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Auf dem Heimwege aus Italien nach der Ukraine hatte Madame Hanska im Hochsommer 1834 in Wien haltgemacht. Dort war ihr Gatte erzogen worden, dort lebte ihre Tante, Gräfin Rosalie Rzewuska, die großes Haus machte, in dem der polnische Adel und namhafte Dichter und Gelehrte, Baron Zedlitz, Hammer-Purgstall usw., verkehrten. Trotz dieser Beziehungen kam sie zu keinem rechten Behagen in der Kaiserstadt. Sie nannte die Wiener geistesträge Schlemmer, und besonders verdroß sie die hoffärtige Abschließung mancher hocharistokratischer Zirkel, denen die Ahnenprobe Wenzeslas de Hanskis nicht genügte. Sie klagte Balzac brieflich wiederholt über solche Verstimmungen, und er nahm jeden Anlaß wahr, der Gekränkten beschwichtigend zu berichten, wenn Wiener Gäste, Prinz Esterhazy und Prinz Schönburg, in Paris ihre Schönheit und ihren Geist rühmten. Am trostreichsten aber sollte seine Verheißung wirken, selbst nach Wien zu kommen. Er kündigte dieses Vorhaben so stürmisch an, daß Eva sein sofortiges Eintreffen erwartete und für eine zufällige Pause seiner Korrespondenz jubelnd die Erklärung suchte: »Er schreibt nicht, also kommt er!« So heiß sein Herzenswunsch aber auch war, die Geliebte wiederzusehen, nachdem, wie er kalendermäßig betrübt feststellte, Jahr und Tag seit den in Genf gemeinsam verlebten seligen Wochen verstrichen waren, und so heilsam nach dem Rat der Ärzte dem Übermüdeten rasches Ausspannen gewesen wäre, in seiner ewigen, sich wechselseitig bedingenden Geldklemme und Arbeitshatz mußte er die wieder und wieder angekündigte Reise von Monat zu Monat so lange verschieben, bis endlich die Familie Hanski zum Aufbruch nach Wierzchownia rüstete.
Hals über Kopf verschaffte sich nun Balzac, dank seinen persönlichen Beziehungen zum österreichischen Botschafter Graf Apponyi, binnen zwei Tagen einen Reisepaß. Schwerer hielt es, von seinem jüngsten mittellosen Verleger Werdet, der nur durch Balzacs geschriebene und ungeschriebene Werke Rettung aus arger finanzieller Bedrängnis verhoffte, Vorschüsse für seine Reiseauslagen zu bekommen. Sein Hirnkasten, so klagte er Werdet, sei gänzlich ausgeräumt. Er bedürfe dringend der Auffrischung, neuer Gegenden, neuer Eindrücke, wenn er überhaupt das von seinem Verleger begierig erwartete »Livre mystique« zustande bringen sollte. »Ich muß nach Wien zu der Carissima, von der ich Ihnen so oft erzählt habe.« Wehrlos gegen Balzacs südländische Beredsamkeit gab ihm Werdet 2000 Franken in Wechseln. Sofort machte sich nun der Dichter eilfertig am 9. Mai auf den Weg als »Marquis de Balzac«, begleitet von seinem Kammerdiener August, dessen Livreeknöpfe ebenso wie die Koffer Balzacs das Wappen der »Entragues« trugen. Da weder Herr noch Diener ein Wort Deutsch verstanden, half sich Balzac mit der Zeichensprache: er drückte den Postillonen solange Kreuzer in die Hand, bis sie begannen zu schmunzeln und derart verrieten, daß er sie überzahlte. Am 16. Mai kam er nach Wien, wo er nicht in der dazumal noch vom Festungswall der Basteien umzogenen inneren Stadt einkehrte. Seine Karrosse fuhr in die Vorstadt Landstraße, wo er in dem geräumigen Gasthof zur Birne abstieg, in nächster Nähe der in der Gemeinde-, der heutigen Salm-Gasse, gelegenen Wohnung der Familie Hanski, im Hause des Großhändlers Walter.
Gleich nach seiner Ankunft stellte sich der Dichter überselig bei Eva ein. In allen Wonnen des Wiedersehens wollte er aber seine Pflichten gegen Werdet nicht vergessen. Er bat deshalb, wie 1834 in Genf, an seinen mönchischen Gewohnheiten festhalten, täglich zwölf Stunden, von 3 Uhr früh bis Nachmittag, am Schreibtisch verbringen zu dürfen; dieser Zeiteinteilung gehorchend, müsse er noch so lockende Einladungen ausschlagen und regelmäßig um 9 Uhr zu Bett gehen. Allein in der Kaiserstadt wurde der Dichter ganz anders abgelenkt als in Genf, so daß in den achtzehn Tagen seines Wiener Aufenthaltes die meisten seiner Arbeitspläne zunichte wurden. Vor allem nahm Eva seine Zeit in Anspruch. Er las ihr vor, was er an Manuskripten mit sich führte: den größten Teil von »Seraphita«, den Entwurf des Romans »Die Lilie im Tale«; er schwärmte ihr von Büchern vor, die er ihr stiftete, wie Senancours Obermann, »eines der schönsten Bücher der Epoche«; er blätterte Lauzuns Memoiren mit ihr durch, um ihr das Szenarium eines Schauspiels zu entwickeln. Und sie ließ sich in seiner Gegenwart von Daffinger malen, und wie er nicht müde wurde, sie während der Sitzungen anzuschauen, wich er stundenlang im Garten nicht von der Stelle, wenn er sie singen hören konnte. Seinen steten Liebesbeteuerungen im Gespräch gesellten sich Tag um Tag überschwengliche briefliche Huldigungen: »Gestern warst Du schöner denn je, schön, um einen rasend zu machen. Wüßt' ich nicht, daß wir für immer verbunden sind, ich würde vor Kummer sterben. Verlaß mich darum niemals. Es wäre ein Mord.« Sie ließ sich solchen Kultus gern gefallen. Sechs Jahre später, nach dem Tode ihres Gatten Hanski, erinnert sie Balzac daran, daß sie ihm sagte: »Attachieren Sie sich an niemand. Ich will nur Ihre Treue und Ihr ganzes Herz. Noch steht mir der Baum vor Augen, den ich bei diesen Ihren Worten in dem Garten in Wien ansah.«
So zärtlich er ihr aber auch zugetan war, der alleinige Zweck seiner Reise nach Wien war nicht der Besuch Evas: lang' zuvor hatte er beabsichtigt, einen Roman, »La bataille de Wagram«, zu schreiben, den er nach früheren vergeblichen Anläufen nicht in Angriff nehmen wollte, ehe er die Schauplätze seiner Trilogie, Aspern, Eßling, die Lobau, Wagram mit eigenen Augen gesehen. Schon Ende der zwanziger Jahre hatte er dem Verlag Mame gegen ein Honorar von 2500 Franken »La bataille de Wagram« zugesichert. Sein Vorhaben war, den Leser die Schlacht derart miterleben zu lassen, als ob er von der Höhe eines Berges beide Lager, Truppen in den verschiedensten Uniformen, Verwundetentransporte, den Zusammenstoß der Heere, und den alles beherrschenden Napoleon sehen, die Kanonen grollen und das endliche Siegesgeschrei hören würde. Den richtigen Helfer und Berater glaubte er bereits 1828 in einem Artilleriehauptmann, Périolas, gefunden zu haben, den er bei seinem Freunde Carraud kennengelernt hatte; wie ein Aerolith gedachte Balzac in der Militärschule von Saint-Cyr einzufallen und Périolas um Beantwortung von »tausend Fragen«, um Fachwerke, Karten, Erinnerungen lebendiger Zeugen anzugehen. Périolas zweifelte, ob er Balzacs Wünsche würde erfüllen können, denn weit besser als Offiziere würden Soldaten dem Erzähler willkommene Züge mitteilen; Périolas bestellte deshalb zu einer mit Balzac vereinbarten Zusammenkunft vier Troupiers, die bei Wagram mitgekämpft hatten. Durch einen Wagenunfall wurde der Dichter verhindert, zu diesem Stelldichein zu kommen. Immer deutlicher wurde er sich zudem auch der Schwierigkeiten der Aufgabe bewußt, so daß er Mame das vorausbezahlte Honorar zurückgab und die Ausführung dieses zeitlebens nicht aus den Augen gelassenen Hauptstückes seiner Bilder aus dem Soldatenleben vertagte. Zunächst trieb er unablässig Vorstudien, er behauptete, mehr Werke über die Kriege von 1792 bis 1815 zu besitzen als mancher französische General; er sammelte auch die militärischen Trachten der Länder, die Frankreichs Verbündete oder Gegner waren. Nun winkte ihm die langersehnte Möglichkeit, an Ort und Stelle Umschau zu halten, im Geleite eines Gewährsmannes, wie er nicht besser zu wünschen und zu wählen war. Der älteste Sohn des Siegers in der Völkerschlacht von Leipzig, Fürst Fritz Schwarzenberg, war in der österreichischen Armee Major gewesen; unter französischen Fahnen hatte er dann in Algier sich tapfer hervorgetan und, schriftstellerisch begabt, seine militärischen Eindrücke in vielbemerkten Blättern festgehalten. In Paris in der vornehmsten Gesellschaft gehätschelt, hatte der tatenfrohe Fürst, der den Autornamen eines »verabschiedeten Landknechts« annahm, wie mit anderen Literaten auch mit Balzac verkehrt, für dessen »Frau von dreißig Jahren« er nach einer lebenskundigen Charakteristik das abschließende Wort findet: »Das Alter, in dem sich der Engel und der Teufel in ihr entwickelt hat, in dem sie nach Belieben über Paradiesesglück und Höllenqual gebietet.« Die Bataille de Wagram Balzacs wäre nicht auf den einen entscheidenden Schlachttag beschränkt geblieben: der Dichter wollte die ganze Zeit, vom Sieg des Erzherzogs Karl bis zur Wagramer Wende in drei Bänden behandeln: I. Vor Wien, Ein Kampf, II. Das belagerte Heer, III. Die Ebene von Wagram. Jeden Fußbreit der Schlachtfelder, auf denen dieser Feldzug ausgetragen worden war, kannte Fritz Schwarzenberg genau, der lange vor der Aufrichtung von Fernkorns »Löwe von Aspern« und dem Reiterbild des Erzherzogs Karl Denkmale für die Helden jener Tage in gebundener und ungebundener Rede gefordert hatte. Balzac hat nachmals dem Fürsten Friedrich Schwarzenberg seine Geschichte »Adieu« gewidmet, die gewaltige Schilderung der Schrecken vor und nach dem Brückenschlag über die Beresina – zugleich ein Dank für den in Gemeinschaft mit dem Fürsten unternommenen Gang durch die Gelände, in denen die Heere Napoleons und Erzherzog Karls einander gegenübergestanden waren.
