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Beates Krankheit im vergangenen Herbst hatte im ganzen sechs Wochen gedauert. Lothar nannte diese sechs Wochen ihrer Krankheit und Rekonvaleszenz die schlimmste Zeit seines Lebens. Er sprach vom Schlimmsten, aber er meinte vielleicht nur etwas Häßliches, das ihm unbequem war. Beates Krankheit nahm ihm das Bißchen gute Lebenslaune, die Lothar Bernwieser, ein ziemlich melancholischer Egoist, zum Dasein nötig hatte. Ihr Unglück erzeugte Schwermut, und Lothar fürchtete Schwermut, die von außen kommt, weil er sie zur Genüge in sich hatte wie alle wahrhaft Schwermütigen. Die Menschen konnten wirklich nett sein und zusehen, wie sie ihn mit ihren Leiden verschonen, meinte Lothar.
Beate lag damals in einem Wiener Sanatorium. Jeden Nachmittag ging Lothar in die ziemlich entlegene Anstalt hinaus. Er nannte diesen Weg – Lothar hatte einen Hang zu Benennungen und Formeln – seinen Spaziergang auf die Schattenseite. Beate hatte ein freundliches Zimmer im zweiten Stock, ölgestrichene Wände, lichte Gardinen, das nach Lysol und zu vielem Lüften roch. Wärterinnen waren auf dem Korridor, lautlos in Filzpantoffeln, sie grüßten und gingen vorüber, sehr harmlos und doch ein wenig gespensterhaft. Beate im Krankenbett war als Körper etwas Fremdes und Unglaubhaftes. Nichts war draußen als ihr Gesicht, ein rosiges Antlitz von tückisch gutem Aussehen, und die Unterarme. Der übrige Körper war weiße Leinwand, weiß, flach, wie verschwunden. Auch sie hatte irgendeinen kranken, unliebsamen Duft von Essenzen oder Waschungen. Tuberosen, fühlte Lothar. Ihm war, als ob er von Beate nur die schönen braungoldenen Haare wiedererkenne und die großen grauen Augen mit den langen kindischen Wimpern, die sich immer wie verwundert aufwärts bogen. Lothar empfand sie in all den Wochen wie ohne Geschlecht. Beate? Ein schwüles weißes Wesen mit Fieber und wehen Lungen, das einmal seine Geliebte gewesen war. Er streifte, wenn sie allein waren, die Spitzen am Ärmel ihres Nachtkorsetts zurück und küßte Beates Unterarm, den er mehr als ihre Hände liebte. Ihre Hände: harte Knochen, lange ausgearbeitete Finger, eine Pianistenhand. Aber ihr Unterarm: köstliche blaue Adern auf einer so sehr zarten Haut, als könnte sie von selbst das rote warme Blut durchrinnen lassen. Lothar verfolgte die blauen weichen Linien, wie sie liefen und verschwanden. Manchmal ein Kuß, ein Zusammenblicken und Stille. Sie sollte ja nicht reden. Beate sah ihm und ihrem Unterarm wie zwei fremden lieben Geschöpfen zu, die sich untereinander freuen sollen. Ihre Blicke hatten das Glänzen der tieferen Worte, die stumm bleiben und in den Augen zu feuchtem vergeistigtem Scheine werden.
Beate erholte sich, stand auf, eine Lungenspitze war nicht mehr wie früher, im übrigen keine Lebensgefahr. Eine Reise nach dem Süden? sprachen die Ärzte ein wenig fragend, als ob es ein frommer Wunsch bleiben müsse. Lothar fuhr auf. Teufel, traute man ihm denn gar keine Aufopferung zu? Lothar war eben nach seiner Promotion, eine Stelle im Unterrichtsministerium stand in Aussicht. Er war mündig, konnte über sein Erbe verfügen. Sechs Wochen Sanatorium, das ging an sich schon ins Geld, gut. Dafür war es der erste Anlaß in den anderthalb Jahren seiner Bekanntschaft mit Beate. Beate erkältete sich, als sie an einem Regentag im Oktober – Lothar empfand es wie Ironie gegen sich – von einer Schülerin kam. Stundengeben, da hatte man's! Lothar fand plötzlich die härtesten Worte gegen Klavierunterricht. Beate ging noch ein paar Tage umher, mit einem kleinen Husten, wie sie glaubte, dann brach sie nieder und hatte Blut auf den Lippen. In ein Sanatorium, verfügte Lothar und war beinahe froh, daß er endlich Vorsehung spielen durfte. Bei ihren Eltern in der schmalen, lärmenden Josefstädterstraße? Unmöglich. Herr Franz Planer war städtischer Beamter, viel Töchter, wenig Gehalt, enge Verhältnisse innen und außen. In ein Sanatorium, sagte Lothar, selbstverständlich. Beate sträubte sich. Sie war in steter übertriebener Sorge, daß Lothar sich nie für sie engagieren müsse, weder gesellschaftlich noch materiell. Die Alten sagten nichts, weil sie vor der diplomierten Tochter großen Respekt hatten, aber besser würde sie es im Sanatorium haben, halt ja –! So kam Beate in die Heilanstalt. Und die Reise nach dem Süden? Lothar war dabei. Er war jung, das Unterrichtsministerium konnte sehr gut ein halbes Jahr warten. Karriere, ganz recht, aber sie war doch mehr ein Dekorativ nach außen; als solches nicht zu missen, wohl aber hinauszuschieben. Lothar sagte, man müsse das Leben immer auf zwei Rossen reiten. Schönheit, ganz recht, aber man müsse doch auch die bürgerlichen Türen hinter sich offen haben. Viel offene Türen in das Unterrichtsministerium und in alles, was diesem entsprach – es konnte nicht schaden.
Erholungsreise nach dem Süden oder nach Davos, rieten die Ärzte. »Sagen wir doch lieber Hochzeitsreise, Schatz, das heißt – wenn wir allein sind,« veränderte Lothar und lachte. Nach Italien und Nordafrika, ganz natürlich. In Davos hatte Lothar nichts zu suchen. Und Hochzeitsreise! Erholungsreise ist etwas furchtbar Nüchternes und klingt nach Zweck. Jetzt müsse den Winter lang bis tief in den Frühling ohne Zwecke gelebt werden, Beate! Nichts als Glück, Sonnenschein, Schaulust, Liebe dürfe das Leben fein. Natürlich auch eine Erholungsreise, aber eine gut stilisierte. Beate hatte einen bösen Auftritt mit ihren Eltern, dann reiste sie. Lothar und Italien, nein, kein Herrgott dürfe es ihr verbieten. »Mit oder ohne Hochzeit, lebt wohl,« sagte Beate. Eine einzige unsichtbare Umarmung, die nicht aufhört, so fuhren Lothar und Beate von Wien weg.
Sechs Monate an der Riviera, in Nordafrika, in Sizilien. –
Am Morgen nach ihrer Ankunft in Amalfi gab's Verdruß zwischen Lothar und Beate. Natürlich wurde dabei kein lautes oder gar häßliches Wort gesprochen, nein. Lothar hatte eine Art, alle Zwistigkeiten des Lebens in guten Formen, gesellschaftlich, zu erledigen. Mit kleinen leichten Gebärden, ein wenig müde, als ob alles, alles im höheren Sinne gleichgültig sei.
Lothar hatte Brief aus der Heimat. Sein gewesener Vormund, ein Schreibebrief, bemerkte er und begann im Bett zu lesen. Beate machte sich ihre Gedanken, während er las. Man wünschte Lothar wieder in Wien zu haben, das war der Brief. Zwar hatte ihm niemand was zu schaffen, aber es gab gewisse Pflichten, an die sich Lothar sehr gern mahnen ließ. Es waren so ziemlich die Pflichten, zu denen Frack und weiße Binde gehören, urteilte Beate. Übrigens war im Brief auch von ihr die Rede, ganz bestimmt. Nun, sie und Lothars gewesener Vormund – Beate fühlte geradezu die Sätze.
Lothar faltete den sechs oder acht Seiten langen Brief zusammen. Er verspürte ein plötzliches, etwas nervöses Heimweh nach dem nützlichen Leben. »Ja, also, Beate, wir werden nun bald über die Alpen wandern müssen!« Er sagte »über die Alpen«, wie um die Sache zu beschönigen. Und – »Beate!« Ob sie ihn anhören wolle oder nicht?
Ja, gewiß, sie höre ja! »Wir werden über die Alpen wandern. Sehr hübsch,« sagte Beate und ließ ihre Blicke anderswo. Lothar errötete ein wenig, bereute seinen Ausdruck, und verwickelte sich gleich darauf in einen neuen Gemeinplatz.
»Kind, jede Hochzeitsreise muß einmal ein Ende haben! – – Pardon, jede Erholungsreise! Jede Reise überhaupt! Man kann doch nicht ewig nur so ins Blaue hineinleben.«
Beate seufzte tiefsinnig. »Nein, das sollte man nicht – ewig nur so ins Blaue hineinleben ...«
Lothar schwieg. Er liebte die melancholischen Ahnungen und Andeutungen andrer nicht.
Das Zimmer war, mit geschlossenen Jalousien, voll heimlicher Morgensonne. Die schlichte weiße Tünche an den Wärmen schien mit dünner grüner Tünche flüchtig übermalt. Ein Sonnenstrahl, ein langer goldner Stab, wie ein Zepter, lag auf dem Fußboden. Etwas höher sah man den Staub im Strahle wirbeln.
Es kam eine unangenehme Pause. Lothar fand im stillen, die Sache liege zu einfach, als daß man sich dazu übermäßig aufregen oder kränken könnte. Sechs Monate Italien, erstklassige Hotels, Komfort und Eleganz, und jenes satte Bewußtsein gesellschaftlichen Sicherseins, das Frauen über alles geht, und nun plötzlich Rückkehr in eine wüste Zinskaserne, ein wahres Armeleuthaus, zu kümmerlichen Schwestern und Eltern – arme Beate, es mochte ihr freilich sauer werden! Nun, diese sechs Monate, er mußte schon sagen, waren eben ein zu hoch gegriffener Gefühlsvoranschlag; das waren sie! Viel zu viel des Guten, als er diese romantisch gemeinte Liebesfahrt gleich auf ein halbes Jahr unternahm! Nun war man sich – also nicht gerade zum Überdruß geworden, nein; zumal die Sinne diese prächtigen, nervenlosen Bestien, gingen noch durchaus Hand in Hand miteinander her; aber die Gefühle – ja, was konnte man für die Gefühle tun? Gefühle haben nun einmal ihre eignen Nerven, und diese Nerven waren jetzt abgespannt, verteufelt abgespannt, Tatsache.
Sechs Monate Zeit müssen jegliche Romantik überleben, Punktum. »Sollen wir uns am schönen Leben wie auf einer wackeligen Krücke hinschleppen? Nein! Liebe Beate, in der Tat...« In diesem Augenblick fragte Beate leise:
»... oder wirst du mich vielleicht nächsten Winter wieder nach Italien mitnehmen?«
Dies schien nicht eigentlich gesprochen, eben nur wie lautgeworden klang es. Lothar horchte auf. Er hörte Wehmut und kindliches Verlangen in ihrem Ton und wurde gerührt. Aber zum Teufel auch, man konnte diesen längst überstandenen Lungenspitzenkatarrh doch nicht ewig mit Rührung betrachten, nicht wahr? Im übrigen mußte man Beate nur anschauen, Donnerwetter, wie sie sich herausgemacht hatte!
Lothar betrachtete einen blauen Streifen in seinem Pigama. Italien im nächsten Winter? Nein. »Das wird kaum möglich sein, wenn ich einmal Beamter bin. Und dich allein fortschicken? So viel Geld hab' ich nicht, das heißt, ich kann's nicht für dich ausgeben, wenn ich selbst in Wien bin. Du weißt ja, wie ich in Wien lebe. Was geben wir denn auf der Reise aus? Täglich dreißig Lire für uns beide, kann man rechnen. Was ist das in Wien? Ein Schmarrn für mich allein. Also du, das geht nicht, sei nicht bös, ich sag' dir's im vorhinein. – Für dich gäbe es jetzt nur eins: wenn ich mich nämlich ganz für dich aufopfern wollte. Wir müßten heiraten und uns irgendwo im Süden ankaufen. Na, und – daß ich das nicht tue, das weißt du doch, Beate! Erstens will ich nicht von Wien fort –«
»Und zweitens?« lächelte Beate, ein wenig boshaft, und schaute ihn an.
»Nichts. Ich kann nicht von Wien fort ... Und doppelte Regie, du im Süden, ich in Wien? Ja, Muzi, ich bin ein armer Teufel und ein Egoist – es geht halt nicht!«
»Allerdings,« dachte Beate, »ein Egoist.« Beate hatte einen etwas tückischen Verstand und manchmal allerlei Gedanken, die sie selbst nicht ausstehen konnte. Lothar rechnete unwillkürlich weiter. Mit Mißbehagen, denn Rechnen, das war nicht sein Stil. Lothars Attitüde zum Geld war sonderbar: »Man darf als Geschmackvoller nur auf eine Art mit Geld in Berührung kommen, indem man es hat und ausgibt.« Als der Fabrikant Bernwieser starb, meinte die Familie, Lothar möge fertig studieren, dann aber in das Geschäft eintreten. Man sprach von bloßer Repräsentation oder von der Leitung des Wiener Bureaus. Lothar lächelte. Er und ein Bureau? Das könne gut werden ...! Lothar ließ sich sein Erbteil ausbezahlen, einige hunderttausend Kronen, damit nahm er vorlieb. Es war nichts, mit dem verglichen, was Bruder Alois behielt – zwei böhmische Fabriken, nun ja –, aber Lothar brauchte sich um nichts zu kümmern, und das war Stil. Geldbesitz? Ja! Gelderwerb? Nein! »Alles muß von selbst so sein, wie ich es wünsche oder brauche; ich freue mich dessen, aber daß ich darum stritte? Nein!« Das war Stil. Lothar hatte eine etwas ängstlich eng bestimmte Persönlichkeit und verwaltete sie, wie alle kleinen Tyrannen regieren – wenig Gebiet, überall Grenzen, leidenschaftliche Angst um diese. Lothars Grenzen hatten auch noch einen besonderen Zug zum Engerwerden, er wußte es. Sein Reich schrumpfte mit dem Altern. Ja, was konnte man tun? Die Grenzpfähle hüten, sonst nichts. Und wollte Fremdes herein: »wegschmeißen, drauftreten wie auf eine schlechte Zigarette,« sagte Lothar; eine Redensart, die er gern gebrauchte.
»So! Und jetzt stehen wir auf. Genug vom schwülen Gespräch.« Lothar ging zu Beate und hob ihren Oberkörper hoch aus dem Bett wie eine Puppe. Er trug und küßte sie: »Du wirst schon gesund bleiben, Katzi, paß nur auf. Man wird auf dich achtgeben, Liebling!« Beate schlang die Arme um seinen Nacken und hielt sich fest; sehr hübsch war es, so halb gewiegt und halb getragen seine Kraft zu spüren. Sie wollte gar nicht mehr ins Bett zurück: »O du! Halt mich nur so, da bin ich gut bei dir! Ich muß die Zeit ausnützen, die ich noch bei dir bin; dauert eh nimmer lang! – Geh zu, Lothar, ich bin so verstimmt!«
Lothar warf mit einem Ruck die Fensterläden auseinander. Ein ungeheures Leuchten fiel plötzlich ins Zimmer wie ein massiver gelber Gegenstand.
