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Auf der Hohen Koppe war Pulverschnee gefallen. Heinrich Ull verließ den Zug mit einer Schar von Ausflüglern. Die Schneebretter sachgemäß auf den Rücken geschnallt, schritt er die Strecke der Landstraße dahin, ehe der Aufstieg beginnt. Da sah er ein Auto stehen. Offenbar Panne.
Zu seinem Erstaunen erkannte er den Besitzer, der daneben stand, während der Gummireifen gewechselt wurde. Er war in der Familie des Fabrikdirektors Dr.-Ing. Ferdinand Ettram eingeführt. Ull wurde angerufen und verweilte bis zur Weiterfahrt im Gespräch. Da legte ihm mit einem Male der Industrielle die Hand auf die Schulter und nickte wohlwollend: »Und Sie sagen nichts? Mir ist zu Ohren gekommen, Sie erfreuen sich der persönlichen Gunst meines erhabenen Kollegen Alfred Godwein?« Ull mußte bestätigen. »Mein Vater ist ein Freund von Herrn Geheimrat Gonßen. Die Herren wollen es mit mir versuchen.«
»Vergessen Sie uns andern aber bitte nicht ganz, schauen Sie bald bei uns vor. Wir sind aufs Land gezogen, nach Hanhagen.«
Die Damen im Wagen beteiligten sich an dieser Einladung, indem sie in ihren Gesichtszügen Kränkung vortäuschten und die Fäuste ihrer Handschuhe rundeten. Der Dr.-Ing. nahm seinen Sitz neben dem Steuer ein, der Fahrer stieg nach. Hemmungslos entglitt der Wagen den Augen des jungen Mannes.
Die Hohe Koppe ragt sechshundert Meter über dem Meeresspiegel. In ihrem westlichen Höhengrunde liegt ein Gehöft, welches ›Die Löhr‹ heißt. In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ging dieser Name zweimal durch die Zeitungen. Äußerst flüchtig nur, das steht außer Frage. Doch waren die beiden Ereignisse auf ihre Weise schwerwiegend, was niemand in 6 Abrede stellen wird, der vernimmt, daß es sich im einen Falle um einen Mord, im andern um einen Fliegerunfall mit tödlichem Ausgang handelte. Nun war der Student, der als Beobachter im Flugzeug mitfuhr und, als es zerschellte, unter den Trümmern neben dem verkohlten Piloten hervorgezogen wurde, Heinrich Ull.
Er blieb oberhalb stehen und sah von dem sich senkenden Kamm in die tiefere Mulde hinunter. Dort lag etwas, das wohl ein Haus sein konnte, aber kaum noch danach aussah. Die Schneemassen wischten es beinahe aus.
Vielleicht eine Stunde lang genoß Ull ein unbestimmtes Sichgehenlassen, das ihn befriedigte. Stampfend und gleitend legte er seinem geschmeidigen Körper tüchtige Arbeit auf. Er gab sich einen Ruck. Sein Blut spülte ihm pochend unter die Ohrmuscheln. Die Lungen pumpten kräftig. Seine Augen tranken den goldenen Wintertag.
Einige Kurzsichtigkeit behinderte seine Sehkraft: sie wurde zugleich durch die Rauchgläser der Schneebrille gedämpft. Da bemerkte er, wie ein behäbiger Skiläufer sich auf ihn zuschaufelte, ihm zunickte, ihn mit Namen rief und sich durch Lüften der Schneebrille zu erkennen geben wollte. Auf der Hinreise, auf den Bahnsteigen, auch im Emporwandern, hatte er mehrmals diesen Mann mit flüchtiger Neugier gestreift. Etwas Putziges fiel an ihm auf, zugleich etwas Handfestes – ein träger Spießer sah so nicht aus. »Ja, gewiß – aber Ihr Name? Verzeihen Sie.«
»Schultze,« wippte es, »mit Tezet, wenn ich bitten darf! Wir gehen öfters aneinander vorbei – manchmal täglich. Schön hier oben – was?« Er schmauchte an einer englischen Kurzpfeife und bemerkte gleich das weiße, jungfräuliche Papiersäulchen zwischen den Fingern des Studenten. Dienstbeflissen entflammte er sein Streichholz und schützte es in der halbhochgeschobenen Schachtel gegen den Windzug. »Sie wundern sich, daß ich Ihnen noch auf vorsintflutliche Weise Feuer anbiete. Im Schwabenalter wird man 7 zerstreut. Ich vergaß, als ich gestern den Anzug wechselte, den Nickelzünder zu mir zu stecken.« Ulls Blick überflog die eigene billige Garnitur und musterte den aufs beste ausgestatteten Sportler: »Sonst fehlt es Ihrer Ausrüstung an nichts?« Herr Schultze geriet in Eifer, als würden auf seinem Wams Flecken entdeckt.