Am Donauufer fielen dem Dichter angesichts der Lobau wellenförmige Furchen wie von Kleefeldern auf. Er fragte nach der Ursache dieser Bodenbeschaffenheit, die er einer besonderen Art des landwirtschaftlichen Betriebes zuschrieb. Der Bauer, der die beiden begleitete, gab indessen den Bescheid: »Hier schlafen die Gefallenen der kaiserlichen Garde. Es sind Soldatengräber.« Diese Worte ließen mich erschaudern. Fürst Friedrich Schwarzenberg, der sie mir übersetzte, bemerkte noch, daß derselbe Bauer Napoleon am Morgen der Schlacht von Wagram das Frühstück bereitet hatte und trotz seiner Armut den doppelten Napoleonsdor, den ihm der Kaiser für Milch und Eier gegeben hatte, noch immer aufbewahre. Der Pfarrer von Groß-Aspern führte uns auf den berühmten Friedhof, auf dem Österreicher und Franzosen, knietief im Blute watend, mit derselben beiderseits bewundernswerten Tapferkeit und Zähigkeit gekämpft hatten. Hier, sagte uns der Geistliche, indem er auf eine Marmortafel wies, auf welcher der Name des am dritten Tage getöteten Besitzers von Groß-Aspern stand, – es war die einzige der Familie zuteilgewordene Belohnung – mit tiefer Wehmut: »Es war die Zeit großer Heimsuchungen und großer Versprechungen, doch heute ist die Zeit der Vergessenheit.« Ich fand diese Worte von erhabener Schlichtheit. Bei näherer Überlegung gab ich jedoch dem scheinbaren Undank des Hauses Österreich recht. Weder die Völker, noch die Herrscher sind reich genug, alle Hingebung zu vergelten, zu der das Äußerste einsetzende Kämpfe Anlaß geben. Mögen diejenigen, die einer Sache mit dem Hintergedanken auf Belohnung dienen, ihr Blut schonen und Kondottiere werden. Diejenigen, die Degen oder Feder für ihre Heimat gebrauchen, sollen nur, wie unsere Väter sagten, daran denken, einzig und allein der Sache selbst wegen zu handeln und alles, sogar den Ruhm, als glückliche Zufallsgabe ansehen. Als er sich zum drittenmal anschickte, den vielberufenen Friedhof zu stürmen, sagte der verwundete Masséna, der sich auf einem Kutschbock tragen ließ: »Wie, ihr verwünschten Kerle! Ihr habt täglich nur 5 Sous – ich habe 40 Millionen, und ihr laßt mich vorangehen?« Man kennt den Tagesbefehl des Kaisers an seinen Stellvertreter, den Herr v. Sainte-Croix, dreimal durch die Donau schwimmend, überbrachte: »Sterben oder das Dorf wiedererobern! Es handelt sich darum, die Armee zu retten! Die Brücken sind abgebrochen!«
Zur künstlerischen Ausschöpfung der auf der Lobau gesammelten Eindrücke sollte es leider ebensowenig kommen, wie zu den von Balzac gleichfalls geplanten Schilderungen der Schlachten von Kulm und Dresden. Wie er Napoleon mitten im Schlachtgetümmel dargestellt hätte, läßt sich nach der Episode der »Ténebreuse affaire« abnehmen, in der eine starre Royalistin, um die Begnadigung ihrer Vettern zu erbitten, den Kaiser während der Kämpfe bei Jena in einer kühn gesuchten Audienz in seiner schmucklosen und doch alles bezwingenden Größe kennen und bewundern lernt. Wie Balzac aber den Verlauf einer napoleonischen Weltschlacht im Geist der Mitkämpfer gespiegelt wissen wollte, bezeugt seine begeisterte Anerkennung von Stendhal-Beyles Kapitel in der »Chartreuse de Parme« über die Schlacht von Waterloo, die Ratlosigkeit des einzelnen in dem nur den Führern durchsichtigen Gewühl der Massen. Victor Hugos dieselbe Schlacht von Belle-Alliance behandelnde Darstellung in den »Misérables« hat er nicht mehr kennengelernt, so daß jede Vermutung gewagt wäre, welchem der beiden Kriegsgemälde er den Vorzug gegeben hätte. Gewiß ist nur, daß er, wenn das Geschick ihm und uns die Vollendung seiner »Bataille de Wagram« vergönnt hätte, weder die Wege Stendhals noch die Hugos gewandelt wäre. Wie der Geist des Generalissimus und seiner Generäle in »Wallensteins Lager« in den Trägern ihrer Regimenter vom Wachtmeister bis zum letzten Troßknecht sich nicht verleugnet, lebt der Geist des Korsen in seinen schönsten und häßlichsten Auswirkungen in allen Spielarten der Soldaten aller Grade in der »Comédie humaine«: in den heroischen Gestalten mancher Marschälle, im Wagemut und der Todesverachtung hoher und subalterner Offiziere, in der Tollkühnheit gemeiner Grenadiere; nicht minder unverkennbar in den allzu vielen Abenteurern, Klopffechtern, auf Halbsold gesetzten Müßiggängern, unter denen Ungeheuer aufschießen, wie der Philippe Bridau des »Ménage de Garçons«.
Gleichen Anteil wie den Kriegern brachte Balzac französischen und nichtfranzösischen Staatsmännern und Diplomaten der napoleonischen Ära entgegen. Aus freien Stücken suchte er Talleyrand in dessen Landsitz Rochecotte auf; es tat ihm leid, daß er nicht, wie er vorhatte, mit Wellington und Pozzo di Borgo unmittelbare Beziehungen anknüpfen konnte, »um seine Sammlung von Altertümern zu vervollständigen«. Sehr willkommen war ihm daher, daß er sich vier Tage nach seiner Ankunft bei Metternich einstellen durfte. Wir wissen nicht, ob er sich schlankweg melden ließ oder auf eine besondere Sendung der Marquise de Castries berief. In den Armen dieser (auch von Balzac einst heißgeliebten) Dame war Metternichs Sohn, Prinz Victor, verschieden: ein Knabe, der ihrem Liebesbund mit Prinz Victor entsprossen war, Roger, war Metternichs leiblicher Enkel. Auf Ersuchen der Marquise brachte Balzac in seiner Unterredung mit dem Staatskanzler die Sprache auf den kleinen Roger, dem er 1838 ein Märchen im Geschmack Perraults, »Die Spinnerin«, widmete. Nachmals hat die Familie Metternich den Sohn von Victor Metternich und der Marquise de Castries auch ganz als zu ihnen gehörig betrachtet und behandelt. Der Staatskanzler verschaffte ihm das Adelsdiplom eines Freiherrn v. Aldenburg und vermittelte dessen Eintritt in das Wiener Auswärtige Amt. Durch die überlegene Beherrschung seiner Muttersprache und seine Vertrauenswürdigkeit war Baron Roger Aldenburg jahrzehntelang, bis in die Tage Julius Andrássys, in angesehener Stellung; er wurde zum Gesandten ernannt, mit dem Titel Exzellenz bedacht und betätigte sich bei der Herausgabe von Metternichs nachgelassenen Papieren. 1834 waren die Verhältnisse indessen noch ungeklärt, so daß Balzac nachträglich Eva verdrießlich schrieb: er verstehe diese Dinge nicht und wolle sich mit der Sache fortan nicht mehr befassen. Auf beiden Seiten lägen unerklärliche Rätsel vor, und er habe keine Lust, den Schlüssel zu Geheimnissen zu suchen, die ihn nichts angingen. So sind wir über den Verlauf seiner ersten Audienz beim Staatskanzler nur durch einen Tagebucheintrag der Fürstin Melanie Metternich unterrichtet:
»20. Mai 1835. Clemens sah Balzac heute morgen und begann das Gespräch mit folgenden Worten: ›Mein Herr, ich habe keines Ihrer Werke gelesen‹ – eine offenbare Unrichtigkeit; der Herzog von Fitz-James und Fürst Pückler-Muskau bezeugen übereinstimmend, daß Metternich »L'histoire des treize« gleich beim Erscheinen mit höchster Spannung verschlungen habe; ob ihm der ›Père Goriot‹ zu Gesicht gekommen, ist fraglich; keinesfalls wurde das Buch verboten wie in Rußland, wo Kaiser Nikolaus an Vautrin Anstoß genommen – ›Aber ich kenne Sie und es ist klar, daß Sie verrückt sind oder sich über die anderen Narren lustig machen und sie durch noch größere Narrheiten heilen wollen.‹ Balzac erwiderte, Clemens habe es erraten, darin bestehe sein Zweck, und er werde ihn erreichen. Clemens war von der Art und Weise bezaubert, wie er die Dinge ansieht und beurteilt. Ich warte ab, bis ich ihn gesehen. – 25. Mai. Balzac schien mir ein einfacher und guter Mann, von seinem Kostüm abgesehen, das phantastisch ist. Er ist klein und wohlbeleibt, seine Augen und seine Physiognomie verraten viel Geist. Er ist Louise Schönburg sehr zugetan, und ich bin überzeugt, daß ihr pikanter und verführerischer Geist ihn ungemein fesselt, um so mehr, als sie seiner Eigenliebe schmeichelt. Was mich betrifft, so habe ich ihm keine poetischen Anregungen gegeben und keinen Augenblick geschmeichelt. Wir sprachen über Politik. Er nennt sich einen rasenden Royalisten, ich aber gab mich ganz wie ich bin. – 26. Mai. Fürst Gortschakow erzählte mir während des Diners, daß Balzac gestern von mir entzückt schien und sein Gespräch mit mir ihn ganz begeistert habe – er sei gegen mich sehr eingenommen gewesen.« Hatte sich die Herzogin Abrantès in alter Neigung für Metternich aus Eifersucht feindselig gegen die Fürstin geäußert oder die Marquise de Castries den Romancier vor der streitbaren Gemahlin des Staatskanzlers gewarnt? Jedenfalls blieb Fürstin Melanie dem Dichter so wohlgesinnt, daß sie seine Führerin in der kaiserlichen Schatzkammer sein wollte.