Der Tag.
Weiß wie glühender Stahl blitzt der Golf. Es ist, als ob der Sonnenball schmelzend vom Himmel gefallen sei und auf dem Wasser auseinanderfließe. Ein zweiter See flutet im Meer, metallisch blank und goldig mit flachen blauen Ufern, die starr scheinen.
Jetzt: ein rotes Segel auf dem See von Gold –
Lothar trat vom Fenster weg und preßte seine Finger auf die Augen. »Es ist nicht zum Ertragen. Übrigens, du, dieses Amalfi! Ich muß immer nur den Kopf schütteln. Es ist, um sich die Zunge auszuschneiden! Solang' man die nämlich hat, probiert man's immer noch mit Worten. – Hier bleiben wir lang. Ich rechne, zwei Wochen. Na also! Bist zufrieden, Muz?«
Ja – sehr – ob es nicht doch zu fad wäre für zwei Wochen, eine lange Zeit! Was sei denn schließlich an dem ganzen Amalfi außer der schönen Aussicht? Ein häßlicher Ort, lauter Bettler und schmierige Fratzen; dann ein Hotel, das keines ist, sondern einmal ein Kloster war, sehr eng und unbequem; ferner eine Terrasse, die berühmte Pergola, ja, einzig schön, zugegeben. Aber wenn man aus dieser zwanzig-, dreißig- oder in Gottes Namen hundertmal auf und ab spaziert sei?
Lothar hatte ein tiefes weiches Lächeln in seinen Augen, in denen hinten irgendwo zwischen vielem Blau ein Fleckchen Schwärze steckte wie gekauerte Schwermut. Er sagte: »Addiert – subtrahiert – dividiert – es stimmt! Natürlich stimmt es nicht. G'scheit bist du schon, Muzl, nur leider so – ich weiß nicht – so himmelblau gescheit!«
»Himmelblau? Hihi ...«
»Ja. Ich meine, immer so praktisch, besonnen, vernünftig, in Heiterkeit – himmelblau. Na also. Komm jetzt frühstücken. Und fasse dich in Gottes Ratschluß und sein Amalfi. Wir bleiben zwei Wochen.«
Beim Lunch, an der Table d'hote, waren wenig Menschen. Mitte Mai, Saisonschluß, Nachzügler, so schaute die Table d'hote aus. Beate seufzte und Lothar zuckte die Achseln. Was ihn das angehe, er sei doch nicht wegen der Leute da! Und er grüßte jemand, der vis-à-vis saß. Beate schaute auf –?
»O, guten Morgen, guten Morgen!« Der hübsche schwarze Engländer, keine Ahnung, wie er hieß, eine Hotelbekanntschaft aus Syrakus. Ein netter Mensch, mit viel echter Ehrfurcht in den Augen; ein wirklicher Ritter, etwas ledern und zu bescheiden, um sich auch nur vorzustellen. Immerhin ein bekanntes Gesicht, eine Ansprache, gut, daß er hier war. Der junge Engländer mußte ein wenig schreien, so oft er zu Beate oder Lothar schräg über den Tisch hinübersprach. Er hatte eine klirrende helle Stimme, spröd wie Glas und so durchsichtig. Auch was er sagte, war immer wie gläsern – spröd, aber durchsichtig. Lothars Organ war anders: sehr tief und verschleiert, es ermüdete leicht, hörte dann im Sprechen auf und konnte erst recht zu raten geben, wenn die Worte weg waren. Beate verstand es, über Lothars Stimme nachzudenken, ohne ein Wort zu hören.
Zwei Schwestern, ältliche Engländerinnen in Trauer, saßen gegenüber. Sie lächelten viel und hatten zweimal ganz allein Reisen um die Welt gemacht. »Zwei schwarze Schwestern allein um die Welt,« dachte Lothar, »das fängt wie eine Ballade an.« Die eine verstand es unvergleichlich, eine Orange zu schälen oder einen benagten Hühnerknochen zwischen den Fingern zu halten, bei gleichgültigen Äußerungen im Gespräch:
»Wir finden beide, daß Neuseeland entzückend ist, besonders im Sommer, nicht wahr, Grace?«
Auch der junge schwarze Engländer sprach vom Reisen. Sehr interessant sei es, wenn man südwärts über den Äquator reise, den Wechsel der Sternbilder am Himmel zu verfolgen. So zum Beispiel in Indien, das südliche Kreuz und so, ganz wunderbar!
Lothar bestritt das, in Höflichkeit. Denn Indien liege gar nicht jenseits des Äquators, folglich –
Nicht? Wo denn sonst sollte Indien liegen?
Nun, diesseits, sehr einfach. Ceylon sei ja recht nahe am Äquator, aber doch nicht auf der südlichen Halbkugel.
So? Aber Britisch-Ostafrika, Sansibar, Mombassa und solche Orte? Die seien doch auf der südlichen Hemisphäre? Und der Engländer nickte lebhaft: sehr richtig, also dort! Das meine er eben, dort sehe man die anderen Sternbilder! Sehr entzückend zu beobachten, in Indien und Ostafrika und solch tropischen Ländern.
»Wie lang haben Sie Absicht, sich aufzuhalten in Amalfi?« fragte er deutsch und schaute Beate an. Blanke braune Augen hatte der junge Engländer, und eine glatte, glänzende Stirn.
»Zwei Wochen,« antwortete Beate. Sie dachte an sein unendlich zärtliches und aufmerksames Benehmen in Syrakus. »Wie lang bleiben denn Sie?«
»O! Ich habe sehr viel Zeit! Ich weiß nicht genau – ungefähr zehn Tage mehr oder weniger.«
Beate senkte ihr Gesicht, um ein Lächeln zu verstecken. »Aber hatten Sie nicht in Syrakus gesagt, daß Sie noch eine Woche in Sizilien bleiben wollen?«
Der Engländer errötete. Im Gesicht war nichts davon zu sehen, aber in den Augen flimmerte ein unruhiger Schatten, das war sein Erröten. »O ja, ich war im Begriff, Taormina zu besuchen. Aber sehen Sie, Madame, es ist ganz egal für mich, an welchem Ort ich sitze; es ist ja doch nur, um die Zeit zu verbringen. Amalfi oder Taormina – es ist ganz dasselbe für mich. Well, so bin ich jetzt eben in Amalfi, haha ...«
Beate hatte ein spitzes, funkelndes Lächeln in den Augen. Lothar beobachtete und verstand sie wie auch den Engländer, schon seit Syrakus. Gut. Das war nichts Beunruhigendes, solang' er es beobachtete und verstand. Seine Frau gefiel den Leuten, natürlich, warum nicht? Wenn man ihr den Hof machte, so lobte das doch immer nur seinen Geschmack. Er fragte englisch, ein wenig examinierend, ohne Fragezeichen im Ton:
»Wie gefällt Ihnen Amalfi.«
Der Engländer verzog die glatte Oberlippe. Amalfi? » Quite a rotten place! Kein elektrisch Licht in den Räumen! Keine Hall, kein ordentlicher Smoking-room, miserable kleine Kammern –«
Dafür sei es eben ein aufgehobenes Ordenshaus!
Der Engländer entgegnete Deutsch, nach einem schnellen Blick auf Beate: » Well, ich denke, wenn ich in einem Hotel wohnen will, muß ich mich nicht bekümmern, was es früher war, nicht wahr, Madame? Ich finde, ein Kloster ist ein sehr schlecht gewähltes Gebäude, um ein Hotel hineinzusetzen. Wir sind doch keine Mönche, haha ...«
»Nein. Aber Amalfi selbst, der Ort?«
»Sehr schmutzig, viele Bettler und abscheulich freche Kinder!« Beate strahlte mit dem ganzen Gesicht Zustimmung. »Hörst es, Lothar? Andre Leute sagen's auch! – Mein Mann lacht mich nämlich immer aus, wenn ich so was sag'!«
Lothar amüsierte sich. Käse und Obst wurden serviert, schade. Ein netter kleiner Kauz.
Verbeugungen – guten Tag allerseits.
»Du, Lothar, wie gefällt dir der – der schwarze Engländer aus Syrakus?«
Lothar gähnte wie zufällig. »Gar nicht! Dieses Selberlachen über so dumme Witze! Schauderhaft. Außen schäbige Kleider, innen schäbige Ansichten. Ein Outsider, möcht' man bei uns sagen. Ich liebe von Engländern nur die Swells, weißt? Du solltest Oxford kennen, da sieht man den Typ, den ich meine. Britische Jünglinge, Donnerwetter! Das hat dir Rasse, Klasse und Stil wie eben alles in Oxford. Aber der da? Ich habe noch nie einen besseren Engländer gesehen, der so gar nichts von einem Swell an sich gehabt hätte wie dieser.«
Am Nachmittag ging man auf die Terrasse, Tee zu trinken. Beate saß nieder, der Engländer war schon da, mit einer Verbeugung: »Ich störe nicht, setz' ich voraus.« – »Durchaus nicht,« antwortete Lothar, »sehr erfreut.« Beate sah Lothars Augen, die ohne Gegenstand ins Ferne blickten, und eine gewisse Krümmung im blonden kleinen Schnurrbart. Lothar ärgerte sich also. Nun, wenn Lothar sich ärgerte, daß der Engländer bei ihnen blieb, warum sagte dann Lothar, daß es ihn freue? Es war ja auch ihr nicht recht! Lothar konnte bisweilen das Wohlerzogene kriegen, einfach unausstehlich.
Der Engländer klopfte mit einem Siegelring auf die Blechplatte des Tisches. » Waiter, two whiskies with soda!« – Lothar bedankte sich, er trinke keinen Whisky.
»O, tun Sie nicht? I'm sorry! Whisky ist das einzige gute Getränk, das Sie in Italien erhalten können, haha ...« Sonor im Brustkasten, oder noch tiefer, im Bauch, saß das Lachen des Engländers. Wie aus einem Brunnen holte er sein Gelächter herauf, es triefte noch und knurrte von tief inwendigem Behagen.
Eine dunkelbraune Flasche James Buchanan, Old Scotch Whisky, kam auf den Tisch; ein gewaltiger blauer Syphon, Gläser, eine Tablette. Der Engländer schenkte ein, spritzte, mischte, rührte. »Bemerkenswert, wie hoch und weit er seine Ellbogen zu spreizen versteht,« dachte Lothar. Lothar hatte sich noch nicht gesetzt, wohin auch? »Auf die Whiskyflasche, zum Teufel?« Der Tisch war klein, lauter Whisky und kein Tee ...
»Pardon, einen Moment, ich komme gleich wieder!« Das war ziemlich brüsk, aber dieser Engländer? Der hatte doch ein Fell ...
Lothar ärgerte sich, daß er sich ärgern konnte. Eifersucht? Nein. Das paßte zu ihm – ungefähr wie eine rote Krawatte zum Frack.
Lothar ging und unterhielt sich mit dem heiligen Petrus bei den Kapuzinern. So nannte er Don Andrea, den reichen alten Pächter des Hotels zum Kapuzinerkloster. Don Andrea, der Greis, entzückte Lothar. Ein edles, ebenmäßiges Gesicht, rotbraun wie Gerberlohe, ein runder, weißer, ordentlicher Vollbart, halb alter Fischer, halb Apostel, das war Don Andrea, der Mensch. Für Lothar gab es überdies auch einen zweiten Don Andrea, das Bild: Don Andrea barhaupt, mit Toga und Sandale, den Schlüssel in der Hand, ein spätgeborenes Modell für Leonardo oder Luca Signorelli! Es gibt Leute, die ihr Kostüm nicht haben; solche Leute muß man sich ergänzen, meinte Lothar.
Nun saß Beate mit dem Engländer und schwieg und schmollte, weil Lothar sich verjagen ließ und der Engländer langweilig war. Der Engländer – nein, diese Blicke! Ergebenheit, Bewunderung, schön, aber das war doch auf die Dauer kein Gespräch! In Syrakus war er ganz unterhaltend gewesen. Glaubte er, in Amalfi müsse schon sie fürs Gespräch sorgen? Avancen? Oho! Das war ja zum Lachen!
Der Engländer bat um die Erlaubnis, seine Pfeife zu rauchen. Er gefiel Beate, wie er mit der kurzen braunen Pfeife im glatten jungen Antlitz regungslos dasaß. Beate fand Engländer nur in der Ruhe, Franzosen nur in der Bewegung hübsch.
»Wo haben Sie eigentlich so gut Deutsch gelernt?« fragte Beate.
»In Bremen.« Der Engländer hatte in seiner Jugend zwei Jahre in Bremen zugebracht. In seiner Jugend? Nun ja, sagte der Engländer, er sei fünfunddreißig. Beate konnte das gar nicht glauben. Mit diesem glatten, frischen Jünglingsantlitz fünfunddreißig Jahre? Ganz prächtig sehe er dann aus! Wunderbare Rasse, diese Engländer, staunte Beate. Was er denn in Bremen getrieben habe? Sein Brot verdient, sagte der Engländer, als Clerk in einem Exporthaus. Er erklärte Beate, was sie sich unter einem Clerk vorzustellen habe.
»Ich bin jetzt Eigentümer eines Exporthauses, ich selbst. Miteigentümer, exactly.«
Exporthaus? Beate stellte sich etwas ganz Unbestimmtes, aber Großes vor. Sie fragte vorsichtig: »No, und – was exportieren Sie denn?« Eine Frage wie auf Fußspitzen.
»Alles!« erwiderte der Engländer mit rundem, großem Ton. »Alle Sorten von Dingen! Hauptsächlich alte Kleider nach dem Orient. Aber auch Waffen, Schießpulver, Baumwollwaren, Stahlerzeugnisse, alles, was gut ist, um Geld damit zu machen. Und alles nach dem Orient.«
»So. Da sind Sie also eine Art ... Hausierer en gros, nicht wahr?«
Der Engländer fing zu lachen an.
Beate fragte besorgt, mit kleiner Stimme:
»Hab' ich was Dummes g'sagt? – Sie, is das gar so dumm, was ich g'sagt hab'? – Nein, wie kann man nur ein Frauenzimmer so auslachen! Ich kann doch nichts dafür ... ich kenn' mich eben nicht aus mit Geschäften.«
Der Engländer wurde still. Nur zwischen seinen Wimpern hing noch ein Restchen Heiterkeit wie ein Staubkorn, daß er zwinkern mußte. Er zwinkerte ein wenig: » O I see, I see. Der Herr Gemahl ist nicht Geschäftsmann, ohne Zweifel?«
Nein, der Herr Gemahl – Beate sprach unwillkürlich einen kleinen Gedankenstrich – sei Doktor der Rechte und soll demnächst die Staatskarriere einschlagen.
