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Es ist noch nicht lange her, daß in einer Stadt im Westen unseres Landes, wie keine schönere gleich einer lächelnden Frau ihre Füße in den Wellen eines raschfließenden Stromes badet und ihr Antlitz in seinem Spiegel betrachtet, sich die Geschichte zutrug, die ich hier erzählen will. Obzwar sie sich recht eigentlich im Herzen jener Stadt abgespielt hat und es Blut dabei gab und Tränen, so hat sie davon wohl kaum etwas gespürt; und wenn sie etwas von ihr bemerkte, so hat sie es im Herzen bewahrt, treu und verschwiegen, wie es gut war und notwendig; denn sie ist – auch hierin den Frauen gleichend – minder schwatzhaft als minder schöne. Jetzt aber, da – nach kaum zwanzig Jahren – niemand mehr übrig ist, dem die Erzählung dieser Begebenheiten einen Schmerz erneuern könnte, und die Geschichte schon dem unermeßlichen Meere der Vergessenheit zurollt, das, gnädig und grausam, die Schicksale der Menschen in sich aufnimmt, scheint es an der Zeit, sie diesem Ende zu entreißen. Denn selbst der letzte und gewichtigste, wenn auch stumme Zeuge, welcher ihren Ausgang gesehen hat, ist gefallen, da ich jüngst eines Abends vor den Trümmern des Hauses stand, in welchem sie zum Austrag kam.
Es war das Haus, in dem zu unserer Studentenzeit unser Fechtmeister wohnte und seinen Fechtboden hielt; nicht der von der Universitätsbehörde angestellte, bei dem man die herkömmlichen Gänge unter Geklirr und Getrampel erlernte, sondern einer, der die feine Kunst auf eigene Hand übte und lehrte, und ein sonderlicher vor andern, wie die Bibel sagen würde. Noch waren die Arbeiter, um ihres Tages Mühen zu enden, am Werk, die letzte Mauer niederzureißen; aus dem weißen Schutt ragten einige Dielen des knorrigen, abgetretenen Fußbodens, auf dem wir bei unseren jugendlichen Ausfällen gestanden hatten. Als die Mauer mit den hilflosen, leeren Fensteröffnungen kraftlos fiel und eine Wolke gelblichen feinen Staubes mir die formlosen, in sich zusammengesunkenen Trümmer verhüllte, wurde ich seltsam angerührt; wie von einem leisen Zauber. Ich ging nach Hause, fast wie geleitet; und er bannte mich, die Schattenschleier festzuhalten, die er in der wachsenden Dämmerung um mich heraufzog.
Dies aber war es, was ich ergriff.
Im Kriege gegen Frankreich fochten auf deutscher Seite in einem jener Reiterregimenter, denen die langatmigen Attacken von Mars-la-Tour und Vionville zu reiten beschieden waren, zwei junge Männer Seite an Seite, welche die gemeinsame Mühsal des Krieges in einer engeren Kameradschaft aneinanderschloß, als es die Verkettung, die ihr späteres Leben verband, je vermocht hätte. Es war Daniel Roux, trotz seines französischen Namens ein guter Deutscher und seines Zeichens Fechtmeister, und Thomas Woller, in Friedenszeiten wohlbestellter Waffen- und Messerschmied.
Daniel, der seinem Namen und seiner Herkunft als für seinen eigenen Wert ganz unwesentlichen Dingen nicht nachzugehen für gut befand, stammte wohl aus einem eingewanderten Geschlecht, war aber aus den Grenzlanden gebürtig; wenigstens besagte das sein Taufschein, der auf einen kleinen Ort im Badischen lautete. Aber nie hat ihn jemand von seiner Heimat, von Vater oder Mutter oder irgendeiner Familienbeziehung reden hören, und selbst die entfernten Vettern, die ein jeder hat, gab es für Daniel Roux in keinem Teil der bewohnten Erde. Das erwähnte Taufzeugnis, welches er notgedrungen gegen die ihm gänzlich überflüssig und neugierig erscheinenden Fragen der Behörden als einzigen Beleg seines Daseins mit sich führte, pflegte er, wenn er es wirklich einmal vorlegen mußte, nach Möglichkeit zu entkräften, indem er darüber so obenhin die Bemerkung fallen ließ, Wasser und Pfaffen gebe es überall auf der Welt; als ob er gefürchtet hätte, daß das fatale Papier ihm irgendeine Art Erkenntlichkeit oder Anhänglichkeit gegen den darin namhaft gemachten Ort auferlege. Solche Empfindungen fanden nämlich nicht den kleinsten Raum in seinem Herzen, welches wie das eines Vogels war, der, einmal flügge geworden, nicht wieder an das Nest zurückdenkt, in dem er ausgebrütet wurde.
Wenn Daniel Roux eine erkleckliche Anzahl von Jahrhunderten eher auf die Welt gekommen wäre, so würde er unfehlbar ein fahrender Ritter geworden sein; und ein solcher von der feinen Art, wie es vielleicht einer seiner Vorfahren im ritterfrohen Frankreich gewesen war. Denn woher er diesen Hang hatte, den keinerlei Anschauung aus Büchern oder bildlicher Darstellung geboren und keinerlei Vorbild oder Anleitung großgezogen haben konnte, ist ihm selbst immerdar dunkel geblieben. Doch waren es keine aus der Zeit fallenden Träume von mittelalterlichen Waffenfahrten und Turnieren, die ihn beseelten, und ebensowenig zog es ihn, die Waffenführung als ein Handwerk zu erlernen, das seinen Mann nährt. Ein künstlerischer, ja fast virtuoser Geist war vielmehr in ihm mächtig: denn das Waffenspiel betrachtete er wie eine Kunst, der man sich ergeben könne, gleich irgendeiner andern; und es war die blanke Klinge, besonders aber die des krummen Reitersäbels, welche er zu seinem Instrument machte, das er spielen lernen wollte, wie ein Meister. Ihr brachte er alle seine jugendliche Neigung entgegen, und ein feingeschmiedetes Stück, das er mit natürlichem Gefühl bald von anderen handwerksmäßigen zu unterscheiden vermochte, konnte er ebenso verliebt, verträumt und in einer Art Ehrfurcht betrachten, wie etwa ein großer Violinspieler eine aus den kunstfertigen Händen der Stradivari oder Amati hervorgegangene Geige.
So erlernte Daniel Roux die Fechtkunst; und dies da, wo sie in deutschen Landen ihre gehegte Zuflucht und Pflege hatte, also bei den studentischen Fechtmeistern besonders des Südens und Westens. Da aber Daniel, wie jeder wirkliche Künstler, sozusagen ein geborener Meister war, so konnten ihm seine Lehrer, denen er als Gehilfe seine Dienste anbot, bald nichts mehr beibringen, denn er führte seine Klinge nicht anders als Michelangelo seinen Meißel, Rembrandt seinen Stichel oder Paganini seinen Bogen; und so erwog er schon in seinem Innern den Gedanken, auszuwandern, um in anderen Ländern ebenbürtige Rivalen zu suchen, die er hier nicht mehr traf, als ihn die Pflicht, im Heere zu dienen, auf einige Jahre an die wenig geachtete Heimat band. Wie er dabei in das preußische Reiterregiment kam, in dem er später gegen Frankreich zu Felde zog, ist nicht klar; aber Daniel, dem die Heimatlosigkeit des Künstlers im Blute lag, kümmerte diese Frage ganz und gar nicht, und es war ihm genug, irgendwo den Flamberg nach Herzenslust schwingen zu können, was er denn auch weidlich tat, wennschon der Reitersäbel ungefüger war, als die fein ausbalancierten Klingen, die er zu schlagen pflegte.
Von der ritterlich-fahrenden Art des Fechtmeisters war die Thomas Wollers, des Waffenschmieds, weit genug verschieden. Denn er, der einem alten Solinger Geschlecht mit einem ebenso alten Handwerk entstammte, war vor dem Kriege schon seßhaft in jener Stadt, die im Eingang dieser Geschichte genau genug beschrieben wurde. Dorthin hatte ihn wegen seiner Kunstfertigkeit, die feinsten chirurgischen Messer und absonderlichsten Instrumente zu schmieden, die auch heutzutage noch der Kunst der Hand vorbehalten sind, ein berühmter Arzt der Universität berufen, dem er trefflich in die Hände zu arbeiten wußte. Die Studenten aber holten sich bei ihm die scharfen Klingen für ihre Mensuren und seltenen ernsthafteren Waffengänge; denn sie mußten immer vom Besten haben, und Thomas Woller stand in dem Ruf, daß er auf Verlangen selbst eine Klinge nach toledanischer oder damaszener Art hätte schmieden können, wenn sie's hätten bezahlen mögen.
Wenn vergangene Zeiten aus Daniel Roux einen fahrenden Ritter gemacht hätten, so wäre Thomas Woller nun und nimmer etwas anderes geworden, als er war. Denn er liebte sein Handwerk nicht nur als sein eigenes, sondern auch als das seiner Vorfahren und betrieb es in einer besonderen vornehmen Art und Führung, wie nur solche pflegen, die einen überkommenen Ruf zu hüten haben; und so hätte er sich für einen Stümper gehalten, wenn er nicht alle die sorgfältig bewahrten Kunstgriffe und Schmiedegeheimnisse gekannt und anzuwenden gewußt hätte wie die Besten seines Namens. Als der Feldzug begann, konnte er seine Werkstatt wohlbestellt einem graubärtigen Gesellen überantworten und brauchte nicht zu fürchten, daß der Krieg sein Handwerk ohne Arbeit lassen würde.
Es war auf dem Kasernenhof ihres Regiments in X, daß sich Daniel Roux und Thomas Woller das erstemal von Angesicht zu Angesicht erblickten. Dort standen sie unter der Menge der anderen, die der Mobilmachungsbefehl zur gleichen Stunde auf dem Platz versammelt hatte, geduldig und ungeduldig zugleich darauf wartend, daß sie zu den einzelnen Schwadronen überwiesen und eingekleidet würden. Eine kecke Julisonne überblitzte wohlgefällig den Haufen der mannhaften Streiter, als ob sie sich die hübschesten hätte hervorsuchen wollen, und auch die Leute blitzten sich aus hellen Augen an, gegenseitig sich musternd und Kameradschaft suchend.
Aus einiger Entfernung trafen sich auch die Blicke von Daniel Roux und Thomas Woller, und bei den wiederholentlichen Begegnungen und kurzen Ruhepausen, die sie ihren Augen auf ihren Wanderungen durch das sich nur wenig verschiebende Getreibe der übrigen wechselweise gestatteten, fanden die beiden Männer jenes selbstverständliche Gefallen aneinander, das sich in unwillkürlichem Vergleichen und Aussuchen alsbald für den schmucksten Burschen in einer Menge entscheidet.
Und als solcher mußte jeder der beiden dem andern erscheinen. Denn obgleich sie eigentlich nicht besser oder teurer gekleidet waren, als die meisten des Trupps, so schienen sie es doch, indem sie als Leute, die etwas auf sich hielten, mit einiger Sorgfalt nur solche Kleidungsstücke für sich ausgewählt hatten, die zu ihrem Wesen paßten und ihrer Größe angemessen waren. Diese Geringfügigkeit unterschied sie für ihr eigenes Auge alsbald hinreichend von den andern in ihrer unachtsameren und daher so oft unkleidsamen Ausstaffierung. Und überdies schienen sie anders auf ihren Füßen zu stehen, anders in die Sonne zu blicken, anders Haupt und Nacken zu tragen, wie die Masse der übrigen; als ob zwei Hochgebirgstannen unter einen Haufen braver Fichten geraten seien, die im Sandboden um ihr Wachstum kämpfend groß geworden waren.