Metternich selbst gedenkt seiner Begegnung mit Balzac nur ein halbes Jahr später in einem französischen Billett an seine Gemahlin: »11. Oktober 1835. Ich sende Ihnen meine Biographie von Capefigue. Das ist die Biographie von irgendwem, aber nicht die meinige. Diese Publikation beweist von neuem, was nicht mehr bewiesen werden muß, daß es unmöglich ist, die zeitgenössische Geschichte zu schreiben. Das Porträt ist nicht ähnlich und die Tatsachen sind halb wahr und halb erfunden oder Ausfluß von Klügeleien, die sich französische Literaten mit beispielloser Überhebung erlauben. Am Ende dieses Artikels werden Sie die Anekdote von den zwei Heiraten finden, die ich Balzac erzählt habe. Auch diese kleine Geschichte ist nicht sehr genau wiedergegeben.«
Die selbsterlebte Begebenheit, die Metternich bei Tisch Balzac zur künstlerischen Ausgestaltung empfahl, fand ich in einer M. P. gezeichneten, über zwei Druckbogen starken Studie »Le prince de Metternich« im Oktoberheft 1835 der Revue des deux mondes und, wohl zu merken, nur dort. Bevor der Autor, der durch die Julirevolution aus einer amtlichen Stellung im Pariser Ministerium des Auswärtigen vertriebene Vielschreiber, Capefigue, 1843 in seinen »Diplomates européens« seinen Metternich-Essay wiederholte, war er Gast auf Johannisberg und gern bereit gewesen, den Text seines Revueaufsatzes für die Buchausgabe den Wünschen des Staatskanzlers gemäß abzuändern und u. a. die Indiskretionen über seine Pariser Liebeshändel, wie den Damenkrieg zwischen der Schwester Napoleons, Caroline Murat, und der Herzogin von Abrantès zu tilgen. Capefigue charakterisierte den Staatsmann Metternich als imponierenden Schöpfer des Kaiserstaates Österreich in seiner damaligen Gestalt. In der Intimität sei der Kanzler ein heiterer Gesellschafter, zu Scherzen, Wortspielen, leichtem literarischen Zeitvertreib aufgelegt; im Notfall verschmähe er auch nicht, aus eigenen Mitteln Anregungen zu geben, und die Stoffe, die Metternich beisteuere, seien nicht die wenigst anziehenden. Eine Probe solcher Erzählungen Metternichs sei Novellisten oder Romanciers als Vorwurf empfohlen. Romeo und Julie sind nicht eine Künstlerphantasie Shakespeares. Heiße Liebe bewegte das Herz einer jungen Dame und ebensosehr die Seele eines jungen Mannes. Der Einspruch der Familien trennte das Paar, das ewig hätte verbunden bleiben sollen. Der junge Mann wurde wahnsinnig, das gleiche Los ereilte das junge Mädchen. Beide kamen in dasselbe Irrenhaus. Dort sahen sie sich täglich. Ein Band neuer Neigung umschloß die Liebenden, die sich nicht mehr kannten und durch keine ärztliche Kunst dazu gebracht werden konnten, einander wiederzuerkennen. Als Metternich zufällig in die Heilanstalt kam, fragte er das Mädchen, warum sie nicht ihren Leidensgefährten heirate, den sie so sehr zu lieben scheine. Sie antwortete: sie habe ihre Wahl längst getroffen, bevor sie diesen zweiten kennengelernt. Jener erste aber, den sie hätte heiraten wollen, sei noch liebenswerter gewesen.
Balzac begnügte sich nicht damit, die merkwürdige, von Metternich verbürgte Begebenheit Capefigue mitzuteilen. Als er sein erstes bürgerliches Drama »La première demoiselle« schrieb, das später in »L'école des ménages« umgetauft wurde, fand seine erste Fassung keine Gnade bei den Theaterleuten, Da griff Balzac auf Metternichs absonderliches Motiv als Verlegenheitsabschluß. An diesem Ausgang nahm der erste Schauspieler der Zeit, Frédérick Lemaître, noch stärkeren Anstoß. Und auch der handfeste Melodramatiker d'Ennery, der auf die Bitte von Balzacs Witwe dessen Komödie durch kluge Striche für die Bühne eroberte, weigerte sich in den fünfziger und siebziger Jahren, diese »Schule der Häuslichkeit« für das Theater einzurichten: »In Balzacs Stück sind meines Erinnerns sehr gute Sachen, vor allem der Charakter eines jungen Mädchens. Aber welche Lösung! Der Liebhaber und die Liebhaberin werden verrückt. Ein solcher Schluß würde ausgelacht werden.« So blieb das Schauspiel ungespielt, das Manuskript ging verloren, nur ein Unikum der Autorkorrektur, das Spoelberch de Lovenjoul in die Hände fiel, gab diesem Sammler Gelegenheit, das Drama 1907 in einem Prachtdruck für Bibliophilen zu veröffentlichen.
Dank hat Balzac dem Staatskanzler – obwohl er ihn und Talleyrand als Meister mündlicher Erzählungskunst lobte – weder für diese Geschichte noch für seine freundliche Aufnahme gewußt. Er überließ ihm keines seiner Manuskripte, wie das der Kanzler für seine Autographensammlung gewünscht haben soll, und er wollte in seiner berühmten Würdigung der »Chartreuse de Parme« Zug um Zug in dem Grafen Mosca porträttreu Clemens Metternich wiedererkennen: eine Ähnlichkeit, die der Schöpfer dieser Gestalt, Stendhal-Beyle, ohne jeden Vorbehalt bestritt. Balzac erklärte trotzdem Metternich nach wie vor für das Urbild eines verschlagenen, von seinen Liebeshändeln u. a. zur Leykam beherrschten Diplomaten alten Stils, der imstande sei, mit seinem trügerischen Blick selbst den lieben Gott irrezuführen.
Über den von Eva scheel angesehenen Verkehr Balzacs mit dem Kreise der Fürstlichkeiten Metternich, Schwarzenberg, Schönburg vernachlässigte er nicht die merkwürdigen, schicksalreichen Menschenkinder in der nächsten Umgebung der Familie Hanski. Evas Tante Rosalie, geborene Lubomirska, kam als einjähriges Kind in die Conciergerie mit ihrer Mutter, die als Freundin der Lamballe bald hernach hingerichtet wurde; eine barmherzige Wäscherin nahm sich der Kleinen an, die die Schreckenszeit heil überstand. Gegen ihren Willen wurde die herangewachsene reiche Polin mit einem Grafen Rzewuski vermählt, der sich mit Hammer-Purgstall befreundete, orientalische Studien trieb, in Abenteuersucht Europa verließ und jahrzehntelang ein Nomaden- und Beduinenleben führte, in dem er es, maßlos verschwenderisch, zum Emir brachte. Nach Ausbruch der polnischen Revolution kehrte er in seine Heimat zurück; in den Kampfeswirren geriet er in Verschollenheit, und erst geraume Zeit hernach wurde festgestellt, daß sein Diener ihn erschlagen und ausgeraubt hatte. Gräfin Rosalie Rzewuska, gleich ausgezeichnet durch Schönheit, Bildung, Wohltätigkeit, bewahrte in den Wechselfällen ihres Daseins aufrechte Haltung. Konservativ und gut österreichisch gesinnt, schrieb sie umfangreiche Denkwürdigkeiten, die sie als ihrem Vertrauensmann Baron Ransonnet hinterließ; aus dessen Nachlaß gelangten sie an die italienischen Schwiegerenkel der Gräfin, die Herzoge von Sermoneta, die mit der Veröffentlichung zuwarteten, weil die Ansichten von Rosalie Rzewuska in Polen Widerspruch zu besorgen hätten. So läßt sich über ihre Beurteilung Balzacs nur aus gelegentlichen Bemerkungen in seinen Briefen an die Etrangère vermuten, daß sie dem Romancier und seiner Lebensführung kühl und kritisch gegenüberstand und Evas Übersiedlung nach Paris nicht gutheißen mochte.
Von ihren Hausfreunden war der dazumal durch die 1829 zuerst veröffentlichte »Nächtliche Heerschau« weltbekannte Baron Zedlitz nicht immer eines Sinnes mit Balzac: er geriet gelegentlich sogar in scharf geäußerte Meinungsverschiedenheit über die den Romancier jederzeit beschäftigenden Fragen ausgiebigen angemessenen Ertrages literarischer Arbeit. Als Oberoffiziosus der Staatskanzlei wird Zedlitz nachmals milder gedacht haben.