»Sie meinen, weil ich ordentlich angezogen bin. Das darf Sie nicht kränken. Was denken Sie, bei einem Vorkriegsfeldwebel! Heute der Sport, früher der Kasernenhof.«
»Sie sind auf mich zugekommen. Ich werde von Ihnen angeredet. Sie wünschen?« fragte Ull ungeduldig.
Herr Schultze nahm Haltung an. Als hätte er eine dienstliche Meldung von Wichtigkeit an Vorgesetzte abzustatten. »Erlauben Sie, Herr Ull – in der Tat, da es sich gerade fügt, daß wir uns hier oben treffen –« Sein Gesicht trug etwas Feierliches zur Schau. »Sind nicht Sie damals dort drüben mitabgestürzt und wurden für tot aus den Trümmern gezogen?« Schultze zog seinen Mund in die Quere, so daß er aussah wie ein Briefschalter. Im schweigenden Zustande lagen seine Lippen schmal und pfiffig aufeinander.
Ulls Zigarette flog in den Schnee, verzischte hörbar und schmolz sich zum Verenden ein Grübchen aus. Er hatte wütend daran gesogen. Also eine ganze Zigarette lang hörte er nun schon zu! Es war ausgemacht – dieser Mensch da vor ihm, dieser Tezet-Schultze, störte ihn – dieser Werkmeister, oder auch schon Betriebsrat, ja gar Stadtverordneter, den er gelegentlich in den Direktionsräumen von Godwein und Genossen antraf – der fehlte ihm nun noch gerade hier oben!
Nun ging Schultze zum Vorstoß über. »Eine Minute, wenn Sie gestatten! Darf ich darum bitten? Ich sehe wohl, es ist Ihnen nicht erwünscht, von dritter Seite an den Fliegerunfall erinnert zu werden, er hätte Ihnen ja leider beinahe das Leben gekostet. Aber wozu machen Sie gerade hier halt? Hier, wo sonst nichts 8 zu suchen ist, was sportlich einigermaßen von Belang ist? Die Sprungschanze liegt auf der entgegengesetzten Seite. Also warum befinden Sie sich auf dem Punkte, wo wir jetzt stehen? Um sich zu erinnern, hat es Sie hierher gezogen! Leugnen Sie nicht! Sie dürfen mich, wenn ich so spreche, nicht für zudringlich halten. Und Sie werden es gewiß auch nicht tun, wenn ich Ihnen verrate, daß ich mich hier in einer vollkommen ähnlichen Lage befinde. Kurz und gut – dort, wo nachher Sie verunglückt sind, ist vorher einmal ein Mord verübt worden. Und darin besteht nun für mich das Jubiläum. Das Leben hat seine Launen – gleich zweimal an ein und derselben Örtlichkeit. Und nun gerade wir zwei Beteiligten, ausgerechnet Sie und ich, ohne daß wir es abgemacht haben? – – Nun, ich sehe schon, Sie wollen Ihr Pensum abwickeln.«
Ull hörte nur halb zu. Ja, freilich. Ein Mord? Davon hatte er läuten hören. »Sie waren dabei, sagen Sie?« Er hielt es für höflich, durch diese Frage seine Teilnahme zu bezeugen.
»Und ob ich dabei war –« beteuerte Schultze – »ich war's, der den Mörder dingfest machte. Mit diesen meinen Händen!«
»Sehen Sie mal an,« nickte Ull und schob sich auf einen günstigen Standort zurecht.
»Gute Fahrt, und bis nachher!« rief Schultze.
Das Leben gebar heute noch eine weitere Laune, sie bestand darin, daß sich in einer Mädchenschar auf dem Schneefeld Fräulein Ottilie Godwein befand, die Tochter des Generaldirektors Alfred Godwein, des Vorgesetzten und Arbeitgebers sowohl Schultzes als des Studenten. Die junge Dame hatte den Werkmeister wiedererkannt, er war als Figur nicht zu übersehen.
In der Erneuerung der Zeit seit dem Kriege gewann mit anderen Gepflogenheiten und Anschauungen die Ertüchtigung junger Leiber wesentlichen Wert. Zu den Lehrern solcher rhythmischer 9 Schulung zählte Frau Oly Fay. Nach ihrem Aussehen eine Dame von zeitlosen Jahren.