Daniel und Thomas beobachteten den gesprächsuchenden Kameraden gegenüber eine gewisse Zurückhaltung, die jedoch nicht darin ihren Grund hatte, daß sie sich etwas Besseres dünkten als jene, sondern vielmehr das Zeichen einer nachdenklichen und selbstgenügsamen Überlegenheit über die unruhigen, fragelustigen und antwortbedürftigen Jünglinge war, die sich bald zu kleinen, schwarzen, summenden Inseln auf dem sonnenbestrahlten Pflaster zusammenzogen, um so die langen Stunden des Wartens besser zu überstehen. Auf diese Weise kam es, daß zwischen Roux und Woller sich eine Art Fahrwasser auftat, das die ausgebreiteten Massen der Männer zuvor gesperrt hatten, nur hin und wieder für die Augen einen Durchblick offen lassend. In ihrer kühleren und wenig mitteilsamen Haltung sahen sich Daniel und Thomas plötzlich, wenn auch unabsichtlich, von den anderen gemieden und standen eine ganze Weile dergestalt isoliert in der gesprächigen Inselwelt, jeder trotzig den kleinen Platz behauptend, den ihnen ihre kleinen sauberen Koffer bezeichneten, die sie vor sich aufgepflanzt hatten.
Es dauerte denn nicht gar zu lange, daß Thomas Woller zwischen den nun gefestigten Inseln auf Daniel Roux lossteuerte, als ob er unbewußt einer leise treibenden Strömung folge; wobei er indes, um den ursprünglichen Verankerungsplatz und somit alle Selbständigkeit nicht voreilig aufzugeben, seinen Koffer auf den vier rundköpfigen Steinen des Hofs beließ, die er bedeckte. Jedoch empfing ihn Daniel nicht so, daß er sich auf das Gepäckstück hätte zurückziehen müssen; vielmehr fand er es ganz natürlich, daß sie zueinander strebten, und für richtig, daß einer damit den Anfang mache. Als Thomas an Daniel herantrat, hatte dieser gerade das einfache Behältnis seiner Habseligkeiten geöffnet und suchte mit einer gewissen Zärtlichkeit einen geeigneten Platz für ein schweres Rasiermesser, das er, in der Höhlung eines kurzen Streichriemens geborgen, wie solche zum Schärfen und täglichen Herrichten der Messerklinge gebräuchlich sind, aus der Innentasche seines Rocks gezogen hatte. Irgendwie wollte er ihm später schon in die Sattelpacktasche verhelfen.
»Die Franzen werden uns wohl nicht jeden Tag Zeit lassen, uns das Giebelfeld abzuputzen«, sagte Thomas halb belustigt, als er den Eifer Daniels sah.
»Man kann aber doch seinem Feind und vielleicht seinem Schöpfer nicht wie ein Räuber gegenübertreten,« meinte Daniel noch über den offenen Koffer gebeugt; »und dann: man soll eine gute Klinge niemals im Stich lassen.«
Thomas konnte noch nichts davon wissen, daß in der Tat Daniel lieber dem schönsten Mädchen mit einem rauhen Kinn unter die Augen gekommen, als unrasiert zu einem Waffengang ausgezogen wäre; denn das ging ihm geradenwegs gegen Gefühl und Ehre. Aber wenn Thomas die etwas wunderliche Achtung Daniels vor seinem Feind und seinem Schöpfer vorläufig nicht verstand und daher die ersten Worte des Fechtmeisters fast überhörte, so gefiel ihm dessen Hochachtung vor einer guten Klinge um so besser. Und so war er plötzlich darauf neugierig geworden, die Bekanntschaft dieses Rasiermessers zu machen, von dem der vor ihm beschäftigte Mann wie von einem guten verläßlichen Kameraden gesprochen hatte, der wert war, daß man ihn niemals verlasse. Also sagte er: »Darf ich die Klinge einmal sehn? Ich verstehe mich etwas darauf.«
Daniel richtete sich auf und reichte ihm wortlos und mit einem leisen Stolz, daß er damit vielleicht an einen Kenner gekommen, der ihn nach Gebühr bewundern werde, den gepriesenen Schatz hin. Thomas nahm das Messer aus seinem Behältnis, schlug die Klinge mit geübter Hand auf und lächelte leicht, als sein prüfender Blick auf dem Heft eingedrückt einen kleinen gespreizt daherschreitenden Hahn gewahrte, der ihm nicht nur die sofortige Gewißheit gab, daß das Messer aus seiner Werkstatt stamme, sondern daß es eine von ihm selbst geprüfte Klinge sei. Ja, er hatte sie wohl gelegentlich mit eigener Hand als eine Art Meisterstück geschmiedet, wie er es aus unbezwinglicher Neigung und Hochachtung vor der feinen, gefühlvollen Arbeit der Hand gegenüber der der Maschinen hin und wieder noch zu fertigen sich übte. Denn nur auf solche Messer und Waffen, die nach seiner Ansicht dieses ehrwürdige Zeichen in Ehren zu tragen verdienten, pflegte er den Hahn zu schlagen, uraltem Brauch getreu, der ihm von seinen Vorfahren überliefert war. »Wer einen Woller schwingt, ist wohlbewahrt«, hieß ein alter Spruch aus den Zeiten, als die Solinger Schwertfeger ihren Ruf über die Grenzen deutschen Ritter- und Kriegertums hinaus verbreiteten und die Solinger Beschauzeichen nicht geringer geachtet wurden, als der berühmte Wolf von Passau und die besten spanischen und morgenländischen Marken.
In diesem Augenblicke aber begrüßte Thomas das wohlbekannte Zeichen auf der Daniel gehörigen Klinge stillvergnügt und folgerichtig als eine innere erfreuliche Beziehung und bedeutsame Verknüpfung seiner Person mit der Daniels, die ihm recht zu geben schien, daß er ihm auf den ersten Blick gefallen und den ersten Schritt zu einer Annäherung getan hatte. Indessen behielt er seine Beobachtung und seine Empfindung für sich und hätte auch gar keine Zeit gehabt, sie zu äußern, da Daniel ihm rasch seinen Schatz wieder aus der Hand nahm und in seinem Köfferchen barg, welches er eilig zuschlug und verschloß.
Denn, wie es nach langem Warten immer ist, daß das erwartete Ereignis unversehens vor einem steht, so stand es in diesem Moment in Gestalt des Regimentsschreibers und eines Offiziers vor dem Schwarm der noch redenden und nun beinahe erschrockenen jungen Leute. Daniel hatte ihr Nahen bemerkt und sich in Positur setzen können, wie man damals noch sehr militärisch sagte; Thomas aber traf ihr Erscheinen so unvorbereitet, daß er nicht einmal die kurze Entfernung bis zu seinem verlassenen Habsal zurücklegen konnte und dergestalt, als ob er Daniel Roux und dessen Koffer zugehörte, neben diesen beiden die Befehle des Geschicks erwartete. Dieses sprach aus dem Munde des Schreibers, der bei der Begebenheit für die aufhorchenden Mannschaften entschieden die gewichtigere Persönlichkeit war, während der Offizier bei jedem Namen, den jener ausrief, nur dessen Träger, wenn er sich vortretend zu ihm bekannte, rasch und scharf ansah, als ob er prüfen müsse, ob der Name auch wirklich auf den damit Angetanen passe wie ein militärisches Bekleidungsstück.
Thomas und Daniel spannten unwillkürlich jeder fast mehr auf den Namen des andern, den sie auf diesem Wege erfahren sollten, als auf den eigenen; und während der verlesende Regimentsschreiber hierbei allmählich mehr in die Tiefen des Abc hinabtauchte und von den kleinen Inseln, die sich gebildet hatten, immer mehr abbröckelte, kümmerte es die beiden weniger, welchem der vier großen Haufen, die den Zuwachs zu den einzelnen Schwadronen darstellten, jeder zufließen würde, als vielmehr, ob sie beide dem nämlichen einverleibt würden und damit ihre innere Zugehörigkeit gleichsam vom Schicksal bestätigt werden sollte.
Es fügte sich in der Tat so, und Daniel und Thomas, schlank und hochgewachsen wie sie waren, würden nach den damaligen Rangierungsgrundsätzen buchstäblich Seite an Seite gefochten haben, wenn man nicht Roux, der ein feiner Reiter mit einer leichten Hand war, ein schwieriges und empfindliches Pferd anvertraut hätte, das im zweiten Glied ging, während Thomas im ersten ritt.
So hielt denn Daniel bei der ersten Aufstellung des Regiments hinter Thomas und bildete mit ihm eine Rotte; und dadurch kam ihm wie von selbst schon die Empfindung, als könne er über der vor ihm reitenden, ihm wohlgefälligen Gestalt Wollers, wenn nicht eine schützende Hand, so doch eine abwehrende Klinge halten, sobald er nur sein Pferd herandrängte. Woller dagegen fühlte sich in dem Schutze, den er hinter sich wußte, wohlgeborgen und freute sich, seinerseits nötigenfalls mit seinem Leibe seinen Hintermann decken zu dürfen. Und so bildete sich, im Verlauf der Marschtage schon und ehe noch das Regiment mit dem Feind in Berührung gekommen war, eine uneingestandene Waffenbrüderschaft zwischen den beiden, nicht gefordert und nicht bewußt gewährt, sondern stillschweigend geübt und in der Folge treu gehalten, nicht anders und nicht schlechter, als wenn sie sich eine solche geschworen und nach altertümlichem Brauch zur Bekräftigung ihres Bündnisses ihr Blut getrunken hätten.
Der Führer der Schwadron, ein kleiner beleibter Rittmeister mit dünnen Beinchen und fast zu zierlichen Füßchen, der einen guten Blick für seine Leute hatte, fand bald heraus, daß zwischen Roux und Woller eine förderliche Übereinstimmung bestand, die ihre Tatkraft und ihre Gewandtheit in allen Verrichtungen wechselseitig erhöhte; und er machte sich das zunutze, indem er sie gewissermaßen als eine unzerlegbare Einheit betrachtete, die man vernünftigerweise nicht in Brüche legen dürfe. Wenn es also für Daniel eine Patrouille zu reiten oder eine Vedette zu stellen gab, so war auch Thomas dazu befehligt, ja beinahe selbstverständlich mitgemeint. Die Waffenbrüder selbst aber fühlten sich in ihrer Einmütigkeit ganz und gar als zwei auswechselbare Größen, von denen die eine jederzeit für die andere eintreten könne oder sogar kraft innerer Notwendigkeit eintreten müsse. Dies bis zum Verhängnisvollen. Denn als die Schwadron eines Morgens aus einer Ortsunterkunft ausrückte und der Wachtmeister die Vollzähligkeit seiner Schar durch ein rasches Verlesen der Namensliste aus seinem roten Buch, das er wie ein Symbol unter dem Waffenrock auf dem Herzen trug, nachprüfen wollte, beantwortete das Aufrufen von Roux kein anderer als Woller mit einem vernehmlichen »Hier«. Denn Daniel, der gerade noch mit einem hübschen Franzosenkind zum Abschied herumscharmutzierte, hatte sich aus diesem triftigen Grunde verspätet und konnte also nicht antworten. Thomas wußte nicht, daß Daniel nicht auf seinem Platz hinter ihm hielt, da er sich nicht umgeschaut und ihn kurz zuvor noch beim Verlassen des Gehöfts gesehen hatte, in dem sie zur Nacht untergebracht gewesen waren. Als der Wachtmeister den Namen des Fehlenden ein zweites Mal wiederholte, fühlte sich Thomas berufen, für ihn zu antworten als sein verantwortliches zweites Selbst, und meldete sich ohne Arg und in aller Treuherzigkeit zur Stelle. Der gestrenge Unterbefehlshaber sträubte sich in seinem Waffenglanze wie ein Truthahn in seinem Gefieder, besann sich auf seine besten Flüche und rauschte in gewichtigem Galopp auf den nichts Böses ahnenden Woller zu, den er in seinem die ganze Gegenwart vergessenden Zorn totzustechen wünschte, welche Drohung er, da Woller dabei ganz ruhig blieb, dahin steigerte, daß er ihn acht Tage einzusperren versprach. Erst das Erscheinen des Rittmeisters, der hinter seinem Bäuchlein herreitend wie ein Friedensengel dahergeschaukelt kam, rettete Thomas vor einer im Felde entehrenden Strafe. Denn als dieser ihn zur Rede setzte und Woller ihm erwiderte, er habe geglaubt, daß es ihm gelte, verstand er ihn und freute sich seiner beiden aneinandergewachsenen Reiter.
