ihnen kaum etwas übrig blieb als zwei kleine formlose Stümpfchen an den Schultern, Coelestina vor Schmerz ach! und weh! schrie und von neuem in ein herzzerreißendes Schluchzen ausbrach.
»So,« sagte der Bauer, ohne daß ihn das Gejammer mehr rührte als wenn ein Gänschen schrie, »jetzt siehst du schon etwas menschlicher aus. Nun heule mir nicht die Ohren voll; ich gebe dir auch einen hübschen und anständigen Namen.«
Darauf kam es nun freilich dem Englein in seinem Schmerz um den Verlust seines wichtigsten englischen Requisites weniger an; aber der Bauer verstand das nicht und dünkte sich beinahe gnädig, als er der weinenden Coelestina den Namen Anneliese verlieh, aus keinem anderen Grunde als weil seine Frau, die Bäuerin, auch so hieß und ihm also der Name am nächsten lag. Daß er wesentlich kürzer gewesen wäre wie Coelestina, kann füglich nicht behauptet werden; es kam aber dem Bauern so vor und also war es so.
Unterdessen trat auch die Frau in die Stube, die mit der Nachbarin ihren Morgenschwatz über das Wetter und das eine Ei beendet hatte welches ihre siebzehn Hühner bei der zunehmenden Kälte täglich legten. Sie war nicht in der besten Laune, da ihr die Nachbarin gesagt hatte, sie hätte am heutigen Morgen von ihren sechzehn Hühnern zwei Eier gehabt, und hielt dafür daß diese Sache nicht mit rechten Dingen zuging. Als sie daher das nackte schluchzende, nun in der Zimmerwärme ganz krebsrote Wesen zu Hause vorfand und der Mann ihr seine auf dasselbe gerichteten Absichten kund tat, brummte sie etwas vor sich hin, daß er auch etwas Besseres tun könne als hergelaufenes Gesindel in das Haus zu nehmen und er solle den Balg wieder auf die Landstraße jagen woher er gekommen sei. Da konnte sich aber Coelestina denn doch nicht mehr halten, nahm allen ihren Mut zusammen und sagte mutzig: »Ich bin nicht hergelaufen sondern hergeflogen, daß ihr es nur wisset!« Und da nun die Bäuerin, über diese Worte verwundert, auch noch die abgeschnittenen Flügel auf dem Boden herumliegen sah und die feinen Gliederchen des Kindes erblickte, sie auch von dem ersten Blatte ihrer Bibel die Abbildung eines Engels kannte die ungefähr dem Anblick der Coelestina entsprach wenn man sich vorstellte daß ihr die Flügel noch an den Schultern säßen, so ging ihr die Wahrheit schrecklich auf. Da zog sie aber erst recht über ihren Mann her: »Du alter gottvergessener Esel,« sagte sie, »du siehst natürlich in deinem Unverstand, den Gott dir verzeihen möge, nicht daß dies weder ein Mensch noch ein Vogel ist, wie du angenommen hast, sondern ein wirklicher leibhaftiger Engel vom Himmel, noch dazu einer mit Goldspitzen an den Flügeln wie sie so selten sind. Das kommt aber davon daß du nie in die Kirche gehst und nie in unserer Bibel liesest; denn dann wäre dir's auf dem Titelkupfer schon aufgefallen oder der Pfarrer hätte dir einmal einen beschrieben. Ach Gott, ach Gott! Was soll man nun machen, da du ihm die Flügel abgeschnitten hast. Zusammenbinden hättest du sie sollen, daß er nicht entfliegen konnte, aber nicht so voreilig sein. Wenn wir den Engel in der Kirche an den Küster abgeliefert hätten der mit dem Herrgott so gut steht und ihm den Überläufer sicher wieder zugeführt hätte, dann hätten wir vom lieben Gott doch eine rechte Gnade erbitten können: daß die Kuh gut kalbt oder daß unsere Hühner auch so gut Eier legen wie die der Nachbarin. Aber so! In dem Zustande nimmt ihn der Herr ja gar nicht zurück.«
So zeterte sie mit langem Atem wohl noch eine halbe Stunde; aber währenddessen fand sich allmählich das Mitleid für das Los der kleinen Coelestina, welche noch immer nackt und traurig auf der Ofenbank saß, bei ihr ein, und im Grunde ihres Herzens hatte sie gar nichts dagegen, sie im Hause zu behalten und an ihr eine Hilfe in der Wirtschaft zu haben die ihr ermöglichte, die Morgenaussprache mit der Nachbarin noch länger auszudehnen als es ohnehin schon geschah. Nur wollte sie von sich aus den Vorschlag nicht gemacht haben, damit sie's ihrem Mann immer vorhalten könnte wenn es schief ausging. Diesen schickte sie nun mit der Weisung über die Straße, beim Strumpfwirker ein Paar starke Strümpfe und ein gestricktes Wämschen einzuhandeln und bei der Nachbarin ein Hemdchen ihres Buben auszuborgen, wozu sich der Bauer, froh dem Vorwurfshagel seiner getreuen Ehehälfte so auf gute Manier zu entgehen, schnell bereit fand. Unterdessen holte sie aus der Kammer einen dicken roten Wollrock den sie in früheren Zeiten auf dem Felde getragen und bis zu den Knien herauf verschlissen hatte, schnitt das nun unbrauchbare Stück ab und wickelte ihn dem Englein in mehrfachen Runden um die Hüften, so daß es dergestalt gleich mit mehreren Röckchen übereinander aus einem Stück bekleidet war. Darauf flocht sie die englischen Locken noch halbnaß zu zwei kurzen, starren Zöpfchen, in welche sie ihnen Halt zu geben noch zwei gelbe Zigarrenbänder einband die sie sich einmal von ihrem Manne für unbekannte Zwecke ausgebeten hatte. Anneliese unterwarf sich dieser ihr fremden Prozedur zwar wehmütig aber ohne Klagen, da sie nicht schmerzte, und bald strebten die steifen Flechten keck und selbstbewußt nach zwei verschiedenen Richtungen von ihrem Köpfchen ab, als ob sie damit eine Abneigung gegen den Nacken bekunden wollten den sie ja doch nicht erreichen konnten. Als sie dann nach kurzer Zeit in zwei schwarz und rot geringelten Strümpfen dastand, welche ihr viel zu lang und weit waren, ihr also in mehreren unförmigen Falten um die Beinchen lagen, so daß diese einen grotesken und geschraubten Anblick gewährten; als sie in ihrem wollenen Wämschen steckte, welches der Geschmack des Strumpfwirkers mit kleinen braungefleckten Muscheln als Knöpfen ausgeputzt hatte; als ihr dann endlich noch ein rotes Tuchkäppchen mit schwarzsamtnem Zwickel wie ein kleiner umgestülpter Nachen quer auf dem Kopfe saß, da fühlte sie sich etwas wärmer und geborgener. Zwar kratzten und kniffen sie die ungewohnten Kleider oftmals recht empfindlich; denn sie waren doch aus gröberem Stoff gemacht als die Garnierung von rosa Wölkchen die sie einzig im Himmel zu tragen gewohnt war, und auch das nur an Sonn- und Festtagen wenn die kleineren Engel mit an der langen Tafel sitzen durften, an welcher die elftausend Jungfrauen gespeist wurden. Aber was wollte sie machen: auf die Barmherzigkeit des heiligen Philippus konnte sie nicht warten, zumal da es unsicher war ob er überhaupt noch auf Erden wandelte; kalt war es, und so mußte sie die Kleider also nehmen wie sie waren. Als ihr aber nach kurzer Zeit die Bäuerin einen grauen heißen Reisbrei in einem irdenen Napf mit einem eisernen Löffel auf den Tisch stellte und ihr darüber eine wäßrige fettigtrübe Brühe goß, in welcher zwei Rosinen und eine winzige vertrocknete Birne schwammen, im Geschmack nicht von dem ihr anhaftenden Stiel zu unterscheiden, da fing sie von neuem an zu weinen; denn sie mußte an die herrliche himmlische Tafel denken mit den silbernen Bestecken und goldenen Tellern und an die weißschimmernden Reisspeisen mit ihren Saucen aus Himmelblau und Regenbogenorange. Aber schließlich ging es ihr auch hier wie bei den Kleidern: Hunger hatte sie und anderes bekam sie nicht. Auch den Strohsack, welchen die Bauersleute ihr am Abend in eine Ecke der Kammer als Lager warfen, mußte sie am Ende ruhig hinnehmen, obwohl er keinen Vergleich mit den himmlischen Betten der Englein aushielt, die mit den feinsten frischgefallenen Schneeflocken gefüllt waren.