Diese Bewegungsschule stand nun auf Schneeschuhen. Frau Fay gab den Mädchen die sonnigen Stunden auf winterlicher Höhe frei, ließ sie ausschwärmen: »Tobt euch aus auf euern flinken Beinen!«
Die Emporsteigenden wurden beobachtet, wie sie kleiner wurden, sich auf der Fläche verteilten und in raschem Höherrücken bald das besonnte Schneefeld erreichten, und nach einer kleinen halben Stunde konnten sie um den Gipfel der Koppe gesichtet werden. Von da an fielen sie nun wie ein Flug Vögel unter den östlichen Horizont.
Als Frau Fay ganz allein, und zwar schnurstracks mit offenkundiger Kenntnis des nächsten Weges, auf jenen Kammsattel hinschliff, von wo man in der Mulde verschneit die Löhr liegen sieht, bemühte sich Schultze, nach einem Seitenblick auf den verschwindenden Ull, seine Kurzpfeife abermals in Brand zu stecken. Bei weichem und frischem Schnee huscht allerhand lautlos vorüber. Schatten lärmen nicht und sind doch die einzigen Anzeichen, daß etwas naht, ehe man der Person ansichtig wird. Schultze wurde von einem Menschenschatten erreicht und überholt. Er schaute herum und sah die Dame kommen. Sie hielt wenige Schritte über ihm mit Fahren ein. Im Rahmen der hellen Wollmütze, deren Enden hinter den Schultern sich kreuzten, stand ihr rundes Gesicht wie ein Mond. Sie stoppte in einem kurzen Kreise.
Schultze griff an seine Mütze, um seinen Namen zu nennen. Die Dame in der erdfarbenen Wollmütze neben ihm sah teilnahmslos an ihm vorbei. Ihr Mund bewegte sich: »Dort unten liegt's!« Und spähend: »Die Scheiben glänzen blind. Wie im Schnee versunken! Am Dachsparren läßt sich's zur Not erkennen.«
Herr Schultze legte sich etwas in seine Gleitstöcke zurück, unter seiner anstemmenden Körperlast bogen sie sich leicht. Ei siehe da, 10 noch jemand, der in diesem abgelegenen Winkel Bescheid wußte! Von einem hausbackenen Ehrgeiz beseelt, guter Gesellschaft teilhaftig zu sein, wo sich ihm Zugang zu ihr bot, verfiel sein schmaler Froschmund dann gern in einen leichtschnarrenden, schwerenöterischen Ton: »Ah – gnädige Frau sind mit dieser abgelegenen Gegend vertraut? Nicht zum Wiedererkennen, wenn man sie grün sah!«
Frau Fay rundete die Augen größer, drehte sie aufs neue von ihm weg, murmelte halblaut und lauernd – mit verschleierter Stimme, als ginge es gar nicht ihn an: »Sie sind Herr Schultze – Sie haben auf der Löhr einen Mörder verhaftet. Ist es nicht so?« Zugleich warf sie ihr Gesicht herum; ihr Blick bohrte. »Schade, daß Sie nicht gleich der Mörder sind! Ich hätte ganz gern zur Abwechslung einmal einen Mörder in Freiheit vor mir gesehen. Wissen Sie, so – daß es einem kalt den Rücken hinaufläuft. Die Welt ist ja unausstehlich langweilig. Oh – ich habe gar nichts dagegen einzuwenden, daß Sie ein braver Mann sind, Herr Schultze.« Barmherzig fügte sie hinzu: »Ich bin mit Schülerinnen hier. Die Tochter von Generaldirektor Alfred Godwein kennt Sie. Und das mit dem Mord, das stimmt doch? Ich wollte Ihnen nur einen gelinden Schrecken einjagen.«
Schultze faßte sich. Sein Mund verharrte eine Zeitlang in breiter Schalterform und nahm schnappend sehr viel Luft in sich auf. Dann prustete er behaglich: »Gnädige Frau tragen mir ja meinen Steckbrief nach!« Und er bat um Erlaubnis, eben rasch aufzuklären, wieso er damals dazu gekommen sei. Die schwierigen Zeiten. Von der Partei her war er mit Gesellen verhängt, die je länger, je mehr das Tageslicht scheuten – alte Freundschaften schlugen in Haß um. In der Rätezeit, als es auf Leben und Tod ging! Ein Aufruhr am anderen. Eine dieser Banden trieb sich hier in der Gegend herum. »Meine Bekannten dabei. Auch Weiber – verzeihen Sie! Ich war zufällig für einen großen Auftrag meiner 11 Firma hierher beordert! Die Löhr, damals ein Bergwirtshaus, müssen Sie denken! Eines Sonntags Tanzvergnügen – übel berüchtigt – allerlei Unterschlupf.« Und jetzt rauchte die reine Luft von seiner Atemwolke. »Da hat er sie denn ermordet. Ich war der einzige, der den Kopf oben behielt.«
»Meisterin, Meisterin!« Ihre beiden Gehilfinnen, Mirjam Lanz und Ottilie, stöberten in ihre Spur. Herr Schultze begrüßte geflissentlich Fräulein Godwein.