Es ist sicher, daß, wenn der Tod nach einem gefragt hätte, der andere ebenso für den Gerufenen eingetreten wäre, wie bei dieser Gelegenheit. Aber es schien fast, als ob die Waffenbrüder für ihn zu viel seien, da er darauf hätte verzichten müssen, sie einzeln zu holen. Denn selbst an dem Tage, an dem auch ihr Regiment eingesetzt wurde um Tod und Ehre ohne Sieg, als nur noch zusammenhanglose Trümmer seiner Schwadronen aus der entsetzlichen Wolke zurückflatterten, die Rauch und Blut, Schweiß und schwärzendes Pulver, Granatsplitter und pfeifende Geschosse, Ächzen und erstickte Schreie in den langgezogenen Säulen der unter Tausenden von Pferdehufen aufsteigenden staubenden Erde der Felder zum Himmel emportrug wie einen einzigen braunroten Brand, trug sie das Schicksal gemeinsam heraus. Die langgezogene Attacke des Regiments erstarb fast an der zu weiten Entfernung, von der es durch tiefe Äcker, die den Pferden den Atem nahmen, auf die feindlichen Schwadronen anzureiten hatte. Die erschöpften französischen Batterien auf einem niedrigen Hügelzuge wurden kaum noch von diesen gedeckt; die geschlossene Front der Angreifer lockerte und lichtete sich, und die galoppierenden Pferde, obgleich sie das Beste gaben, schienen fast stillzustehen: da schob sich Daniel mit einem plötzlichen Vorstoß in die Lücke, die sich neben Thomas auftat, wild und schön, nicht anders als der Kriegsgott neben seinem Liebling Hektor erschien in den trojanischen Gefilden. Seite an Seite preschten die Waffenbrüder in ein halb aufgegebenes, in Staub und Dampf kaum sichtbares Geschütz.
Daniels Pferd stürzte über ein Rad, so daß der Fechtmeister mit erhobenem Säbel kopfüber aus dem Sattel fiel. Mann und Pferd, im Sturz weit voneinander getrennt, erhoben sich indessen nach wenigen Augenblicken unverletzt, und Daniel ergriff das Tier wieder. Nur die Klinge seines Säbels war im Fall zwischen den Speichen kurz über dem Gefäß abgebrochen, das er noch sinnenlos und schwankend in der Faust hielt.
So fand ihn Thomas, der nach kurzem nutzlosen Handgemenge mit einem Häuflein von hilflos bei den Geschützen stehenden Kanonieren Umschau nach ihm hielt; und da sie im Rücken den sammelnden Ruf ihrer Trompeten aufschrillen hörten, hielt er vom Sattel aus Daniels Pferd, um ihn aufsitzen zu machen und gemeinsam mit ihm zurückzureiten. Aber Daniel war anderen Sinnes. »Man kann doch nicht ohne Säbel in der Welt herumreiten«, rief er dem wartenden Gefährten ärgerlich zu und warf den Korb verächtlich dahin, wo er die Klinge vermutete, die ihn so schmachvoll im Stich gelassen hatte. Thomas wußte von den seltsam ritterlichen Grundsätzen Daniels schon genug, um zu erkennen, daß er ihn nicht leichten Kaufs waffenlos von der Stelle kriegen würde. Er sah sich also, ebenso wie Daniel, nach etwas um, das einem Reitersäbel ähnlich war, denn die geraden schlechten Bewehrungen der gefallenen französischen Kanoniere betrachtete Daniel nur mit Mißbilligung. Weiter rückwärts hätten sie freilich genug preußische Reitersäbel aufgefunden; aber daran dachten sie nicht, sondern langsam und niedergeschlagen, mit den Augen umhersuchend, gingen sie schrittweise zurück, wie zwei Müde; Thomas im Sattel, Daniel zu Fuße, sein Pferd am langen Zügel führend.
Thomas sprang ab; er hatte an der Erde eine schön geschwungene Klinge bemerkt, die einem vornehmen französischen Reiteroffizier aus der getroffenen Hand entfallen sein mochte, und als er sie aufhob, sah er alsbald, daß er selbst mit seiner besten Kunst keine bessere hätte aus dem Feuer ziehen können. Und wie er den starken Stahl, auf einen Feldstein aufgestemmt, prüfend zum Kreise bog, erwiderte er seine Kraft mit einer gleichen, scheinbar unwiderstehlich wachsenden und schnellte kraftvoll in die schnurgerade Linie seiner Schneide zurück. Wohlgefällig bemerkte Thomas die ihm bekannte Erscheinung und reichte den Säbel befriedigt seinem Waffenbruder.
»Da, nimm,« sagte er; »dieser wird dich nicht verraten.« – Daniel empfing die Klinge aus der Hand des Freundes beinahe wie etwas Heiliges, und kaum hatte er gefühlt, wie ihr ausgeglichenes Gewicht in seiner Rechten lag, als er in den Sattel sprang, ein paar lustige Lufthiebe tat, dann aber fast betroffen die Waffe in die breite Scheide seines alten Säbels barg, als ob er sich darüber schäme, sie zu einer Spielerei mißbraucht zu haben. Darauf setzten sie ihre Pferde, die neue Kraft gesammelt hatten, in Galopp zur Suche nach den Resten ihrer Schwadron; und in ihr Schweigen klirrte mit hellem Ton die erbeutete Klinge in ihrem zu weiten Behältnis.
Am folgenden Morgen mußte Daniel den Besitz seiner neuen Waffe gegen den Wachtmeister verfechten, der nach dem schweren Tag genug Säbel von Schwerverwundeten übrig hatte, um zu vermeiden, daß sich seine Reiter mit Waffen begnügen müßten, die nicht der preußischen Vorschrift entsprachen und also ganz und gar unbrauchbar waren. Aber der kurze Rittmeister dachte anders; er betrachtete die Klinge von oben bis unten und dann seinen Reiter von oben bis unten und schien zu meinen, daß sie einander wert seien. Und er gab sie ihm ruhig zurück; denn er hatte ein Gefühl für Zusammengehörigkeiten. Nur die sichere Bettung seines neuen Schatzes in der nicht dafür gebauten Scheide machte Daniel noch einige unruhige Stunden; aber Thomas wußte Rat und zog mit kundiger Hand die beiden Späne, welche die Klinge in ihrem Behältnis federnd festhalten, ein wenig enger an; und sie klirrte nicht mehr eigenwillig darin herum und brauchte sich ihres Platzes an des Fechtmeisters Seite nicht zu schämen.
Aber, als ob sie von Stund an einer anderen Bestimmung vorbehalten bleiben sollte: Daniel hat sie in keinem Gefecht mehr auf das Haupt eines Franzmannes geschwungen. Denn seine Schwadron kam nicht mehr an den Feind, und die ferneren Kriegserlebnisse der Freunde waren die ihrer Truppe, deren Geschichte jedermann kennt oder nachlesen mag, wenn er sie nicht kennt.
Der Friede war gemacht, und Thomas zog heim; aber mit ihm in stillschweigendem Einverständnis ließ sich Daniel von der lächelnden Stadt an dem raschfließenden Strom aufnehmen, in der er seine Kunst ebenso üben konnte wie in irgendeiner andern, wo es Studenten gab; und seine Kostbarkeiten, die erbeutete Waffe ohne Koppelriemen unter dem Arm, und das Rasiermesser mit dem schreitenden Hahn in der Rocktasche, nahmen ebendahin ihren Einzug.
Thomas Woller war die Fortdauer ihrer Waffenbrüderschaft ebenso selbstverständlich wie Daniel Roux, und jeder hielt sich gebunden, die guten und bösen Stunden des Friedens so miteinander zu teilen wie die Gefahren des Krieges. Und so hätte Thomas keine Sorgen zu haben brauchen, daß einmal der mächtige Wandertrieb bei Daniel die Oberhand über jene erringen könnte. Es war deshalb nicht aus diesem Grunde, daß er ihn bestimmte, einen eigenen Fechtboden einzurichten und sich selbst als Meister aufzutun.
Daniel mietete also, beinahe gehorsam und etwas in Angst, wie er sich seßhaft ausnehmen würde, ein paar hohe leere Zimmer mit vergitterten Fenstern in einem altertümlichen schmucklosen Hause, das halb in die Stadtmauer eingebaut war und für menschliche Wohnungen nicht mehr benutzt wurde; denn es sollte schon damals mitsamt der Mauer, deren Teil es geworden, niedergerissen werden, und so fand sich, trotzdem es sozusagen um nichts zu haben war, niemand, der hinein wollte, um vielleicht am nächsten Tage wieder hinaus zu müssen. Auch Daniel bezog es unter dieser Gefahr, die ihm indes in seiner Leichtbeweglichkeit nichts ausmachte: aber das alte Haus überdauerte sie beinahe zwanzig Jahr, wie die meisten Dinge, die dem Untergang geweiht sind, daraus die Berechtigung zu schöpfen scheinen, erst recht langlebig sich aufzuführen.
Als Daniel die Einrichtung seines Fechtsaals durch Befestigung seines Beutesäbels in gehöriger Höhe an der schönsten Wand beendet und einen anderen Raum durch Niederlegung seines Rasiermessers auf der Fensterbank als Schlafkammer gekennzeichnet hatte, übernahm der häusliche Thomas, dem diese Ausstattung unzulänglich schien, das übrige. Daniel sträubte sich nicht dagegen, daß eine kleine Wohnlichkeit aus des Waffenschmieds Haus in das seine verbracht wurde; denn er hatte die unbefangene Empfindung, daß jeder für den anderen leiste, was er könne, und Bitte und Dank waren bei ihnen unförderliche Überanstrengungen. Nur als Thomas auch eine Anzahl von Waffen aller Art, Rapiere, Schläger und Säbel in allen Formen, und dazu noch Fechthauben und Kettenbinden aus seiner Werkstatt auf dem neuen Fechtboden unterbringen ließ, redete Daniel drein und sagte, er werde diese Dinge nicht ohne Entgelt annehmen, denn sie gehörten zu seinem Geschäft. Da lachte Thomas und erwiderte, vom Geschäft verstehe Daniel nichts und werde nie etwas davon verstehen; und wenns denn durchaus vergolten sein müsse, so könne er ja dereinst seinen Sohn in der Fechtkunst unterweisen; dafür, so habe er sich vorgenommen, werde er ihn ganz sicherlich nicht entgelten. Indes sagte er das nur so und dachte gar nicht daran, eine Frau zu nehmen, geschweige denn, daß er einen Sohn aufzuweisen vermocht hätte.