»Sehr schöne Laufbahn, in der Tat.« Der Engländer machte eine hohle Faust vor den Pfeifenkopf und führte behutsam das Zündholz über den ausgebrannten Tabak hin und her. »Wahrscheinlich Diplomatie oder Ministerium, nicht wahr? That's all right! Einen gutsituierten Vater muß man zu so was haben, bei uns in England wenigstens.« Beate lachte ziemlich boshaft. »Auch bei uns in Österreich!«
No doubt! – Well, meine Leute haben mich nicht mehr unterstützt, seit ich vierzehn Jahre alt war. Ich kam von Belfast – ich bin nämlich Ire von Geburt – nach Glasgow und hatte keine zwei Schilling in der Tasche; ich glaube nicht, ich hatte soviel. Ich habe mich selbst emporgemacht, ganz allein, und ich bin sehr stolz darauf, ich muß sagen. Heute haben wir ein Geschäft – well, ich will Ihnen bloß sagen: we turn, wie sagt man schnell? Wir bringen in Umlauf zwei Millionen Mark per annum! Waren im Werte von zwei Millionen Mark jährlich. Mister Cox in Glasgow hat über hundert Angestellte. Und ich habe in Alexandria ungefähr fünfzig.»
»In Alexandria? Wieso in Alexandria?»
»Wir haben dort eine Filiale errichtet, vor drei Jahren. Sehr wichtiger Posten für den Warentransport nach Indien und Britisch-Ostafrika. Sehr günstig, in der Tat. Ich mache mit fünfzig Clerks in Alexandria beinahe ebensoviel Geld wie Mister Cox in Glasgow mit hundert.»
Beate meinte höflich: »O! Da sind Sie ja sehr zu beneiden.»
»Haha ... Madame, sagen Sie das nicht! Ich sollte glauben, niemand, der verheiratet ist, kann einen Junggesellen ernstlich beneiden! Ich wenigstens kann mir nichts Schöneres denken, als Kinder zu haben!«
»Kinder?!« wiederholte Beate, »Kinder? O ja. Warum nicht?«
»Nun freilich – warum nicht, haha ...? Dazu ist man doch verheiratet.«
Beate hatte eine unangenehme kleine Falte zwischen den Augenbrauen. »Ja, gewiß, dazu ist man freilich – verheiratet.«
»Zweifellos!« nickte der Engländer.
Der Engländer war also ein bißchen ein Schaf.
Lothar, in einem lichten Flanellanzug, kam aus dem tiefschwarz gewordenen Schatten des Pergolato. Groß, schlank, mit etwas weibischen Hüften in dem stark taillierten Sakko, vornübergebeugt, aber Kreuz hohl, bloß in den Hüften wie in Scharnieren geknickt. Sein blasser, geistreicher, etwas fanierter Knabenkopf blickte matt, wie in Melancholie.
Beate fühlte ihre Zärtlichkeit wie Wehmut, als sie ihn sah.
» Good evening, Sir. – Muz, geh, zieh dich an, es wird Zeit zum Essen.«
»Ich geh' schon. Du, Lothar, komm her ein bißl: hörst, laß mich nicht so viel mit dem Menschen allein, ich könnt' mich einmal damisch verschnappen ...«
Der Engländer machte sich an seiner Pfeife zu schaffen und begann sich im Stuhl zu räkeln, als Beate fort war. Lothar stand aufrecht und blickte nach dem Abendhimmel.
Eine bauschige weiße Wolke, sehr tief hängend und schwer, fing rot zu glühen an wie ein ungeheurer Knäuel Wolle, der in Flammen aufgeht. Die Sonne war hinter den Bergen, die Küste dunkelte, oben auf der Wolke war noch Tag. Wie ein Spiegel war die weiße Wolke und trug der Sonne Bild. Unter der Wolke flackerten die Wellen dunkelrot, als regne es Blut vom Himmel.
Lothar blickte den rauchenden Engländer an. Er mußte jetzt etwas reden, artigerweise. Der Mann hatte sich den halben Nachmittag mit Beate beschäftigt. Lothar sagte herzlich und eindringlich:
»Schauen Sie, welch wundervolle Wolke!«
Der Engländer nahm mit sichtlicher Überwindung die Pfeife aus dem Mund. »Sehr bemerkenswertes atmosphärisches Phänomen, in der Tat.« Er drehte den Kopf wieder weg und griff mit den Lippen nach der Pfeife.
Lothar empfahl sich, er müsse rasch noch einen Brief schreiben, guten Abend.
»Willst du heute mit mir nach Ravello hinaufgehen, Beate?« fragte Lothar beim Frühstück, es war ein prächtiger Morgen. Beate sagte nein! Bei dieser Hitze? Bestimmt nicht. Übrigens habe der Engländer erwähnt, der Fußweg dort hinauf sei elend, lauter Stufen, und die Fahrstraße voller Staub. Da bleibe sie lieber daheim im schattigen Pergolato.
Lothar machte eine knappe kleine Geste – es ist erledigt – und sagte: »Wenn das Vereinigte Königreich gesprochen hat, muß Europa stillschweigen.« Beate nahm des Engländers Partei. Ein sehr netter, harmloser Mensch, seelensgut, gar nicht dumm, wahrscheinlich sehr tüchtig in seinem Geschäft –
»Tüchtig! Aha!« Lothar strich Butter auf geröstete Brotscheiben. Beate fiel's auf die Nerven, wie sein Messer das harte Brot kratzte. Er sagte, butterstreichend: »Laß gut sein, Muzi. Für deinen Engländer genügt ein Wort: kleiner Koofmich. Pardon. Ich stamme schließlich selbst von Kaufleuten ab. Aber kleiner Koofmich, das ist bös. Zumal in einem Hotel wie diesem, wo es vor Mitmenschen kein Ausweichen gibt.«
Beate schmiegte sich an Lothar, sie hatte große Augen voller Blick und Treue. »Geh, Lolo, sei nicht so! Ich kann ja nichts dafür, daß uns der Engländer nachgeht. Laß mich halt nicht so viel allein ...«
Lothar schleuderte seine Hände in die Luft und stand vom Tisch auf. Was denn sonst solle er tun? »Der Mensch ist, wo du bist; er geht mir nicht aus dem Weg, na, da muß eben ich ihm aus dem Weg gehen, das ist doch klar! Ich vertrag' ihn nun einmal nicht! Na! Gib mir einen Kuß, Beatl, und auf Wiedersehen heute abend.«
Beate bekam ein Gefühl, sie müsse ihm etwas Nachrufen, wozu es allerdings zu spät war, Lothar war weg.
Im Laubengang des Klosterhotels zitterte gedämpftes, stark orangegelbes Morgenlicht. Breite gelbe Markisen hingen zwischen den weißen Säulen und verdunkelten den Tag. Auf dem Boden flimmerten Strahlenkringel. Zwischen Vorhang und Säule klaffte regelmäßig ein schmaler Spalt. Hier war es, als ob die Sonne eine scharfe goldene Axt sei und leuchtende dünne Kerben in den braunen Boden des Pergolato schlüge.
Beate begann recht verzagt in der Pergola auf und nieder zu spazieren. Die Luft stockte in dem abgeschlossenen Laubengang, umspülte sie wie laues Wasser oder die feucht erhitzte Luft in einer Treibhausallee. Sie zählte vor Langerweile die Säulen der Wandelbahn. Siebenundzwanzig dicke weißgetünchte Säulen. Und sie wurde mit jeder Viertelstunde erboster gegen sich, weil sie nicht mit Lothar nach Ravello gegangen war.
Beate erstieg gemächlich die Terrassen des Klostergartens. Auf der niedrigsten waren Gemüsebeete, daneben zwischen Mauern der Orangengarten. Beate stieg auf eine Bank und pflückte sich ein Paar blutigrote überreife Apfelsinen. Über dem Orangengarten standen Terrassen mit Obst-, Öl-, japanischen Mispelbäumen und einzelnen jungen Zypressen, biegsam schlanken Kerzen, die mit schwarzer Flamme brennen. Sie kroch mit geducktem Rücken unter niedrigen Zitronenspalieren kreuz und quer und lachte, wenn sie mit dem Schopf an eine Frucht stieß. Ein schönes Muster, die vielen gelben Tupfen aus dem grünen Grund!
Endlich gelangte sie an den natürlichen Zaun des Gartens. Es war ein ungeheurer kahler Felsabsturz, dünne kleine Rinnsale rieselten endlos aus der senkrechten Höhe herunter; Bleiröhren, Ziegelkanäle, eine gewaltige Zisterne fingen das Wasser ein.
»Herrgott, hier könnte man Limonade trinken ...«
Beate guckt ängstlich an der unheimlichen Bergwand empor. Sie hat die Sonne im Rücken und doch weht ihr wie von einem Fächerschlag aufgewühlte Glut ins Gesicht. Die Strahlen stauen sich vor der Bergwand und glühen vor Zorn, daß sie nicht weiterkönnen. Der Fels brennt dunkelrot wie eine feurige Ofentür. Obenauf, scheinbar hart unter dem starrblauen Himmel, steht ein Häuschen und beugt sich über den Abgrund, es schielt gleichsam in den Kapuzinergarten hinunter.
Beate steht still und horcht in den Mittag. Kein Laut, nur ein unbestimmtes, webendes, sommerliches Summen ringsumher. Das feine Plätschern des fallenden Wassers. Draußen tief und weit das Meer, ein großes wehtuendes Glänzen ...
Sie war sehr zufrieden mit sich und ihrem Vormittag. So zufrieden, daß sie beim Lunch kaum zwei Worte mit dem Engländer sprach. Sie stand auf, nickte, ging in den Salon und setzte sich, um unangreifbar zu sein, an den Flügel.
Sie fühlte Lothar hinter sich. Lothar, der in Ravello war. Was sollte sie ihm nun spielen, dem Lothar, der neben ihr stand und zuhörte? Gewiß wieder die Sonate für das Hammerklavier, die liebte Lothar über alles. Beate sehnte sich jetzt irgendwie nach der Hammerklaviersonate. Eigentlich nur nach Lothar, doch Beate verwechselte das. Ja, und bestimmt war es sehr traulich, dem Entfernten vorzuspielen ...
Sie hob die Arme und überlegte sich die ersten starken Takte der Sonate. »Die müssen klingen wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts!« verlangte Lothar. »Musik zum Fresko Michelangelos! Ich muß erbeben!« Lothar konnte keine Taste richtig anschlagen, aber theoretisch spielte er immer besser als andere Leute.
Also: wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts ...
Gut, daß Lothar nicht dabei ist, dachte Beate. Sie schmeichelte das zweite zärtliche Thema von den Tasten, die Kantilene geriet ihr besser als die Kraft, sie kam in Schönheit zur Fermate. Beugte den Kopf über die Tasten und horchte den Tönen nach: eins, zwei, drei, vier – die Fermate wollte gar nicht aufhören –
Der Engländer steckte den Kopf aus der »Daily Mail«. »Oh! Warum spielen Sie nicht weiter?« fragte er bedauernd, »das ist sehr niedlich, in der Tat! Spielen Sie es nochmals, bitte!«
Beate schlug vor Ärger fast den Deckel zu. (Schrecklicher Mensch!) Sie schob die etwas kurze Oberlippe vor und pfauchte ein wenig: »Ich bitt' Sie! Bleiben S' lieber in Ihrer Badewanne sitzen, ja? So eine Riesenzeitung!«
Es lachte irgendwo tief unten im Leibe des Engländers. »O, why? Ich denke, es ist viel besser, ich höre Ihrem Spiel zu!«
»Lass'n S' gut sein! Ich glaub', Beethoven is nix für Sie!«
Der Engländer blickte sie mit solcher Ehrfurcht an, als ob sie selbst Beethoven sei. »Oh! I see! Ist das Beethovens Komposition?! Ich bin sehr traurig, daß ich nicht das geringste Wissen habe in musikalischen Dingen. Ich denke nicht, daß ich imstande bin, zu unterscheiden eine Symphonie von einem Niggersong; traurig, es zu sagen. Aber ich bin trotzdem sehr eingenommen für Musik. Sie würden mich beglücken, wenn Sie noch ein wenig mehr spielten, was immer Sie wollen, nicht wahr? Es kann auch Beethoven sein!«
Beate lächelte ihm versöhnlich zu. Vorspielen? Gut. »Aber tun Sie fest applaudieren, auch wenn ich ein paarmal hängen bleib'!« Und sie überlegte: Beethoven? Das war nichts für den Engländer, aber auch nichts für sie selbst. Beate dachte sehr bescheiden über ihr Talent, Lothar hatte ihr das beigebracht. Sie spielte zwei Walzer von Chopin.
Ein Paar Hotelgäste saßen in dem Salon und hörten zu. Als Beate aufstand, staunte sie über die achtungsvollen Blicke: hatte sie denn wirklich so gut gespielt? Auf dem verstimmten Kasten mit dem kaputen Des in der Kontraoktave? Auch der Engländer faßte die Zuhörer ins Auge. Er lächelte dankbar nach allen Seiten. Ein sehr freundlicher alter Herr, ein englischer Geistlicher, ging auf ihn zu und sprach einen längeren englischen Satz. Nein, wie schwärmerisch, wenn er nur schon wegginge –
»Was hat er g'sagt?« fragte Beate neugierig. Der Engländer hatte sein seltsames Erröten, das in den Augen steckte. »Oh, nichts Besonderes, in der Tat. Bloß daß Sie hervorragend gut Piano spielen.«
»So? Was zappeln Sie denn dann so verlegen am Sessel herum? Sie sind ja ganz embarrassé!«
»Ich, Madame? Ich denke doch nicht, daß ich auffällig zapple – tu ich das? Haha ...«
»– – –«
» Well, er hat Sie für meine Frau gehalten, that's all.«
»Jöh – und da werden Sie so rot?« fragte Beate vorwurfsvoll. »Ja, sagen S' mir einmal, ist denn das so was Absurdes? Könnt' ich denn nicht zufällig wirklich Ihre Frau sein?«
»Komische Frage, gewiß könnten Sie, wenn Sie leider nicht schon verheiratet wären, gnädige Frau.«
Beate duckte sich ein wenig im Kreuz wie jemand Ertappter. »No, natürlich! So hab' ich's doch auch gemeint. Das ist freilich ein Hindernis, ein großes ...«
»Ich denke, es ist,« sagte der Engländer sehr ernst, fast schmerzlich. Seine Augen waren wieder braun und blank, über den Pupillen saß ihm je ein glänzender weißer Punkt, Fenster, die sich spiegelten. Beate schaute sehr schräg seitwärts und dachte nach. Ein plötzlicher Satz schien aus ihr hervorsprudeln zu wollen: »Sie, Herr ...« Und Beate unterbrach sich und trug eine sozusagen teilnahmsvolle Miene zur Schau:
»Nein wirklich – ich bitte Sie, wie heißen Sie denn eigentlich? Jetzt kennen wir uns seit zwei Wochen und ... Das ist ja lächerlich!«
Der Engländer schnellte den Oberkörper vor. »Elliot! John William Elliot!« Ein Versprechen oder eine Beteuerung, so war sein Ton. Beate sah ihn ein bißchen furchtsam an, als hätte sie Angst, er könnte zu weinen anfangen. Mister Elliot schaute von unten auf Beates Antlitz wie auf ein hoch hängendes Gemälde. Er hatte heiße, schwimmende Augen, die wie Berührungen kitzelten, und sagte:
»Darf ich Sie nun bitten um Ihren Namen?«
Beate neigte sich über ihn wie eine Spenderin. »Planer,« sagte Beate mit schlichtem, süßem Lächeln.