Aber die Künstlerin herrschte die Mädchen an: »Was soll das? Was treibt ihr? Wo bleibt die Schar?« Sie erfuhr, die zwölf Mädchen hätten soeben einen jungen Skiläufer umzingelt, er sei ihnen jedoch entronnen. Er fuhr gut. Schultze gab kund: »Die rechte Hand Ihres Herrn Vaters, gnädiges Fräulein!« – und nickte Ottilie zu.
Es ging gegen drei Uhr nachmittags zu. Der Himmel, wolkenlos, strahlte volle Glut, azurblau, südlich. Ull wurde weit hinabgetragen von dem Schwung, den ihm die geschmeidige Überwindung der nächsten Hügelschwelle verlieh. Die hochgeschwungenen Arme wuchsen aus der Kniebeuge auf. Gleitend ließ er die Stöcke an den Handgelenken hinter sich herschleifen. Die spielende Lösung der Glieder verschaffte seinem Leibe immerfort neue Antriebe im Vorwärtskommen. Ein sanft sinkendes, gelinde gehügeltes Gelände, Welle um Welle, bald leicht gehoben, bald geneigt. Vor einem Gehölz schwarzer Fichten, deren ausgezackter Spitzensaum ihm über den Kopf stieg, drehte er im Umschwingen bei. Er entschloß sich sofort zum abermaligen Aufstieg.
Er wählte zum Rückweg das Doppelgleis seiner eigenen Höhenspur. »Ich will mich bestätigen – will meine Spur vertiefen, auch wenn ich sie dadurch verwische.« Doch fiel ihm die Rückgewinnung seiner Fährte aufwärts nicht leicht. Die Steigung forderte seine Kräfte heraus.
Seine Augen beschauten die Läufer, die gleich ihm bergwärts 12 krochen. Und schon war er mitten in die Tanzschule geraten. Er wurde begutachtet, so laut und absichtlich, daß er stehen blieb. Umlagert und umlacht, sich förmlich badend in dem Gezwitscher, schlug ein Achselzucken von ihm, eine lustige Grimasse, ein treffend hervorgestoßenes Wort die munteren Kinder in das geschickt ausgeworfene Fangnetz seiner trockenen Lustigkeit.
Jawohl, sie hatten ihm zugesehen. Richtig frech war er losgeschoben. Da gab es doch eine böse Stelle, wo so ziemlich jeder kippt, der sie wagt. Gerade noch Hang, aber höchst abschüssig. Keine Rille eines Schneeschuhs war vorher dort zu sehen gewesen. »Sie aber,« schwirrte es ihm um die Ohren. »Keine Ahnung! Reiner Tor! Todesfahrt! Uns benahm's den Atem.« Er ließ die Bretter überschnellen, warf sich zurück, als wollte er sich auf den Rücken legen. »Ihre Gelenke müssen aus Stahl sein, daß Ihre Knöchel das aushielten.« Seine Sehnenbänder hatten sich gewölbt wie ein Kreisbogen. Wie ein daran angebrachter Henkel hatte es ausgesehen, während die Holzschienen fast senkrecht abwärts schossen. »Es hing ja doch alles davon ab, ob die Kufen vorne sich nicht einspießten.« Er hatte aber die verminderte Steilheit sehr gut wiedergewonnen. Sein hagerer Körper bog sich elastisch in die Höhe. »Auch in den angestrengtesten Lagen vollkommen entspannt.« Der Rundung seiner Bretter wurde ihre Eigenschaft eines Schlittens zurückgegeben. »Gleich einer niedergedrückten Feder, wenn man sie entlastet,« rief eine Gescheite aus der Schar.
Ull stutzte. Dieses Scherbengericht! In der freien Natur, da er doch die Einsamkeit aufsuchte! War es denn noch auszuhalten auf dieser Erde vor der Zudringlichkeit der Menschen? Jetzt rief eine Vorlaute: »Zur Sprungschanze mit ihm – hüpft drüber weg wie ein brauner Floh –« Er wurde ärgerlich.
