Hugo Bettauer
Die Stadt ohne Juden
Hugo Bettauer

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21. Kapitel

»Mein lieber Jude«

Leo war von der Redaktion der »Arbeiter-Zeitung« aus tatsächlich direkt nach Grinzing gefahren. Lotte, die ebenso wie ihre Eltern von dem Verlauf der Parlamentssitzung bereits unterrichtet war, erwartete ihren Bräutigam am offenen Fenster im Parterregeschoß. Und als das Auto vorgefahren war und Leo sie erblickte, erschien ihm der Weg durch den Hausflur zu weitläufig, mit einem Satz schwang er sich auf das Fensterbrett und schon hielten die beiden jungen Leute einander lachend und weinend umschlungen. Da Leo aber trotz seiner turnerischen Gewandtheit bei seinem abgekürzten Eintrittsverfahren eine Fensterscheibe eingeschlagen hatte, was ein hörbares Klirren und Schmettern verursachte, kamen der Hofrat und seine Gattin aus dem nebengelegenen Wohnzimmer bestürzt herbei und blieben angesichts ihrer Tochter, die von einem fremden, knebelbärtigen Herrn unaufhörlich abgeküßt wurde, überrascht stehen. Bis der Hofrat so energisch zu husten begann, daß Lotte es vernahm und sich blutrot aus den Armen des Geliebten befreite, um ihn ihren Eltern vorzustellen:

»Papa, Mama, dies ist mein Bräutigam, Henry Dufresne...!«

»Recte Leo Strakosch«, lautete die Ergänzung und Leo warf sich auch schon dem Hofrat und dann seiner zukünftigen Schwiegermutter in die Arme.

Nachdem sich die erste Freude und Verwirrung gelegt, tat Herr Spineder das, was ein Hofrat in solcher Situation zu tun hatte. Er sagte:

»Nun, Kinder, erzählt mir einmal alles ordentlich der Reihe nach.«

Frau Spineder aber tat das, was jede andere ordentliche Hausfrau an ihrer Stelle getan hätte. Sie weinte, erklärte vor Aufregung nicht stehen und gehen zu können und lief nach der Küche, um für ein ordentliches Souper zu sorgen.

Die Unterhaltung zwischen dem Hofrat, Lotte und Leo spielte sich indessen im Badezimmer ab, wo Leo sich zuerst mit einer Papierschere den Knebelbart abschnitt, um sich dann zu rasieren und gleichzeitig zu erzählen. Und das war sehr gut so, denn gerade als er rasiert und wieder ein schöner, glatter junger Mann war, ereignete sich ganz Unerwartetes.

Ein Automobil mit Herrn Habietnik, einem sozialdemokratischen Nationalrat und einem bekehrten Gemeinderat fuhr vor und die Herren teilten Leo mit, daß er unbedingt mit ihnen zum Rathause fahren müsse, um sich der dort versammelten Menschenmenge zu zeigen und eine Ansprache des Bürgermeisters zu erdulden.

Sträuben nützte nichts, Leo mußte mit, aber Lotte, die die Garantie dafür übernahm, daß sie rechtzeitig zum Abendessen zurück sein würden, fuhr mit ihm.

Bis zum Schottentor verlief die Fahrt ganz glatt, dann stellte sich ein Hindernis ein. Die Menschenmassen standen hier so dicht aneinander gedrängt, daß das Auto nicht vorwärts kam. Worauf sich der Gemeinderat hinausbeugte und in bester Absicht, wenn auch mit wenig Zartgefühl den Leuten zuschrie:

»Laßt's uns durch! Der Herr Leo Strakosch, der erste Jud, der wieder in Wien ist, muß zum Rathaus!«

Diese Worte waren das Signal zu einem stürmischen Jubelschrei, und das Auto konnte zwar nicht durch, sondern mußte hier mit Lotte warten, aber Leo saß auch schon auf den Schultern zweier handfester Männer und wurde unter dem Jauchzen und Johlen und Hurra-Geschrei der Massen zum Rathaus getragen.

Das schöne Rathaus war wieder illuminiert, sah wieder wie eine brennende Fackel aus und mühsam nur konnten sich die Männer mit Leo auf den Schultern Bahn machen. Fanfarenklänge, Trompetentöne, der Bürgermeister von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon, streckte segnend seine Arme aus und hielt eine zündende Ansprache, die mit den Worten begann:

»Mein lieber Jude! – –«

Ende.


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