Allein es schien, als ob Thomas mit diesen beiden Bemerkungen den Teufel oder, wenn man will, zwei Teufel an die Wand gemalt hätte; denn nicht nur, daß Daniel es wirklich zeit seines Lebens nicht zu einem der Größe seiner Kunst und seines Rufs angemessenen Erwerb brachte – was nicht zu verwundern war, da es ihm in Grunde gleichgültig schien, ob man ihn bezahle, und unangenehm, wenn man ihn bezahlte: es vergingen auch keine vier Wochen, da war Thomas Woller verliebt wie ein Schüler und, nach weiteren sieben Tagen, zu heiraten entschlossen, wie ein Mann.
Thomas ging, um seinem Waffenbruder diese unangenehme Verschiebung seines Innern mitzuteilen. Worauf Daniel sich alsbald, mit leichten Schritten auf seinem Fechtboden auf und nieder gehend, rasierte wie für seinen besten Feind, sich sorgfältig ankleidete und, nachdem er mit diesen Prozeduren fertig war, zu Thomas sagte: »Ich werde also für dich freien gehen.« Thomas schien dieses Vorgehen zwar etwas rasch, da er selbst noch gar nicht mit dem Mädchen darüber gesprochen, sondern nur, wie Daniel wisse, beim Waldfest der Bürgervereinigung mit ihr allein die ganze Nacht getanzt habe. Da er indessen sehr für Deutlichkeit war, schien es nichts zu verschlagen, wenn Daniel für ihn bei dem Mädchen eine Botschaft ausrichtete, welche in dieser Beziehung nichts zu wünschen ließ.
Gertrud Lenz, welcher Thomas' Gedanken und Daniels Gang galten, war nicht eingeboren in dieser Stadt, sondern vor einigen Jahren zur Unterstützung ihres um vieles älteren Bruders zugezogen, der ein wenig stromaufwärts, wo die Weinberge schon begannen, für die Stadt die Posthalterei betrieb. Mit dieser war von alters her eine große Weinwirtschaft verbunden gewesen, wo man den besten Landwein der ganzen Gegend bekam und frische Fische aus dem Fluß dazu. Daher die Studentenschaft ihre abendlichen Ausflüge oft und gern »in den Lenz« richtete, wie sie den Ort nach seinem Besitzer nannten, wobei denn der Name und die Vorstellung auch etwas tat, um ihn angenehm zu machen. Doch hatte Lenz, der Bruder, schon seit geraumer Zeit wegen Krankheit die Wirtschaft pachtweise abgeben müssen, und am Ende wäre die Posthalterei dem nämlichen Schicksal nicht entronnen oder ihm gar entzogen worden, wenn er nicht in der Person seiner tapfern und klugen jungen Schwester sich rechtzeitig einen brauchbaren Stellvertreter herangezogen hätte. Und da der ganze Betrieb gut im Gang war, brachte sie es auch fertig, ihn ohne den Bruder fortzusetzen, den ein sich steigerndes Atemleiden fast das ganze Jahr hoch hinauf in die Berge trieb. Aber wenn er ab und zu auf einige Wochen ins Tal kam, um nach dem Rechten zu sehen, konnte er ihm immer wieder alsbald den Rücken kehren, denn Gertrud wirtschaftete mit einer unverbrauchten Kraft darauflos, daß dem Bruder, sooft ers ansah, erst recht der Atem ausging; und wenn sie wohl manchmal auch eine Anordnung traf und einen Befehl gab, über den er den Kopf geschüttelt hätte, so merkten doch die Postkutscher, Knechte und Stalleute, daß kommandiert wurde und die Zügel in festen Händen seien; und in dieser Gewißheit fühlten sie sich am wohlsten. Da Gertrud so mit genügender Selbstherrlichkeit nach unten auftrat, um sich Achtung zu verschaffen, nach oben aber wohlweislich alles im Namen ihres Bruders zu vertreten wußte, ließ man sie gewähren. Denn Lenz war ein geachteter Mann, den man ungern verloren hätte.
Zu dieser kleinen Herrscherin machte sich nun Daniel mit der Botschaft seines Freundes auf und fand sie, wie sie gerade gefolgt von ihrem Wagenmeister und ihrem ersten Stallaufseher ihr Reich befuhr, das mit den mancherlei weiten Höfen, langen Ställen, Scheunen und Wagenunterständen ein umfangreiches Gebiet darstellte. Da sie ihre Reise bei dem Erscheinen Daniels in dem breiten Torweg nicht zu unterbrechen für gut befand, bat sie ihn, drüben in den platanenbeschatteten Garten der Weinwirtschaft zu treten und eine kurze Weile auf sie zu warten; denn sie hatte sein etwas feierliches Auftreten in so früher Vormittagsstunde sogleich auf sich bezogen.
So saß denn Daniel vor einem Viertel Roten in dem jetzt ganz stillen Garten und setzte sich in Gedanken die schönste Rede für seinen Schützling zusammen. Die Bienen summten unaufhörlich ihre eintönige, vergessenmachende Weise über seinem Kopf, und durch das Laubdach blinkten dreieckige schwankende Sonnenlichter in sein Glas, neckten ihn mit ihrem Farbentanz und störten ihn im Memorieren. Und je mehr er sich sagte, daß er für Thomas sprechen wolle wie für sich selbst, desto schlimmer wurde es, und die deutsche Sprache schien ihm eine recht stachlige und unzulängliche Erfindung zu sein. Seine Sendung, die er in so gutem Glauben übernommen, kam ihm auf einmal verfrüht, schief, unhöflich, lächerlich und was nicht alles vor, und das erstemal in seinem Leben dachte er an so etwas wie einen Rückzug.
Da trat auch schon Gertrud in den Platanengang und setzte sich freimütig an den schmalen Tisch ihm gegenüber, was Daniel für einen Angriff beengend nahe fand; denn es war sehr viel näher als die Länge eines ordentlichen Ausfalls. Aber da das Mädchen ihn offen und aufmerksam ansah, faßte er sich und brachte seinen Auftrag mit Worten, die ihm gerade kamen, so warm und ursprünglich vor, wie er es mit wohlgesetzten gar nicht vermocht hätte. Da merkte Gertrud freilich, daß die Werbung ernst war, und die Worte gingen ihr süß ein. Denn auf jenem Waldfest hatte alle Welt von den beiden Freunden als zwei wackeren jungen Männern gesprochen, auf die man stolz sein dürfte, und jedermann wußte, daß sie den Tag von Vionville mitgemacht hatten. Wenn ihr also an sich schon ein Antrag von solcher Seite schmeichelhaft erscheinen durfte, so kam er ihr auch keineswegs unerwartet, wie Thomas wähnte. Denn sie hätte kein helläugiges Weib sein müssen, um nicht nach einer Sommernacht voll langer Tänze, vieler Blicke und scheinbar gleichgültiger Reden zu wissen, wohin eines Mannes Gedanken gingen, und zudem hatte sie ein wenig an ihrem eigenen Herzen, das nicht unbewegt geblieben war, ermessen können, wie es in dem von Thomas aussah.
Aber ihr Herz war das einer Frau; mit all dem wunderbaren Sich-ergeben-Wollen und all dem wunderbaren Sich-weigern-Müssen. Das sprach zu ihr in diesem Augenblick. Und von einem süßen Stolz durchströmt, fühlte sie in sich das Verlangen erstehen, erst diese ernst-schmeichelnden Worte der Liebe auch aus dem Munde desjenigen, der sie ihr bot, als ein unterwürfiges Geständnis wiederholt zu hören, ehe sie sich ihnen ergab.
»Ja, ja!« sagte sie seufzend nach einer kleinen Weile der Nachdenklichkeit. »Es wird wohl wieder so sein, daß der ›junge Lenz‹ einem der Herrlein den Kopf verdreht hat; wenn er es ernsthaft meinte, käme er wohl selbst und sagte es mir. Aber so weiß er wohl noch nicht, wie's mit ihm steht, da er einen andern vorschickt, der für ihn sprechen muß.«
Gertrud durfte freilich solche Reden führen; denn seit sie in der Posthalterei eingezogen, war sie der Grund manches Liebesschmerzes unter den jungen Studenten geworden, bei denen sie, zur Unterscheidung von ihrem Bruder, »der junge Lenz« genannt wurde, was sie sich gern gefallen ließ. Daniel aber erblickte in ihren Worten ein fast beleidigendes Mißverstehen seiner Entsendung, mit welcher die Freunde gerade ihre Achtung, Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit hatten dartun wollen. Er war schon bereit, dieser Abwehr einen scharfen Hieb folgen zu lassen, als er sich besann und schwieg; wodurch denn Gertrud Zeit gewann, sich ihrerseits ein kleines Mehr zu leisten, indem sie sagte: »Und dann kann man sich doch sagen, daß man mich nicht in einer Nacht gewinnt. Und: guten Tag, Herr Roux.«
Sie war aufgestanden, knickste und schritt, sehr zufrieden mit sich, eilig dem Eingang ihres Hofes zu, als ob sie nur aufgehalten worden wäre und nun allerhand Wichtiges nachholen müsse.
Daniel hätte sich kaum viel aus ihren Worten gemacht, wenn sie ihm gegolten hätten; nun sie aber Thomas angingen, legte er ihnen mehr und vielleicht zuviel Gewicht bei, und sie blieben wach in seinem Gedächtnis als ein leiser trübender Hauch auf dem Ehrenschild seines Waffenbruders, den selbst er nicht davor zu schützen vermocht hatte. Er war also ein wenig überrascht, als Thomas auf seinen Bericht vom Ausgang seiner Botschaft nicht allzusehr betroffen war, sondern sogar irgendeine Hoffnung darin zu ersehen schien. Denn er umwarb von nun an den hochgemuten jungen Lenz wie einen schönen Preis, den man durch Ausdauer endlich zu gewinnen hofft.
Gertruds Betragen schien freilich der Auffassung Daniels recht zu geben, daß sie mit Thomas nur ein Spiel treibe. Sie nahm zwar seine Aufmerksamkeiten und Huldigungen, mit denen er sie auszuzeichnen wußte, nicht ungern entgegen; aber offenbar nur als etwas, das sie möglichst lang genießen und nach allen Richtungen erproben wolle, um gleichsam die Ausdehnung ihrer Herrschaft bis an die äußersten Grenzen kennen zu lernen. Da sie sah, wie in einem großen Betrieb alles nach ihrem Pfeifchen tanzte, hätte sie sich etwas zu vergeben geglaubt, würde sie sich jetzt, blind ihrem Herzen folgend, beim ersten Ansturm unterworfen haben; nur ein Stärkerer als sie sollte sie gewinnen. So setzte sie Thomas einen wohlbedachten Widerstand entgegen, und eine heimliche Freude erfüllte sie, wenn er sich nicht abschrecken ließ, sondern die Stürme erneute, wobei Daniel, so gut er konnte, die Leitern hielt.
Übrigens hatte sie auch einen mehr äußerlichen Grund, den Bewerbungen Thomas' nicht gleich Raum zu geben. Denn sie wünschte ihr Jawort, das er ja doch einmal erhalten würde, nicht hinter dem Rücken ihres Bruders zu geben und wäre sich fahnenflüchtig vorgekommen, wenn sie die Herrschaft, in der er sie eingesetzt, geräumt und im Stich gelassen hätte, ohne daß er diese in aller Form wieder von ihren Schultern genommen. Dies aber stand in Bälde zu erwarten, da an dem bevorstehenden Fest der Weinlese Lenz, der ältere, wie üblich von seinen Bergen herunterkommen wollte, diesmal aber sein Anwesen nicht von neuem zu verlassen, sondern wieder selbst zu leiten gesonnen war. Ihrer Obwaltung entsetzt, glaubte sie dann Thomas freier gegenüberzustehn und wollte sich erst einmal ansehen, wie sich die ganze Sache in solchem Licht ausnehme.