Sie fuhr sich mit den fünf eng geschlossenen Fingerspitzen der Rechten an das Kinn und wurde blaß. Jesus, Maria und Joseph! ..
Elliot zog ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Tasche und schrieb: »Planer. Frau – Beate – Planer. Nicht wahr, Sie heißen Beate, gnädige Frau? Ich glaube gehört zu haben, daß Mister Planer Sie so nannte. Und bitte, wie ist Ihre Adresse in Wien? Vielleicht, wenn ich nach Wien komme, daß ich mir zu einer Visite die Freiheit nehmen kann, ich wäre sehr glücklich, in der Tat.«
Beate log mechanisch. »Wir wohnen – wir wohnen Nußdorfer Straße siebenundfünfzig.« – Heiliger Gott und Lothar ... was wird Lothar dazu sagen, wenn's herauskommt? Lothar anerkannte nur eine Sünde im Leben: den faux pas, und konnte mit diesem Worte Beate aus der Welt jagen. Faux pas, wenn er ihr das sagte –
»Siebenundfünfzig, Nußdorfer Straße,« notierte der Engländer mit einer gewissen Unerbittlichkeit. »Ich danke Ihnen vielmals. Ich wollte längst wieder einmal Wien besuchen, entzückende Stadt, und ich bin jetzt ganz sicher, ich werde! Für alle Fälle, würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich Ihnen bei Gelegenheit eine kleine Kiste mit ägyptischen Schals, Waffen, Stickereien und Schmuckgegenständen sende? Sehr gute, seltene und wertvolle Dinge; ich bin Connoisseur in solchen Sachen, wie sagt man deutsch: Kenner, nicht wahr?«
Beate, ohne Antwort: zu dumm war das mit ihrem Namen! Und wie sich ihr die Verlegenheit gleich auf die Nerven schlug! Abscheulich, sie zitterte fast. Nun ja, das ledige Mädchen, da hatte sie's wieder! Was waren dagegen die schönsten Gefühle wert, wenn sie doch nur zum Erröten da waren? – Mister Elliot hatte ein hilfloses Lächeln, eigentlich nur ein komisches Zucken auf der rechten Wange, »Verzeihen Sie, wenn ich Sie – verletzt haben sollte, Missis Planer. Ich setzte voraus, solche orientalische Raritäten müßten sehr wirkungsvoll sich ausnehmen in Ihrem sitting-room, siebenundfünfzig, Nußdorfer Straße. Ich bitte – entschuldigen Sie mich!«
Beate antwortete mit etwas greller Freundlichkeit: »Aber Herr Elliot, im Gegenteil, Sie sind zu liebenswürdig! Ich werde mich riesig damit freuen ...« Beate spürte das Weinen in der Kehle. Warum ihr nur das zu spät einfiel: Planer sei ihr Mädchenname, sie habe sich nur versprochen! Lachen hätte sie sollen, auf der Stelle laut lachen und sagen, sie habe sich versprochen, sie heiße jetzt Bernwieser, ganz plausibel hätte es geklungen –
»Hol's der Teufel! ...«
Beate legte ihre Hände an die erhitzten Wangen. »Wie mich mein Gesicht brennt! Gehen wir auf die Terrasse, Herr Elliot, ist's Ihnen recht? Mir ist schrecklich heiß geworden beim Spielen.«
Ein sehr verfrühter Mond stand, als sie hinaustraten, schräg und nahe über der unsichtbaren Stadt Salerno. Der Mond war silberfahl, fast bläulich und ohne Licht, wie eine bei Tag entzündete Bogenlampe. Eine Brise blies vom offenen Meer in den Golf. Das Wasser bekam Wellen, krause zierliche Wellchen, die reihenweise und sachte nach Osten fluteten, wie schmachtend dem Mond entgegen.
Mister Elliot saß in einem lichtgrünen Rohrfauteuil und preßte die Sohlen gegen die eisernen Stäbe des Geländers. Er schaukelte sich behutsam mit den Fußspitzen. Wo sie saßen, am Ende der langen Wandelbahn, hörten die Holzrahmen mit Weinlaub und die Säulen auf. Der Himmel war frei über ihren Köpfen. Hinter ihnen rauschte der Steineichenwald am Abhang, sehr laut, von dem plötzlichen Seewind durchstöbert. Eine Fledermaus zog wirblige schwarze Kreise in die lichte Dämmerung. Sie klapperte stark mit den Flügeln, wenn sie nahe vorbeiflog; Beate schreckte sich vor dem hölzernen gespenstischen Geräusch.
Mister Elliot schwieg lange. Blanke, ein wenig starre Augen, glatt ineinander gepreßte Lippen – er dachte nach. Beate sah diesen graden, herb verschlossenen Mund und wünschte, er wäre lieber offen.
»Sagen Sie, Herr Elliot, fehlt Ihnen Ihre Pfeife nicht? Heut haben Sie den ganzen Nachmittag nicht geraucht!«
» Ye–es. Weil wir im Salon waren. In der Tat, wenn Sie erlauben – Sie sind sehr liebenswürdig, mich zu erinnern, Missis Planer.«
Beate war zufrieden. Die kleine rotbraune Pfeife paßte trefflich zu dem rasierten englischen Gesicht. Beate hätte Lothar nie wieder einen Kuß gegeben, wenn er sich unterstanden hätte, statt seiner Zigaretten die Pfeife zu rauchen. Umgekehrt der Engländer, der war wieder ohne Pfeife ein halber Mensch.
Mister Elliot ließ seine Sohlen auf die Erde fallen und setzte sich im Fauteuil zurecht. »Lassen Sie mich Ihnen sagen, Missis Planer. Ich habe noch im ganzen Leben über eine Frau nicht soviel nachgedacht, wie über Sie! Ich meine zu sagen: nicht so sehr über Sie, als vielmehr – über mich! Das heißt, excuse me, über die Beziehung – wie ich mich – zu Ihnen – und warum – –« Seine Fingerspitzen bewegten sich in der Luft wie Nadelstiche. » Well, es ist hart für mich, in einer fremden Sprache so schwierige Dinge richtig zu präzisieren. Vielleicht, wenn Sie Englisch könnten, es ginge leichter, no doubt.«
Beate hatte ein helles, gescheites, sehr weibliches Lächeln, das wie ein hätschelndes Zureden war, im Gesicht. »Na, was denn, Herr Elliot?«
» Look here!« sagte Elliot sehr energisch. »Ich muß vorausschicken, daß ich in meinem ganzen Leben,« er wägte zweimal die Worte wie Gewichte, »daß ich in meinem ganzen Leben mit einem Frauenzimmer niemals das geringste zu tun gehabt habe.«
»Sie wollen sagen: nichts Ernstes!«
» No! Keineswegs will ich das! Ich habe niemals zu tun gehabt! Nichts Ernstes und nichts Spaßhaftes, haha ... ich habe nie im Leben eine Frau geliebt und ich habe niemals eine berührt und ich habe überhaupt mein Leben ohne das andre Geschlecht gelebt, und ich denke, ich werde weiter so tun, ohne Zweifel! Well, ich denke, ich habe es jetzt ganz richtig gesagt.«
Beate sah ihn enttäuscht an – was sollte dieser Scherz? Sagte er das, um sich bei ihr ins Licht zu setzen? Seltsame Empfehlung. Das war doch so gleichgültig, dazu mußte wirklich nicht erst gelogen werden! Beate lächelte schlau. »Sie, Herr Elliot! Mir scheint, Sie wollen mich pflanzen!«
» I beg your pardon?«
» No.« Mr. Elliot schüttelte den Kopf und tat einen Zug an der Pfeife. »Es ist absolut wahr, was ich rede.«
Sein glattes Gesicht war in bildhafter Ruhe, ein Holzschnitzwerk. Er hielt sich steif aufrecht, ohne Regung, als ob er einem unsichtbaren Maler Porträt säße. Beate war überzeugt: sehr schön, sehr selten, dachte sie mit ein wenig Rührung. – Ah was, lächerlich! fiel sie sich ins Wort, man muß dazu die Achseln zucken, weiter nichts! Gott, ja. Wahrscheinlich gab es eben auch solche Männer. In England.
Sie hätte gern verschiedenes von ihm wissen wollen. Aber natürlich – wie denn fragen?
Sie saß mäuschenstill, auch sie in bildhafter Ruhe –
Elliot sagte: »Ich habe niemals Zeit für die Frauen gehabt, teure Missis Planer. Ich war von Jugend auf verpflichtet, mir mein Leben zu machen, wissen Sie nicht? Immer geschäftig und wieder geschäftig. Immer Geld gemacht und wieder Geld. Well, und ich sage,« seine Züge wurden plötzlich sehr ernst, wie programmmäßig ernst, »ein Kerl, der sich sein eignes Leben machen muß, tut am besten, zu leben ein – damn the word, es fällt mir nicht ein, wie man deutsch sagen würde ...«
»Sagen Sie's englisch, Herr Elliot.«
» Well – a straight life!« Elliot machte mit dem steifen Unterarm die Gebärde der geraden Linie. »Ein glattes Leben, man könnte übersetzen. Ich meine zu sagen: wir Männer müssen immer einen ganz reinen Kopf haben zu die Geschäfte! Und niemals mit einer Frau etwas zu tun haben und wenn, dann nur mit unsrer eignen, rechtmäßigen Gemahlin. Das ist der Punkt, dear Missis Planer! Ich denke, es ist genau, was ich nenne: a straight life.« Sein Unterarm fuhr nieder wie ein Schwert.
Beate verstand den Ton Elliots und seine Geste. Das war eine Weltanschauung und Lebensweisheit, schön. Aber warum wurde es gerade ihr und gerade jetzt erzählt? An alldem mußte doch etwas sein, was sie anging, fühlte Beate; als bloßes Gespräch war ja die Sache zum Einschlafen.
Elliot hielt den Pfeifenkopf mit der linken Faust und rauchte.
»No, und – wenn Sie so denken, Herr Elliot, warum haben Sie dann nicht schon längst geheiratet?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Missis Planer, reiner Zufall. Ich habe niemals Zeit gehabt, mich darum zu kümmern – klingt komisch, aber es ist so. Lange Zeit war ich auch nicht reich genug, um ans Heiraten zu denken.«
»Und jetzt?« Beate biß sich wütend in die Unterlippe ...
» Now I'm all right! Ich bin, wie man sagt, rangiert.«
»Und – werden Sie also jetzt heiraten, Herr Elliot?«
Zwei Adern auf der Stirn des Engländers füllten sich mit Blut und wurden wie blaue Stricke. » No!« sagte er entschieden, mit forthallendem o, »ich denke, jetzt ist es damit vorüber, Missis Planer. Das ist genau die Sache, von der ich zu Ihnen sprechen wollte, teure Missis Planer.«
Beate fand glücklich ein schwermütig-süßes, zu dem Augenblick passendes Lächeln. »Aber – aber Herr Elliot!« Immerhin gehörte Enthaltsamkeit dazu, hier stillzuschweigen und nicht einmal »O weh!« zu sagen.
»Sagen Sie einmal, Herr Elliot,« begann sie plötzlich, »ich möcht' Sie was fragen. Natürlich, nur ganz im allgemeinen, net wahr? Darf ich? – Also, wenn Sie jetzt ... doch noch heiraten wollten, Herr Elliot, was für ein Mädl möchten Sie sich da eigentlich ... suchen? Eine Engländerin?«
Elliot schüttelte den Kopf. » No. Englische Mädchen wissen sich nicht anzuziehen.«
Beate blickte auf seine Kleider. »Was für eine denn sonst, Herr Elliot? Eine Deutsche?«
» Well, eine, die mir gefällt, ganz einfach, kann auch eine Chinesin sein, haha.«
»Ja, und – eine Mitgift müßt' sie doch auch haben, nicht?«
» Oh no! Vielleicht vor zehn Jahren hätt' ich nötig gehabt eine Frau mit Geld. Aber heute? Bestimmt nicht. Heute könnt' ich ohne Mitgift heiraten, selbst ein sehr anspruchsvolles Mädchen; ich könnte, in der Tat. Ganz egal für mich.«
Beate wurde mutiger. »Und eine Witwe? Oder eine geschiedene Frau könnten Sie auch heiraten, Herr Elliot?«
Elliot tastete nach seiner Pfeife. Er brachte, vorgebeugt, seinen Kopf ganz nahe vor Beates Busen. Seine Augen rührten Beate an, als wenn es nur andre Hände wären. Er sagte mit tieferer Stimme als gewöhnlich und sehr langsam:
»Ganz – besonders – eine geschiedene Frau, my dear Missis Planer.«
Beate spürte Herzklopfen und verlor ein wenig Farbe im Gesicht. »Aber,« sagte sie sehr trocken, »hören Sie mal zu, wir reden doch ganz akademisch, nicht wahr? Also, zum Beispiel ... würde es Sie nicht doch verdrießen, wenn ... Ihre Frau vorher ... mit einem andern Mann ...«
Wie konnte man das herausbringen? Ganz akademisch?
Der Engländer kam ihr zu Hilfe. »Ich verstehe Sie vollkommen, gnädige Frau.« Er flüsterte und seine rechte Wange lächelte. »Sie wollen sagen, weil Sie vorher ... mit einem andern Mann ... in Ehe gelebt haben, und ob das nicht für mich ...«
Blicke.
» Well, ich verstehe. Und ich sage: No! Ganz egal für mich. Bei Ihnen, Missis Planer – ganz egal!«
Beate hütete sich, den Engländer anzuschauen. Sie hörte zu und dachte träumerisch: »Jetzt hat er genau denselben Ton, den einmal Lothar hatte! So tief und weich und melodisch ... ein Bogenstrich auf der G-Saite der Violine, con sordino! Seltsam, haben das alle Männer, wenn sie –«
Beate stand auf und tat etwas Graues und Kaltes auf ihr Gesicht. Sie sagte:
»Herr Elliot, wir haben ausgemacht, daß nur ganz akademisch geplauscht wird! Nicht wahr? Und Sie reden schon seit einer Viertelstunde zu mir und von mir, als ob da richtig von mir die Rede wär'! Ja, erlauben Sie mir, wie kommen Sie nur dazu, um Himmels willen?«
Mister Elliot lag regungslos in seinem lichtgrünen Rohrfauteuil. Von innen heraus regungslos – war sein Sitzen. Beate hatte ihre Hände an der Taille, sie reckte den sich biegenden Oberkörper aus dem Gürtel heraus. Warum nur ihr Mann solang ausbleibe, wunderte sich Beate mit viel Ton auf dem »Mann«; es wurde schon vor einer Viertelstunde zum Diner geläutet! Beate kränkte sich, daß ihr Mann so rücksichtslos und nicht rechtzeitig zurück sei. »Was glauben Sie, Herr Elliot, ist er denn gar nicht eifersüchtig?« Ein kokettes Lächeln ging mit ihr durch, als dies gefragt war.