»Hören Sie mal, meine Damen, wofür halten Sie mich?« Da schrie es im Chore zurück: »Für einen Springinsfeld – für einen Amokläufer – für einen Orpheus, hinter dem die Mänaden her 13 sind!« Nun schnitt er ein gottergebenes Gesicht. »Überbildete Mädchen – eine Gymnasialklasse, die einen guten Turnlehrer hatte – so etwas vielleicht!« Er musterte sie stillschweigend. Fast komisch sah es sich an. Breit gebauschte Hosen aus kotgrauem Loden, tiefblaues Wams – ein schwarzes Mützchen mit einem kurzen Stiel in der Mitte – nicht anders als ein umgestülptes Schüsselchen. Eine wie die andere – durchgehend vorgeschriebene Uniform.
»Nun wird's mir aber zu toll.« Kurz entschlossen brach er ab, »ich reiße aus. Ihr könnt mich fangen, wenn ihr wollt.« Einige Amazonen hasteten ihm nach. Zwei kamen im Übereifer zu Fall. Keine tat es ihm gleich. Schon war er halb im Tal.
»Die Meisterin!« ging es durch die Reihen der Zurückbleibenden. Das ebene Gleiswirrwarr sah bald einem Wege gleich, wenn auch einem unordentlichen. Oli Fay schob sich heran. »Sehn Sie, Herr Schultze, das ist meine Zucht. Mädels, hier – den Mann seht euch an. Da könnt ihr lernen, wie man sich anzieht, wenn man Skilaufen geht.«
Schultze lehnte bescheiden ab, fühlte sich aber in seinem Edelbarchent den windigen Stöffchen der billigen Lodenjoppen unwillkürlich überlegen. »Was wollen Sie, meine Damen, das sind so die einmaligen Ausgaben. Man hat es dann fürs Leben.« Schmunzelnd schüttete er mehrere Minuten hindurch lauter Sachlichkeit vor seinen Zuhörerinnen aus. Auf Heller und Pfennig und Haar und Faden wußte er Bescheid. Skistöcke hatte man früher aus Ulmenholz erstellt, jetzt ist Bambus das richtige. Und Loden gerät eines Tages zwangsläufig außer Kurs, weil er nur gewalkt und rauh gemacht, nicht aber geschert wird. Leider ist ja heutzutage die Qualität nicht mehr entscheidend. Die Reklame läuft ihr den Rang ab – das Warenhaus einerseits, das Spezialhaus anderseits. Ohne Frage, die beiden schafften es um die Wette. »Vom Trinkei, wenn man's immer frisch haben will, bis zur 14 Opelflugspritze, mit der wir uns noch einmal in den Mond hinaufflitzen lassen – was?« Die Mädchen staunten einhellig. Da konnte doch nichts mehr passieren, wenn man so Bescheid wußte.
Oli Fay fror an die Füße bei dem Stehen. Alle setzten sich nach der Sprungschanze in Bewegung. Dort würde man vermutlich auch auf Ull stoßen. »Aber diese da,« – Oli Fay zeigte auf Ottilie Godwein – »die darf er zwar sprechen und mit ihr fahren. Aber er soll nicht wissen, wer sie ist. Ihr Name wird vor ihm geheimgehalten. Aus Gründen.«
Unweit kam Ull auf die Gruppe zu, weil er in ihr Herrn Schultze gewahrte. Daneben auch drei weitere Damen. Sie waren anders angezogen als die Mädchenschar – in Frauenröcken – die Köpfe in erdfarbenen Wollmützen, alle drei gleich. Eine davon kam auf ihn zu. Auf den Brettern mühelos schiebend. Er wollte sich vorstellen. Aber sie sagte schon: »Herr Ull, nicht wahr? Ich bin Oli Fay – wenn Ihnen das etwas sagt. Lacht nicht, Mädels.« Er prallte ein wenig zurück. »Nicht möglich – die berühmte Dame, die tanzt? Und eine Schule hat und gastiert? Ach so, jetzt komm ich dahinter. Nein, gnädige Frau, nur vom Hörensagen – heißt das, auf den Plakaten, den Litfaßsäulen – überlebensgroß – Bilder von Ihnen sah ich natürlich schon.« Er trug dies unbefangen vor, mit guter Wirkung auf die Anwesenden. Zugleich blieb sein Blick auf Ottiliens Gesicht hängen, gleich hinter der Meisterin stand sie. Da sie ihrem Bruder, den Ull unterrichtete, ähnlich sah, erklärte sich seine anhebende Neugier.
In seinem Rücken begann das Spiel mit Wimpern und winkenden Händen. Um nun in der Ablenkung sicher zu gehen, entschloß sich Mirjam Lanz – Schultze hatte auch ihr sein Abenteuer erzählt – die Vermutung, die eben in Ull erwachte, zu zerstören: »Wo ist der Mörder? Die Meisterin sagt, hier sei ein böser Mörder.« Ottilie stieß mit dem Gesicht gegen Ull vor: »Sind Sie der Mörder?« Ihre blanken, eisgrauen Augen erstachen ihn fast.