Da die Bauersleute in ihrer Weise gutherzig mit Anneliese verfuhren, so faßte sie sich in den nächsten Tagen mehr und mehr, zumal da sie die Hoffnung hegte daß ihr Aufenthalt auf Erden nicht allzulange währen würde. Sie hatte nämlich die Worte der Bäuerin wohl im Gedächtnis behalten, die sie an den Küster zur Weiterbeförderung in den Himmel hatte abliefern wollen. Also glaubte sie daß die Bäuerin, wenn nur erst einmal die Flügel wieder gewachsen wären, sich auch später wohl noch zur Ausführung dieser Absicht verstehen würde. Aber in dieser Hoffnung sah sie sich bitter getäuscht. Nicht als ob die Bäuerin nicht nach ihren Worten hätte handeln wollen; aber die Flügel wuchsen dem armen Englein nicht wieder; der täppische Bauer hatte mit den Federn auch ihren Lebensnerv durchschnitten und statt von neuem zu wachsen und kräftiger und größer zu werden als die verlorenen, wie es sie für eine im Notfall auszuführende Flucht von der Erde die es so festhielt, benötigt hätte, schrumpften sie nun mehr und mehr zusammen und bildeten am Ende nur noch ein Paar kaum fühlbarer Wülstchen. Somit unterschied sich Anneliese bald nicht mehr von den anderen Kindern des Dorfes als höchstens in ihrem Betragen, das darauf hinweisen mochte daß sie einst bessere Tage gesehen, und in dem kleinen Stückchen Himmelsglanz das im Hintergrund ihrer Augen zurückgeblieben war.
Als Anneliese die Entdeckung machte daß ihre Flügel nicht wieder wuchsen, da wußte sie daß ihr Schicksal besiegelt sei und nur ein Wunder sie retten könne. Einige Tage vergoß sie neue Tränen und da sie den Bauersleuten nicht mit ihren Klagen lästig fallen wollte, ging sie hinaus hinter das Haus, wo zwischen den Hecken auf einem Stück Wiese die Hühner pickten und in einer Lache die Gänse zusammenhockten. Denen klagte sie ihr Leid, oft und lange; und die Hühner waren ganz entsetzt darüber, liefen bestürzt umher und riefen einander zu: »Ach Gott, ach Gott; ach wie arg! Ach Gott, ach Gott; ach wie arg!« Der Hahn aber schrie zum Himmel empor, als ob er mit seinem Krähen den heiligen Petrus, dem der Hahnenschrei noch von seinen Erdentagen unangenehm sein mochte, hätte anklagen wollen. Die Gänse dagegen saßen teilnahmlos beisammen und machten nur immer die gleiche kurze schnoddrige Bemerkung, als ob sie sagen wollten daß da nichts zu machen sei. Da nun der Bauer Anneliese mehrfach auf diesem Wiesenstück bei dem Geflügel angetroffen hatte, war er sehr zufrieden daß sie, wie er vermeinte, sich ohne Murren dem Hüten der Gänse unterzog, die zuvor oft genug nach dem Dorfteich ihre Wanderung unternommen hatten und von dort immer nur mit Schwierigkeiten unter protestierendem Geschnatter nach Hause hatten gejagt werden müssen. Anneliese war es auch ganz recht so; denn auf dem Grasplatze konnte sie wenigstens still für sich ihren Gedanken nachhängen und sie an eine zum Himmel steigende Lerche oder einige weiße Wölkchen anheften die sich in der Höhe allmählich verloren. Dort war sie auch geschützt vor den Bauernkindern, welche sie groß und dumm anzusehen pflegten wenn sie vor das Haus trat. Ab und zu kam zwar der Junge der Nachbarin herüber, um mit ihr zu spielen; aber sie mochte ihn nicht, da er immer schmutzige Füße hatte und zerrissene Höschen, auch öfters, wenn gerade niemand zugegen war, das Fingerchen in die Nase steckte; und da sie nicht auf seine Spiele einging, so fand er sie bald langweilig und unterließ seine Besuche.
So blieb Anneliese bei den Bauersleuten eine lange Zeit; viele Jahre. Aber obgleich sie während dieser ganzen Zeit mit niemandem über ihre himmlische Herkunft und Heimat sprach, da sie wehmütig daran dachte wie geringes Verständnis die Gänse für ihre Geschichte gehabt hatten und demzufolge annahm daß wenn die Vögel ihr keine Teilnahme bezeugten, dies von den Menschen noch weniger zu erwarten sei, so blieb bei ihr doch unvermindert die Sehnsucht bestehen, endlich wieder in den Himmel zurückzugelangen. Und wenn sie der liebe Gott nicht kraft seiner Allmacht wieder zu sich empornahm, so vermeinte sie daß das nur geschehe, um sie eine kürzere oder längere Zeit für ihre Unachtsamkeit zu strafen, und murrte nicht darüber. Ihr liebster Aufenthalt aber blieb die kleine Wiese hinter dem Hause, weil sie da im Schatten der Hecke auf dem Rücken liegend ungestört in ihren lieben Himmel hineingucken konnte; doch je tiefer sie in ihn hineinblickte desto tiefer wurde ihre Sehnsucht.