Elliot rückte die Achseln, vertiefte sich und bemerkte sachlich: »Ich fürchte, es ist so, Missis Planer.«
Lothar hielt seinen Hut in der Hand und rannte behend, sportmäßig, die breiten Stufen des Treppenweges zum Hotel hinauf. Er schaute sich ein wenig atemlos auf der Terrasse um. Beate und der Engländer kamen ihm gerade entgegen. Sie waren noch im Weiten, schienen schwarz und körperlos, silhouettenhaft; das Rebendach des Pergolato wölbte sich über ihnen wie ein Tunnel.
Lothar war froh, daß Beate Gesellschaft hatte. Er ging mit einem hübschen Lächeln auf sie zu: Guten Abend, und sie solle wegen der Verspätung nicht bös sein. Beate schmollte ihn an: »Geh zu! Wo warst du denn so lang?« Wo? Nun, in Ravello, wo denn sonst?! Beate fand es übertrieben, einen ganzen Tag in dem schäbigen Nest dort oben zu verbringen. Lothar sagte schwärmerisch: »Einen Tag? Zehn Tage!« Zehn Wochen oder Jahre oder das ganze Leben, es sei zumindest als Traum sehr wünschenswert. Beate murrte und widersprach und war insgeheim ganz wild vor Freude, daß sie Lothar wieder hatte.
Elliot lüftete den Hut gegen Lothar. »Verzeihen Sie, Herr Doktor, ich habe seit heute abend das Vergnügen, Ihrer Frau Gemahlin vorgestellt zu sein, aber immer noch nicht Ihnen selbst – mein Name ist Elliot.«
Beate wurde feuerrot und wandte den Kopf zur Seite, als drohe ihr jetzt von irgendwo ein Schlag. Lothar verbeugte sich und sagte sehr deutlich und zuvorkommend: »Bernwieser. Freut mich sehr.«
» Beg pardon, Sir?«
»Doktor Bernwieser,« wiederholte Lothar lauter und ließ alle Silben klingen.
Mister Elliot sah Beate an, Beate ihren Rocksaum.
Elliot hatte bloß sekundenlang etwas erhitzte Augen. Er sagte, unentschieden zu wem und sehr beklommen: » Oh, pardon me! Ich konnte das aber ... wirklich nicht ahnen! Guten Abend, Miß Planer! Good evening, Doctor!«
Lothar schien unruhig. »Du, hörst – ich bin da ganz aus der Kontenance, Beate! Was fallt denn dem ein, daß er plötzlich so weglauft? Was hat er nicht wissen können? Du hast ihm doch nicht vielleicht gesagt –«
Beate hob ihr finster brennendes Gesicht hoch. Sie fühlte sich schuldig und wurde daher sehr grob und rechthaberisch. »Na, ich bitt' dich gar schön! Steh nicht so da wie eine Salzsäul'n! Ich hab' halt einen Plutzer gemacht, das kann einem jeden Menschen passieren.«
»Einen Plutzer? Hm. Ich danke dir. Nun bin ich au fait im ganzen und großen. Aber möchtest du dich nicht doch noch ein bißl näher erklären?«
»Ja, aber friß mich nur nicht gleich, weißt, sei so gut! – Wir sind zusamm' g'sessen und haben geplaudert, und ich hab' ihn g'fragt, wie er heißt, no, und er hat g'fragt, hat er g'fragt, wie ich heiß', ganz natürlich, und da hab' ich mich eben im Moment vergessen und hab' g'sagt, ich heiß' – ja, und übrigens, mein lieber Lothar! Ich heiß' doch auch schließlich und endlich Planer und net Bernwieser wie du! – Fix noch einmal, es is ja wahr!«
Sie weinte. Lothar saßen zwei kritische Runzeln über der linken Braue. »Ganz richtig. Aber trotzdem glaube ich, eine wohlerzogene Dame in deiner Situation hätte sich nie so weit vergessen, mich in dieser Weise bloßzustellen.«
Beate kreischte vor Aufregung: »Aber eine wohlerzogene Dame kommt auch gar nie in meine Situation!! Laß du mich nicht in dieser Situation, und ich werde dich nicht bloßstellen!« Lothar dämpfte: »Nicht so laut!« »Ich hab' mich selber mehr bloßgestellt als dich, verstehst? Und überhaupt, wenn ich dir nicht wohlerzogen genug bin –« »Man hört dich, Beate!« »– so nimm dir eine Herzogin zur Mätresse und laß – mich – stehn! Adieu!«
»Beate! So warte doch ...« Dieses Schreien, Weinen und Weglaufen auf einer Hotelterrasse!
Lothar schüttelte den Kopf. Er hatte doch recht, zum Teufel! Durfte man denn nie recht haben gegen ein Frauenzimmer? Stupide Sache! Nicht allzu wichtig, aber stupid.
Lothar lehnte sich über die Brüstung und suchte den Vollmond, auf den er sich auf dem Heimweg gefreut hatte. Der Mond, ganz richtig, war schön und groß und leuchtete. Noch nicht mit voller Kraft, doch immerhin beträchtlich. Er war ferner rund und mehr weiß als gelb von Farbe –
Wie sehr er sich indes bemühte, Lothar konnte kein reines Mondgefühl finden.
Beate saß ziemlich verschüchtert an der Table d'hote. Ihre Augen spiegelten kristallisch, voll Wassers. Elliot schien sich auf seinem Platz als Gegenüber nicht wohl zu fühlen. Er saß noch steifer als sonst, blickte kaum vom Teller auf, und als er es einmal tat, merkte er die heimlichen Tränen in Beates Augen. Er starrte sie an – die Tränen, nicht Beate –, wurde blaß und sammelte seine Blicke auf die Menükarte. Lothar war wütend; die letzten Gäste standen auf, sie saßen zu dritt, bekamen nachserviert und schwiegen alle drei wie Stockfische! Himmel, Herrgott, mußten wegen des dummen Vorfalls auch schon solche Gesichter geschnitten werden? Unter vorurteilslosen Menschen! Lothar litt unter dem Schweigen, fühlend, daß er nicht hinzugehöre. Beate und der Engländer schwiegen untereinander, an ihm vorbei, und er wußte nicht, was sie schweigen. Das war ekelhaft. Lothar sagte plötzlich, wie mit der flachen Hand auf die Tischplatte:
»Darf ich Sie freundlichst um die Zahnstocher ersuchen, Herr Elliot? Ich danke.«
Beate dachte: »Jetzt wird er sie – hoppla! – fallen lassen, der liebe Herr Elliot! Natürlich, die prüden Engländer überhaupt und gar dieser besonders keusche Joseph!« Beate suchte höhnisch zu werden, trotzig zu werden, gemein zu werden; alles wollte sie eher sein, nur nicht unglücklich, und das war sie. Wenn nun Herr Elliot den Tugendrichter spielte, auch gut! Herr Elliot gab ihr schließlich nichts auf die Tugend drauf! Und sie beugte sich zu Lothar, der für Sentenzen immer zu haben war, auch im größten Zorn, und sagte leise:
»Ihr Männer seids halt doch alle ein und dieselbe Bagage! Alle mitsammen!«
Lothar lächelte und sah sie an. Sein blauer, schmelzender Blick tat ihr gut: »Das ist erstens nicht wahr, mein Katzi, und zweitens nicht hübsch gesagt. Dieses Axiom kannst du ruhig wegschmeißen und drauftreten wie auf eine schlechte Zigarette, es taugt nichts.«
Beate hatte ein kurz vorbeiflirrendes, wie abwesendes Lächeln über ihr Gesicht. Ihre Wimpern zuckten einmal und fielen wie ermattet nieder. »O du! ... Hör auf ... sprich nicht ...«
Sie hielt im Essen inne. Ihre blutvollen Lippen bebten ein wenig auseinander und ließen zwei kleine weiße Schneidezähne sehen: Elfenbeinplättchen in einem roten Rosenkelch.
Den ganzen folgenden Tag spähte Lothar wegen des Mondes nach dem Gang der Wolken aus. Der Morgen war sehr schwül und dunstig, der Himmel gleichmäßig weißgrau. Dann machte die Sonne weit draußen überm Golf einen derben Riß ins Gewölk und schien durch, ohne doch als Kugel herauszutreten. Man sah zwei weitgespreizte gelbe Strahlenbündel aus den Wolken fallen; sie waren wie die Arme einer großen goldenen Schere, welche grauen Krepp zerschneidet. Am Nachmittag kam viel Wind vom offenen Meer in den Golf, kehrte die Wolken von der Halbinsel weg und warf sie auf das Festland, die kampanische Küste. Dort lagen sie, ein Haufen gewaschener Lumpen, und verdeckten eben den Osten. Lothar bekam Angst. Allein auch diese Kombination konnte ja lohnend werden: wenn der aufgehende Mond gegen die Wolken stritt, sie von hinten durchleuchtete und endlich überstieg wie eine schwarze Mauer.
Lothar freute sich auf die kommende Mondnacht. Die sollte sein werden, anders als den Abend vorher.
Vor dem Diner erschien der Engländer im Lesezimmer. Er hatte ein grünes Flanellhemd unter der braunen Weste, Lothar war im Smoking. Mister Elliot stellte sich ganz nahe vor Lothar – ein leiser Geruch von Eßbukett – und Lothar sah Mister Elliot an und lächelte. »Mir scheint, Herr Elliot, Sie verwechseln mich mit meiner Frau.«
» No, Sir,« sagte der Engländer knapp, »ich könnte Sie auch gar nicht mit Ihrer Frau verwechseln, weil Sie nicht verheiratet sind, Sir. Allein ich bin im Begriff, davon zu reden, Herr Doktor. Wenn Sie nichts dagegen haben sollten.«
»Gar nichts.« Lothar wußte, der Engländer würde jetzt recht haben, natürlich, und langweilig werden, noch natürlicher; alle Leute werden langweilig, wenn sie in einer Sache von vornweg recht haben. Lothar war entschlossen, für sich amüsant zu bleiben, auch wenn er ganz und gar unrecht hätte.
»Nun, wie kommt es, daß Sie, Herr Doktor, als unabhängiger und wohlsituierter Mann, Miß Planer nicht heiraten? Ich setze voraus, Sie lieben Miß Planer, wie ich gar nicht anders voraussetzen kann bei meiner Verehrung für sie. Ich denke, jeder Gentleman kann Miß Planer zur Frau haben, ohne weiteres. Warum haben Sie bloß eine Liaison mit ihr und heiraten sie nicht?«
»Gott, lieber Herr Elliot! Es ist halt einmal so. Wir finden es beide unnötig, ganz einfach. Unwesentlich, wenn Sie wollen.«
»Sind Sie dessen sicher, daß auch Miß Planer es unwesentlich findet?«
»Sie sagt es.«
»Ich muß befürchten, sie sagt es, weil Sie wollen, daß sie das sage, Doktor Bernwieser.«
»Das sind Nuancen, Herr Elliot.«
»Ganz recht, allein ich denke, wer eine Frau lieb hat, muß sehr viel Zartgefühl haben für ihre Nuancen, muß er nicht?«
Lothar zog seinen Schnurrbart ein wenig über die Mundwinkel. »Ihre Auffassung ist jedenfalls sehr nobel.« Dieser Mensch sprach ihm von Nuancen? Schalkhaft.
»Was würden Sie nun dazu sagen, wenn Miß Planer anyhow – sich eines schönen Tages verheiraten wollte?«
Lothar fühlte die Antwort: »Sie wird nicht wollen, Teuerster, solang ich sie halte.« Er sprach gelassen, Wort für Wort wie aparte Nippessachen auswählend: »Ich würde es im Grunde bloß vernünftig nennen. Und wäre höchstens besorgt, daß sie nicht – wie soll ich sagen – nicht daneben heiratet, verstehen Sie? Ich meine, an ihrem Glück vorbei.«
»Ah!« machte der Engländer, vielleicht doch mehr spöttisch als verdutzt. »Sehr kurios, in der Tat. Well, ich danke Ihnen vielmals, good evening, Doctor!«
Lothar war ein wenig aus der Fassung. Im Gespräch war doch eben nur ein Gedankenstrich, kein Punkt, und es beliebte Herrn Elliot, die Unterhaltung zu enden? Das war ja dann sozusagen –
Ein Heiratsantrag an den Geliebten der Frau, die sich einer zur Braut wünscht, lächelte Lothar.
Als das Diner zu Ende war: »Du, Beatl! Sei nicht bös, ich werde mir jetzt ein bißl den Himmel anschaun und den Mondaufgang, weißt? Du unterhaltst dich derweil mit dem Herrn Elliot, und ich komm' später zu euch. Sei aber nicht bös, Muz, hörst?«
»Nein, nein. Paß nur obacht, daß du nicht mondsüchtig wirst, Bubi.«
Das Hotelpublikum sammelte sich zu dem Mondaufgang, als ob es ein Theater wäre. Man saß auf Rohrfauteuils zwischen den weißen Säulen der verdunkelten Wandelbahn und plauderte halblaut wie ein volles Parkett, ehe der Vorhang aufgeht. Da und dort glommen ein paar verstreute rote Punkte in der Finsternis: die Zigarrenenden rauchender Herren. Stimmen schwirrten, aber man sah die Menschen nicht, denen sie gehörten. Glühwürmchen schwankten vorüber, blinzelten und fielen um wie Betrunkene, die im Dunkel ihren Weg nicht finden. Wer eine Zeitung oder Schrift bei sich hatte, machte sich den Spaß und suchte im grellen Aufleuchten der Käfer ein paar Buchstaben zu erhaschen.
Plötzlich schlüpfte der Mond aus dem Apennin. Das Publikum drängte zur Brüstung und ward aufmerksam. Ein paar Verspätete stürzten wie auf ein heimliches Glockenzeichen aus dem Hotel. Sie hielten noch ihre Zeitungen in den Händen und deuteten mit diesen auf den Mond. Eine Dame sagte: »Welch echt italienische Nacht!« und stöhnte dies, als ob es ihr weh tue. Der Mond war rot und riesengroß, in Dünsten; ein glühendes Kohlenbecken, das lodert und raucht. Lose, durchsichtige Streifenwolken nah über dem Mond, wie ausgespannte Netze. Der Mond stieg höher und verfing sich in dem grauen Netzwerk. Viele Leute standen auf und gingen weg; mit Mienen, daß es sich nicht gelohnt habe. Lothar behielt seinen Platz. In zwanzig Minuten mußte der Mond mit den leichten kleinen Streifenwölkchen glatt aufgeräumt haben.
Beate ärgerte sich im vorhinein über das kommende Gespräch mit dem Engländer. Lothar und sie, was hatte sich Herr Elliot drum zu kümmern? Wenn er klug war und taktvoll, so schwieg er, hoffte Beate. Sie hatte Angst vor allem Gefragtwerden. Beate kannte sich, sie war ein gutes Mädel, aber wenn man ihr weh tat, wurde sie grob. Daher hatte sie stetig die Angst, es könne ihr jemand weh tun.