15 »Unsinn, Kind,« schalt Oli Fay lachend, da sie die Hinterlist ihrer Getreuen durchschaute. »Verteidigen Sie sich nur selbst, Herr Ull.«
Die Mädchenschar kicherte ratlos über so grausige Gerüchte. Die Lanz besann sich: »Ach ja. Ich verwechselte. Nicht wahr? Aus dem Flugzeug. Schrecklich! Bei einem Haar! Siehst du, O . . .« Sie biß sich auf die Lippen.
Die andern bestürmten Ull. Aus welcher Höhe denn? Was? Dreihundert Meter – nicht möglich! Der Apparat verbrannt – der Führer tot – und er mit dem Leben davongekommen? »Mich überläuft Gänsehaut, Sie lebendig vor mir zu sehen,« rief Ottilie.
Der junge Mann stand unter der ›Schar‹ – liebenswürdig, zutraulich, empfänglich. Ein von vornherein natürlicher und einwandfreier Anblick. Das alles war so, wie es jetzt auf ihn hereinrief – dort drüben hinten, mit dem Daumen über die Schulter gezeigt, war er regelrecht zu Tode gefallen. Indessen doch nicht so ganz. War gegen alle Gerechtigkeit mit dem Leben davongekommen! Für das Leben davongekommen! So wie es ihn jetzt mitten aus dem Schneefeld umblühte! Warm strömte ihm sein Blut. Er gab Bescheid, lächelte, verstummte verlegen vor all dem Ansturm. Ja, was denn? Es war so, er konnte nichts leugnen. Von Rechts wegen hätte man ihm dort sein Grab schaufeln müssen, vor zweieinhalb Jahren.
Werkmeister Schultze kam sich nicht gern überflüssig vor. Er zog ein Kursbuch aus der Klapptasche seines Wamses und blätterte. »Welchen Zug nehmen Sie?« fragte Frau Fay. »Wir fahren alle zusammen hinunter.« Sie konnte so eine Frage tun und zugleich woanders sein. Ein irres Lächeln flatterte nach.
In der ›Schar‹ hob Jubel an. Uhren wurden verglichen, Abstände geschätzt, Riemen nachgeprüft und fester angezogen oder die Lockerung gesichert, Ratschläge erteilt für die sausende Niederfahrt. Es war ja noch Zeit. Man versank früh genug wieder ins 16 graue Tal. Ein Operettenschlager wurde angestimmt, doch nur, um alsbald zu verstummen. Der Student übernahm das Kommando. Ihm wollten sie nachstürmen, wohin es war!
»Zwanzig Minuten noch? Schön!« – schmetterte Ull hell. »Mir nach! Jetzt wird die Koppe genommen! Nur wer sich's zutraut, selbstverständlich! Die Schneeschicht liegt verhältnismäßig dünn. Es fährt sich schön, aber es fällt sich schlecht. Also: mit fährt niemand, der zur Erdoberfläche eine andere Lage einzunehmen gedenkt als die senkrechte!«
Er sah sich von acht Damen umgeben. Sie atmeten alle richtig. »Gut – ausgezeichnet! Nur keine unnötige Anspannung der Muskulatur an Hals und Schultern, gelt? Wir haben ja nichts hinaufzutragen als uns selbst. Der Aufstieg bietet Widerstand genug. Immer tüchtig das Zwerchfell mit herangezogen – leicht zischend die Luft entladen und dabei die Brust gewölbt stehenlassen, in angespanntem Zustande. Ich werde versuchen zu führen – wer hält Schritt?«
Ein kräftiger Stoß ihrer Stöcke – und Ottilie Godwein glitt neben ihn. Ein schönes Mädchen, dachte er. Heißt das – schön? Gewachsen wie eine Tanne. Das Gesicht kaum hübsch. Die Nasenwurzel etwas dick. Der Mund? Er stapfte aufwärts und schaute dann wieder nach. Rings geschlossen, sozusagen uneröffnet, lagen diese Lippen unter den etwas ausladenden Flügeln der Nase, kaum breiter als diese! Ungeküßt, spürte er. Alsbald sich verbessernd: Noch von keinem Manne auf den Mund geküßt – Und plötzlich, unter dem Einfall, daß wahrscheinlich Russinnen einen solchen Kurs besuchten: Sie sieht russisch aus.