Da begab es sich – Anneliese mochte nun ungefähr das Alter von zwölf Jahren erreicht haben – daß in einem benachbarten Dorf der Jungfrau Maria eine neue Kirche geweiht werden sollte; und der Herr Pfarrer hatte dazu von der Kanzel der alten baufälligen Dorfkirche, welche abgebrochen werden mußte, die heilige Jungfrau selbst durch Gebet für den kommenden Sonntag eingeladen, damit ihr Segen auf dem neuen Hause und seiner Gemeinde ruhe. Der Pfarrer hatte diese Einladung freilich mehr bildlich aufgefaßt; Maria aber, die lange nicht auf der Erde gewesen war, nahm es tatsächlicher mit ihr und bereitete sich, der Weihe ihres Kirchleins beizuwohnen. Da aber in dieser Zeit die Welt nicht mehr an Wunder gewöhnt war, die heilige Jungfrau auch im Laufe der Jahre von sinnfälligen Wundertätigkeiten mehr und mehr abgekommen war, so nahm sie die Tracht einer ehrsamen Bürgersfrau wie sie wohl an Sonntagen aus der Stadt in die Ortschaften hinauskommen um die ländlichen Armen zu besuchen. So gedachte sie unauffällig und unerkannt wieder einmal auf Erden wandeln zu können. Solcherweise verkleidet ließ sie sich in den ersten Morgenstunden einer milden Frühlingsnacht, die dem Weihesonntag vorausging, auf der Sichel des Mondes sanft zur Erde nieder, die sie in einem stillen Tannenwald erreichte in welchen der Mond leisen Fußes hinabstieg. In dem frischen erdeduftigen Morgen wurde ihr der Weg nicht zu lang zu dem Dorf, das sie schon aus weiter Ferne an dem in der Sonne blitzenden neuen goldenen Wetterhahn auf dem Turm der neuen Kirche und an den langen Wimpeln und Blumengewinden erkannte die von diesem herabhingen. Die Feier der Weihe verlief schlecht und recht. Der Pfarrer und die Bauern taten ihr Bestes dazu. Maria aber gewährte es eine heimliche Freude, statt den Andächtigen in der Glorie der Himmelskönigin zu erscheinen wie sie es früher gewohnt gewesen, lieber an den Herzen einiger Blinden und Armen bald durch ein tröstendes Wort bald durch ein Almosen ihre Wunder im stillen zu erweisen; und sie erschienen ihr größer und schöner als viele derer welche die Legenden ihr nachsagten. Da nun die Kirchweihe kurz nach Mittag zu Ende war und sie ohne Begleitung an den späteren Belustigungen der Menge nicht teilnehmen wollte, sie aber noch eine Anzahl Stunden vor sich hatte bis die zum Himmel aufsteigende Mondsichel ihre Rückkehr erlaubte, so erging sie sich noch ein wenig planlos und gelassen in den Feldern und den anliegenden Dörfern. Da, als sie der Weg gerade an einer wohlbeschnittenen hohen Rotdornhecke entlang führte, vernahm sie hinter dieser eine reine himmlische Stimme die zu einer himmlischen Melodie halblaut die folgenden Worte sang:
Wenn ich ein Prinzlein wär'
von Gottes Gnaden
hätt' ich ein prächtig Haus,
Diener, Soldaten;
hätte ein herrlich Kleid
silberbeladen;
wenn ich ein Prinzlein wär'
von Gottes Gnaden.
Da ich ein Englein bin
von Gottes Gnaden
bin ich auf Erden hier
kummerbeladen.
Keiner gibt 'was dafür
würd' ich verraten
daß ich ein Englein bin
von Gottes Gnaden.
Bei den ersten Worten des Liedes war die Jungfrau lauschend stehen geblieben, und da sie den Gesang wie die Melodie sehr wohl als nicht von dieser Welt erkannte, ahnte sie daß sie da eine Entdeckung machen würde die sie wohl etwas anginge. So schritt sie, während die himmlische Stimme die zweite Strophe nochmals etwas leiser vor sich hin sang, bis zum Ende der Hecke an dem Haus vorüber durch den Hof und fand sich bald auf dem kleinen Grasplatz Coelestina gegenüber. Diese erkannte sie sofort an den himmlischen Augen und an ihrem Wuchs, und nichts war natürlicher als daß sie jetzt die Stunde der Erlösung aus ihrem Erdendasein gekommen glaubte. In ihrer Freude konnte sie sich gar nicht fassen und erzählte ihre Erlebnisse in solch einem krausen Gedankengewirr daß die Mutter Gottes davon ganz benommen war und am Ende von Coelestinas Erzählung genau so atemlos dastand wie diese selbst. Das eine freilich war klar genug: der in einer Fülle von Wendungen, zärtlichsten Bitten, Bestürmungen und Umhalsungen sich immer wiederholende Wunsch Coelestinas, die Jungfrau möge sie alsbald mit sich in den Himmel emporheben. Die Mutter Gottes war eine besonnene Frau und sagte dem Mädchen daß das so ohne weiteres nicht ginge; denn als arme Sünderin wolle und könne sie doch füglich nicht im Himmel umherlaufen, und was wolle sie dort droben als Engel ohne ein Paar Flügel wie solche die himmlische Vorsehung vorschrieb und verlangte? Zudem sei der Mond noch viel zu schwach, um sie auch nur bis an das Himmelstor mitzunehmen, und habe schon bei seinem nächtlichen Abstieg unter ihrer eigenen Last ein schiefes Gesicht gemacht. Da nun, wie Coelestina geschildert habe, die ihr von der himmlischen Vorsehung auf Lebenszeit verliehenen Flügel nicht mehr wüchsen, sei guter Rat teuer. Doch hoffe sie daß vielleicht der heilige Martin, der die himmlische Rüstkammer unter sich habe, auf ihre Vorstellung ihr ein Paar von denjenigen Flügeln ausliefern würde welche für die frommen Kinder der Menschen bestimmt seien die nach der Auferstehung zu Engeln erhoben würden.
Mit diesem Trost nahm sie Abschied von Coelestina, die bei den ersten Worten ganz traurig geworden war, nun aber neuen Mut schöpfte und es wagte, sie anzuflehen daß sie doch ihre himmlische Majestät beiseite setzen und den heiligen Martin recht inständig um das Paar Flügel bitten möge; denn ihrem bittenden Auge könne niemand etwas abschlagen. Da lächelte Maria, versprach am übernächsten Tag, wenn der Mond sich senkte, wieder zu kommen und schritt nach Osten davon dem Orte zu, wohin sie die Mondsichel bestellt hatte die sie zum Himmel tragen sollte.
An jenem Abend saß Anneliese noch spät, als es schon ganz dunkel geworden war, an ihrem Platz auf der kleinen Wiese und blickte dem Monde nach, wie er so sanft und stetig zum Himmel emporstieg; und auf ihm stehend glaubte sie in einem feinen duftigen Glanz die Gestalt der Himmelskönigin zu sehen bis sie samt der Sichel unter ihren Füßen hinter einer Wolke verschwand.
Am andern Morgen ließ die Mutter Gottes dem heiligen Martin sagen, ob es ihm genehm sei daß sie am Nachmittage die himmlische Rüstkammer besichtige die sie noch nie gesehen hätte. Denn mit ihrem Anliegen wollte sie erst an Ort und Stelle herausrücken, da sie vermeinte, sie könne ihm dort besser zusetzen und ihn ein wenig in die Enge treiben wenn er Schwierigkeiten machen sollte. Martin, der seine Kammer wohl in Ordnung wußte, ließ ihr vermelden daß er ihr zu Befehl stände und sie erwarten würde. So begab sie sich am Nachmittage in die himmlische Rüstkammer. Martin empfing sie voll Ehrerbietung an der Türe, und der Hauptmann von Kapernaum, der ihm zur Hilfe beigegeben war und die Kammerabteilung für die himmlischen Heerscharen unter sich hatte, war auch da. Da standen nun in langen Reihen die Posaunen des Jüngsten Gerichts und die Lanzen der Reiterei und ihre Kürasse; und von der Decke hingen die Heiligenscheine in einem Schließringe vereinigt; die feurigen Schwerter der Erzengel aber hingen etwas gesondert hinter einem eisernen Vorhang, damit kein Unglück geschehe. Auf einem Sims über der Tür sah Maria die zehn Lampen der klugen und törichten Jungfrauen, und dann kam ein Himmel voller Geigen und ein langer Gang mit Palmenwedeln; aber in einem besonders langen Raum waren Tausende und Tausende von Engelsflügeln wie die Dachziegel auf dem Boden aufgestellt, einer hinter den andern gelehnt. Als die heilige Jungfrau dort mit Martin allein war, fragte sie ihn, ob er ihr nicht ein mittelgroßes Paar dieser Flügel ablassen könne. Der heilige Martin, etwas erstaunt, verneinte dies indes. Da wurde sie dringlicher und dringlicher und redete lange Zeit auf ihn ein, daß er ihr die Flügel lassen müsse, da er sich wohl denken könne daß sie dieselben für einen guten Zweck brauche. Aber es half nichts, Martin blieb fest bei seiner Weigerung. In aller Ehrfurcht, so sagte er, müsse er den Wunsch ihrer himmlischen Majestät versagen; denn das sei in einem geordneten Gemeinwesen mit stehenden Heeren unbedingt das wichtigste daß die Kammer stimme. Das habe er von den kriegführenden Mächten aller Zeiten gelernt. Und wenn bei der nächstjährigen ökonomischen Musterung auch nur eine von den numerierten Schwungfedern fehle, koste es ihn den Heiligenschein, geschweige denn wenn ein ganzes Paar Flügel nicht zur Stelle sei. Falls, was er nicht wissen könne, die heilige Jungfrau die Flügel nur zum Theaterspielen brauche, so verwahre er in der Ecke noch ein altes griechisches Modell das er von seinem Vorgänger übernommen habe; sie seien von einem gewissen Ikarus, entsprächen aber nicht den Anforderungen die heutzutage an das Fliegen gemacht würden sondern seien nur eine Spielerei.