Beate und Elliot gingen nach dem freien oberen Ende der Wandelbahn, wo das Publikum aufhörte. Elliot sog an seiner Pfeife, sie war ausgegangen. Er klopfte den Pfeifenkopf am Rand des steinernen Tisches aus, an dem sie saßen. Seine Stimme kam hell aus der Dunkelheit:
»Sagen Sie mir, bitte, Miß Planer, warum machen Sie eigentlich so weite und lange Reisen mit Doktor Bernwieser, ohne seine Frau zu sein?«
Beate gab sich keine Mühe, ihr böses Gesicht zu verbergen, weil's finster war. »Wir sind ja verlobt!« rief sie mit schneidendem, abschneidendem Ton. »Wir heiraten, sobald mein Bräutigam die Stelle im Unterrichtsministerium hat.«
»Glauben Sie das wirklich, teure Miß Planer?«
»Ja,« sagte Beate um so fester, weil sie es keineswegs glaubte.
Die Nacht war seltsam unentschieden, ein Zwielicht von dunkelm Azur und Silbergrau. Die Küste dämmerte im Mondesschatten. Es mußte jeden Augenblick wieder hell werden. See und Gebirge blickten nach dem verhängten Mond; es müsse doch jeden Augenblick wieder hell werden?
»Sie tun schlecht daran, es zu glauben, Miß Planer. Doktor Bernwieser wird Sie niemals heiraten, und ich denke, am allerwenigsten, wenn er jene Stelle tatsächlich bekommen sollte.«
»So! Und wer sagt Ihnen das, Herr Elliot?«
»Doktor Bernwieser selbst.«
»Was heißt das?«
»Er sagte es mir selbst, Miß Planer, heute abend vor dem Diner. Es tut mir sehr weh, Ihnen das sagen zu müssen, aber – es ist so. Und ich weiß, warum ich es Ihnen wiedersage, glauben Sie mir das ...«
Beate fühlte ihre Schläfen und Wangen brennen, als ob ihr der Kopf von innen heraus entzündet würde. Sie bekam etwas Warmes und Fließendes ins Gesicht. Sie ließ es auf der Haut, ließ es immer mehr werden und griff nicht nach ihrem Tuch, weil sie sich vor dem Engländer schämte.
» My very dear Miss Planer! Ich fürchte, Sie kränken sich zu viel wegen dieses jungen Menschen und nutzlos! Er ist ja vielleicht ein furchtbar netter Kerl, ich will es glauben, aber ein kolossaler Egoist, Miß Planer, das ist er! Er wird Sie ausnutzen, Ihre Schönheit und Jugend ausnutzen, solang sie da ist – und wird Sie mit den sehr dezenten Manieren eines vollendeten Gentleman zugrunde richten. Daran ist nichts zu ändern.« Beate hielt sich die Ohren zu. Ihre Hände lagen zwar auf der Stuhllehne, aber sie hörte seitwärts, ließ nichts herein, so viel auch die tönende Stimme im Dunkel sprach und sich echauffierte: »Ihr Bräutigam ist ein ganz kalter und ganz gefährlicher Egoist und absolut unangreifbar, weil er gar nicht weiß, wann, wieso und wozu er es eigentlich ist! ... Glauben Sie mir, Miß Planer, ich beurteile ihn vollkommen objektiv und richtig. Ich kenne die Menschen, sonst wär' ich nicht aus einem kleinen armen Clerk ein großer Geschäftsmann geworden, der heute selbst ein halbes Hundert Clerks beschäftigt ... denn ich sage: ein Kaufmann, der nicht auch ein bißchen a critic und ... Menschenkenner ist, wird niemals viel Geld machen, Miß Planer, oder höchstens im Lotteriespiel, kann ich mir denken. – Well, was ich sagen wollte: seien Sie sicher, teure Miß Planer, Doktor Bernwieser ist kein Mann für Sie! No. Er ist es nicht –«
»So geben Sie mir einen andern!« rief Beate herb und schlug mit der Faust in die Luft.
» All right, please! Ich komme schon dazu ...«
Ein Johanniskäfer spazierte an Beate vorüber und leuchtete ihr frech ins Gesicht, als sei er neugierig. Zwischen den Steineichen am Abhang war ein ratloses Kommen und Gehen von Glühwürmchen, die einander zur Begrüßung anfunkelten. Der Wald war ein unheimliches schwarzes Wesen und atmete wie etwas Lebendiges, das nur ausruht.
Beate beugte sich in Spannung vor. – »Miß Planer! Hören Sie mir zu. Lassen Sie von diesem jungen Menschen ab, der Sie doch nie ehrlich glücklich machen wird. Und – kommen Sie mit mir!«
Beate hatte eine Frage wie eine Drohung: »Als was denn, Herr Elliot?« Ihre Pupillen wurden klein und stechend, als wäre sie kurzsichtig. Alle Männer blieben sich gleich, o, alle! Lothar ein Egoist, gut; aber Elliot? Und Sie horchte genau auf Elliots Ton:
»Also ... ich will ... ganz aufrichtig zu Ihnen sein, Miß Planer –«
Beate hob sich mit einem leidenschaftlichen Ruck in die Höhe. »Danke, Herr Elliot! Behalten Sie Ihre Aufrichtigkeit für sich! Guten Abend!«
Ihre Röcke rauschten durch den finsteren Pergolato. Elliot stürzte ihr nach und hielt sie fest, als sei sie ein Gegenstand. Sie fühlte den warmen Atem seiner Worte im Ohr und beugte den Kopf weg: »Beate! Nicht weglaufen! Ich muß Ihnen doch erklären, wie ich es ... o bitte vielmals, haben Sie ein wenig Geduld ... nicht wahr?!
Wir kennen uns noch zu wenig, gegenseitig viel zu wenig, Miß Planer! Es ist nichts Schlechtes dabei, wenn ich das sage, nicht wahr? Und ich will Ihnen einen sehr nützlichen Vorschlag machen: reisen Sie jetzt mit mir fort, wir bleiben über den Sommer in der Schweiz, und im Herbst, wo immer wir sind, lassen wir uns trauen, Miß Planer.«
»Und in der Zwischenzeit?« Beate zog die Pupillen zusammen und rüttelte ihren Argwohn, daß er nicht einschlafe ...
Jetzt strahlten plötzlich das Meer und das Gebirge auf, als wenn der Morgen käme, ein Morgen mit blauem und silbernem Licht, ohne Röte! Die graue Steinplatte des Tisches, an dem sie saßen, wurde weiß und spiegelnd, wie von Milch übergossen. Der Mond schwebte blank und träumerisch am Himmel und glich dem offenen Kelch einer einzelnen Lotosblume auf einem sehr großen und tiefblauen See.
Elliots Unterarm fuhr nieder wie ein Schwertstreich: » Well – pardon me!« Beate hatte den Einfall: » Straight life, aha! Wo sind nun Ihre Prinzipien, Herr Elliot?« Der Engländer sagte: »In der Zwischenzeit – sind Sie meine Braut, Miß Beate.«
Braut, das hatte er vorhin nicht gesagt. Beate sah ihn groß an: »Ihre Braut? Wie meinen Sie das?«
»Nicht, wie es Doktor Bernwieser meint, Miß Beate!«
»Das hätt' ich mir auch – von Ihnen –«
Beate wurde noch beizeiten stumm. »– sehr verbeten!« klang in ihr der Satz aus. Sie fühlte sich heiß und unbehaglich, als spüre sie etwas Lächerliches an sich und habe Angst, man könne es merken.
Elliot beugte sich zu ihr, und seine rechte Wange lächelte. »Dann werden wir so schnell heiraten, als es möglich ist ... Ist es Ihnen so recht? Ich akzeptiere jede vernünftige Bedingung, die Sie stellen! Wünschen Sie vielleicht irgendwelche Sicherstellungen? I mean to say – Geschriebenes?«
Beate lächelte und lächelte so, daß er es wie Streicheln empfinden solle. »Nein, nein – was denken Sie von mir –«
»Ich bin natürlich gern bereit, Ihnen Aufklärung über meine Person zu geben. Ich meine finanziell, wenn Sie das interessieren sollte, Miß Planer?«
Beate stützte ihr Kinn auf eine Hand, ihre Augen wurden weit und gingen vorwärts:
»Mein Einkommen beträgt tausendzweihundert Pfund per annum. Manches Jahr mehr, manches weniger, je nachdem wie die Konjunktur war. Aber ganz bestimmt tausendzweihundert Pfund – by the average. Wie sagt man schnell – im Durchschnitt!«
»No, das is aber net viel!« sagte Beate harmlos, fast ungläubig. Sie riet und rechnete, ein Pfund? Wieviel mochte ein Pfund wert sein? Einen Gulden, eine Krone, einen Franc?
Sie machte eine Bewegung mit dem Fuß aus dem Schatten heraus, den der Tisch warf. Es war, als tauche sie die Fußspitze in etwas Feuchtes und Fließendes. Der schimmernde Weg im Mondschein war ein Bach, der silberne Wellen schlug. Im Laubengang leuchteten hohe Pelargonien rosa und hellgrün wie am Tag. Die Terrasse schlief in Düften. Da war der scharfe, etwas beizende Geruch der Orangenblätter und jener aufregende, süße, weiche, der von den Rosen kam, und dann – Gerüche? Nein.
Die Luft war nichts als Blumenatem, hinwehendes Leben von Dolden und Blüten, die man nicht erkannte, nur empfand – wie die fernen Geschöpfe einer zarteren Welt.
Mister Elliot räusperte sich, er sprach ein wenig mühsam: »Es ist nicht viel in England, Miß Beate. Aber in Alexandria ist das Leben viel billiger als in Glasgow oder gar in London. Und ich nehme an, Sie wären zufrieden, mit mir in Alexandria zu leben, wären Sie nicht?«
Beate nickte gelassen. »Freilich! Alexandria, das wär' doch für mich die –« Nun, Hauptsache konnte sie nicht gut sagen. »Ich meine, ich wäre froh und glücklich, wenn ich in Alexandria leben könnt' – schon wegen meiner Gesundheit ...«
»Nun gut. In Alexandria sind tausendzweihundert Pfund ein ganz schönes Erträgnis von einem Geschäft. Ich versichere Ihnen, es ist ...«
»Wieviel ist denn ein Pfund in unserm Geld?« fragte Beate kühl.
»In österreichischer Währung? Ich denke vierundzwanzig Kronen, Miß Beate. Eher etwas mehr, das kann man genau auf jedem Kurszettel sehen.«
» Vierundzwanzig?!! – Ah so!!!« Vom Capo d'Orso blitzte das Drehfeuer eine Sekunde lang herüber ...
»So erzählen Sie mir was von Alexandria, Herr Elliot!«
Phantasie zu einer Mondnacht in Amalfi ...
Lothar versucht es mit Tönen. Er komponiert. Irgendeine unwahrscheinliche Melodie ohne Noten, ohne Rhythmus, ohne Phrasierung. Eine Musik, die einwärts klingt und sich nicht mitteilt ... Ein Air für die Aeolsharfe der Empfindungen! Gott, wie man's nennt, ist doch einerlei. Das Ganze ist ja nur ein Truc und wird nicht lebendig.
Oder: der Mond wandelt zwischen Wolken und scheint durch, ein Gemälde. Pointillistisch zu malen, ein fabelhaftes Nacht- und Lichtstück! Vielleicht auch anders: mit einer heroischen Landschaft und Tempeln, im Stile des Claude Lorrain. Gibt ja allerhand Maler, die das malen! Nur ihre Gemälde kommen nicht in Betracht.
Lothar streckt sich lang und bequem im Sessel aus, er atmet, schaut, geht auf.
Das ist der Kampf der Wolken gegen den Mond. Sie wollen ihn einkreisen, umschlingen und nicht mehr loslassen, wie Hunde ein Wild. Die Wolken liegen dick und geballt, viel graue und weiße Wülste, vor der Mondscheibe. So muß Othello seine Kissen gepackt und auf das schöne bleiche Antlitz der Desdemona gepreßt haben, bis sie tot war.
Durch Wolkenfugen sickert Mondschein. Weit draußen, etwa vor Paestum am anderen Ufer des Golfs, weht ein verstohlenes Leuchten wie wallender weißer Mousselin über dem Wasser. Dort fällt das Mondlicht glatt aufs Meer, in Amalfi ist noch Finsternis. Aber die Wolken vor dem Mond bleiben zurück, wie die Falten und Fransen eines Vorhangs, der unmerklich niedergeht – –
Und jetzt – jetzt! Hindurch und empor! Der Mond wird ein weißer Schwan und breitet die Flügel und schwimmt langsam über uferlose stille Fluten! Die Helle in der Welt wird phantastisch und leidenschaftlich, der Mond scheint sich über die Welt zu neigen und die Welt ruht in seinen Armen wie ein Weib! Die Nacht wird eine Andacht und ein Fest zugleich, die Nacht wird selbst ein Marmorbild, das im Monde aufglänzt und den Mond spiegelt!
Alle Gegenstände haben mit einemmal Augen bekommen. Sie blicken um sich und flüstern: die Nacht ist hell! Sehr hell, wunderbar hell, göttlich hell ist diese Nacht, in der wir leben – –
Das sind die Stimmen der Dinge, die du jetzt hörst. In einer solchen Nacht gibt es keine Dinge mehr, nur noch Lebendiges. Alles lebt und spricht und atmet und blickt in den Mond wie du, Lebendiger, aber es denkt nicht wie du, du Narr!
Was denkst du? Denkst du immer noch? Mußt du mit bleiernen Gedanken diese silberne Nacht beschweren, du Narr?
Jetzt mußt du klein werden, kleiner noch als du bist, ganz klein, ein armes, glückliches Wesen! Wie eine Schnecke in ihr Gehäuse, so mußt du dich demütig in dich verkriechen und zu nichts werden. Das ist die Nacht Gottes und der leblosen Dinge, die lebendig werden, fühlst du das nicht? Gott und die Dinge gehören zusammen, aber was suchst du bei ihnen? Du bist ein Mensch, ein Ausgestoßener; laß Gott und die Menschen in ihrer Umarmung und weine! Diese Nacht ist nicht für dich und deinesgleichen; nicht für Menschen, Fremde, die immer zuerst an sich denken und aus sich ...
Laß deine Seele untergehn, Sinnender!
Wie ein goldenes Gewicht in einen tiefen blauen Weiher, laß deine Seele untergehn.
Laß sie in diese helle Nacht versinken, und durch blaue Tiefen leuchtet der Mond deiner sinkenden Seele!
Leuchtet der Mond ...
Beate stand hinter Lothar, sie sagte:
»Guten Abend, Lothar! Kannst du den Mond schon auswendig oder studierst du immer noch?« Ihre Stimme klang spöttisch, Lothar empfand die Stimme wie einen kleinen kalten Käfer, der seinen Rücken hinunterläuft.
Er fand nicht gleich eine Antwort. Er suchte Worte, griff aufs Geratewohl nach den erst besten, zufällig waren's heitere, laute, breit joviale. »Guten Abend, Muzl, grüß dich! Hast dich gut amüsiert mit dem Herrn Elliot? Hat er dir tüchtig den Hof gemacht, was? Na, selbstverständlich. Du schaust brillant aus, kleine Katz. Mudelsauber, heute abend! Wenn ich dir's sag', kannst du mir's glauben.«
Beate sah ihn an, sie hatte kalte Augen. Er streichelte sie ein bißchen, wie man wirklich ein hergesprungenes Kätzchen streichelt, mechanisch, fühlte Beate. »Nein, den Hof hat er mir nicht gemacht. Eigentlich nicht. Hingegen, lieber Lothar,« sie pointierte herausfordernd das hingegen, »einen Heiratsantrag«.