Als die zehn Bergläufer oben waren, stand Ottilie vor ihm, ohne etwas zu ihm zu sagen, sie musterte ihn nicht wie er sie. Seinem Blicke, der sich um sie legte, nicht trotzend, ließ sie es geschehen, daß eine Pause daraus wurde, die den Gefährtinnen auffiel. Alle sahen sie zu, wie die beiden einander anschauten.
17 Einen Augenblick schien es, als werde Ull nach hinten umstürzen. Er schloß die Augen, wurde bleich und wäre mit dem Rücken hingesunken, wenn ihn nicht mit leichtem Schrei zwei nahe stehende Mädchen gestützt und gehalten hätten. Die freie Höhe lag unbegrenzt! Alle Richtungen der Windrose bis an ferne und tieferliegende Hügelzüge offen! Silberner Flaum, schimmernde Decke! Unter dem Duft und Dunst das ganze unendliche Reich der Heimat! Im Gewande eines solchen plötzlichen Wachtraums war Ull, auf dem Gipfel atemlos angelangt, von der rosigen Ohnmacht überfallen worden. Sie bog den sehnigen Jüngling zurück wie einen Halm.
Eine Schwebung später als ihre beiden Gefährtinnen, die ihm beisprangen, bemerkte Ottilie, die vor ihm stand, seine Schwäche. Ein Seufzer entfuhr ihr abgebrochen, schon Ton und Tod in einem. Wieder stachen ihn ihre eisgrauen Augen – diesmal der Hieb des Sporns. Er erwachte daran ins volle Bewußtsein. Sein männlicher Wille riß ihn empor, weil er Scham verspürte.
»Ach, verzeihen Sie, wie ungeschickt von mir.«
»Sie müssen nach Davos!« schrie eine Angst ihn an. Sie kam geflohn aus Ottiliens Kehle und war schon keine Angst mehr, war schon Freude.
»Nach Davos? Gott behüte mich – was soll ich dort? Bin doch nicht brustkrank, leide nicht am fallenden Weh – hab auch sonst kein Überbein –« Er wurde beschwichtigt, wurde belehrt. Ach nein, nur weil er so glänzend Ski lief. Er konnte sich an Meisterschaften wagen! Die Sprungschanzen dort – gegen die war die da vorn eine Kinderwippe. Aller Wintersport bekam seinen Segen erst in Davos. Davoser Schlitten, Davoser Hockey – er solle sich nur nicht lang besinnen und eben auf ein paar Wochen hinfahren, jetzt im Schnee.
Er hörte sie reden und unterschied zwischen der ›Russin‹ und der ›Schar‹. Denen da in den blauen Jacken und den kotgrauen 18 Beinkleidern deckte das Mützchen mit dem Stiel das Haar nur wenig – der Wind zauste neckisch an Blond und an Schwarz, ja sogar an loderndem Feuerrot herum. Aber wie war es mit der Begleiterin bestellt, die gleich der Meisterin die erdfarbene, geknotete Wollkappe trug? Da blieb nur die Unterstirn, das Gesicht und der Halsbogen unterm Kinn sichtbar. Einzig das Oval war freigegeben – wie aber war der Schädel geformt? Was hatte die ›Russin‹ für Haare?
Als merkte sie es an den Runzeln und Falten, daß es auf sie abgesehen war, lenkte Ottilie ihn ab. »Was für ein lustiger Mann ist doch dieser Herr Schultze? Man sollte meinen, er wäre Tuchhändler, so hat er uns den Unterschied von Barchent und Loden erklärt. Und dabei hör ich, er sei Fabrikaufseher – irgendwo –« Hinter Ulls Rücken begann die stumme Zeichensprache wieder. Was für ein Schlingel war Ottilie!
»Dieser Herr Schultze trieft vor Erfahrung!« warf sie großartig hin. Darüber vergaß Ull die nagende Neugier nach der Farbe ihrer Haare. Was für eine gute sprachliche Prägung! Über einen gesprächigen Pfahlbürger, der von allen Dingen des Alltags Bescheid wußte, das Urteil abgeben, er triefe vor Erfahrung, das war keck hingehauen in Worten – das saß!
Einige der Schar bekamen es mit der Unruhe. Die Stunde rückte vor. »Geht ihr nun schon,« bedeutete ihnen Ottilie, »wir kommen zeitig und überholen euch noch.« Ull horchte. Sie sagte ›Wir‹? Sie meinte sich und ihn?
Die acht gehorchten, traten den Talweg an. Allein standen beide oben auf dem Gipfel neben dem dreieckigen Stangenspitzkant. Weit und breit kein Ausflügler mehr um die Wege.