Desto besser verstand sich Balzac mit Hammer-Purgstall, der den Erzähler mit Aufmerksamkeiten überhäufte; er schenkte ihm einen Ring, von dem Balzac glaubte, daß er aus dem Besitz des Großmoguls stamme; er war sein Cicerone in der Wiener Hofbibliothek, in der Balzac ein Meßbuch Karl V. als besondere Kostbarkeit bewunderte; er bewirtete den Romancier in seiner Döblinger Villa und ging mit so außerordentlichem Verständnis auf Balzacs Gedanken ein, in seinen Romanen die Kulturgeschichte des zeitgenössischen Frankreichs zu geben, daß ihm der Dichter im Widmungsbrief seines Cabinet des antiques überströmend huldigte als dem Geschichtschreiber und Kulturforscher des Osmanischen Reiches.
Niemand, mit Ausnahme von Eva, sah dem Besuch Balzacs erregter entgegen als Gräfin Louise Thürheim, eine Stiftsdame, die, vierundvierzigjährig, eine geheim gehaltene Liebesheirat mit dem Sekretär ihres Schwagers, eines Fürsten Rasumowsky, mit einem bürgerlichen Franzosen Charles Thirion geschlossen hatte; Weiterungen mit der Familie seiner Frau, vielleicht auch finanzielle Unregelmäßigkeiten trieben Thirion zum Selbstmord. Er vergiftete sich, und seine Witwe fand in einem seiner Bücher mit Bleistiftkreuzen den Satz angestrichen: »Unversöhnlich müssen die Stürme sein, die den Frieden der Seele von der Mündung einer Pistole fordern.« Gräfin Thürheim glaubte, daß Thirion, der für Balzac begeistert gewesen und ihr »seine bezaubernden Schilderungen glücklicher Liebe vorgelesen«, einem Wink Balzacs folgte, als er die Phiole an die Lippen setzte. Nun erfuhr Gräfin Thürheim, daß Balzac in der Goldenen Birne dasselbe Zimmer bewohnte, in dem Ypsilanti krank lag, in demselben Bett schlief, in dem Charles starb. Sie fragte sich, ob den Schlummernden nicht der Schatten des Selbstmörders umwittere? Sie stand Eva so nahe, ihr Herzweh bedrückte sie so sehr, daß sie Balzac ihr Leid nicht verschwiegen haben wird. Er ging liebenswürdig auf ihre Art ein, hörte wohl auch von ihrem Verkehr mit dem Herzog von Reichstadt, dessen sie in ihren 1913 aus dem Nachlaß veröffentlichten »Jugenderinnerungen« in einem lesenswerten Blatt gedenkt; er korrespondierte später mit ihr und widmete ihr seine Geschichte »Une double famille«.
Nicht nur der Adel, dessen »Idol« er gewesen sein will, – eine Aristokratie, von der er nach seiner Heimkehr sagte, sie sei nicht wie in Frankreich verfälschter Adel, vielmehr wirklich noch echter Adel, durchwegs Leute vom alten Stamme – auch Fernerstehende schenkten ihm Anteil. Als er in ein Konzert ging, erhoben sich alle Anwesenden und beim Ausgang drängte sich ein Student an ihn, der ihm – wie Balzac seiner Schwester berichtete – die Hand küßte, mit den Worten: »Ich küsse die Hand, die ›Seraphita‹ geschrieben hat.« Ein Vorfall, der möglicherweise eine Mystifikation war.
Diese reichen geselligen Beziehungen waren nicht allein schuld, daß er nicht zur Arbeit kam. Er prägte sich das Stadtbild von Wien ein. Als rüstiger Fußgänger durchwanderte er die Praterauen. Auch die innere Stadt sah er sich gründlich an. Der Graben, zu jener Zeit die Modepromenade der Wiener, schien ihm kaum so lang, wie der kleinste Pariser Boulevard. Er verglich ihn »einer sonntäglich aufgeputzten Bürgersfrau«. Er vergaß auch nicht, sich in den entlegeneren Vorstädten umzusehen und hatte ein Auge für die Natürlichkeit und Frische des Wiener Volkslebens. Er kaufte für seine Sammlung von Uniformen und Waffengattungen Proben und Prachtstücke, versorgte in der Geberlaune Geschenke für seine Pariser Lieben und überging dabei nicht einmal Werdet, dem er zuvor einen Brief geschickt, in dem es hieß: »In meinen Gesprächen, die vornehmlich meinen Arbeiten gelten, ist Ihr Name, mein Freund, oft genannt und viele Fragen sind im Hinblick auf Sie an mich gerichtet worden. Ich habe mit dem Hinweis auf Ihre Hingebung und Ihre guten Dienste geantwortet und mein Engel teilt all meine Sympathien für Sie; sie liebt Sie, wir sind folglich zwei, um Sie zu lieben. Bei diesem geliebten Wesen hab' ich meine ganze Einbildungskraft, meinen vollen Schwung wiedergefunden. Ich habe Seraphita schon beendet, die Memoiren der zwei Jungvermählten fast beschlossen. In vierzehn Tagen werd' ich in Paris sein und Ihnen all das übermitteln. Glauben Sie mir, mein Freund, nun sind wir, Sie und ich, der eine wie der andere, auf Leben und Tod miteinander verbündet, Sie sind für mich ein »Archibald Constable«, Walter Scotts Verleger, »denn Sie haben seine ganze Redlichkeit und seine volle Hingebung. Eines Tages, und dieser Tag ist nahe, werden Sie gleich mir Ihr Glück gemacht haben, unsere Kaleschen werden sich im Bois de Boulogne begegnen, um Ihre Neider wie die meinigen vor Verdruß bersten zu machen. Ihr Freund H. de Balzac.« Der Brief tat der Eigenliebe Werdets so wohl, daß er eine Weile die in mikroskopischen Buchstaben beigefügte Nachschrift übersah: »A propos, teurer Freund. Ich habe kein Geld mehr, ich habe bei Rothschild 1500 Franken behoben und habe auf Sie einen Wechsel für denselben Betrag, fällig zehn Tage nach Sicht, gezogen.« Werdet hatte sich von seinem Schreck noch nicht erholt, als ein Kassenbote bei ihm vorsprach, der die sofortige Zahlung der 1500 Franken ansprach: Werdet blieb nur übrig, einen Bittgang zu Rothschild anzutreten, der ihm einen kurzen Aufschub bewilligte, zugleich aber den wohlgemeinten Rat gab: »Seien Sie auf der Hut, Hr. v. Balzac ist recht leichtsinnig.«
In Wien schmolzen auch die bei Rothschild entliehenen 1500 Franken so rasch zusammen, daß Balzac an die Heimkehr denken mußte. Er verabschiedete sich von Eva mit den im Gasthof niedergeschriebenen Zeilen: »Ein Liebesbund wie der unsrige schließt die höchste Lust des Menschen, die Wonnen des Herzens in sich; sie führen ihn durch Verzückungen zur Erkenntnis Gottes.«
Der Ton dieses Briefes stimmt zu dem vielfach verstiegenen Stil der nicht ganz abgeschlossenen Handschrift der Dichtung, die Balzac in Wien fast gar nicht förderte: »Seraphita«. Sie versetzt die Leser in die Geisterwelt Swedenborgs. Die Handlung, die in einer mit ihren Gletschern und Fjorden bewundernswert geschilderten norwegischen Landschaft beginnt, endet wie ein geistliches Mysterium, in Himmelssphären, die von Engelschören bevölkert sind. In weltferner Einöde haust ein mit allen Schriften Swedenborgs gründlich vertrauter Pfarrer Becker, dessen unschuldige Tochter Minna dem im gleichen Weiler lebenden Seraphitus in schwärmerischer Ekstase sich zuwendet. Ein zugewanderter Fremdling Wilfried, dessen schicksalschwere Vergangenheit nach seinen tollkühnen Reden nur das Vorspiel seiner Zukunft als weltbezwingender Eroberer sein soll, flammt in höchster Liebesglut für dasselbe rätselhafte Wesen auf, das er für ein Mädchen hält und als Seraphita zum Weib haben will. Pastor Becker, der Leben und Lehre Swedenborgs ausführlich erörtert, um seine Zweifel an der Richtigkeit von Swedenborgs Träumen und Prophezeiungen zu begründen, weiß von der Vorgeschichte Seraphitus-Seraphitas einiges auszusagen. Das wundersame Geschöpf ist ein Abkömmling des Swedenborgschen Geschlechtes. Obwohl Seraphitus-Seraphita in den siebzehn Jahren seiner oder ihrer Existenz niemals aus dem norwegischen Dorf hinausgekommen ist und keinerlei Bildung genossen hat, offenbart das geheimnisvolle Wesen den wetteifernd um Gegenliebe werbenden Minna und Wilfried in Gegenwart von Pastor Becker zur Widerlegung aller skeptischen und atheistischen Gedankenreihen eine Naturphilosophie und Gottesweisheit, die befähigen soll, die dunkelsten Erdenrätsel zu lösen, die verborgensten Himmelsgeheimnisse zu entschleiern. Hienieden frühem Ende geweiht, läßt Seraphitus-Seraphita Minna und Wilfried, die sie einander zu Lebensgefährten bestimmt, Zeugen ihrer Himmelfahrt werden. Seraphitus-Seraphita ist weder Jüngling noch Jungfrau, sie ist ein Engel, der sein menschliches Kleid abwirft, sobald, wie Swedenborg das in seinen Gesichten sah, die Stunde für diese seine Wandlung gekommen.