Die Weinlese kam und mit ihr ein großes abendliches Fest von Bürgern und Studenten, Winzern und Gutsherrn der Umgegend, dazwischen Frauen und Mädchen jedes Standes, mit Tanz und Trachten im »Lenz«. Unter dem Platanendach der beiden weiten Terrassen, in die man die sanfte Flußböschung geebnet hatte, drängten sich an den langen Tischen die Menschen Seite an Seite, und ein ewig beweglicher jugendlicher Strom ergoß sich aus dem geöffneten Hausflur und flutete zugleich in entgegengesetzter Richtung in ihn zurück; denn durch ihn gelangte man zu dem großen Tanzboden, wo unaufhörlich ein lustiger Wirbel kreiste, dessen Zufluß und Abfluß unveränderlich zu sein schien.
Auch Gertrud Lenz hatte ein wohlbewahrtes prächtiges Kostüm ihrer Heimat an, und Thomas Woller tanzte mit ihr, sooft sie wollte, vorauf sie dann beide gemeinsam zu dem Tisch unter den Platanen zurückkehrten, an dem Gertruds Bruder eine Art Oberherrschaft führte. Daniel war wie immer mit ihm erschienen und ließ kein Mädchen aus, das ihm einen Tanz wert schien.
Die Nacht sank tiefer herab; die Reihen unter den Bäumen lichteten sich, und die älteren Leute gingen nach Haus. Als Thomas und Gertrud einmal wieder von einem Tanz zurückkehrten, fanden sie ihren Tisch leer und setzten sich allein in das Dunkel, da die Windlichter schon weggetragen waren. Ein noch vollbesetzter Tisch in der Nachbarschaft, an dem kecke Reden und Späße junger Winzer und ihrer Mädchen gingen, störte sie kaum, und Thomas, der die Tore von Gertruds Herzen an jenem Abend wanken gefühlt hatte, glaubte die Gelegenheit wahrnehmen zu sollen, das Äußerste einzusetzen, sie sich zu öffnen. Und er schüttete ihr sein Herz aus, ehrlich und gerade, mannhaft und rückhaltlos; bis zu dem Gelöbnis, falls sie sein würde, alles für sie zu tun und zu wagen, was eine Frau von einem Mann verlangen könne.
Freude schwellte ihre Brust, als sie ihn so reden hörte; aber sie raufte in Gedanken gern ein wenig mit denen, die sie liebte, weil das ihrer Kraft guttat. Also sagte sie: » Was soll ich einem darauf antworten, der noch nicht einmal ein rechter Mann ist!« Und sie schlenkerte mit den Füßen nachlässig unter der Bank hin und her, daß es scharrte.
»Wie das?« fragte er, und das Blut schoß ihm zu Kopf.
»Je nun,« erwiderte sie und wollte ihm weh tun, »würdest doch nicht einmal, wie wohl jeder der Burschen, da drüben am Tisch, die mit ihren Mädeln sitzen, für einen Kuß und auch noch für was mehr bei mir einsteigen.« Aber sie wußte dabei wohl, daß keiner, auch der kühnste nicht, es gewagt hätte, ihr auf diese oder jene Weise nahe zu kommen; sie hätte ihm übel heimgeleuchtet.
Da sie nun Thomas starr emporfahren sah, da schlenkerte sie freilich nicht mehr und hätte gern ihre Worte ungesagt gemacht. Sie sah ihn sich entfernen und wollte ihn mit einem lieben Wort zurückrufen, aber bestürzt über sich selbst, fand sie es nicht. Thomas aber ging, und wenn er auch fühlte, daß all das nicht ernsthaft gemeint war, so schmerzte es ihn doch gerade um deswillen nach dem tiefen Ernst seiner Rede um so mehr. Am Eingang des Hauses lief er Daniel in die Hände, dem er in kurzen Worten sagte, was geschehen war, und darauf verließ er das Fest.
Von einer nie gefühlten Angst war Gertrud an ihren Platz gebannt, als Daniel vor sie trat und sie einigemal von Kopf bis zu Fuß mit seinen Blicken aus ernstfunkelnden Augen bestrich. Er hatte wohl scharfe Worte für sie im Herzen, wie damals, als er für Thomas seine erste Werbung vorbrachte. Aber wie damals steckte er sie wieder ein wie ein gutes Schwert, das man nicht auf Weiber zückt. Starken Schrittes ging er nach dem Fluß hinunter und starrte abgewandt von dem Getriebe des Festes in die Nacht. Etwas mußte geschehen, das fühlte er, und wenn Thomas das Mädchen, das er liebte, nicht strafen wollte, was Daniel wohl begriff, so war er es ihrer gemeinsamen Ehre schuldig und sein Handeln so gut wie das des Freundes.
In der Ferne, weit hinter der Stadt, die er stromab am andern Ufer mit den Blicken suchte, flammte ab und zu ein düsterrotes Wetterleuchten auf, so daß ihre Türme in plötzlicher Schärfe dicht vor seinen Augen standen, und dann erleuchteten sich auch seine Gedanken in einer ungewissen Glut, wie Wetterleuchten; aber wenn er sie, eben noch klar gesehn, ergreifen wollte, wurde es wieder dunkel in ihm, und er kam zu keinem Entschluß.
Als er sich wieder umwandte, war Gertrud verschwunden. Heiß vor Liebe und Scham war sie um das große Wirtsgebäude herum über den Posthaltereihof nach ihrem Zimmer gelaufen, das über eine hölzerne überdachte Außentreppe hinweg mit zwei oder drei andern Gemächern, die sie für sich zu einer kleinen ungangbaren Festung umgewandelt hatte, zu erreichen war, mit seinen Fenstern aber nicht nach den Höfen, sondern nach der Bergwand zu schaute. Diese war hier steil nach den Außenwänden der Gebäude abgestochen und ließ nur in der Tiefe Raum für einen starken rauschenden Bach, der zwischen der abgedämmten Mauer und dem Hang eingezwängt dem Fluß zueilte. Dort hatte der Bach in früheren Zeiten ein Mühlrad getrieben, und der Radkasten stand noch, war aber jetzt in doppelter Weise anders nutzbar gemacht worden, indem sein Inneres für allerhand Stangen und Ruder, Netze und Bootshaken zum Aufenthalt diente, die für das Befischen des Stromes Verwendung fanden, wogegen das Dach, nun mit einem niedrigen Geländer versehen, vor den Fenstern des Fräuleins einen geräumigen Altan abgab, den sie durch eine in ihren Schlafraum führende Tür betrat.
Von drunten spritzte ihr der weiße Fall des Mühlbachs Kühlung zu, und von drüben atmete sie die nahe Bergwand mit ihrer Frische an. Aber das war es nicht, was Gertrud suchte. Sie trat in den Raum zurück, streifte Rock und Mieder, das brokatene Häubchen und die Schnallenschuhe hastig und heftig von sich, als müßte sie sich von etwas befreien, und setzte sich mit gesenkter Stirn auf den Rand ihres Bettes. Licht wagte sie nicht zu machen, als ob sie sich davor schämen müsse. Und so saß sie und klagte ihr Herz an, daß es nicht lauter gesprochen, und klagte ihre Sinne an, daß sie in Stumpfheit erloschen, und klagte ihren Hochmut an, der vor dem Fall käme. In einer tauben Verzweiflung, tränenlos mit geschlossenen Augen, schwankend vor Mutlosigkeit, stützte sie sich mit beiden Händen auf das Polster und verharrte so eine lange Zeit. Das Rauschen des Gießbachs bemächtigte sich ihrer Sinne, und am Ende gingen alle ihre Gedanken in ein mächtiges leeres Rauschen auf, betäubend, grausam, nichtsachtend, wühlend in einem gefühllosen steinernen Bett.
Unterdessen hatte Daniel, der sie in dem Tanzsaal und auf der Platanenterrasse nicht mehr sah, halb unbewußt, als ob er dem Gegenstand seiner Gedanken näher sein müsse, seinen Weg jenen Bergsturz hinauf genommen, der, wie ihm wohlbekannt war, ihren Gemächern gegenüber lag. Es war ihm nicht klar, was ihm diese Nähe nutzen solle; aber er suchte sie. Wie er nun auf dem rasch ansteigenden schmalen Zickzackpfade in Höhe ihrer Fenster gekommen und von dem hölzernen Wandeldach nur durch den tiefen, kaum einige Meter breiten Einschnitt des Mühlbachs getrennt war, mußte er an die Worte gedenken, die sie zu Thomas gesagt hatte, »würdest doch nicht einmal um einen Kuß bei mir einsteigen«, – und ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn, klar und daher unter all den wirren, die ihn bestürmten, innerlich eifrig ergriffen: diese Worte an ihr Lügen zu strafen und ihr Tausende von Küssen gewaltsam zu rauben, zum ewigen Gemahnen, daß man nicht leichtfertig einen Mann zur Erfüllung dieses Wagnisses herausfordern dürfe. So, fuhr es ihm durch den Sinn, werde er seinen Waffenbruder rächen und zugleich der hochmütigen Schönen eine Lektion erteilen, die sie zeit ihres Lebens nicht vergessen würde.
In seinem noch nicht gemeisterten Zorn schien ihm plötzlich sein unbewußtes Heraufwandeln zu dieser Stelle eine Bedeutung zu gewinnen, wie wenn er dadurch diesem Gedanken hätte entgegenkommen sollen. Und er gab sich ihm um so mehr, gleichsam unbesorgt hin, als er sich durch die Unmöglichkeit der Ausführung offenbar geschützt sah; denn der schmale Abgrund war immerhin zu breit, um ihn ohne einen kräftigen Anlauf zu überspringen, und der Pfad gewährte ihm kaum einen Schritt Raum. Wie er aber die Vorstellung weiter spielte und dabei prüfend in die Tiefe sah, gewahrte er unten aus dem Fischereischuppen hervorragend eine Anzahl Stangen, wie solche zum Stoßen der Kähne auf dem tiefen Fluß verwendet wurden.
Und das Überspringen der Kluft begann ihn als körperliches Wagnis zu reizen. Er lief den Pfad hinab und hatte sich bald mit einem leichten schwippigen Bootshaken versehen, mit welchem er auf seinen Platz zurückkehrte. Noch kaum entschlossen, stieß er das eiserne hakige Ende in halber Höhe des Hanges in den Grund: da trug sie ihn in leichtem Schwung wie einen Jäger über den Bach auf die hölzerne Plattform, die ihm aus dem Dunkel entgegenkam.
Durchrauscht von der Einförmigkeit ihrer Gedanken hatte Gertrud den federnden Aufschlag vor ihren Fenstern als einen fremden Ton wohl gehört, aber er schien ihr nur eine Verwirklichung dessen, woran sie soeben gedacht. Das Herz schlug ihr bis an die Kehle, ohne Angst, denn die kannte sie nicht, aber doch voller Zagen. Und unter dem zur Seite geschlagenen Vorhang sah sie durch die offene Altantüre die hohe Gestalt eines Mannes in das Dunkel des Raums treten.
Alle ihre Vorstellungen waren bei Thomas, all ihre Reue hatte nur ihm gegolten, alle ihre Gefühle schienen zu ihm hin zu fliehen. Nur er konnte es, durfte es wagen, bei ihr einzudringen, nur er sie strafen, nur er ihr verzeihen. Auf Gnade und Ungnade sich dem zu ergeben, den sie herausgefordert, das war alles, was sie noch wünschte. Und langsam und demütig schritt sie auf die Gestalt zu, die sie im Rahmen der Tür zu erkennen glaubte.