So verabschiedete sich die Jungfrau Maria unverrichteter Sache von dem gestrengen heiligen Martin und bewegte das Schicksal Coelestinas in ihrem Herzen. Aber sie fand keinen Ausweg. Den Gedanken, Gott zu bitten daß er sich seines Engels annehme, verwarf sie schon aus dem Grunde, weil sie ihm den Kummer über die Pflichtvergessenheit des heiligen Petrus ersparen wollte; außerdem aber hatte der himmlische König sich vor nicht zu langer Zeit alle Bittgesuche von Himmelsbewohnern, da sie immer mehr überhandnahmen, durch ein besonderes Betteleigesetz verbeten in dessen Eingang es hieß daß, da im Himmel alles nach seiner Allwissenheit vollendet eingerichtet sei, insoweit von niemandem der seine Einrichtungen genieße etwas zu bestellen sei. Er könne daher das Recht von Bittgesuchen nur den Menschen in ihrer Hilflosigkeit zubilligen, und auch dann nur, wenn sie ihm unmittelbar vor seinen Thron gebracht würden; irgendwelche Vermittler aber wolle er nicht anhören.
Dieses göttlichen Willenserlasses eingedenk behielt Maria ihre Entdeckung und ihr Anliegen für sich und am Ende nach langem Überdenken fand sie auch für Coelestina einen Ausweg; einen harten bittern Ausweg, aber sie beschloß ihr ihn mitzuteilen. Wie sie es versprochen stieg sie in der nächsten Nacht wieder zur Erde hinab und fand Coelestina ihrer wartend. Als diese sie ohne die erhofften Flügel auf sich zuschreiten sah, da bestürmte sie sie mit tausend ängstlichen Fragen auf deren manche Maria die Antwort schuldig bleiben mußte. Da sie aber in ihrer Verzweiflung sagte, sie könne es kaum glauben daß Gott von ihrem Schicksal wisse, denn so hart sei er nicht, sie für eine kindliche Unachtsamkeit so schwer büßen zu lassen, da verwies ihr die heilige Jungfrau zwar solche Reden konnte aber keine ganz ausreichende Erwiderung darauf finden. Mit der göttlichen Allwissenheit, so erklärte sie etwas aus ihrem Gleichmut gebracht, verhalte es sich derart daß Gott ohne Zweifel alle Dinge auf Erden wissen könne; es aber wohl einmal vorkomme daß er gewisse Dinge nicht wissen wolle, und noch öfter daß er sie in ihrer Erledigung hinter andere wichtigere zurückstellen müsse. Gerade jetzt könne dies wohl nicht nur auf ihr Schicksal allein Platz greifen, da der Herr durch irdische Angelegenheiten aufs äußerste in Anspruch genommen sei, indem eben einmal wieder, wie er ihr jüngst mitgeteilt, allenthalben die Völker aufeinander platzten, von denen jedes ihn zum Helfer in seiner gerechten Sache anrufe. Allen aber müsse geholfen werden. Und wenn in ihrem Gottvertrauen die Menschen so große, ja schier unerfüllbare Dinge von ihm erbäten, welche Wünsche zu erfüllen ihm oft recht schwer würde, so könne er sie doch nicht ganz damit im Stich lassen.
Da merkte Anneliese wohl daß ihr kleines Los hinter so wichtigen Dingen welche die Welt bewegten zurückstehen müsse und war um so begieriger, nun den Rat der heiligen Jungfrau zu vernehmen den diese ihr beim Beginn ihres Besuches angekündigt hatte. »Mein Kind,« sprach Maria, »es gibt für dich keinen andern Weg, von dieser Erde wieder in den Himmel zu gelangen, als den welchen alle diejenigen zu diesem Ziele beschreiten müssen die auf ihr wallen: daß du nämlich den Tod erleidest und nach der Auferstehung durch das Himmelstor eingehst, das sich dir kraft der Leiden meines Sohnes nicht verschließen wird. Weine nicht,« fügte sie hinzu, als sie Tränen in Coelestinas Augen sah, »denn siehe, das irdische Leben ist kurz im Vergleich zu der ewigen Seligkeit des Himmels. Bedenke daß auch ich es in Kummer getragen und es der Heiland in Leiden geendet hat, während außer Gott dem Vater nur ihr himmelseingeborenen Englein diese Bürde nicht auf euch zu nehmen braucht. Wenn du solches als eine unverdiente himmlische Gnade erkennst, mag das dir deine Prüfung leichter machen.«
Da wurde Coelestina stille und schluchzte nur manchmal noch ein wenig und dankte Maria für ihre Worte. Und diese nahm endlich von ihr Abschied; nicht ohne ihr zum Trost zu versprechen, solange ihr Leben währe, alle sieben Jahre, wenn die Sichel des Mondes das erstemal nach Frühlingsanfang am Himmel sichtbar sein würde, zur Erde hernieder zu steigen und sie mit ihrem Trost und wenn sie in Not wäre mit ihrer Hilfe aufzusuchen.
Von Stund' an war das ganze Leben Annelieses, alle ihre Gedanken, ihr Sehnen und ihre Träume auf den Tod gerichtet. An der Schönheit dieser Welt ging sie wie an etwas Unnützem vorüber und eine Freude verachtete sie wie einen Umweg, der sie von ihrem Ziel abführte. Obwohl ihr der Tod ein leises geheimnisvolles Grauen einflößte, so sehnte sie ihn doch herbei wie einen unumgänglichen Schmerz, den man je eher je leichter erträgt. Und ihr Verlangen zu sterben war bald so groß daß sie darüber nachsann, wie sie den Tod näher zu sich heranzwingen oder ihn finden könne, wenn er sie nicht finde. Nicht daß sie jemals daran dachte, von sich aus das Leben wegzuwerfen; denn sie wußte daß dies ebenso verächtlich sei wie Brot in den Staub der Straße zu treten. Aber sie wußte auch, daß es Helden gab die ihren Tod in der Schlacht suchten, und mutige Männer die ihr Leben für das anderer oder für ein großes Ziel aufs Spiel setzten, und ihr eigenes Ziel dünkte ihr mindestens so groß als irgendeines auf Erden. So begann sie nach einiger Zeit, wo immer im Dorfe ein Schwerkranker an einer ansteckenden todbringenden Krankheit darniederlag, in dem Hause allerhand Hilfeleistungen zu verrichten und, soweit ihr das in ihrem jugendlichen Alter erlaubt wurde, in der Heilanstalt auf der Höhe, wo die vielen hoffnungslosen Lungenkranken gepflegt wurden, zu kleinen Handreichungen ab und zu zu gehen; und da den Kranken ihre geräuschlose sanfte Gegenwart angenehm war und sie häufig zu bleiben gebeten wurde, so war sie oft viele Stunden des Tages mit ihrer Hilfe um sie am Orte des Todes und der Gefahr.