An wenige Werke hat Balzac mehr Liebe und Mühe gewendet, als an Seraphita. Die philosophischen und naturwissenschaftlichen Kampf- und Friedensreden Seraphitus-Seraphitas sind das Ergebnis selbständiger Gedankenarbeit Balzacs. Das Schauspiel ihrer Himmelfahrt mit den sie begleitenden Sphärenklängen erinnert an die Szenerie des Schlusses von Goethes Faust mit dem Chorus mysticus. Als Ganzes wirkt die Dichtung nicht überzeugend. Und mag man auch die Philosopheme Balzacs im »Livre mystique« nicht kurzerhand, wie Grillparzer das getan, als Hanswursterei abfertigen: unbestreitbar ist, daß er uns auf irdischem und unterirdischem Boden heimischer scheint als in überirdischen Regionen,
Zum Abschluß gedieh das Buch erst in Paris, wo Balzac nach kurzem Halt in München von der Sonne schwarz gebrannt wie ein Neger anfangs Juni eintraf. Böse Heimsuchungen harrten hier seiner. Werdet hatte wohl den Wechsel auf Rothschild mit 1500 Franken, nicht aber zwei andere eingelöst, zu deren Deckung Balzacs in solchen Geschäften unerfahrene Schwester sein Silber versetzt hatte. Die Mutter war schwer krank; die Verleger bestanden auf der Ablieferung fest zugesagter Manuskripte. Dabei kam es zu dem ärgerlichen Zwischenfall, daß der Herausgeber der Revue de Paris Seraphita mit dem Bedeuten zurückwies, er verstünde das Werk nicht, so daß Balzac eilfertig dessen Buchausgabe veranlassen und für die Revue auf Ersatz durch einen anderen Roman bedacht sein mußte.
So zärtlich der Abschied von Eva, so ernstgemeint sein Versprechen gewesen, sobald als möglich wiederzukommen, nur allzu rasch sah er, daß, wie er der Geliebten schrieb, die Reise nach Wien eine große Torheit gewesen, 5000 Franken gekostet und all seine Angelegenheiten in Verwirrung gebracht hatte. Andere Male sagte er sich freilich, daß die Fahrt ihm physisch wohlgetan, daß ihm der Wechsel der Landschaft den Sinn für die Schönheit der Natur geschärft habe, daß ihm »jene größte Kunst, die Natur mit der Seele zu erfassen, aufgegangen sei.« Der Wandertrieb war ihm längst eigen, er hatte sich im Norden und Süden Frankreichs alle Gegenden, die er beschrieb, alle Orte, in die er seine Geschichten verlegte, gründlich angesehen. In der Folge suchte er, wenn er nur irgend konnte, auch außerhalb seiner Heimat Land und Leute durch eigene Anschauung kennenzulernen.
Einstweilen mußte er jeden derartigen Gedanken fernhalten und bald versanken alle Anfechtungen in dem Schöpferglück, das ihn beim Werden und Wachsen seines Liebesromans »Le lys dans la vallée« erfüllte. Sainte-Beuves »Volupté« hatte gleich beim Erscheinen auf Balzac stark gewirkt. In Briefen an Eva und in der Öffentlichkeit wies er auf das Buch hin und selbst nach seinem ungestümen Angriff auf Port Royal in der Revue parisienne schrieb er 1840 in demselben Blatte: »Nach meinem letzten Literaturbrief können Sie mir glauben: trotz seiner zahlreichen Fehler und des verzwickten Stiles hat ein Buch wie Sainte-Beuves Volupté mehr Aussichten auf Bestand als Mussets« (von Balzac rühmend beredete) »Juwelen« (der Novellistik). Die Heldin (von Sainte-Beuves Roman) zeigt eine Seite des weiblichen Herzens, eine Frau, die ihre Liebesempfindung niederhält. Viele schüchterne und hilflose Leute werden empfinden, wie der Held, wie »Amaury« (der Doppelgänger des leibhaftigen Sainte-Beuve in seiner Dichtung), »der an der Klippe zerschellt, statt sie zu fliehen. Endlich ist die Situation, in der der Priester im Gericht der Buße diejenige richtet, die er geliebt hat, nicht geringer als die des Brutus, der seine Kinder richtet.« Ähnlichkeiten in den Motiven von Volupté und der Lilie im Tal sind unverkennbar: im übrigen unterscheiden sich die beiden Romane Sainte-Beuves und Balzacs in den weiblichen und männlichen Hauptgestalten so bestimmt voneinander wie ihre Schöpfer.
»Die Lilie im Tal« spielt großenteils in der Touraine, die Balzac, zumal die Stätte seiner Lieblingsasyle, die Schlösser Saché, Azay-le-Rideau, das Tal des Indre, den Weg nach Chinon in wundervollen lebenstreuen Bildern, in Frühlings- und Herbststimmungen, in allen Bräuchen fröhlicher Weinlesen, auf labenden Wanderungen durch Wälder und in buntem Farbenspiel leuchtender Fluren vor Augen führt. Und nicht allein als Landschafter läßt er Heimaterinnerungen aufsteigen. Die Jugendgeschichte seines Helden Felix v. Vandénesse ist unverkennbar ein Niederschlag eigener Erlebnisse: die Härte der Mutter, seine freudlose Kindheit, die Gleichgültigkeit der Familie, die Demütigungen seiner Hungerzeit in der Pariser katholisierenden royalistisch gesinnten Pension Lepître, die Hänseleien vom Elternhaus besser versorgter Schulkameraden, das und manches mehr wirkt wie ein selbstbiographisches Bekenntnis. In unschuldiger Dumpfheit verdämmert also Felix Vandénesse, der Sproß eines verarmten Adelsgeschlechtes, seine ersten achtzehn bis neunzehn Jahre, bis im Gewühl eines Festes zu Ehren des Herzogs von Angoulème seine lang schlummernde Sinnlichkeit durch den Anblick herrlicher Schultern einer unbekannten reifen Dame geweckt wird, der er, wie das der junge Bismarck auf einem Ball in Aachen einer jungen Engländerin tat, unwillkürlich einen Kuß auf den entblößten Nacken drückt. Im geräuschvollen Getriebe verhallt der Schrei der aufgeschreckten Schönen, die Felix von Stund' an in jäh auflodernder Leidenschaft liebt und sehnsüchtig wiederzufinden bemüht ist.
Beim zufälligen Besuch eines Tourainer Anwesens sieht er die Fremde wieder; sie ist die tugendstrenge Gattin eines Grafen von Mortsauf, in dem Balzac den typischen Vertreter der Emigration verkörpern wollte: einen grämlichen Aristokraten, der in der Verbannung an Leib und Geist siech geworden, trotz der günstigen Wendung seines Loses durch die Restauration sich nicht geändert hat. Unleidlich, halbverrückt, tyrannisch, quält er seine Frau, die, durch alle Vorzüge reiner Weiblichkeit verklärt, seine Launen geduldig trägt, seine Schwächen schonend verschleiert. Sie nimmt Felix anfangs kühl und streng, allmählich aber, durch seine traurigen, den ihrigen gleichenden Jugendschicksale gerührt, mitleidig auf. Seiner feurigen Liebe widersteht sie als fromme Christin, die sich durch die Lehren des »unbekannten Philosophen« Saint-Martin geläutert und durch ihre Mutterpflichten gegen die dem kranken Vater nachgearteten Kinder gefeit glaubt wider Versuchungen. Der Hoheit ihrer Natur beugt sich Felix, auch als er Zeuge ihrer Leiden wird; er dient ihr in selbstloser Hingebung.
Das Erregen, Steigern, Niederhalten ihres Gefühlslebens bildet den Anstieg des Romans; Balzacs Empfindsamkeit schlägt dabei mehr als einmal in Schwulst um; andere Male, so in den (von Taine auch als Muster schöpferischer Prosa herausgehobenen) stummen Huldigungen von Felix' Blumenorakeln, überrascht er durch Feinheit und Reinheit. Am glaubhaftesten wirken die äußerlich unscheinbaren, innerlich aufwühlenden Szenen des Nebeneinanderlebens des Ehepaares und seiner Sprößlinge mit Felix; die Ausbrüche des Grafen, der nichts von der Selbstüberwindung der Liebenden ahnt, seine Frau, die sich ihm versagt, roh beleidigt, kurzum alles, was in dem Boden der Wirklichkeit wurzelt.
Je teurer Felix der Gräfin geworden ist, desto heroischer beschließt sie in verschwiegenen Seelenkämpfen, seine Laufbahn nicht in der Abgeschiedenheit der Touraine versanden zu lassen. Sie besteht darauf, daß er am Hof Ludwigs XVIII. sich betätigt. Er tut sich dort wirklich hervor, weckt das Wohlwollen des von Balzac auch sonst als Ausbund von Geist gepriesenen Königs, der nur den entsagenden Minnedienst des jungen Mannes zum Stichblatt frivoler Scherze im Stil des ancien régime macht. Bald wird die Haltung des »keuschen Cato« Hofgespräch und eine englische Aristokratin, Lady Dudley, setzt sich in den Kopf, mit allen Listen und Künsten Felix in ihr Netz zu ziehen. Ebenso schön als reich, vorurteilslos, vielerfahren in den Geheimnissen gesellschaftlichen Komforts erreicht sie ihr Ziel. Felix wird ihr Geliebter. Der Sieg der übermütigen, herzlosen Kokette scheint ihr nicht vollkommen, bevor sie sich mit Gräfin Mortsauf persönlich gemessen hat. Diese Dulderin hat sich, nachdem sie von Felix' Irrung erfahren, bei seinem späteren Besuch kühl abweisend benommen: Lady Dudley weiß ihr auf einer Wagenfahrt der Gräfin mit Felix zu begegnen und den Reumütigen in einer schwülen Liebesnacht wiederum, wenn auch nur vorübergehend, in ihren Bann zu zwingen. Diese Krisen werfen die Gräfin auf das Krankenlager; sie siecht in rätselvollen Leiden hin. Auch ihre Sinnlichkeit war bei dem wilden Kuß Felix' im Gedränge jenes Festes aufgeflammt; heldenhaft und doch vergeblich hatte sie seitdem die Wallungen der so jählings geweckten Leidenschaft niedergekämpft, ihre Zärtlichkeit für Felix als mütterliche, freundschaftliche Regungen ansehen wollen: auf ihrem Sterbebett bricht die Wahrheit durch – ihr Jammer über das versäumte, verlorene Liebesglück, ein Naturlaut weiblicher Begehrlichkeit, ein Wehruf der um die Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche betrogenen Kreatur, der bei manchen gehässigen oder prüden Lesern je nach dem Temperament ironischen oder entrüsteten Widerspruch erregte.