Lothar lachte. »Einen Heiratsantrag? Jetzt begreif ich ... er hat nämlich auch mir einen Heiratsantrag gemacht, heute abend vor dem Diner, weißt? Er hat gewissermaßen bei mir um deine Hand angehalten – ein komischer Mensch!«
»Find'st du das gar so komisch, wenn mich jemand heiraten will?« Beates Augen waren bleigrau, glänzten gefährlich und hatten ihre Bläue ganz verloren. Aufreizend war's, dieses ewige Witzigsein von Lothar. Lothar sah ihre Miene und zog sich, seelisch, von ihr zurück. »Na, ich bitte, bitte! Ich revoziere mein Lachen. Pardon. Wie du willst. Also, er hat dir einen Antrag gemacht? Und eben jetzt? Hier auf der Terrasse – –?«
Durch blaue Tiefen leuchtet der Mond deiner sinkenden Seele ...
»N-na! Gute Beleuchtung, das muß ich sagen! Und glaubst du, im vollen Ernst?«
»Ich glaub' schon – – im Ernst.«
»Nun? Und du?« Lothar blickte geradeaus, als ob er in die Nacht hineinfrage, Beate gar nicht zugegen sei. »Genier dich nicht, liebes Kind. In einer Nacht wie dieser müssen Heiratsanträge ungeheuer wirken, besonders« – jetzt sah er Beate an – »wenn von der Mitgift des Bräutigams verhandelt wird. Also, bitte. Hast du ... angenommen?«
Beate blickte übertrieben fest. Sie nickte und dann hörte sie plötzlich ein »ja« – als habe jemand anderer gesprochen.
Sie fühlte ihre Zärtlichkeit in sich losbrechen, so gewaltsam, als sei es ein Schrei. Worte waren in ihr und warteten, wie gefangene Vögelchen, daß man sie frei lasse: »Aber Lothar, ist es denn wahr? Ja, er will, aber ich doch nicht! Nie, nie im Leben! Nicht um eine Million, wenn du mich nur – –«
Lothar stand auf, er knöpfte sich den untersten Knopf seiner ausgeschnittenen weißen Weste zu. Seine Stimme schäumte einmal auf: »Ja also – – –« dann glättete sie sich: »– – wenn du den Antrag des Herrn Elliot bereits akzeptiert hast, so hab' ich da nichts mehr dreinzureden. Glückwunsch! – Etwas plötzlich ist die Sache gekommen, nicht wahr?«
Wieso plötzlich? Wie er das meine, plötzlich? »Lothar!« ...
Lothar kannte diesen Ton: es ist ein Vorklang, ein wehmütiges Arpeggio vor dem Schluchzen, und Frauen sprechen so, die gern stark blieben und vor der ersten Träne sich scheun, weil sie nach der ersten kein Aufhören mehr kennen. – Er hatte seine Daumen in den Achselausschnitten der Weste, die übrigen Finger trommelten auf der steifen Hemdbrust. Er sprach durchaus liebenswürdig, als habe er eine Konversation zu führen. »Gott! Nicht wahr – früher oder später; es war doch zu erwarten! Natürlich in Amalfi und mit einem englischen Kaufherrn – das ist ein kleiner Staatsstreich, aber hübsch arrangiert, du! Eine Interessenheirat in Amalfi und in dieser Nacht, – sehr originell! Immerhin, du hättest mich vorher doch ein wenig – wie soll ich sagen? – na, um Rat fragen können.«
Um Rat? Ob er ihr vielleicht gar zugeraten hätte?
»Darauf habe ich jetzt, da es ein fait accompli ist, nicht zu antworten.«
»Lothar!« Beate hatte etwas Fanatisches in den Augen, Gehorsam oder Anhänglichkeit, etwas Fanatisches. »Du kannst mir's ja einfach verbieten, daß ich ...«
»Verbieten? Dazu habe ich wohl kein Recht! Wir sind ja nicht verheiratet.«
»Das sagst du mir?« Beate hob die Arme, als ob alle Muskeln ihres Körpers sich vor Erbitterung aufreckten. »Lothar, hetz mich nicht! Um Himmels willen, hetz – mich – nicht!«
Das war geschrieen. Lothar sprach immer feiner und stiller, seine Stimme schien vor der anderen, lauten, zu fliehen: »Ich sage, daß wir nicht verheiratet sind, daß jeder von uns machen kann, was er will! Ich bitte. Das sage ich. Du handelst danach, ich spreche es aus! – Leb wohl! Servus.« Er hörte sie seinen Namen rufen und drehte sich um: »Was wünschst du? Ich bitte um Schonung.«
Beate lachte, daß es wie ein Gebell klang: » Du willst Schonung?«
»Ja, ich! Es gibt gewisse Sachen – – übrigens, da kommt ja unser Herr Elliot. Ich muß ihm gratulieren, meiner Seel', das muß ich. Ich weiß doch wenigstens – – wozu ich ihm gratuliere, he, kleines Luder?«
Elliot kam durch den Pergolato, ging vorüber, grüßte –
Beate schleuderte die Worte aus sich heraus und warf sie zu Elliot hinüber, wie schlechte Sachen. »Herr Elliot! Ich fahre mit Ihnen! Morgen früh, ist's Ihnen recht? Ich bitte, fahren wir! Ja?«
Elliot stand still. Lothar fand zur Wahrnehmung Zeit, daß Elliot ein dummes Gesicht mache. Er schaute und sprach Lothar an: »Sehr freundlich – in der Tat. Aber Doktor Bernwieser?«
Elliots Augen schwitzten vor Verlegenheit. Lothar glaubte, er habe wirkliches Eis geschluckt: wie etwas Körperliches und Wehtuendes steckte die Kälte in ihm. Kälte und Herzlosigkeit, er wußte es. Nun, dagegen gab es im Augenblick kein Mittel. Es tat ihm selber am meisten leid, aber es gab wirklich im Augenblick kein Mittel dagegen; schlechthin keines.
Lothar hob die Schultern ein wenig und ließ sie fallen. »Wenn Beate gewählt hat, so ist es ihre Sache. Mir sind Sie gleichgültig und mir ist Beate gleichgültig. Erledigen Sie Ihre Ehegeschäfte nach Gefallen, aber bitte ohne mich! Guten Abend.«
Elliot hielt die Hände in den Hosentaschen, er sagte mit nicht eben freudiger Miene: »Wieso kommt es, daß Sie nun auf einmal ja sagen? Dieser plötzliche Entschluß – – very funny, indeed.«
Beate lag bleich, als sei sie ohnmächtig, in einem Rohrfauteuil. Die feine, nervöse, gleichsam verhaltene Schönheit ihrer Züge schien wie ausgelöscht, grünliche Schatten lagen unter den geschlossenen Wimpern. Sie hörte die Frage und hatte ein paar dumpfe unsagbare Gedanken dazu: alles, was sie sei und tue, müsse aus Lothar beginnen und in Lothar enden, da sie ihr Leben nur durch ihn empfinde; und selbst wenn sie ihn verläßt, müsse dies Lothar irgend wie getan haben, nicht sie!
Elliot reichte Beate die Hand, als gebe er es auf, eine Antwort zu bekommen. » Well, ich sehe, es ist Ihnen sehr nahe gegangen, Miß Beate! Das ist leider meine Schuld, aber glauben Sie mir, ich werde alles tun, um Sie – – was ich tun kann – alles, um Sie –«
Er schüttelte ihre Hand, daß sie das Reißen bis in die Schulter spürte: » Good night, love!«
Ein kleines Zimmer, niedrige Decke, weiße Wände, eine Klosterzelle war dies Zimmer.
Zwei Kerzen brennen. Sehr hell, das weiße Zimmer hält das Licht zusammen und verstärkt es. Koffer stehen umher.
Lothar liegt im Bett. Er hält den »Mattino« in der Hand und blickt in die Zeitung. Was er liest, wozu er liest, das weiß er nicht genau; er weiß nur, es liegt eine gewisse Haltung darin, nach dem Geschehenen vor Beate den »Mattino« zu lesen. In Neapel, ein Doppelmord? Die Kamorra, wie? Bei Gaëta haben sie einen berühmten Briganten erwischt, den kampanischen Musolino, noch zuguterletzt erstach er zwei brave Karabinieri. Unglaublich sind die Zustände hier im Süden.
Beate – ist ihm nur zuvorgekommen, denkt Lothar. Nur zuvorgekommen, das ist alles. Keine drei Jahre, und er hätte auf seine Art dasselbe getan, was sie jetzt tut. Interessenheirat, jawohl. Beate ist ihm nur zuvorgekommen. Lieber Gott, das ist vielleicht nur Gerechtigkeit. Sie oder er, das stand seit je dahin. Jetzt wars entschieden: sie. Also, angenommen. Gut. Nicht streiten.
Der »Mattino« zittert in Lothars Hand. Ein bohrender, harter Schmerz sitzt in seinen Kinnbacken und macht ihm Augen und Wangen starr. Lothar hat hohe hochmütige Brauen und einen aufgeworfenen trotzigen Knabenmund.
Unsauber, fühlt Lothar. Unsauber. Es ist gut.
Lothar schrickt zusammen ...
Zwei Arme sind plötzlich um ihn. Arme, ja, seltsam, seine geliebten schlanken, nervigen Mädchenarme, die schönen! Leidenschaftliche Arme, wie wild geworden, fast brutal; und Lippen, Haare, Schenkel –
Nein.
Jetzt, keine Versöhnung unter Küssen – nein! Nichts, nichts. Das alles – ist ja sehr süß – aber es ist billig. Es gehört nicht hieher. In diesem Augenblick – nicht. Lothar hat böse, störrische Augen:
»Ihr Weiber stellt euch das wirklich ein bißl gar zu leicht vor, weißt? Laß mich los, Beate. Du tust mir weh.«
Es ist, als ob ein anderer Körper den seinigen ganz aufsaugen und in sich hinübernehmen wolle, auf ewig.
»So laß mich nicht drum betteln, du!«
»Geh, Beate geh! Du bist jetzt nichts als –«
Ein Wort klingt. Ein einzelnes Wort. Andere Worte waren um dieses eine herum, sie verwehen, fallen ab, nur das eine Wort bleibt übrig und klingt, klingt, klingt – –
Beate steht abseits, fern vom Bett, in einer Ecke. Ihre linke Hand zieht den Hemdsattel wie scheu über die rechte bloße Schulter. Sie fühlt in sich die Hitze abwärts rieseln. Ihre Haut wird kühl, erschauert obenauf, inwendig rieselt noch die Hitze abwärts. Zwei Sekunden, dann wird auch dies erkalten, dann ist alles kalt. Alles.
Das Wort bleibt übrig und klingt. Es ist ein Echo im Zimmer. Das Wort muß übrig bleiben und klingen, es ist ein Echo in dem alten Kloster ...
Die Kerzen flackern, verlängern ihre Flammen, sie stellen sich steil auf die Fußspitzen, als würden sie neugierig und fragten: was treibt ihr nur, ihr beiden?
Leinwand wirbelt umher. Schuhe, Strümpfe, Röcke, eine Ceinture, alles fährt durcheinander, in verrückten Sprüngen, als wüßte kein Stück, wo es hingehört. Die Kerzen flackern. Sie scheinen nervös, daß so viel Unruhe im Zimmer sei.
Lothar liegt unbeweglich und sieht zu. Der »Mattino« ist wieder in seiner Hand. Nun, es ist vielleicht ein wenig lächerlich, daß er fortwährend den »Mattino« –
Jetzt müßte man aufstehen. Wie außer sich, aufglühend vor Schmerz und Sehnsucht, müßte man aufstehen und vor sie hinstürzen. Auf die Knie, ja, und die ihrigen umklammern müßte man und sagen:
»Geh nicht fort! Um Gottes willen, du, geh nicht fort! Wir müssen uns aussprechen. Es wird alles gut werden. Du wirst sehen, Liebe, Liebste, es wird alles gut werden. Liebe, Liebste – –!«
Es könnte alles noch gut werden, wenn man jetzt aufstünde und das sagte.
»Beate!« beginnt Lothar. Schüchtern, als sei es ein Versuch. »Was tust du? Wo willst du hin? Es ist spät – –.«
Beates Gesicht ist bleich, wie von Mißhandlung entstellt, ihre Augen haben einen stechenden gelben Messingschimmer.
»Zu ihm geh ich! Vielleicht bin ich ihm weniger widerlich, als dir!«
Ihre Stimme ist dick und rauh, eine Dirnenstimme. Die Art, wie sie es sagt und dabei eine Hand zur Seite wirft, ist ordinär.
Lothars Lippen bewegen sich, zucken, aber was er spricht, wird nicht laut. »Hab ich das gesagt, widerlich? Beate! Verzeih es doch! Sei gescheit, du weißt, ich meine nicht alles so, wie ich es sage. Du weißt, ich bin ein Knabe! Du selbst sagst Bubi zu mir und hast recht, ich bin es. Manchmal bin ich es, Beate. Schau mich an! Komm zu mir und schau in meine Augen. Ich habe hübsche blaue Augen, du liebst meine Augen, Beate, ich weiß es. Wenn du in meine Augen schaust, wirst du's lesen: du bist nicht widerlich, Beate, mein Glück bist du, meine Anmut und meine Freude, mein alles. Du!«
Beate greift nach der Klinke, sie sagt: »Lebwohl,« und rafft ihren Rock mit der Rechten zusammen.
»Adieu, Beate.«
Eine hohe, weiße Wand bewegt sich undeutlich vor Lothars blicklosen Augen. Etwas schweres Schwarzes, eine Masse, stürzt durch die Mauer ins Zimmer. Das ist die Dunkelheit vom Korridor. Die hohe, weiße Wand schließt sich, sie kehrt die Schwärze heftig aus dem Zimmer, ein dumpfes wildes Knallen, Stille.
Stille. Die Kerzen flackern nicht mehr, sie scheinen einzuschlafen, so still ist das Zimmer geworden.
Lothar schleudert den »Mattino« an die Wand, klatschend reißt das Papier entzwei. Er ist aus dem Bett, das Fenster fliegt auf, als ob er am Ersticken sei ...
O Nacht! O Beruhigung!
Lothar zieht seine Stirn zurück. Die Nachtluft ist schwül und schmutziggrau, und wieder nur dasselbe Ersticken. Sie preßt die Schläfen wie eine feuchtwarme Stirnbinde. Das Meer ist schwarz und schauerlich, es scheint in sich wie Öl zu kleben und ist wellenlos. Meer und Himmel sind die öden Wände einer halbdunklen Schlucht, der Mond ist irgendwie in diese Schlucht gefallen, der Mond ist nicht mehr da.
Gutes, leuchtendes Wetter am nächsten Morgen. Der Tag wird klar und klingend wie schöne Musik: eine rechte italienische Symphonie mit viel Fortissimo von blauen und goldenen Tönen.