Unter solchen Gewohnheiten war Anneliese siebzehn Jahre alt geworden und ein zwar zartgliedriges und feines aber früh entwickeltes und widerstandsfähiges Mädchen. Da genügten ihr die unregelmäßigen und unvollkommenen Versuche dem Tode zu begegnen nicht mehr, sondern sie bat den alten Bauern, welcher sie seither wie eine Pflegetochter gehalten hatte, um die Erlaubnis, in die große Stadt gehn zu dürfen, damit sie dort die Kunst und die Pflicht einer Krankenpflegerin von Grund auf lernen könne die sie hier nur planlos und ungenügend auszuführen in der Lage sei. Der Alte wollte sie erst nicht ziehen lassen, da ihm ihre häuslichen Dienste zustatten kamen, und meinte, es sei nützlicher und wichtiger, seiner Frau im Hause beizuspringen die schon zu alt geworden sei, um alles ohne Hilfe zu verrichten. Die Bäuerin aber, welche die Worte durch die offene Küchentüre gehört hatte, verbat sich mit Nachdruck, das heißt mit schreiender Stimme, daß man sie zum alten Eisen werfe und unterstützte schon in gekränkter Frauenehre und zur Bekräftigung daß sie sich auch allein helfen könne den Wunsch Annelieses, womit derselbe denn auch erfüllt war. An einem der nächsten Tage verließ sie das stille Dorf, die guten Leute, den kleinen ihr lieb gewordenen Rasenplatz, wo ihr die Mutter Gottes erschienen, und ihre Hühner und Gänse, denen es keinen Eindruck machte daß sie fürderhin der Hut eines Engels entbehren sollten unter der sie bisher gestanden.
In dem großen Krankenhause der Stadt lernte sie bald alles das was ihr die Türen in die Krankenstuben derer öffnete welche dem Tode geweiht waren. Dort fühlte sie sich an ihrem Platz; dort ergriff sie sogar jene eigentümliche innere Heiterkeit und äußere Sonnigkeit, wie sie ein Mensch zeigt welcher gewiß ist daß seine Arbeit ihn zum vorgesteckten Ziele führt. Diese Gewißheit gab ihr die Ausdauer, gab ihr die Unermüdlichkeit, gab ihr die Hingebung, die Sanftmut, die Geduld welche ihr Beruf erforderte und gab ihr ebenso diejenigen Eigenschaften die ihn zu einer Kunst machen. Ihre Nähe war wie ein leises wohltätiges Fächeln, ihr Tritt unhörbar, als ob sie wirklich noch mit ihren englischen Flügeln daherschwebte, die Berührung ihrer schmalen guten Hände kühlte die fiebernden Stirnen und ihre Stimme war wie die Melodie eines sanften wohligen Wellenschlags am Ufer eines sonnigen Sees. Wenn sie sich aber über ihre Kranken beugte, besorgt ihre letzten Atemzüge zu erhaschen oder ihren letzten Wunsch aus ihren brechenden Augen zu lesen, dann war es ihnen in der Tat, als ob sie in das Antlitz eines Engels sähen der ihnen vom Himmel zum Beistand in ihrer schwersten Stunde gesandt war. So oft sie aber bei diesem Leben tödlicher Gefahr oder dem Tod selbst begegnete: nie streckte er nach ihr den Arm aus, sie verfiel nie auch nur einer der Krankheiten welche sie umgaben. Es schien als ob sie gegen alles das gefeit sei, als ob sie aus einem anderen, unantastbaren, reineren Stoffe geschaffen sei als die Menschen, an welchem die Schädlichkeiten abprallten wie Holzpfeile an der geglätteten Wölbung eines metallenen Schildes.
Als Anneliese im Beginn ihres neunzehnten Jahres stand, wurde sie eines Abends an das Bett eines jungen Baumeisters gerufen welcher an einem mörderischen Fieber erkrankt war. Er hieß Frohmut und lag in einem von der Straße abgelegenen Hause, das auf stille, alte Gärten hinaus und in dessen Fenster die Märzsonne, so viel sie es konnte, hineinsah. Seine Sache stand schlecht; eine beständige Unruhe, welche immer von neuem die leisen Ansätze einer Heilung zerstörte, durchwühlte ihn und sein lebhafter Geist fand nicht den Schlaf, den der ermattete Körper so dringend brauchte. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben und erhofften auch nichts mehr von dem vorgeschlagenen Wechsel einer Pflegerin und Annelieses Berufung, die sie nur geschehen ließen, damit auch scheinbar Gleichgültiges nicht versäumt würde. Aber als Anneliese einige Tage um den Kranken war, legte sich seine Unruhe und damit die schlimmsten Stürme des Fiebers; und seit der Zeit besserte sich sein Zustand langsam. Sie mochte sich keine Rechenschaft darüber geben, ob ihre Gegenwart diese Wandlung bewirkt hätte, aber bald genug hatte sie erkannt was ihm Ruhe gab; und so saß sie denn häufig gegen Abend an seinem Lager, hielt seine Hand still in der ihren und summte ihn mit einer jener himmlischen Melodien welche heiter und ernst in einem sind in den Schlaf. Nach Wochen aber, da sich seine Kräfte allmählich gehoben hatten, begann sie ihm mit halblauter Stimme zu erzählen, und es war ihre eigene Geschichte die sie ihm als ein Märchen erzählte. Sie sprach ihm von der Heiterkeit des Himmels; von dem goldenen Gitter das ihn umschloß, von dem Wolkenteppich, den langen weißgedeckten Tischen an denen die Himmlischen speisen, von den Engelschören und himmlischen Konzerten und vom himmlischen Dom in welchem man so aus freier Brust atmen und frei emporblicken könne ohne Schwindel zu bekommen wie in vielen Kirchen dieser Welt; und er sei, sagte sie, so heiter und frei und auch so stark und weihevoll wie ein hochstämmiger grünender Buchwald im Sonnenlicht. Da sie nun bei diesen Worten sein Auge leuchten sah und er sie bat, das von dem Dom genauer auszuführen, so beschrieb sie ihm alles aufs bestimmteste, Säulen und Bogen, Wölbungen und Gesimse, Nischen und Chor, so daß er es hätte zeichnen können. Als sie aber gegen das Ende ihrer Geschichte kam, da vergaß sie sich ein wenig und erzählte ihm auch, wie sie so ganz von dem Wunsch nach jenem Himmel, den sie im Tode gewinnen solle, erfüllt sei daß ihr die Welt keinerlei Freude darbieten könne. Wie könne der beständige Wechsel von Sommer und Winter, die Vergänglichkeit der Blumen, die Stürme selbst der edelsten Leidenschaften in den Herzen der Menschen und ihre Kämpfe selbst für die höchsten Dinge dieser Welt – alles Vorgänge an denen, wie sie wisse, selbst gute Menschen ihr unvorstellbare Schönheiten fänden und genössen – für die irgendeinen Reiz haben deren einziges Ziel die ewige himmlische Beständigkeit und Harmonie sei.
Als sie mit diesen Worten geendet hatte, erschrak sie ein wenig, denn Frohmuts Hand zitterte in der ihren und er schien etwas zu unterdrücken was er ihr hatte sagen wollen; und während er sonst durch ihre Lieder oder Worte immer erheitert schien, ging heute ein Schatten über seine Züge. Er war die nächste Zeit nachdenklich und still; und Anneliese glaubte zu bemerken daß seine Augen öfter als früher auf ihr ruhten.