Die bösartigste Kritik der »Lilie im Tale«, eine richtige Giftsuppe, wurde in der Revue de Paris aufgetischt, das war just dieselbe Zeitschrift, die den Anfang des Romans veröffentlicht, dann aber das Recht verwirkt hatte, die Fortsetzung zu bringen: die Eigenmächtigkeit des Herausgebers der Revue de Paris, der ohne Balzacs Vorwissen den unkorrigierten Text der ersten Abteilung gegen Entgelt in einer russischen Revue nach- oder eigentlich vordrucken ließ, hatte zu einem Prozeß geführt, der den Sieg des Werkes eine Weile hemmte, dann aber nach dem günstigen Ausgang des Rechtsstreites steigerte. Balzac übergab den Fall einem Rechtsanwalt. Sein grimmiger Gegner Buloz betraute mit seiner Vertretung aber nicht nur einen der gefeiertesten forensischen Redner, Chaix d'Estanges, es war ihm ein Leichtes, in der Öffentlichkeit Stimmung gegen Balzac zu machen. Die Tageblätter machten sich lustig über Balzacs falsche Adelsansprüche, die Leiter vieler Zeitschriften, mit denen sich der nicht allzu verträgliche Romancier überworfen hatte, gaben Balzac die bösesten Nachreden als geldgierigem, unpünktlichem Mitarbeiter. Das Tollste aber war, daß Jules Janin, sonst einer der hitzigsten Ankläger des belgischen Nachdruckes, erklärte, in Rußland schädige Nachdruck keinen Autor, er sei vielmehr segensreich für die französische Literatur. Und sechs namhafte Schriftsteller Alexander Dumas, Léon Gozlan, Roger de Beauvoir, Frédéric Soulié. E. Sue, Méry bejahten vor der Urteilsverkündung die Frage des Herausgebers der Revue de Paris, ob sie nicht immer die Mitteilung der Aushängebogen ihrer Artikel der Revue étrangère de St-Pétersbourg zu dem Ende verstattet hätten, dem belgischen und deutschen Nachdruck zu steuern, mit dem Zusatz: sie hätten nie daran gedacht, ihre Zustimmung einem Vorgang zu versagen, der der Revue diene, ohne ihre Interessen zu beeinträchtigen.
Langmütig hatte Balzac diesem Treiben schweigend zugesehen: die Spöttereien der Presse, die Schikanen der gegnerischen Prozeßpartei sollte nur den Spruch des Gerichtes erledigen. In einer der letzten Verhandlungen war aber sein Anwalt durch ganz und gar nicht in diesen Handel einschlagende, von Chaix d'Estanges vorgelegte Briefe früherer Verleger Balzacs überrumpelt worden, so daß an Stelle seines Advokaten der Romancier selbst in zwölfter Stunde Punkt für Punkt die Lügen und Kniffe seines Widersachers entkräftete. Sachlich und juristisch ein Meisterstück der Klarheit, ist diese der ersten Auflage des »Lys dans la vallée« als Vorwort beigegebene Verteidigungsschrift ein urkundliches Zeugnis von dauerndem Wert für die Kenntnis der journalistischen Zu- und Mißstände jener Zeit.
Balzac kannte Buloz genau. Dieser Savoyarde hatte es vom Setzer durch seltene Willenskraft und Wißbegier zum Herausgeber der Revue des deux mondes gebracht; mit erstaunlicher Zähigkeit war er, wie Balzac ihm zum Lobe sagte, von einem bis zum andern Ende von Paris, vom Triumphbogen bis in das Arbeiterviertel von Sainte-Antoine zu jedem abgefallenen Abonnenten gegangen, um zu hören, aus welchen Gründen er die Revue aufgegeben? Und so bedacht er auf den Geschmack der Leser war, so sicher wählte er seine Berater und Mitarbeiter. Buloz verstand, die großen Talente der Jüngeren, Dichter, Kritiker, Männer der Wissenschaft zu werben und zu beherrschen. Mit eiserner Zuchtrute meisterte er die Neulinge; durch keinen Ruhmeskredit geblendet, wies er aber auch Beiträge von Größen zurück, wenn die nicht in den Rahmen der Revue zu passen schienen: eine Selbstherrlichkeit, die mehr als einmal zum Zusammenstoß, ja zum zeitweiligen oder dauernden Exodus von Autoren wie Victor Hugo und George Sand führten. Ein Mann dieses Schlages mißfiel Balzac nicht und bei Beginn seiner Redaktionstätigkeit war Buloz ernstlich bemüht, einen Autor von dieser Bedeutung dauernd für sein Blatt zu gewinnen. Oft hatte er das schlichte Mittagessen Balzacs in dessen Behausung in der Rue Cassini geteilt und in stundenlangen Beratungen hatten sie Zukunftspläne besprochen. Daß es beim Eigenwillen dieser beiden tyrannischen Naturen früher oder später zu Mißhelligkeiten kommen mußte, war vorauszusehen. Allein mit den Geschäftsmaximen Buloz' war es kaum vereinbar, daß er den Mißgriff mit der Petersburger Revue beging. Bei gütlichen Ausgleichsversuchen benahm sich Buloz so herrisch, daß seine eigenen Vertrauensmänner sich zurückzogen; Buloz wähnte vielleicht, daß Balzac einen Waffengang mit einem so mächtigen Widersacher scheuen würde. Balzacs Abwehr räumte mit dieser Einbildung auf. Es war eine unwiderlegliche ziffernmäßige und moralische Abrechnung mit großen und kleinen Gegnern. Aktenmäßig vermochte er, der jedes Blättchen aufbewahrt hatte, die Winkelzüge, Verdrehungen und Verleumdungen der feindseligen, von Buloz geführten Zeitungsleute abzufertigen. Durch seine Bürstenabzüge konnte er nachweisen, daß die Revue de Paris zwei Monate, bevor »Die Lilie im Tale« in ihren Spalten erschien, einen völlig unkorrigierten ersten Satz mit allen Versehen dem Petersburger Blatt überantwortet hatte. Eine ebenso schneidige Abfuhr holten sich die von Buloz als Eideshelfer angerufenen Literaten. Jules Janins windige Redereien ironisierte er nach Gebühr und den sechs Mitarbeitern der Revue, die gegen ihn Partei genommen hatten, hielt er vor, daß mindestens vierundfünfzig andere Hauptmitarbeiter, obenan Nodier, Nisard, Sainte-Beuve, Mérimée, Hugo, Véron, Scribe sich ihrem Schritt nicht angeschlossen, d. h. nicht zu der Ansicht bekannt hatten, unentgeltlicher, von den Autoren nicht gestatteter Abdruck in der russischen Revue sei von Vorteil für die französische Literatur und ihre Jünger.
Das Tribunal, dessen Entscheidung Balzac nicht mit unbedingter Sicherheit voraussah, entschied in der Hauptsache zu seinen Gunsten und verfällte Buloz in die Prozeßkosten. Andere Schadenersatzansprüche, wie sie heutzutage nach Hunderttausenden in einem solchen Falle bemessen würden, konnten beim damaligen Stand der Gesetzgebung über das literarische Eigentum nicht gestellt werden. Balzac erhielt viele Glückwünsche; der Verleger, der den Roman druckfertig bereitgestellt hatte, konnte die zwei Bände der »Lilie im Tale« mit Balzacs in vierundzwanzig Stunden geschriebener, für Buloz und seine Leute vernichtender, dem Gericht übermittelter Denkschrift ausgeben und binnen zwei Stunden 1800 von den 2000 Exemplaren der ersten Auflage absetzen. Hätte noch etwas an dem Triumph Balzacs gefehlt, so wäre es die vorhin erwähnte, von niedrigstem Rachedurst eingegebene Kritik der »Lilie im Tale« in der Revue de Paris, die mit demselben Pseudonym Pickerschill junior gezeichnet ist, wie heimtückische Angriffe Balzacs, die sich ein in der Denkschrift seiner Zweizüngigkeit halber hart mitgenommener Zeitungsleiter Amédée Pichot vorher hatte zuschulden kommen lassen. Die fünfzehn Franken, die »Le lys dans la vallée« kosten, wären besser für einen hübschen Gürtel zu verwenden, heißt es im Eingang dieses einen Druckbogen starken Schmähartikels, der in dem Schlußwort gipfelt: er habe in seinem Bericht über den der Revue vorenthaltenen Abschluß des Romans mehr Unsinn, mehr Albernheiten, mehr geistlose Fadaisen, mehr anspruchsvolle Extravaganzen und mehr Sprachschnitzer verzeichnen müssen, als er in seinem ganzen Leben hören oder sich träumen lassen konnte.