Wortlos stand Daniel, jetzt, wo das Nichtmehrzurückkönnen ihn vorwärts trieb, nur darauf bedacht, sie seine Überlegenheit fühlen zu lassen und die Rache für seinen Freund an ihren Lippen zu nehmen. Er fühlte ihre Nähe, und mit raschem Griff wollte er sich ihrer versichern. Gertrud, nicht darauf vorbereitet, Gewalt zu finden, entzog sich seiner Hand. Als Daniel aber ungestüm nachdrängte, widersetzte sie sich; denn einem Angreifer gedachte sie sich nicht zu unterwerfen.
Und ein schweigender Kampf begann. Nur einmal, fast gehaucht, halb fragend, halb drohend, kam es von ihrem Munde: »Thomas?!« Da aber Daniel nicht antwortete, sollte Thomas erfahren, daß sie sich keinem füge, der sich nicht zu erkennen gab. Sie wußte wohl, daß eine Frau, die sich wehrt, nicht leicht zu überwinden ist, und während sie freiwillig alles gegeben hätte, nicht das Leiseste sollte der Eindringling ihr abtrotzen können.
In der Tat wäre wohl die Kraft jedes Mannes am Ende an dem beharrlichen Widerstand des starken Mädchens erlahmt, und er hätte den Rückzug antreten müssen, den sie ihm anwies. Aber Daniels Ausdauer und Gewandtheit war in seiner Kunst gestählt, und schließlich, nach langem heißen Sträuben, ging ihr in seinen unablässigen Angriffen der Atem aus. Ohne ihr Schmerz zu bereiten, zwang er ihr die Hände auf den Rücken und beugte ihr Rumpf und Kopf über sie nach rückwärts. Er setzte seinen Mund auf den ihren und begann seine Rache.
Aber: o Wunder! In diesem Augenblick der Not erstand ihr ein unerwarteter Bundesgenosse. Die Natur, welche das Weib zu ihrem Liebling erkoren und jede seiner Niederlagen in einen Triumph zu verkehren weiß, mischte sich in den Kampf. Und Daniel fühlte, wie Gertrud, kaum merklich zuerst und verstohlen, die Küsse zu erwidern begann, mit denen er sie bedeckte. Er löste, wie erschrocken, seine Hände von den ihren und ließ sie frei. Sie aber wahrte ihren Vorteil. Zwei Arme schlangen sich um seinen Hals, ein klopfendes Herz schlug an seiner Brust, und ein heißer Atem verströmte sich mit dem seinen. Die Jugend sang und loderte in ihrem Leib und ergriff auch die Kraft des Mannes. Sie zog ihn zu sich nieder, zwanglos und doch mit zwingender Gewalt, und über beiden schlugen Wogen und Flammen zusammen.
Gertrud lag noch in einem ruhig atmenden Gefühl der Beglückung und beinahe des Stolzes, daß sie für den Schmerz hatte büßen dürfen, den sie dem Geliebten zugefügt hatte, als Daniel sie verließ. Er fand die Türe ihres Zimmers unverschlossen, und ein erster dämmernder Schein der Frühe zeigte ihm den Abstieg nach dem Hof. Der Hund drunten an der Schwelle bellte nicht nach dem, der aus den Gemächern seiner Herrin kam. Ruhig lag der weite Hof, nur von den Ställen rasselten gedämpft die Ketten. Durch die offene Einfahrt gewann er die verlassene Straße und wandelte langsam den Fluß hinab der Stadt zu. Ein strahlender Morgen erhob sich über ihr und grüßte sie wie eine Geliebte. Aber sein Gruß galt nicht auch ihm. Er wußte nicht, ob es Morgen um ihn war oder Nacht, und von seinen Gedanken umhüllt wie von einer Wolke schritt er dahin. Da kamen ihm im Wallen entlegener Empfindungen jene Worte in den Sinn, die Gertrud einst zu ihm gesagt hatte: »Und dann kann man sich doch sagen, daß man mich nicht in einer Nacht gewinnt.«
»Was für ein seltsames Wesen ist doch der Mensch,« sagte Daniel, »was für ein seltsames Wesen!«
Er ging in sein Haus, legte sich nieder und gab sich dem Schlaf, wie einer Zuflucht.
Gegen Abend machte Daniel sich auf, um Thomas sein Erlebnis zu berichten. Als er bei ihm eintrat, fand er dort Gertruds Bruder, der eine Botschaft von ihr an den Waffenschmied zu bestellen hatte. Sie stammte aber nicht von heute (denn Gertrud hatte ihn an dem Tage noch nicht gesehn): vielmehr hatte sie schon vor dem Feste mit ihm von Thomas' Werbung gesprochen und ihre Neigung zu diesem dem Bruder nicht vorenthalten. Mit aller Absichtlichkeit hatte sie auch deswegen Thomas am verflossenen Abend zu ihrem Tisch unter den Bäumen gezogen und ihn damit öffentlich vor den Leuten ausgezeichnet. Sie war glücklich zu bemerken, daß er auch ihrem Bruder gefiel, und ihre herausfordernden Reden waren nur ihrem Übermut darüber und ihrer Rauflust entsprungen, denen sie die Zügel ließ; fühlte sie sich doch im Besitz des Geliebten sicher und glaubte sie doch sich jederzeit Einhalt tun zu können, wenn sie's zu weit triebe. Da war nun Lenz, um seiner Schwester Antwort auf die Frage zu bringen, die Thomas einst durch Daniel Roux an sie hatte stellen lassen, wenn er diese Antwort noch als solche annehmen wolle: denn sie liebe ihn, wenn sie es auch in einem noch kindlichen Stolz nicht übers Herz bringen könne, solches mit Worten zu sagen, und werde ihm in sein Haus folgen, sobald er wolle, da sie frei sei und die von ihrem Bruder übernommenen Pflichten in seine Hände zurückgegeben habe.
Die Liebe hatte Thomas die spottenden Worte Gertruds, die sich in der Morgensonne ganz anders ausnahmen als unter der ernsten Schwüle der Platanen am gestrigen Abend, schon halb verzeihen lassen, und er ergriff die Botschaft mit beiden Händen. Der erste Zeuge seiner Freude war Daniel, dem wohl dabei eine Ahnung aufging, wem die Liebkosungen gegolten hatten, die ihm zugefallen waren. Aber im Angesicht seines Glücks konnte er nicht die Worte finden, dem Freunde zu sagen, was vorgefallen war; das Herz wollte ihm brechen.
Und er schwieg.
Das Geheimnis schien sich selbst bewahren zu wollen. Denn als Thomas, dem Gertrud nach den Ereignissen jener Nacht demütig und unterwürfig entgegenkam, derselben mit keinem Wort Erwähnung tat, da erstaunte sie, dankbar und stolz; und eine stille Bewunderung für seine Art ergriff sie. Sooft auch später im Verlauf der Zeit Gertrud absichtlich oder unabsichtlich an die Beleidigung, die sie ihm damals angetan, und an die Sühne, die sie gefunden, heranstreifte, immer wehrte er ihr mit einem feinen Wort oder einem stummen Blick, als ob das alles etwas Heiliges sei, das man wohl im stillen Dämmer der Erinnerung hüten, aber nicht ans Licht der Gegenwart ziehen dürfe. So wuchs ihre Bewunderung schließlich zu einer Scheu, und sie vermied es, davon zu sprechen.
Thomas führte Gertrud heim, sobald die Hochzeit zu bestellen war; aber sein hochfahrendes Wesen hatte der junge Lenz dort draußen gelassen, wo er einst die Herrschaft geführt hatte. Eine Hingebung ohnegleichen brachte sie Thomas dar, und als das Daniel gewahrte, merkte er wohl, was sein Werk daran war, und dankte es in Schweigen dem sie verbündenden Geschick, daß es ihn zu einer seltsamen Niederlage an die Stelle seines Waffenbruders hatte treten lassen.
So war es und blieb es zwischen den beiden Freunden, als Daniel eines Abends gegen die Dämmerung in die Werkstatt des Waffenschmiedes trat und etwas verwundert sah, wie Thomas gerade die letzte Hand an eine kunstvoll geschmiedete Klinge legte, die er offenbar tagsüber in eifriger Arbeit gefertigt hatte. Sie glich jener von Vionville auf ein Haar die Thomas oft von ihrem Platz genommen und prüfend und sinnend in der Hand gehalten hatte, wenn er Daniels Fechtboden besuchte; und Daniel sah, wie er das Federn des Stahls und seine Schärfe erprobte wie damals die seines Säbels auf dem Schlachtfelde. Als aber Thomas alles beendet, schlug er den schreitenden Hahn der Woller nahe an das glühende Heft.
Da schaute ihn Daniel fragend an, und Thomas sagte mit leuchtenden Augen: »Nicht wahr, wissen möchtest du, für wen der Säbel ist, dem ich den Hahn mitgebe? Nun, für keinen andern, als für meinen Sohn, den du lehren sollst, nach unserem Abkommen, ihn in Ehren zu führen und für seine Ehre, wenns not tut. Und hier ist er!« Er verschwand durch eine Tür in der Tiefe der Werkstatt und kehrte nach wenigen Augenblicken mit einem nackten zappelnden Etwas wieder, das er auf der flachen Hand trug und lachend und behutsam auf den noch warmen kleinen Amboß setzte, dessen er sich bedient hatte. Da griff das Wichtlein hilfesuchend um sich und faßte den Finger des Waffenschmieds wie einen Schwertknauf.
»Sieh,« sagte Thomas, »er ist noch keine Woche alt und schon schlank und gestreckt wie ein Stahlblatt. Der ganze Lenz lacht aus seinem Gesicht; aber die geraden Glieder, sagt Gertrud, habe er von mir, obgleich ich nicht einsehe, warum er die nicht ebenso von seiner Mutter erhalten haben soll, da die ihren doch auch nicht krumm sind. Ich zeige ihn dir aber, Daniel, weil ich wünschte, daß du ihn von seinen ersten Tagen an kennen möchtest und er von seinen ersten Tagen vertraut mit dir würde. Denn vielleicht wird es sein, daß du über seine Jugend wirst wachen müssen. Die Woller sind ein kurzlebig Geschlecht.«
Seine Stimme war allmählich in einen zarten Ernst verglitten, den selbst Daniel noch nicht an ihm kannte. Als Woller ihm schweigend die Hand hinstreckte wie zu einem Gelöbnis, gab er es ihm wortlos.
Im zwölften Jahre seines Glücks starb Thomas Woller zu der Zeit, als die Sicheln in den Feldern rauschten, wie hingemäht. Gertrud hegte sein Angedenken wie ein Kleinod, und ihr Knabe half ihr dabei. Da er aber gerade seine ersten Rittergeschichten las, sagte er zu ihr, sie solle sich nicht grämen, er werde von nun ab für sie und ihre Ehre eintreten und das, wenn er erst ein Schwert schwingen könne, mit diesem in der Hand. Da nahm seine Mutter, obwohl sie ein Lächeln im Innern hatte und ihm gleich einem Kinde über das Haar strich, seine Worte wie die eines Mannes auf und antwortete ihm freundlich, daß sie seine Ritterdienste allezeit gern annehme. Der junge Woller war glücklich über dies geheime Amt, und eine fast schwärmerische Verehrung, die er als Knabe für sie trug, wandelte sich in eine männliche Ergebenheit und wachsame Liebe, wie er zum Jüngling heranwuchs.