Aber eines Tages, als wiederum die Abendsonne ihre schrägen Strahlen in das Zimmer schoß bis auf das Bett in der Tiefe, und Frohmut wieder die Hand Annelieses hielt die bei ihm saß, da begann er zu erzählen: von sich und seinem Leben. Es war ein starkes, ein stürmisches, ein beinahe brausendes Leben in welches da Anneliese hineinsah, voll von einer gewaltigen, fast wilden Lebensfreudigkeit, daß es ihr bei seinen Worten ganz angst und bang wurde. Und er beschrieb ihr die Schönheit dieser Erde so glühend, so gewaltig, so als das einzigste reinste Erlebnis daß sie ihm beinahe glaubte, wie schön es sei zu leben und wie bitter zu sterben. Er wollte es sie lehren, die Schönheit des Frühlings und des Winters, die Schönheit der Blumen und der Tiere, die Schönheit des Menschen und seiner Gefühle zu erkennen; und einmal werde er sie auf einen hohen Berg führen, wo sie mit ihm herabblicken würde auf das Meer; auf das wogende Meer in seiner Kraft und seiner Unendlichkeit und auf nichts anderes als das Meer; und sie würde nicht müde werden, darauf zu schauen, und das sei so schön daß der Mensch in die Knie sinken müsse vor dieser Schönheit und sein Gesicht mit den Händen verhüllen, damit er von ihr nicht geblendet würde.
Da wurde es Anneliese eng und sonderbar zumute, und sie geriet in Angst daß Frohmut in sein Fieber zurückfiele. Der aber fuhr fort und erzählte von sich und seiner Jugendzeit und schonte sich nicht, sondern sprach von seinen Verfehlungen die er begangen, und seinen Fehlern die er jetzt noch besitze, und von den Mängeln in seiner Kunst; und dies alles so daß Anneliese bald sah, wie er nicht im Wahn redete sondern es ihm bitterernst mit seinen Worten sei. Denn er sagte daß, wie ihm in seinen Gedanken nichts zu hoch und in seinen Gefühlen nichts zu wild gewesen sei, auch seine Bauwerke darunter litten, daß kein Gewölbe ihm hoch genug, kein Säulenbündel ihm stark genug, kein Sims ihm wuchtig genug und kein Bogen ihm kühn genug gewesen wäre, so daß seine Bauten kein wohltuendes Empfinden auslösten, also nicht harmonisch sein könnten. Da aber seine Kunst nur ein Ausdruck seiner selbst sei, so könne sie daraus seine eigene Unzulänglichkeit wohl am augenfälligsten erkennen.
Und da sie nun alles von ihm wisse, auch alle seine Fehler kenne, so habe er nun den Mut, sie zu fragen, ob sie in ihrer himmlischen Harmonie ihm das geben wolle was er zwar unablässig gesucht aber nie gefunden, und ob sie ihm folgen wolle für immer. Denn er habe sie lieb gewonnen in langen stummen Wochen und liebe sie nun, nicht in einer auflodernden Flamme sondern in einer stillen, tiefen Glut, wie ein Mann nur einmal lieben könne in seinem Leben.
Als er so geendet hatte, wurde Anneliese sehr traurig, denn sie sah wohl, welche starke und edle Seele da um sie warb. Aber sie wußte auch daß sie ihn nicht wiederlieben könne; denn da sie ein Engel war, kannte sie die irdische Liebe nicht und wußte sich ihrer unfähig; ebenso unfähig wie etwa eines Verbrechens.
Also sagte sie ihm das schweren Herzens. Frohmut antwortete nichts darauf, sondern sagte nach einer Weile traurig und fast tonlos, er habe sie in all den langen Wochen mit seinen Gedanken so umsponnen und umfaßt daß sie nun in der Tiefe seines Herzens gebettet liege wie ein schöner Kristall in einer Steindruse; den Kristall aber werde man nicht wieder aus seiner Umhüllung lösen können ohne diese zu zerschmettern.
Nach einigen Tagen stellten die Ärzte einen Rückgang seiner Kräfte fest, für den sie keinen Grund erkennen konnten. So siechte Frohmut von Stund' an dahin. Aber er hörte nie auf zu hoffen, und so oft Anneliese zu ihm trat, blickte er forschend und bang in ihr Auge. Sie jedoch war verzweifelt vor Angst und Schmerz, denn sie wußte wohl daß Frohmut sich in Liebe zu ihr verzehre wenn sie bleibe, und fürchtete daß es ihn ebenso töten könne wenn sie ihn verließe. Also erwartete sie ungeduldig und ratlos den Besuch der Jungfrau Maria, den sie ihr vor sieben Jahren angekündigt hatte; denn schon stand der Mond im letzten Viertel, und in wenigen Tagen, einen Tag nach dem Neumond, war Frühlingsanfang.
Da kam die Jungfrau zu ihr wie sie es versprochen, aber als sie Anneliese in solcher Not und Angst sah, als diese ihr vorstellte daß sie nun das Entsetzliche tragen müsse, an dem Tod eines guten und lebensfrohen Menschen schuldig zu werden, da sah Maria wohl daß es an der Zeit für sie sei zu handeln. Sie versprach ihr also, bei Gott selbst ihre Sache zu vertreten und fuhr gen Himmel. Unterwegs aber schalt sie den Mond, daß er sich nicht mehr beeile, obwohl es ihr eigentlich nicht darauf ankommen durfte, da sie den lieben Gott doch vor Anbruch des nächsten Morgens nicht sprechen konnte; und der Mond ließ es sich auch nicht anfechten sondern zog seinen Weg.
Als die Jungfrau nun am Himmelstor angelangt war und der heilige Petrus ihr geöffnet hatte, da tat es ihr doch leid daß das himmlische Strafgericht, welches sich notwendig über ihn ergießen würde wenn sie Gott von allem Geschehenen Mitteilung machte, sein altes Haupt so völlig unvorbereitet treffen solle, und sie beschloß daher, ihm eine Warnung zukommen zu lassen. Sie fragte ihn also, mit in sein Torhüterhaus eintretend, ob er ihr nicht angeben könne, wie lange der Engel Coelestina, den sie bei ihrem letzten Ausgang auf Erden getroffen, dorthin abbefehligt sei. Petrus konnte sich anfänglich des Namens nicht entsinnen und mußte viele Seiten in dem Ausgangsregister zurückblättern bis er ihn fand. Die Datumsangabe aber rief ihm die ganze schreckliche Wahrheit ins Gedächtnis zurück und als er der Jungfrau antwortete, der Vermerk laute auf unbestimmte Zeit und die Sache müsse jedenfalls ihre Richtigkeit haben, da klang seine Stimme etwas zitterig. Nunmehr war Maria der ganze Zusammenhang klar; sie verließ ihn indessen ohne mehr zu sagen. Petrus aber sprang im Verlauf der Nacht mehrfach von seinem Lager auf und lief hastig zur Türe hinaus; und wenn er dann auch immer bald zurückkehrte und sich wieder niederlegte, so hatte er doch eine schlaflose Nacht.
Am andern Morgen, noch bevor der Herrgott an seine Regierungsgeschäfte ging, trug ihm Maria die ganze Sache vor. Das Benehmen des heiligen Petrus und das Abhandenkommen eines seiner Engel schien ihm aber bei weitem das wichtigste zu sein, so daß er sich diesen Teil von Marias Erzählung noch einmal wiederholen ließ, wobei er immer in seinem Erstaunen vergaß, die himmlische Krone die er gerade in der Hand hielt aufzusetzen und dergestalt eine ganze Weile barhäuptig dastand. Als ihm die Jungfrau nun bedeutete daß ihr viel mehr als die Unregelmäßigkeiten des himmlischen Türschließers das Schicksal Coelestinas und des jungen Baumeisters am Herzen liege, da wurde der Herr mißmutig und sagte, daß die innere, himmlische Sache zu allererst Remedur erheische; denn das seien ja schaudervolle Zustände die sich ihm da aufdeckten. Zunächst hieße es da also, vor seiner eigenen Tür kehren, und dazu werde er das Erforderliche alsbald veranlassen.