Solches Gegeifer konnte Balzac getrost belächeln: das Wutgebrüll der Feinde überzeugte jeden Unbefangenen, wie wirksam er diese wohlverdienten, wohlgezielten Hiebe ausgeteilt hatte und wie bitter die Wunden seiner besiegten Gegner brannten. Die größte Genugtuung bereitete ihm aber ein Brief von Madame Berny, die schrieb, mit der »Lilie im Tale« habe er die Krone errungen, die sie für ihn ersehnt habe: ihrem einzigen Vorbehalt gegen einzelne allzu sinnliche Wendungen in den Abschiedsworten der Gräfin Mortsauf stimmte er sofort zu durch energische Striche. Der heutige und nicht bloß der heutige Leser wird noch andere Bedenken gegen den Roman haben: wo Balzac in Kunst und Leben lyrische Liebesweisen anschlagen will, wird er leicht preziös oder bombastisch, Töne, die in der »Lilie im Tale« selbst durch die Ich-Form nicht ganz gerechtfertigt werden. Eingekleidet ist die Erzählung in eine Selbstbiographie, die Felix einer Hochadeligen, um deren Hand er wirbt, auf ihren Wunsch über seine frühere Herzensgeschichte schreibt: den Abschluß bildet die Antwort dieser jüngsten Geliebten. Die Weltdame verabschiedet Felix als Freier mit der spöttischen Erklärung, den Wettkampf mit der von ihm geopferten Toten, Madame Mortsauf, ebenso zu scheuen, wie mit dem Andenken der Lady Dudley, die Felix längst den Laufpaß gegeben hat. Offenbar war der Hymnus, den Felix auf Madame de Mortsauf anstimmte, nicht nach dem Geschmack seiner neuesten Herzenskönigin. Er erinnert wunderlich genug an die Loblieder, die Balzac der Etrangère gegenüber zu Ehren von Madame de Berny erklingen läßt: es scheint aber, daß Eva diese Verherrlichung der Vergangenheit nicht störte, wenngleich er bemerkte, seine Madame de Mortsauf sei nur ein blasses Abbild des strahlenden Urbildes von Madame Berny. Daß er in Madame de Mortsauf und Lady Dudley die Französin mit der Engländerin in zwei scharf geschauten Ausnahmsgeschöpfen kontrastieren wollte, die fessellose, selbstsüchtige Sinnlichkeit der Britin mit der jeder Selbstverleugnung für den Einziggeliebten fähigen Tourainerin, war sein gutes Dichterrecht. Daß aber die »christliche Dido«, Madame de Mortsauf, als Gegenfigur der dämonischen, ihre Lüste frei ausrasen lassenden Lady als Antithese von Katholizismus und Protestantismus gedeutet wird, ist der Ausfluß eines leider auch sonst, zumal in seinen historischen Exkursen über Katharina von Medici, geäußerten Vorurteils, das um so verwunderlicher wirkt, als er Luthers Persönlichkeit hoch einschätzt und mindestens in der Vertraulichkeit brieflicher Bekenntnisse, sich als dogmatischer Katholik strenger Observanz nur aus politischen Rücksichten bezeichnet, religiös aber zur mystischen Richtung, zumal der johanneischen des Urchristentums bekennt.
Nach den Aufregungen der Fehde mit Buloz und den außerordentlichen Strapazen seiner Schanzarbeiten für die beiden um die Wette zur Vollendung seiner Bücher drängenden Verleger, Madame Béchet und Werdet, nimmt es nicht wunder, daß er, wie Goldgräber, die aus ihrer Wildnis wieder in die Welt kommen, über die Stränge schlagen, sich wieder einmal gütlich tun wollte. Seiner Eva hatte er beim Lebewohl zwar versichert, daß er sie sehr bald in der Ukraine besuchen würde; er behauptete zur Beschwichtigung ihrer Eifersucht auch immer wieder, daß er sich in seiner Mönchsklausur kasteie. Werdet und seine wackere Wirtschafterin Rosa wußten das besser, und ein etwas überstürzter Ausflug nach Turin war in seiner Vorgeschichte so abenteuerlich wie in seinem Verlauf. Er hatte in der Oper seinen Platz im Kreise der ihm langweilig gewordenen »Tiger« aufgegeben und teilte lieber die Loge mit dem gräflichen Ehepaar Visconti-Guidoboni. Die zweiunddreißigjährige Gemahlin des Grafen, eine ungewöhnlich schöne, geistig überlegene Dame, wurde rasch Balzacs besonderer Liebling. Eine geborene Engländerin hatte sie nichts gemein mit der Lady Dudley der »Liebe im Tale«: ihr lebenstreues Konterfei soll die irisch-katholische Mutter Calystes in »Beatrix« sein, ein Wunderwesen. Die Fama redete und redet von zärtlichen Beziehungen der Gräfin und Balzacs: sicher ist, daß er das volle Vertrauen des Ehepaares in so hohem Maße besaß, daß beide den Dichter baten, zur Ordnung eines Erbschaftsstreites an ihrer Statt nach Turin zu reisen, eine Fahrt, die der kränkliche Graf nicht in eigener Person unternehmen konnte. Balzac, der schon 1831 mit der Marquise de Castries und Fitz-James nach Rom und Neapel sich aufmachen wollte, fühlte sich um so mehr gelockt, dem Anliegen der Viscontis zu willfahren, als sie für die Auslagen sorgen wollten, und sein Arzt ihm dringend nahegelegt hatte, sich zu erholen. Ein kurzer Aufenthalt in der Touraine hatte wenig geholfen. Schon für diesen Abstecher hatte Balzac als Begleiterin eine Bekannte Zulma Carrauds, eine »Freundin« Jules Sandeaus, die gelegentlich sein Tischgast gewesen, geladen: Frau Marbouty, die allerhand Geschichten und dramatische Versuche unter dem Namen Claire Brunne veröffentlicht hatte. Dieser Anregung hatte Frau Marbouty nicht Folge geleistet. Allein sobald Italien als Reiseziel in Aussicht genommen wurde, hörte sie williger auf Balzacs Vorschlag. Der Dichter hatte von Apponyi und dem piemontesischen Gesandten Brignol wirksame Empfehlungen erhalten: aber, so sagte er, wenn ich standesgemäß reisen will, muß ich in eigenem Wagen mit meinem Kammerdiener mich auf den Weg machen, und für ein so kostspieliges Unternehmen reichen meine Mittel nicht; wenn wir aber zu zweien, als »Garçons«, reisen, unsere Barschaften zusammenlegen – Claire besaß angeblich 500 Franken – wird sich die Sache vereinfachen. Balzac hatte bei seinem (in der »Comédie humaine« wiederholt genannten) Modeschneider Buisson so viel Kredit, daß er Claire einen Knaben- oder »Pagen«anzug anfertigen lassen konnte, und so fuhren die beiden vor den Augen des ein wenig enttäuschten, von Neid nicht freien Sandeau davon. Die Route ging über den Mont-Cenis nach Turin, wo Balzac von der Gesellschaft mit großen Ehren aufgenommen und von den Mitgliedern der Akademie begrüßt wurde. Seine Begleiterin hatte sich den Namen des treuen Dieners in den ein halbes Jahr zuvor zur Uraufführung gelangten Hugenotten, Marcel, beigelegt: und obwohl ihre Verkleidung kein Geheimnis blieb, wurde auch sie allerorten wohlwollend empfangen und gelegentlich für die George Sand gehalten: als Gäste des Hofamtes durften die beiden auf königlichen Rossen in die Superga reiten. Balzac machte die Bekanntschaft Silvio Pellicos und dessen hochherziger Beschützerin, der aus dem Geschlechte Colberts stammenden Marquise Barol. Rege Beziehungen knüpften sich mit zwei hervorragenden Juristen, Graf Sclopis und Colla, die den Prozeß der Visconti führen sollten. Der eine dieser Rechtsgelehrten trieb aus Liebhaberei mit der Fachkenntnis eines Botanikers Blumenzucht: ihm stiftete der Dichter im »Cabinet des Antiques« ein Erinnerungsmal. Er gedenkt seiner namentlich auch in Modeste Mignon: auf den Vorhalt eines Bekannten, daß er nichts von der Flora verstände, machte er sich sofort an die Pflege der heimischen Pflanzenwelt, die er in einem achtbändigen Werk, »La nova flora Pedemontese«, behandelte. Zunächst konnte der Prozeß der Visconti durch die Ränke der Gegner und die Unzuverlässigkeit betrügerischer Zeugen nicht zum Abschluß geführt werden, so daß Balzac die Angelegenheit im kommenden Jahr in Mailand auszutragen hatte. Turin und der Heimweg über den Lago Maggiore und den Simplon hatten ihm so wohltuenden Eindruck gemacht, daß er Madame Marbouty 1842 als »Der Poesie der Reise. Der dankbare Reisende« seine »Grenadière« zueignete: späterhin tilgte er diese freundliche Widmung, da die in der Literatur nicht minder als im Leben abenteuerliche Dame einen Schlüsselroman, »Une fausse position« veröffentlichte, in dem Balzac, Sandeau und Planche nicht gut wegkamen.