Es fährt ein Wagen auf der glühenden Bergstraße hinter Amalfi. Wie ein langsamer schwarzer Käfer auf einem ockergelben Blatt im Herbst, so kriecht der winzige Wagen über die breite besonnte Straße. Zwei Menschen sitzen in der Kutsche und schweigen und haben Gesichter, als sei es ihnen ungewohnt, nebeneinander einherzufahren und zu plaudern wie andere Leute.
Beate fühlt kein Heute in ihrer Seele, sie lebt und denkt im Gestern. »Zu ihm geh ich, vielleicht bin ich ihm weniger widerlich als dir,« sagte sie in der vergangenen Nacht zu Lothar und warf die Hände zur Seite – wie häßlich! Beate wendet es hin und her und kann es nicht verstehen, daß sie Lothar, der ihr Geliebter war, wie eine Dirne verließ, obgleich sie zu Elliot ging, dessen Ehefrau sie ja werden solle. War sie denn unanständig, wenn sie das tat? Lothar!?
Beate seufzt, ein schwimmender Schein von Tränen ist in ihren Augen. Jetzt sich hinausbeugen und es den rasselnden Rädern hinschreien, daß Elliot nichts hört:
»Du warst schuld! Du! Du! Und dreimal du!«
Sie sieht Elliot an; von der Seite, wie eine neue Erscheinung faßt sie ihn ins Auge. Elliot sitzt mit ruhigem, halbverlorenem Profil und blickt in die Landschaft. Er hat selbst etwas Ehernes und Ernstes an sich wie die Landschaft. Er schweigt; schweigt genau so lange, als es ihr im Innern lieb ist und spricht dann:
»Wunderbare Gegend, Miß Beate, ist sie es nicht?« Beate blickt um sich: Straße nach Sorrent, hoch über dem Meer, am Gebirge entlang. »Ich finde, diese Strecke ist noch schöner als der Teil von Salerno nach Amalfi. Oder kommt mir das nur so vor, weil ich jetzt nicht mehr allein bin mit dieser ganzen Pracht?«
Innig und glücklich sagt er das, man fühlt die Innigkeit, das Glück hinter den Worten. Beate will gern antworten, sie möchte ihm sogar du sagen. Sieht's nicht gut aus, so geschwind? Also, dann lieber nicht. Sie schiebt die etwas kurze Oberlippe und das weiche, sehr weiße Kinn wie behutsam vor: »Sehen Sie diese Gegend jetzt zum erstenmal, Herr Elliot?«
»Sag doch nicht Sie zu mir, Beate, und gar Herr Elliot!« Der Engländer hat sein Gesicht ganz nahe, es scheint beweglicher, zwei kleine Sonnen, ein goldenes Flimmern, stehn in den blanken braunen Augen. »Sag du zu mir, Beate! Ich wäre sehr glücklich, jetzt gleich ein echtes, weiches, gemütvolles Du zu hören. Klingt ganz wundervoll auf Deutsch! Unser Jou im Englischen ist so furchtbar – neutral, ich finde; man weiß niemals, ob das Herz Du oder Sie meint! Well, und ich denke, es ist sehr wichtig, das zu wissen bei einer schönen Frau, hahaha ...« Beate ist überrascht: der Engländer wird rot, wirklich übers ganze Gesicht rot, sie hätte gedacht, das könne nie vorkommen. Sie lächelt. Gern will sie du zu ihm sagen. Aber was denn noch? Sie weiß nichts Gescheites zu dem Du. Sie hat im Augenblick nichts zu sagen ... gar nichts, es ist fatal. Elliot scheint gekränkt, daß er warten muß. Offenbar kann sie ihn mit einem raschen guten Wort glückselig machen. Also – Gott, wenn es gerade sein muß:
»Geh, du – zünd' dir deine Pfeif'n an, ja? Du bist so herzig, wenn du rauchst.« Ein wenig geschämig sagt sie das, es ist freilich riesig dumm, aber wenn einem gerade nichts Besseres einfällt ...
»Vorzügliche Idee, hahaha ...« Elliot peitscht sich mit beiden Händen die Schenkel, daß es knallt. Beate neigt sich vor, guckt ihm besorgt in die Augen, sagt entschuldigend:
»Du, Elliot! Ich hab's ja nur im Spaß g'sagt, weißt?«
Elliot lacht wie ein Besessener, es beutelt ihn durch und durch vor Vergnügen. Beate schaut starr seinem Gelächter zu und weiß nicht, ob sie mitlachen oder sich kränken soll. Elliot nimmt sie bei den Wangen – »Jessus, wie unsanft!« – und küßt auf sie los, küßt zu, wo es hintrifft, lauter kleiner Hiebe mit den Lippen, daß es weh tut. Ein paar italienische Steinklopfer, rot und gelb vor Sonne, stehen im Straßengraben und lachen. Der Kutscher ruft jenen etwas hinüber, er dreht sich um und schaut behaglich zu, als ob es für ihn geschähe –
Beate kreischt auf: »Elliot! Aufhören! Sowas!«
Sie lachen sich an wie Kinder, die plötzlich im Spielen ausruhen: rote Wangen, laute Herzen, Sonne in den Augen ...
Beate schließt die Lider, lehnt behaglich, und läßt sich von der Sonne anbrennen wie eine Eidechse. Mit den Pferden ist kein Fortkommen mehr in dieser Mittagsglut. Sie traben wie im Schlaf. Die blaue Polsterung des Wagens, die schwarzen Spritzleder, Elliot's Anzug, alles wird gleichmäßig steingrau vor Staub. Elliot will Beates weißen Sonnenschirm aufspannen. Nein, keinen Sonnenschirm. Sie schmiegt sich in die Wärme und schmiegt sich an Elliot, es tut wohl, sich zu schmiegen. Die Wärme ist gut. Jede Art von Wärme macht träumerisch, ist gut. Beate blinzelt. Ein gewaltiger Strom Bläue schießt ihr ins Auge. Das ist das Meer. Eine blaue Glasplatte weit draußen. Die Sonne gießt tausend Dukaten auf die stahlblanke Platte aus. Wer will, kann die Augen öffnen, hingehen und Dukaten vom Meer aufklauben. Das ist ein Märchen. Oder bloß Italien – also doch ungefähr das nämliche.
Jetzt wird man, denkt Beate, immer in Italien sein. In Sorrent, in der Schweiz, in Alexandria, überall in Italien. Wie das hübsch ist.
Sie fühlt etwas Glattes, Kühles und Leichtes auf ihrer linken Wange unterm Ohr, einen Kuß. Der Kuß tut sehr umständlich und respektvoll: die Gnädigste darf nicht aufgeweckt werden, o um keinen Preis. Als ob sie schliefe, hi! Ein lautes lustiges Zittern ist in Beate, wie wenn viel silberne Glöckchen in ihrer Brust klingelten. Jetzt – nicht die Augen aufmachen, o nein. Vielleicht kommt noch ein zweiter Kuß, so ein respektvoller, umständlicher, ein Kuß an die Schlafende! Am liebsten möchte Beate das rund heraussagen: »Du Elliot, küß mich nur, ich schlafe fest!«
Beate denkt an Sorrent, an die Schweiz, an Alexandria, und daß dort überall Italien sein wird. Es ruht sich angenehm und sicher in diesem Gedanken. Angenehm und sicher, das wird es wohl überhaupt werden, das Verheiratetsein. Zum Sichern und Angenehmen aber läßt sich gut träumen; man kann darin einschlafen, wie ein Kind in einer weiten Wiege von blauem Sammet:
»Du, Elliot – jetzt wird überall Italien sein, nicht wahr?«
Lothar fuhr nach Salerno, nach dem Norden, nach Wien.
Im Herbst, er kam eben aus dem Salzkammergut in die Stadt zurück, hatte Lothar den ersten Brief von Beate. Die blaue eidgenössische Marke, Helvetia mit Schild und Lanze, war auf dem Brief und die Vignette eines vornehmen Hotels im Engadin. Ei, sagte Lothar und liebäugelte mit der Vignette, Engadin, sehr gut! Beate, Beate ...! Nun, was schrieb sie denn? Viel Ausrufungszeichen wie immer. Lebhaft auf die Sache los. O Beate, kluger, prächtiger Kerl – Gruß ins Engadin, oder wo immer du seist; Kuß und Gruß!
»Lieber Lothar! Ein paar Tage, eh wir uns nach Alexandria einschiffen! Wie geht es Dir? Du mußt mir schreiben, oder bist Du noch zu bös? Ich bin schon seit langem eine richtige Frau Elliot! Wir haben in Montreux geheiratet, Anfang Juli, es war sehr heiß am Genfer See. Wie geht es Dir? Ich habe meinen Eltern geschrieben. Sie sagen, ich habe vernünftig gehandelt, alles Gute, sagen meine Eltern. Ja, die! Was verstehen denn die! Was mein Klavierspiel anlangt, so spiel ich jetzt wieder etwas besser. Ich habe ein paar Sachen, so Salonfetzen, für Elliot studieren müssen. Er hält mich für eine Künstlerin! Mir scheint, er will mich nebenbei auch ein wenig als Hausvirtuosin verwenden, bei sich daheim in Alexandria. Na, in Alexandria, warum denn nicht? Lothar, ist Dir nicht vielleicht doch ein wenig bang nach mir? Ach Gott, mir ist schrecklich bang nach Dir! Es ist kein Leben so ohne Dich. Elliot trägt mich zwar, ich muß schon sagen, auf den Händen, im Gegensatz zu Dir. (Du hast mich überhaupt sehr vernachlässigt, lieber Lothar, in Amalfi und auch früher schon in Wien, sehr häufig! Ich hab' geschwiegen, aber jetzt kann ich Dir's ja sagen. Übrigens, wenn ich jetzt wieder Dich haben könnte, würde ich wieder schweigen!) Ja. Also, Elliot liest mir die Wünsche von den Augen ab, und trotzdem. Ich will Dir sagen, wie es ist: einer lehnt behaglich am Kachelofen und wärmt sich den Rücken, es ist Winter, aber er träumt vom Sonnenschein und liebt den Sonnenschein. So ist mir zumut. Elliot ist der Kachelofen, sehr angenehm, weißt, aber etwas plump. Das übrige vom Vergleich will ich gar nicht erst erklären, Du bist so schon eitel genug auf Dich. Ich bin es auch, Lothar. Wenn ich an Deine Gucki denk', an die Blauen mit dem furchtsamen schwarzen Fleckerl in der Tiefe, weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich weiß nicht, soll ich sentimental werden oder aufgeregt. Du, das wird hoffentlich mit der Zeit besser, nicht? Es wär' doch schrecklich, ich in Alexandria, Du in Wien! Gut, daß Du nicht in Alexandria lebst, Lolo. Gott verzeih mir, aber ich glaub', ich wär's imstand. Und er ist doch ein so guter, guter Kerl von Ehemann! Übrigens, Du, ich weiß nicht! Ich werde nämlich ein Kind haben, weißt? Ich freue mich sehr auf das Kind. Und auf noch eins freu' ich mich: daß nicht Du der Vater zu dem Kind bist! Sei nicht bös. Und paß auf, warum: erbliches Stilgefühl, nein! Ich finde, es ist besser, wenn das verflixte Stilgefühl auf einen Menschen beschränkt bleibt, auf Dich oder Deinesgleichen, und Ihr solltet ohne Kinder sein, Ihr alle! Es wär' besser so für die Menschen, glaube ich. Nämlich, über Dein Stilgefühl mach' ich mir jetzt sehr viel Gedanken. Lach mich aus, oder sag: wegschmeißen, drauftreten wie auf eine schlechte Zigarette! Ich denk' viel nach. Dann an dem ganzen Unglück in Amalfi warst Du allein schuld, mein lieber Lothar, oder vielmehr das Stilgefühl war schuld! Hättest Du Dich damals nur ein bissel nachgiebig gezeigt! Hättest Du nur ein bissel eingelenkt! Alles wäre gut geworden zwischen uns. Es war ja nur ein Streit! Und ich bin nicht lang streitsüchtig, Lothar, ich bin zu Dir bitten gekommen, Du weißt es, aber Du hast gesagt, das ist Dir widerlich! Na also! Wie Du schon bist! Lebensglück muß nicht sein, Stilgefühl muß sein! Gut! Ich hab' nicht so viel Stilgefühl wie Du; ich versteh' es immer erst hinterher, aber nicht im Augenblick selbst. Gott, ich hab' einen Zorn auf Dich gehabt, Lolo! Zerreißen hätt' ich Dich können, Du Narr. Entschuldige. Davon abgesehen bist Du ja mitsamt Deinem ekelhaften Stilgefühl doch ein lieber, süßer, fescher Bub'!
Ach Gott, was hab' ich davon? In Alexandria!!
Du Lolo! Wie schaut's denn in Wien aus? Im Prater sind jetzt die Akazien gelb und rot, nicht wahr, und die Blätter rascheln unter den Füßen, wenn man durch die Hauptallee spaziert? Ja, ich bitte Dich, auch das noch! Ich pfeif' aufs ganze Verheiratsein ohne meinen Schatz und ohne Wien! Ich dürfte das eigentlich nicht sagen, wie? Nun, das ist mir einerlei. Grüß' mir nur Wien! Trotz der Vorteile Alexandrias – grüß' mir Wien! Und grüß' das kleine Blumengeschäft in der Burggasse, wo Du mir damals den ersten Buschen gekauft hast, erinnerst Dich? Und kauf' einen andern Buschen und schenk ihn Deiner jetzigen Liebe, wenn Du eine hast, aber denken sollst Du dabei an mich, nicht an die Neue, wenn Du ihr den Buschen gibst, hörst Du? Und sag' ihr, daß eine Dame in Alexandria sie sehr beneidet und eifersüchtig ist und eigentlich von Herzen gern an ihrer Stelle wär! Sag' ihr das, Lolo, meiner!
Ich könnte Dir noch vieles erzählen! ... Unter anderm, daß Elliot einen Augenblick lang ernstlich daran denken mußte, die Filiale in Alexandrien aufzugeben und das Hauptgeschäft in Glasgow zu übernehmen. Im August ist nämlich sein Kompagnon gestorben. Aber wir haben in Lausanne einen berühmten Professor konsultiert; der Professor meinte, ich könnte in Glasgow doch leichter einen Rückfall bekommen als im warmen Alexandria, und daraufhin hat sich Elliot für teueres Gehalt einen Direktor nach Glasgow verschrieben und wir bleiben hübsch in Alexandria. Jetzt aber höre ich zu schreiben auf! Am Ende könntest Du Dich noch verletzt fühlen, Lothar. Also – ich sag nichts mehr. Also, Lolo, meiner – – ach, lieber Gott, weil's wahr ist! – Sei halt fest abgeküßt und umarmt und leb wohl – – Bubi!! Deine Beate.«
Lothar legte den Brief fort. Er besann sich, schwankte lange. Endlich zerriß er den Brief und warf ihn mit einem kleinen Seufzer beiseite. Er hatte hohe, hochmütige Augenbrauen und einen trotzigen Mund, als habe er in einer Sache recht behalten und könne nichts mehr sagen als »angenommen, gut, nicht streiten!«