Der junge Hermann Woller wurde aber der geradeste und aufrechteste Bursch, den man finden konnte, beides, an Leib und Gemüt; dafür sorgte Daniel Roux treulich. Er hatte wie ein Symbol seiner Patenschaft, die er damals vor dem nackten Kinde auf dem Amboß nach seiner Art übernommen, jenen Säbel aus der Werkstatt des Freundes erhalten, der den Hahn trug als ein spätes Meisterstück des Klingenschmieds. Der hing nun, sorglich gehütet, gekreuzt mit der Waffe von Vionville, die wie seine Schwester aussah, auf der Wand seines Fechtbodens. Ungezählte Male mußte der Fechtmeister dem forschenden Knaben die Geschichte der beiden Säbel erzählen; und wenn er sie dann von ihrem Ort herunternahm, um sie ihm zu zeigen, sagte der Junge oft begierig: »Der mit dem Hahn ist meiner.« Dann nickte Daniel.
Als ob ihm der Hang im Blute säße, verbrachte aber Hermann alles, was er an freien Stunden sich stehlen konnte, auf dem Fechtboden Daniels. Dann folgte er mit blitzenden Augen den Waffengängen, die des Fechtmeisters Schüler mit ihm zu bestehen hatten, und freute sich der Schläge, die um sein unbedecktes Haupt nagelten, das wie mit einem unsichtbaren Gewölbe umschützt schien; denn Daniel vermochte jeden Hieb von seinem Leib abzuwehren, soweit er gerade wollte. Des Nachts aber lag der Junge oft genug wach und focht die Gänge im Geiste nach, als ob ihn das alles verzweifelt viel anginge. Später, als er selbst Schläger und Säbel zu führen lernte, war es, als ob in seiner Gestalt und in seinen Bewegungen Daniel selbst wieder jung geworden wäre. Er stand dem Meister gegenüber bald seinen Mann, und wer die beiden gesehen hat, wenn sie sich mit den Waffen in der Hand entgegentraten, der gestand, daß er nie zwei schönere Mannsgestalten hat bewundern dürfen.
Es waren kaum zwei Jahre seit dem Tode Thomas Wollers ins Land gegangen, als Daniel eine Frau nahm. Er mußte, weil es ihm schlecht ging. Denn Daniel war nun einmal nicht zu bewegen, wohlverdientes Geld von den Studenten einzuziehen, die er alle für arme Teufel hielt; und wenn ihn Gertrud in bester Absicht dazu anhielt, pflegte er, als ob er noch Mitleid mit jedem habe, der ihm etwas schuldig war, zu sagen: »Wenn er doch kein Geld hat, wovon soll er dann bezahlen?« womit er sein Gewissen beschwichtigte und sich ein für alle Male der fatalen Verpflichtung entzog, dort nach Geld zu fragen, wo er vermeinte, daß keines sei. Da legte sich nun Frau Gertrud ins Mittel und wollte ihm, wie früher Woller getan, aus ererbtem und erworbenem Überfluß helfen, wenns not tat. Aber da sich Daniel mit der ernsthaftesten Miene solche Hilfe verbat und dies damit begründete, daß sie nicht Thomas Woller sei, so verfiel sie auf einen andern Ausweg und verschaffte ihm eine Frau; denn sie sah wohl, daß Daniel sein gutes Auskommen haben würde, wenn ihm jemand zur Seite stünde, der die Sache anders anfaßte wie er und dafür sorgte, daß seinem Beutel das zufloß, was ihm zukam. Das ließ sich Daniel denn gefallen, da er ihr darin mehr traute als sich selbst und meinte, ein Mann wie er werde unter allen Mädchen für sich die dümmste Wahl treffen. Sein ganzes Herz an eine Frau zu hängen, hätte er nie vermocht; die eine Hälfte gehörte ja doch seiner Klinge, und er war es zufrieden, wenn man ihm die andere mit einer Frau besetzte, die sich damit begnügte. Und wenn mans recht besah, konnte sich wohl jede Frau daran genügen lassen, wenn sie auch nur den geringsten Teil von Daniels heldenhaftem Herzen besaß.
So zog denn Maria, eine Stiefschwester Gertruds, in das altertümliche Haus an der Stadtmauer ein, und Daniel hielt sie in Ehren, wie es seiner ritterlichen Art anstand. Maria aber war wohl seiner wert und wurde ihm der beste Kamerad, den er außer Thomas Woller je besessen, wobei sie übrigens eigennützig genug war, so viel von seinem Herzen an sich zu reißen, wie sie Daniels Klinge nur immer abzustreiten vermochte; also daß Daniel manchmal ein wenig selbst an sich irre wurde und sich einen verliebten Esel schalt. Sie war wohl nicht besser und nicht schlechter als die meisten Frauen, wenn sie an den rechten Platz kommen; dort aber verstand sie sich durchzusetzen. Daniel gewahrte bald zu seinem Erstaunen, wie sich die Vermögensverhältnisse seiner Schuldner ganz allgemein besserten, seit Maria im Haus war, so daß sie ganz ordentlich und regelmäßig dafür zahlten, wenn er sie an seiner Kunst ein wenig emporblicken ließ wie an einem hohen Turm. Er mochte wohl nicht wissen, daß sie mit der Frau Meisterin manchmal einen ernsteren Gang auszufechten hatten als gegen seine Überlegenheit.
Maria hatte Daniels Vertrauen. Und weil sie es besaß – aus keinem andern Grunde –, erzählte er ihr im Verlauf der Zeit seine Freundschaft mit Thomas Woller und wie es kam, daß er in jener Nacht die Sühne von Gertrud für seinen Waffenbruder nahm. Er vertraute ihr das aber nicht als etwas, das er ihr bisher absichtlich vorenthalten, sondern so, wie ein Kamerad dem andern etwas erzählt, auf den er sich verlassen kann. Und Daniel konnte sich auf Maria verlassen; denn sie war ganz und gar keine Plaudertasche und wollte ganz und gar nicht zerstören, was Daniels Verschwiegenheit und Gertruds Irrtum Gutes gewirkt hatten.
Frau Maria war nicht wenig stolz, als Daniel so aus freien Stücken ihr sein Geheimnis preisgab, küßte ihn herzhaft und freute sich der Fortschritte, die sie in der Eroberung seines Herzens im verborgenen gemacht hatte. Aber sie war ein wenig eitel und liebte es, ihre Tugenden ins rechte Licht zu rücken und sie etwas schillern zu lassen; nicht eben mehr als andere Frauen, aber gerade so viel, um ein Unheil anzurichten, wenn der Teufel dabei seine Hand im Spiel hat. Und es prickelte und juckte sie seit der Zeit, ihrer Stiefschwester so bei Gelegenheit mit einem kleinen Wort zu versetzen, daß sie ein Geheimnis von ihr wisse; gerade nur so, um sie fühlen zulassen, wie sie ihr für das sorgliche Verschweigen desselben Dank und ein kleines Vollmaß von Bewunderung zu zollen habe. Maria suchte diese Gelegenheit nicht und fühlte sich groß darin; aber sie wahrte sich das Wort für sie, wenn sie kommen würde, wie einen kleinen Dolch, den man nur einmal zu benutzen gedenkt.
Und diese Gelegenheit kam; nach Jahren, doch sie kam. –
Es war da ein junges Mädchen in der Stadt, nicht eben leichtfertig, aber leichten Sinns und ein törichtes hübsches Ding, dessen sich die beiden Frauen, da es Waise war und bei einem mürrischen alten Vormund wenig Umgang hatte, wechselweise annahmen; und wegen seiner munteren und gefälligen Art sahen sie es gern bei sich. Dieses Mädchen hatte sich ohne Besinnen einem der Gesellen aus des Waffenschmieds Werkstatt, die für den Sohn weitergeführt worden war, versprochen, und Gertrud übernahm es, um den Leutchen zu ihrem Glück zu verhelfen, ihm die Aussteuer und die Hochzeit zu bestellen. Diese war schon angesetzt, als das Mädchen sich von einem anderen betören ließ, worauf der Mann das Verlöbnis aufkündigte und Frau Gertrud um ihres Gesellen willen der Ungetreuen ihr Haus verbot, nicht ohne Ärger und Verdruß darüber, daß sie ihre Güte schlecht gelohnt und sie selbst nun als ihre Beschützerin in das Gerede der Leute gebracht habe.
Als am nächsten Tage, an einem Sonntag, Maria zu einer gewohnten Stunde mit einer häuslichen Arbeit sich still zu ihr setzte, lieh Gertrud ihrem Unmut scharfe Worte und verurteilte das Betragen des Mädchens hart. Maria beurteilte die Leichtsinnige um so viel milder, als ihr weniger Unannehmlichkeiten aus ihrem Fehler erwuchsen, und sagte, ohne aufzublicken, sehr ruhig: »Sie ist vielleicht nicht so schlecht, wie du meinst; und jedenfalls hättest du doch am wenigsten recht, ihr es vorzuwerfen.«
Gertrud sah sie sprachlos an. Nach einer Weile fragte sie, bebend in einer unbestimmten Vorahnung von etwas Furchtbarem, leise: »Wie meinst du das?« Und Maria antwortete, ohne ihren Blick zu erheben : »Nun, deine Hochzeit war doch auch so gut wie bestellt, als – als du dich Daniel ergabst.«
»Wer wagt das zu sagen?« rief Gertrud aufspringend; doch sie mußte sich rückwärts an die Wand halten, denn sie begann zu zittern und zu schwanken.
»Daniel sagt es,« antwortete Maria; »Daniel lügt nicht.«
»Ich weiß, daß Daniel nicht lügt. – Aber er lügt; er lügt. – Diesmal lügt er – Daniel, der nicht lügt, lügt. – Einer, der nicht lügt, schändet mich; Thomas schändet er, den ich geliebt!« – Die Größe der Schmach schien ihr bei jedem Wort zu wachsen, lawinenhaft auf sie zuzustürzen. Unfähig noch einen Gedanken zu fassen, begann sie sinnlos, wortlos zu klagen; klagte wie ein wundes Tier; lange, elend, zum Herzbrechen.
Maria wagte nicht, sie zu beschwichtigen, noch sie anzurühren. Endlich sagte sie zagend, fast hoffnungslos: »Nur Daniel weiß es wohl und ich.« Ihre Stimme gab Gertrud das Denken auf Augenblicke zurück, wie ein Reiz in einer Ohnmacht:
»Ist es darum weniger eine Lüge? Ist es darum weniger ein Schimpf? – Mich, ihn, sich in einen unlöslichen, kotigen Schimpf verschändet!!« Und sie schrie auf wie unter Martern.
Betroffen stand Maria, unentschlossen, hilflos. Dann ging sie verzagend, den Sohn zu suchen und zu seiner Mutter zu senden. Gertrud blieb schluchzend allein. Sie dachte nicht daran, wie wohl Daniel, der wahrhafte Daniel, der sichere Daniel mit den gewogenen Worten dazu käme, solches von ihr zu sagen; sie sah nur ihren Schimpf; ein Tönen war in ihren Ohren, und es war ihr Schimpf, der darin tönte; eine rohe Hand hielt ihr Herz gepackt, und es war ihr Schimpf, der an ihm riß. Sie wollte Thomas' Namen rufen, als ob er ihr beistehen könnte in ihrer Not, aber sie vermochte es nicht vor Schluchzen. Sie mußte ein Wesen haben, das sie hörte in ihrem wortlosen Jammer, an das sie sich klammern konnte, das sie anflehen konnte, stumm und in Tränen. So schleppte sie sich herum und auch hinunter in die leere Werkstatt, als werde sie dort jemand finden. Vor Thomas' kleinem Amboß fiel sie nieder, umschlang das fühllose Eisen mit ihren Armen und klagte Daniel an wie vor einem Richterstuhl.