Das traurige Nachspiel von Balzacs erster italienischen Reise war aber die Nachricht, daß Madame de Berny während seiner dreiwöchigen Abwesenheit verschieden war. Seit Jahren mußte Balzac auf diesen traurigen Ausgang gefaßt sein. Er hatte sie in der Boulonnière bei Némours immer wieder besucht, war Zeuge ihrer Herzkrämpfe gewesen, die sich steigerten, wenn sie durch neue Werke des Freundes im Innersten bewegt wurde. Niemand stellte sein Können höher, niemand blieb aber nach wie vor unbefangener und strenger in der Beurteilung seiner Schöpfungen. Niemandem folgte er gläubiger, bei Lebzeiten und erst recht nach ihrem Tode sie segnend und verherrlichend als seinen Schutzgeist, als sein literarisches Gewissen. Wie tief ihr Gedächtnis in seinem Gemüt haftete, erfuhr Théophile Gautier, als ihm Balzac einmal, ohne ihren Namen zu nennen, mit Tränen in den Augen von der Freundin ohnegleichen erzählte, die Kern und Stern seines Lebens gewesen. –
So tapfer Balzac seinen Strauß mit Buloz ausgefochten und so sehr er sich seines Sieges freuen durfte, nach dem Ausgang des Prozesses war ihm jede Verbindung mit den beiden angesehensten Pariser Revuen abgeschnitten und sein Wunsch, selbst eine Zeitschrift gleichen Schlages in die Hand zu bekommen, war begreiflich. Ein unternehmender Drucker, Béthune, der nachmals den Verlag sämtlicher bisher veröffentlichter Werke Balzacs erwerben sollte, besaß eine zweimal wöchentlich erscheinende, kläglich hinsiechende »Chronique parisienne«, die unter dem Herausgeber der ersten Auflage des »Dictionnaire de la conversation«, einem sonst erfolgreichen Leiter solcher Unternehmungen, Duckett, ein Scheinleben führte. Balzac kaufte Béthune diese »Chronique parisienne« für 100 000 Franken ab, die er in Aktien von je 1000 Franken aufteilte. Er selbst zeichnete 30 000 Franken und bestimmte Béthune und einen redlichen Freund, Regnault, je 10 000 Franken in Aktien zu übernehmen. Duckett, der ihm ein Dorn im Auge war, fand er mit 15 000 Franken ab, die er in befristeten Wechseln zu begleichen sich verpflichtete: die Bezahlung dieser 15 000 Franken übertrug er dem Verleger seiner Bücher, Werdet, der sich zu dieser Belastung nicht eher bereden ließ, als bis Balzac rechtsförmlich dafür Bürgschaft geleistet hatte. Das glaubte der Dichter dreist wagen zu dürfen. Denn diese »Chronique parisienne« sollte nach dem kühnen Feldzugsplan Balzacs in kürzester Zeit alle anderen Revuen überflügeln: sie wurde zu billigerem Preis verkauft, erschien häufiger, konnte auf Balzacs eigene Beiträge bauen und zog jüngere, vielfach noch wenig oder gar nicht bekannte Mitarbeiter in ihren Kreis, die Balzac mit sicherer Witterung für echte Begabung zu wählen wußte. So schickte er, entzückt von Mademoiselle de Maupin, Sandeau in die bescheidene Herberge des Verfassers Théophile Gautier, der dem Ruf dankbar folgte und ein treuer Parteigänger Balzacs werden sollte; Gustave Planche, Charles de Bernard, Alphonse Karr und andere wurden ebenfalls geladen: sie alle stellten sich jeden Samstag am Tisch von Edmond Werdet zu fröhlichen Mahlzeiten ein, bis dann die mit ausgiebigem Durst und Hunger gesegneten Leutchen statt der von Balzac sicher erwarteten Manuskripte lustige Ausreden, Schnurren, wie sie einer Künstler- oder Studentenkneipe anstanden, zum besten gaben. Sie behandelten Balzac ernst- und spaßhaft als ihren Beherrscher. Als er sich einmal verspätete, richteten sie einen Ehrensitz an erhöhter Stelle für ihn her, und Alphonse Karr drückte ihm, als er den improvisierten Thron, als ihm gebührend, bestieg, einen Kranz auf das Haupt: eine Krönung, die einen Lachsturm entfesselte, in den zuguterletzt Balzac selbst, der aussah wie ein Silen, dröhnend einstimmte.
Weniger heiter gestaltete sich das Geschick der Chronique parisienne. Eine Weile gewann sie bescheidenen Zuwachs von Abnehmern: bald aber verliefen sich alte wie neue Abonnenten, so daß Balzacs am Februar beginnende Leitartikel über auswärtige Politik schon fünf Monate später ein Ende nahmen. Und das böseste Nachspiel bereitete der rachsüchtige Duckett der Redaktionsherrlichkeit dadurch, daß er den Dichter wegen der Werdet geleisteten Bürgschaft vor das Handelsgericht zitierte und kurzerhand zur Zahlung, und im Fall der Säumnis zur Schuldhaft verurteilen ließ. Unbarmherzig ließ er den Zahlungsunfähigen durch findige Gerichtsboten verfolgen. Eine eifersüchtige Frau war niedrig genug, Balzacs Versteck (vermutlich in der Behausung der Guidoboni-Visconti) zu verraten. Dorthin ging ein Gerichtsvollzieher, der sich für einen uniformierten Geldbriefträger ausgab. Anfangs leugneten Torwart und Dienerschaft, daß ein Fremder in der Wohnung sei. Die Gräfin, der der verkleidete Häscher vorlog, in seinem Sack, auf den er schlug, seien 6000 Franken in klingender Münze, die er Balzac nur persönlich ausfolgen dürfe, sagte, sie müsse daraufhin Umschau halten. Der Magnet einer unerwarteten Geldsendung zog Balzac wirklich in das Vorzimmer: der Gerichtsvollzieher erklärte den Dichter nun für verhaftet, und nur der Großmut seiner Wirte, die Ducketts Forderung mit Zinsen und Kosten deckten, hatte es Balzac zu danken, daß er nicht auf der Stelle mit dem schlauen Exekutor nach Clichy wandern mußte. Balzac hatte Humor genug, von ähnlichen und noch tolleren Pfiffen und Schlichen gewitzter Gläubiger und Häscher in den »Roueries d'un créancier« zu berichten, und die heitere Geschichte von dem, trotz aller Vorsichtsmaßregeln, überlisteten Schuldner dem – Baron James Rothschild zu widmen.
Verdient hätte die »Chronique parisienne« schon um Balzacs eigener Beiträge willen ein besseres Los. Seine regelmäßig fortlaufenden Artikel über auswärtige Politik, in denen er es Chateaubriand, Lamartine, Hugo gleichzutun wünschte, seine Anläufe, Tagesfragen (die Annexion von Krakau, die spanischen Wirren, die deutschen Hansestädte usw.) welthistorisch zu fassen, sind dilettantisch. Desto bedeutender sind zwei Prachtgeschichten, die er zuerst in der Chronique drucken ließ: die in einer Nacht geschriebene »Messe de l'athée« und »L'interdiction«: beide Erzählungen sind ein Preislied auf seltene, Plutarchs würdige Tugendhelden. Wenn Goethe sagte, nachdem er beim Löschen des Brandes in der Frankfurter Judengasse zuschaute und mithalf, daß just beim gemeinen Mann die schlichteste Tüchtigkeit zu finden sei, so könnte dies Wort das Motto der »Messe des Atheisten« abgeben. Einer der berühmtesten Pariser Chirurgen, Desplein, ist ein erklärter Gottesleugner. Zur Verwunderung eines seiner Schüler besucht dieser Atheist alljährlich ein paarmal verstohlen die Kirche, um eine Messe zu hören. Es ist der Zoll des Dankes, den dieser Ungläubige dem Gedächtnis eines blutarmen Wasserträgers weiht. Als Desplein in seiner Studentenzeit halb verhungert im größten Elend von einem harten Hausherrn, weil er seine Miete nicht zahlen konnte, fortgejagt wurde, nahm sich der Wasserträger, ein Analphabet, seiner an, teilte nicht bloß sein jämmerliches Quartier mit ihm, er gab ihm aus seinem kärglichen Tagewerkerlohn die Mittel, weiter zu studieren und seine Prüfungstaxen zu begleichen. Als der Wasserträger tödlich erkrankte, pflegte ihn Desplein mit Sohnestreue, ließ dem frommen Auvergnaten die Tröstungen der Religion angedeihen und stiftete nach seinem Ende eine Messe, die viermal im Jahr gelesen wird und bei der Desplein nie fehlt.
Auch »Die Entmündigung« hat zwei Ausnahmemenschen als Haupthelden. Der eine, Richter Popinot, ist ein Wohltäter der Ärmsten, ein Vater der Bedrängten, der Kenner der Leiden und Nöte der kleinen Leute seines Viertels. Im Amt ebenso gewissenhaft, durch Lug und Trug der großen Gesellschaft so wenig zu täuschen wie bei seinen Gängen in die Tiefe großstädtischer Verkommenheit, durchschaut er, verkannt und belächelt in seinem schäbigen, altväterischen Aufzug, trotz allem ihn nicht blendenden Pomp die Tücken hoher Herrschaften, die aus Habgier einen gräflichen Ehrenmann entmündigen lassen wollen. Alle Seltsamkeiten des angeblich geistesschwachen Grafen offenbaren sich dem wackeren Popinot als Ergebnis legendarischen Rechtsgefühls: die Vorfahren des katholischen Edelmannes haben in den Religionskriegen eine hugenottische Familie mit niederträchtigen Gewaltstreichen um Hof und Herd und Heimat gebracht: das Gewissen des Edelmannes ließ ihn nicht ruhen, bis er den ganz herabgekommenen proletarischen Sprößlingen der Beraubten ihr Vermögen zurückerstattet hat.
Niemand wußte besser, als der sonst seines Pessimismus halber verrufene Balzac, daß Männer wie der auvergnatische Wasserträger, der Arzt Desplein, der Richter Popinot und der Graf d'Espard in allen Ständen unter Millionen kaum einmal ihresgleichen finden. Hatte er doch in derselben »Chronique de Paris« vom 2. Juni 1836 zum erstenmal die Geschichte seines Rechtshandels mit Buloz abdrucken lassen und in dieser wuchtigen Streitschrift erklärt: »in einem ähnlichen Kampf mit Menschen und Dingen habe Beaumarchais seine beiden Diamanten, den Barbier von Sevilla und Figaros Hochzeit, gefunden«. Es sollte sich bald erweisen, daß auch in Balzacs Erlebnissen mit Zeitungs- und Geldmenschen aller Spielarten Motive zu kommenden Meisterschöpfungen steckten – der Presse seiner Zeit hielt er in den »Illusions perdues«, der Hochbank des Julikönigtums in der »Maison Nucingen« den Spiegel vor. Und aus diesen Stoffen und Stimmungen erwuchsen diese Hauptwerke, die mit Fug und Recht – um ein von Balzac hingeworfenes Wort zu wiederholen – die Iliade der Korruption heißen dürften.