Also berief Gott der Herr unverzüglich eine Versammlung aller Heiligen im großen blauen Himmelssaal, und die himmlischen Heerscharen, das Fußvolk unter dem Erzengel Michael und die Reiterei unter dem heiligen Georg, wurden auch dazu befohlen. Als alles beisammen war, ließ er sich, angetan mit der göttlichen Kraft und Herrlichkeit, auf dem himmlischen Throne nieder, und zu seiner Rechten nahmen die Jungfrau Maria und zu seiner Linken der Heiland ihre Thronsessel ein; aber unter den dreien hielten eine Menge Engel, welche die himmlische Vorsehung eigens dazu bestimmt und befehligt hatte, einen goldglänzenden Wolkenteppich empor, den man von dem Morgenrot auf einige Stunden für diesen Zweck entliehen hatte. Darauf erhob der Herr seine Stimme und legte in wenigen Worten den versammelten Heiligen das Vorkommnis mit dem Englein Coelestina und ihr Abhandenkommen klar, so daß der heilige Petrus, der unter den Aposteln stand, unruhig auf seinem Platz hin und her trat. Dann führte er aber in seiner Ansprache weiter aus, daß der Vorfall an sich nicht gar zu schlimm sei, da es wohl einmal vorkommen könne daß ein Engel wie irgendein anderes himmlisches Gerät abhanden kommen könne, daß er aber dem heiligen Petrus den Vorwurf machen müsse, die Sache nicht sofort gemeldet zu haben, wodurch er sie vielleicht erst bei der nächsten Engelzählung entdeckt haben würde, wenn nicht die Mutter Gottes zufällig aus einem besonderen Grunde ihm davon Mitteilung gemacht hätte. Man könne nicht verlangen, daß er seine Allwissenheit, die er für irdische Dinge benötige, auch noch auf himmlische Angelegenheiten erstrecke. Diese Vertuscherei und das ihm dadurch bewiesene geringe Vertrauen komme ja beinahe dem Verhalten von Bediensteten unter den Menschen gleich, welche es auch gewohnheitsmäßig verheimlichen, wenn ihnen irgendein ihrer Herrschaft gehöriger Gegenstand zerbreche oder verloren gehe. Mit der Verläßlichkeit des heiligen Petrus sei es so wie so nicht zu weit her, da er zur Zeit als sein Sohn noch auf Erden gewandelt sei, diesen dreimal, sozusagen in einem Atem bevor der Hahn krähen konnte, verleugnet habe.
Der liebe Gott redete sich im weiteren Verlauf seiner Ansprache in eine immer größere Entrüstung und einen gewaltigen göttlichen Eifer hinein und ging mit dem armen alten Petrus so scharf ins Gericht daß ihm beinahe die himmlische Gerechtigkeit, die er nach den Worten des Propheten in der linken Hand hielt, entfallen wäre. Schließlich kam ein solch göttlicher Zorn über ihn daß er mit der Drohung schloß, im Wiederholungsfalle solchen mangelnden Vertrauens, gleichviel von welcher Seite, der hohen Versammlung den ganzen himmlischen Bettel vor die Füße werfen und dem Himmelsthron zugunsten seines Sohnes entsagen zu wollen.
Da standen nun die Heiligen sehr betroffen über diesen Ausgang von Gottes Rede und die himmlischen Heerscharen blickten ernst drein. Der heilige Petrus aber, der besonders durch den Vergleich mit den irdischen Bediensteten ganz aufsässig geworden war und sich außerdem den Anschein geben wollte als nehme er die Sache auf die leichte Achsel, stieß den Apostel Paulus welcher neben ihm stand mit dem Ellbogen leicht in die Seite und fragte ihn unter der Hand, ob er nicht finde daß der Herr zu viel Wesens über einen gefallenen Engel mache. Paulus konnte trotz des Ernstes der Situation nicht anders als leise vor sich hin zu lächeln. Der Heilige Geist aber, der über dem Haupte Gottes in Gestalt einer Taube in seinem Heiligenschein schwebte, sträubte die Federn.
In der ersten Bestürzung über Gottes Zorn fand niemand der Anwesenden ein Wort. Nach einer Weile indes trat zu aller Erstaunen der heilige Joseph in den freien Raum der vor dem himmlischen Thron gelassen war und schickte sich zum Sprechen an, dies war um so wunderbarer als man eigentlich solange er im Himmel war nie etwas von ihm vernommen hatte. Der heilige Joseph war nämlich durch die im Himmel herrschenden Verhältnisse etwas in schiefe Lage gekommen, insofern er die beständige Nähe der heiligen Jungfrau, deren er sich auf Erden erfreuen durfte, infolge ihrer Erhöhung zur Himmelskönigin nicht mehr genießen konnte; seine treuen Beschützerdienste, in welchen sein Hauptverdienst für Maria und seine vornehmste Tätigkeit auf Erden bestanden hatten, waren in ihrer neuen Würde völlig überflüssig, und so stand er etwas allein, wenn sich auch Gott es nicht nehmen ließ, ihn regelmäßig mit der übrigen Sippe Mariae zum Weihnachtsabend und zum Karfreitagessen einzuladen. Aber da er zu den Aposteln, die einen geschlossenen Kreis bildeten, nicht gehörte und die anderen Heiligen wesentlich jünger waren als er, so lebte er still für sich und gab sich ganz dem Lesen gelehrter Bücher hin, so daß er höchstens gelegentlich einmal in alter Anhänglichkeit an sein irdisches Handwerk einen lose gewordenen Sparren auf dem Himmelsdach wieder fest schlug. Seine Belesenheit und Gelehrsamkeit kamen ihm nun plötzlich bei dieser Gelegenheit zustatten und gaben ihm den Mut, auf die Worte Gottes zu antworten. Er führte etwas schwerfällig aber doch klar und verständlich aus, daß von einer Thronentsagung oder Abdankung Gottes des Vaters gar keine Rede sein könne, da eine solche nach der himmlischen Verfassung unzulässig sei. Denn dann würde die heilige Dreieinigkeit eines ihrer wesentlichen Bestandteile beraubt; und selbst wenn man annehmen wolle daß er nach seiner Abdankung ihr noch weiter angehören könne, falls er nur immer in der Nähe und in allen Dreieinigkeitsfragen erreichbar wäre, so ginge das aus dem Grunde nicht, weil abgedankten Göttern verfassungsmäßig ein für allemal der Aufenthalt im Himmel verboten sei, wie man vor noch nicht zu langer Zeit selbst entschieden hätte, als man eine so achtbare göttliche Persönlichkeit wie den Apollo nicht habe aufnehmen wollen. Er machte den lieben Gott ferner darauf aufmerksam daß im Falle seiner Abdankung als einzige Orte, wo er mit Anstand den ewigen Rest seiner Tage verbringen könne, nur Asgard und der Olymp in Frage kämen; und in dem ersteren wäre es doch wohl für immer zu kalt und neblig, während auf dem letzteren er wohl von Jupiter und seinen Göttern nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen werden würde. Diese gelehrten Ausführungen gehörten nicht streng zur Sache und der Herrgott sagte dem heiligen Joseph daher daß er sie sich hätte sparen können und hier nicht ein irdisches Parlament wäre, in welchem der Vorsitzende so geduldig die vielen und langen unsachlichen Ausführungen der Redner anzuhören pflegte. Da trottelte der heilige Joseph ziemlich betroffen auf seinen Platz zurück und hatte nicht den Eindruck als ob er mit seiner Rede sein Verhältnis zum lieben Gott gebessert hätte. Aber durch die ganze Heiligenversammlung ging doch ein Seufzer der Erleichterung nachdem Joseph geendet hatte, und der Heiland nickte seinem Stiefvater gnädig zu, da er sich gar nicht sehr nach dem Himmelsregiment sehnte, während die Apostel dem Redner einer nach dem anderen schweigend die Hand drückten mit Ausnahme des heiligen Petrus. Unterdessen erklärte Gott Vater die Versammlung für geschlossen und befahl noch, um die Gelegenheit wahrzunehmen und sich auf andere Gedanken zu bringen, einen Vorbeimarsch der himmlischen Heerscharen während dessen sein Zorn sich legte und die Freudigkeit am himmlischen Regiment zurückkehrte. Hierauf rückten die Heerscharen in ihre Quartiere, die Heiligen gingen auseinander und der himmlische Friede griff wieder Platz.