So fand der Sohn seine Mutter. Sie erhob sich rasch, ging ihm entgegen und faßte seine beiden Hände. Dann erzählte sie, ohne Stocken, und während sie sprach, wunderte sie sich, wie sie so schamlos sei, vor ihm die Worte Marias wiederholen zu können. »Höre,« sagte sie am Ende; »als du ein Knabe warst, gelobtest du, meine Ehre zu schützen in Not. Nun du ein Mann bist, wirst du nicht anders denken. Geh, stelle ihn auf sein Wort. Fordere Rechenschaft, wie dein Vater sie für mich gefordert hätte und für sich.« Und sie küßte ihn auf die Stirn, die er ihr niederneigte. Sie fühlte ihre Ehre sicher in seinen Händen und verließ ihn, als ob sie ihm einen alltäglichen Auftrag erteilt hätte.
Hermann bebte vor Erregung. In seinem heiteren jugendlichen Rittertum hatte er sich wohl immer hochgemut als Beschützer seiner Mutter gefühlt; was er aber tun würde, wenn sie in Gefahr käme, darüber hatte er nie nachgedacht. Daß jemand ihr zu nahe treten könne, lag so außerhalb aller Vorstellbarkeit für ihn, daß das alles ihn jetzt zu früh, zu grell, zu grausam traf. Allein gelassen mit einer fremdartigen Verantwortlichkeit konnte er in einem über alle Ziele hinausschießenden Gefühl dafür nur den einen Gedanken fassen, seiner Mutter eine Genugtuung ohnegleichen zu verschaffen, wie keine Königin sie vollständiger hätte erwarten dürfen. Noch wußte er nicht wie; aber das würde sich finden.
Unterdessen war Frau Maria, schwer beunruhigt, nach Hause geeilt, um bei Daniel Schutz zu suchen gegen alles, was da kommen würde. Als sie bei ihm eintrat, war er auf seinem Fechtboden, wie gewöhnlich Sonntag nachmittags, damit beschäftigt, einige Ordnung in die Wirrnisse zu bringen, welche die Woche in die Bestände seiner Waffen und Fechtzeuge zu tragen pflegte; und als letztes hatte er gerade die beiden Staatsstücke, die er besaß, den Säbel von Vionville und den Hermann Wollers, von der Wand genommen, andächtig und zärtlich betrachtet und blank gewischt und sie wieder im Kreuz an ihren Ort gehangen. Wie er nun den Bericht Marias nachdenklich, die Hände auf dem Rücken in dem Raum umherschreitend, entgegennahm ohne ein Wort oder nur einen Blick des Vorwurfs für sie, die immer wieder ihre Eitelkeit und Unbedachtsamkeit anklagte, da merkte sie, daß er selbst für sie und ihre Worte einzustehen gedenke und sie vertreten müsse als seine eigenen. Eine Bangigkeit ergriff sie, das Herz wurde ihr schwer, und sie sank nieder in stillem Weinen. Da befahl er ihr hineinzugehen in ihr Zimmer und nicht eher wieder hervorzukommen, als bis er sie rufe; denn er habe mit sich zu reden – oder mit einem andern. Da ging Maria Roux.
Der Fechtmeister aber schritt noch einige Male auf und nieder, dann holte er sein geliebtes Messer mit dem schreitenden Hahn der Woller aus seiner Kammer hervor und fand es nötig, sich, wieder eifrig auf dem Fechtboden hin und her wandelnd, nochmals zu rasieren, obgleich er diesem Bedürfnis an dem Tage schon einmal in der Frühe entsprochen hatte, bevor die andern Bürger zur Kirche gingen.
Wie er so wandelte, trat Hermann Woller ein. »Ich habe dich erwartet«, sagte Daniel ruhig. »Gleich.« – Und er tat die letzten Striche, klappte das Messer zu und trug es an seine Stelle. Dann trat er mit offener Stirn vor Hermann, wie einer, der froh ist, eine alte Schuld demjenigen entgegenbringen zu dürfen, der sie nach langer Zeit heimzufordern kommt.
»Ist es wahr?« war das einzige, was Hermann hervorbringen konnte, hoffend und fürchtend, fast wie eine Beschwörung. Aber Daniel antwortete nicht; er wollte den, der für seiner Mutter Ehre eintrat, nicht dadurch entkräften, daß er ihm den Boden, auf dem er stand, unter den Füßen wegzog. Wie er beharrlich schwieg, ihn bald anblickend, bald in die Abendsonne hinausschauend, welche die offenen Fenster mit einem flackernden Feuer füllte und die Waffen ringsum an den Wänden lüstern umstrich, da verstand ihn Hermann, und es war, als ob er stolz dabei wäre auf seines Meisters Art.
»Recht hast du,« rief er aus; »Rede mußt du mir stehn, obs wahr ist oder Lüge! Wirst du?«
Daniel drehte sich nach ihm um, nickte leicht und sagte: »Ich will. – Was forderst du?«
Hermann sprang auf ihn zu; irgend etwas hieß ihn, dem Verleumder seiner Mutter an die Kehle zu fahren und ihn zu drosseln, solange noch Atem in ihm war. Aber der Vorsatz verflog wie ein Schatten, der über seine Seele huschte; er hielt inne und sah sich um, als suche er nach einem Ausweg. Da fiel sein Blick auf die beiden gekreuzten scharfen Waffen an der kahlen Mauer, auf denen die Sonne wie in einer geheimen Lust in einem tänzelnden Glanz spielte.
Und wie eine ungeheure Offenbarung ging es in ihm auf. Er riß die beiden Säbel, jeden Griff mit einer Hand packend, von ihrem Platz und hielt sie Daniel hin. »Wähle«, rief er, und die Klingen zitterten ein wenig in seinen Händen.
»Sie sind gleich«, sagte Daniel; und als ihm Hermann einen der Säbel hinreichte, ergriff er ihn. Ehe sie wußten, was sie taten, standen sich die Männer in Fechtabstand gegenüber, als gelte es einen ihrer alltäglichen Waffengänge. Die Sonne selbst, die gleich einem Schiedsrichter mit forschenden Blicken gerade durch das Fenster sah, verteilte Licht und Schatten zwischen ihnen, und sie erhoben gleichzeitig die gesenkten Waffen.
Und ein unerhörter Kampf begann. Größer schienen die Gegner, gewaltiger die Ausfälle, ausholender die Hiebe; und nie waren sich Meister und Schüler ähnlicher als heute. Pfeifend mit feinem, fast weichem Tönen fuhren die Klingen aufeinander, und Funken tropften sprühend von ihnen ab. Aber während Hermann ungestümer, kühner und erbitterter angriff, als es sein Gegner ihm je zugetraut hätte, wehrte dieser ausschließlich die schnellenden Hiebe ab, und wenn er sie manchmal erwiderte, so tat er es nur halb, zu seiner Verteidigung. Keiner wußte, wohin dieser Zweikampf führen würde; aber jeder fühlte wohl, daß er blutig enden müsse. Daniel deckte sich nach allem seinem Können; aber eine gewisse Lauheit, eine leichte Nachsicht, als wäre er sie schuldig, beherrschte unmerklich alle seine Bewegungen. Wohl mochte er hoffen, die Kraft des jugendlichen Angreifers werde sich brechen an seiner Ausdauer und seiner Erfahrung; da schlug ihm Hermann mit einer kurzen Terz von unvorhersehbarer Gewalt die Abwehr und die rechte Halsschlagader zugleich durch.
Daniel taumelte nicht; er brach in sich zusammen wie ein Turm, und ein Blick der Genugtuung traf den erschrockenen Sieger, der die Waffe fallen ließ und auf ihn zutrat. Er reichte ihm, fast lächelnd, die Hand, und dann wurde es dunkel um ihn. Hermann eilte hinein, um Maria zu Hilfe zu rufen; dann rannte er nach dem Arzt. Als sie nach wenigen Minuten zurückkamen, lebte Daniel wohl noch, aber es war zu spät. Das Leben floh wie der sinkende Tag; als der letzte Strahl der Sonne von den Fensterbänken seines Fechtbodens herabglitt, starb Daniel Roux.
Da ging Hermann still aus dem Haus und suchte den Weg zu dem seiner Mutter. Die aus den Bergen und nachbarlichen Ausflugsorten heimkehrenden Menschenwogen umfluteten ihn; er sah sie nicht. Ein paar Freunde redeten ihn an; er hörte sie nicht. Aber wenn er auch in Ernst versunken war, so trug er doch das Haupt hoch und frei und schritt rasch aus, wie einer, der etwas Rechtes getan hat.
So betrat er seiner Mutter Haus. Jede seiner Bewegungen schien verändert, gefestigter, männlicher, und er wunderte sich selbst darüber, wie fremd ihm sein eigener Schritt von den großen steinernen Fliesen des Hausflurs zurückhallte. Als er Frau Gertrud nicht in ihren Zimmern fand, ging er die Treppe wieder hinunter und durch den hallenden Gang nach einem kleinen Hof, in dessen Mitte als einziger Baum eine ihn fast ganz überwölbende Linde stand. Dort saß seine Mutter unter dem regungslosen Laubdach in der Dämmerung. Sie hörte seinen Schritt auf den Steinen und sah seine Gestalt in dem Gang, vom Licht zweier großer altertümlicher Laternen umflossen, die den Flur schon erhellten, auf sich zukommen, schlank, stark und aufrecht.
Da fuhr sie auf: »Daniel!« schrie sie, »Daniel!« und sah ihrem Sohn starr entgegen, als ob sie von einer Erscheinung besessen wäre.
»Was ists mit Daniel?« fragte er und stand wie gebannt, »ich komme gerade von ihm – und es geht ihm nicht gut.«
Sie achtete nicht auf seine Worte. »Herr, mein Gott!« jammerte sie leise, »Herr, mein Gott! Du bists – und ich glaubte Daniel vor mir zu sehen, wie er einst vor mich trat – mit funkelnden schrecklichen Augen – unter den Platanen in der Nacht, bevor – –« und sie verstummte. Denn ein furchtbares Verstehen breitete sich in ihr aus; wie ein eisiger Strom durchschoß es ihr Inneres, und wimmernd, von kalten Schaudern gerüttelt, brach sie zusammen.
Dem Sohn graute. Er bettete sie angekleidet auf ihr Lager und saß bei ihr, bis die dunkle Nacht kam und sie leise, fast wie unter ihrem Schutz, fragte: »Was hast du – ihm getan?«
»Ich habe nicht mehr getan, als deine Ehre an ihm gerächt«, antwortete er.
Sie richtete sich auf. »Du – an ihm!« schrie sie verzweifelt, da sie ihn verstand: »Du – an ihm! – an ihm!« und sie schlug zurück und wurde starr wie eine Tote. Nach langer Zeit befahl sie leise und fest: »Laß mich allein.«
Da verließ er sie in Ehrfurcht.
In der Nacht hat sie sich ertränkt dort, wo der Fluß schnell fließt und schwarz; sie war schon kalt, als die Wasser sie aufnahmen.
Es waren wohl viele, welche die Leichen von Gertrud und Daniel zu den Stätten ihrer Ruhe geleiteten, und von den vielen ahnten wohl manche verborgene Verknüpfungen. Aber – einmal wenigstens – fühlten Menschen etwas von einem Auftrag, zu düster und zu groß, als daß sie in seine Tiefen hätten hineinleuchten oder mit irdischem Aburteilen ihn hätten verkleinern dürfen. Den wenigen, die später fragten, setzte man das Bollwerk der Unergründbarkeit entgegen.