Für das Schicksal von Anneliese war nun freilich mit diesen Maßnahmen des heiligen Vaters, so wichtig sie auch für die himmlische Ordnung waren, nichts gewonnen. Aber die Mutter Gottes, da sie sich einmal der Sache angenommen hatte, ließ nicht nach, sie zu verfolgen; und so gesellte sie sich am Abend jenes Tages, als der liebe Gott nach seinem Tagewerk sich im Paradiesesgarten in der Kühle erging, zu ihm in der Absicht, nochmals für ihren Schützling bei ihm vorstellig zu werden. Da nun der Herr sie so in aller der Reinheit, Anmut und Hoheit in welcher sie dem Raffael zu seinen Bildern gesessen hatte daherwandeln sah, da hatte er seine göttliche Freude an ihr und beschloß sie anzuhören. Also trug sie ihm ihr Anliegen nochmals vor und stellte es gar beweglich dar, wie sehr sich Coelestina danach sehne daß er sie zu sich nehme und wie es nicht der göttlichen Barmherzigkeit entsprechen könne daß der arme Baumeister so viel um sie leide, noch der göttlichen Gerechtigkeit daß ein Engel sein Siechtum und seinen Tod verursache. So flehe sie ihn an, doch die Gebete seines Engels zu erfüllen und ihn von der Erde zu entführen, damit er nicht die Schuld auf sich zu nehmen brauche, einen Menschen getötet zu haben. Doch Gott schritt schweigend neben ihr her und strich sich den Bart und sprach nach seiner unerforschlichen Art kein Wort als sie geendet hatte, und so wußte sie nicht ob er nach ihren Bitten handeln werde; aber als sie in sein ernstes gütiges Angesicht blickte, da ahnte sie daß er es zum Guten wenden würde, und verließ ihn leichteren Herzens.
Und Gott war weiser als sie und handelte nach seiner Weisheit. Denn als an einem der nächsten Tage, da die Abendsonne ihre letzten goldenen Strahlen wieder einmal in das Krankenzimmer warf und in die Tiefe hinein bis auf das Bett und das Antlitz des jungen Baumeisters, Anneliese wieder still an diesem Bett saß und er ihre Hand in der seinen hielt und wiederum so ganz von innen heraus bewegt und erwartungsvoll in ihr Auge sah, da geschah es daß Gott der Herr mit seiner allmächtigen und gütigen Hand das Herz des Engels berührte und es leise ein wenig von seinem Platz in der Mitte des Körpers, wo es bisher geruht hatte, hinüber nach der linken Seite rückte; dahin wo die Herzen der Menschen schlagen (denn die Herzen der Engel liegen wegen der ihnen innewohnenden Harmonie symmetrisch in der Mitte des Körpers). Da aber das geschehen war, da schien es Anneliese, als ob ein unendlicher Freudenschrei durch die ganze Welt ginge und sie müsse ihn mitschreien; und sie fühlte ihr Herz anders schlagen, und als der Kranke, der ihre Bewegung bemerkte, in freudiger Erschütterung in ihre Augen blickte, da standen sie voller Tränen. Und sie beugte sich über ihn und ließ es geschehen daß er sie an sich zog und ihren Mund küßte, und sie weinte lange und still an seinem Halse, so daß der liebe Gott beinahe fürchtete, er habe ihrem Herzen einen etwas zu starken Stoß versetzt. Aber es war nur Freude die sie weinte. Und die erste Träne, die sie aus einem menschlichen Herzen vergoß, fiel in die geöffnete Hand des Mannes und verging dort gleich einem wunderbaren Diamanten, so rein und klar und makellos und auch so voll stiller Glut wie das Herz aus welchem sie zu den Augen emporgestiegen war. Von dem Tage, an welchem das Herz Annelieses sich der Liebe geöffnet, kam ihr die Welt wie verwandelt vor. Die Vöglein auf den Zweigen sangen ein anderes Lied, die Blumen in den Beeten vor dem Fenster strahlten sie anders an, die Sonne erwärmte ein anderes Blut in ihren Adern, und die ganze Erde, auf welcher gerade der Frühling wie ein junger Sieger seinen Einzug hielt, war von einem unbeschreiblichen Jubel erfüllt, in den sie selbst einzutauchen begehrte wie in einen wonnigen strahlenden Reigen. »Wie ähnlich«, sagte sie zu sich; »wie ähnlich sind sich doch Himmel und Erde.«
Den Baumeister machte sein Glück genesen. In wenigen Wochen verließ er das stille Haus und begann die Vorbereitungen für dasjenige dessen Plan ihm schon in den langen Nächten des Krankenlagers so klar vorgeschwebt hatte und das den Herd für ihn und Anneliese enthielt.
Kaum jedoch daß er selbst in voller Kraft wieder dem Leben geschenkt war, als Anneliese, mit der höchsten Freude nun auch des Leides der Menschen teilhaftig geworden, an der nämlichen mörderischen Krankheit sich niederlegte die er eben überwunden hatte. Der Tod stand mehr als einmal an ihrer Seite. Aber wie sie für den Geliebten gewacht und gesorgt, so tat er es jetzt für sie; und wenn es Anneliese noch nicht gewußt hätte, so hätte sie es jetzt erfahren was Menschenliebe vermag. Einesmals in diesen Tagen sagte sie es dem Geliebten, wie so ganz anders doch, um so vieles schöner und seliger, tiefer und ergreifender die irdische Liebe sei gegenüber der himmlischen die sie früher geübt; und daß die Welt und das Leben, das ihr ein solches heiliges Gefühl schenken könne, auch heilig und schön sein müssen. Wie sie früher den Tod gesucht, ja darum gebetet hatte, so inbrünstig betete sie nun darum daß er sie verschone. Aber als dies Gebet und jene Worte zu Gott hinaufdrangen, da lächelte er leise in seiner Güte und sprach zur Jungfrau Maria die bei ihm war: »So geht es auf Erden zu; ohne sie zu kennen, sind die Irdischen unzufrieden mit der Welt und dem Leben das ich ihnen gab, und können es gar nicht erwarten, bis sie das ewige Leben im Himmel erlangt haben; wenn sie aber erst die Schönheit der Schöpfung und die Freuden des irdischen Daseins entdeckt haben, dann wünschen sie, des ewigen Lebens auf Erden teilhaftig zu werden.« Aber ihren Wankelmut trug er Anneliese nicht nach.
Sie genas und der Baumeister führte sie heim. Seit jener Zeit breitete sich eine wundersame Klarheit und Feierlichkeit in ihm aus, die auch auf seine Bauten überging.
Bald schmückten schöne Kirchen voll Einfachheit und Kraft das Land, bei deren Bau ihm jene himmlische Kapelle vor Augen stand welche Anneliese ihm dereinst in seiner Krankheit beschrieben hatte. Die Leute aber sagten von seinen Kirchen, man glaube wohl, daß Gott darinnen wohne.
Sie lebten lange und glücklich. Anneliese gebar ihrem Gemahl Kinder, die rechte Menschen waren und das Herz am rechten Fleck hatten; aber an den Schultern trugen sie alle ein kleines goldgelbes Mal, das wie ein goldenes Federchen aussah, zum Zeichen daß ihre Mutter ein Engel war.