Die purpurne Bräunung eines klaren Wintertags vor Einbruch der Nacht. Gedämpftes Gewölk, Federwölkchen, lagen am Horizont, wie eilige Pfeile, schlank und spitz. Die Hügelzüge der niederen Ferne erblauten tief, verloren ihre Gestalt. Unter der 19 Himmelsglocke das duftige Spiel der Lüfte. Unwirklich leuchtend in ihren flüssigen Farben, nur Gase noch von Grün und Rosa und Gold!
Nur noch die Hohe Koppe hatte Sonne. Der glühende Ball, im Firmamente schwimmend, gewährte die letzten schrägen Strahlen für den Nordabhang. Dem Berge stieg die Dunkelheit bis zum Kragen. Alles strebte den Abendzügen zu. Herr Schultze kam sich nicht länger vernachlässigt vor. Die Führung übernahm er mit dem Ehrgeiz, die Koppengänger ganz unten zu empfangen. Er eiferte und berechnete. Erst am Fuß des letzten der zurückgelegten Hänge kamen sie nachgefahren. In einer glänzenden Fahrt allerdings. Rufe und stäubende Gleisspur kündeten die Nahenden an. Die Spätesten hielten die Spitze. Ull und Ottilie. Von der rotglühenden Kuppe löste sich schwebend das Paar, durchschnitt den nahen Schattenrand, als ginge es durch eine Grenze, büßte Farbe und Erkenntlichkeit ein, erreichte die Gefährtinnen, erreichte viele andere, auch Schultze, und überholte alle. Nun war der Trupp beisammen. Die Skier wurden abgeschnallt, quer auf den Rücken gebunden oder geschultert.
Der Wegrest bis zur Bahnstation wurde rasch zurückgelegt. Es gelang Ull nicht, seine Partnerin noch neben sich zu bekommen. Sie entzog sich ihm. Offen nach ihr zu fragen, wagte er nicht.
Frau Fay wurde gewahr, daß sie mit dem Werkmeister auf dem Bahnsteig allein stehe, abseits von den Schülerinnen und dem Studenten. Da ging es ihr auf, es sei vielleicht ganz klug von ihr, und zog den biederen Mann ins Mitwissen. »Nun, es schwatzt sich ja so viel herum – ich brauche nichts zu verbergen. Besser, Sie erfahren von mir, was daran ist, als daß Sie sich Lügen zutragen lassen, Herr Schultze. Auch mich kam die Lust an, wieder einmal in die Mulde hinunterzuschauen. Auch ich habe etwas verloren auf der Löhr oben. Wie, das hat sich nicht herumgeschwatzt, daß der Generaldirektor Godwein mich einen Sommer 20 lang hier oben wohnen ließ und selber immer zum Wochenende herauf kam? Sie machen ein verschwiegenes Gesicht. Nun ja – ich dachte mir's. Was wird nicht alles herumgeboten? So war's und nicht anders. Nur daß Sie's wissen. Aber kein Sterbenswort davon zu diesem Herrn Ull, wenn Sie zusammen nach Hause fahren.« Schultze nahm dieses ihm geschenkte Vertrauen in der vollkommenen Achtungsstellung des gewesenen Unteroffiziers entgegen.
Der Zug, der die Fay-Schule in der entgegengesetzten Richtung entführte, schluckte einen großen Teil der gedrängt harrenden Menge in sich auf. Ull eilte vor dem Wagen hin und her. Er suchte in den rotgelb erleuchteten Vierecken der Fenster nach der ›Russin‹. Über die heruntergelassenen Scheiben beugten sich andere der Mädchen heraus, mit immer wieder anderen Händen. Wie es anstellen, daß er die ihren zu fassen bekam? Auch mit Vornamen rief man sie nicht, er hatte in der letzten Viertelstunde aufmerksam hingehorcht – das gute Glück war gegen ihn verschworen.
Dafür trat Frau Oli Fay noch an eins der Fenster und reichte ihm gelassen die Hand. »Sie freuen sich an den Menschen, die um Sie sind. Das könnte ich von mir nicht immer behaupten,« meinte sie begütigend – übrigens wünsche da noch jemand sich von ihm zu verabschieden. Auf geheimes Geheiß traten die übrigen vom Fenster zurück. Das ersehnte Bild stand allein im Fensterrahmen und sprach zu ihm:
»Nicht wahr, Herr Ull, Sie vergessen nicht – für einen Wintersportler wie Sie gibt es nur noch Davos!« Die Stimme erklang in tiefer Lage. Ulls Augen wollten es den begünstigteren Ohren nachtun, wollten auch noch etwas ins Andenken erhaschen.
Er verlegte sich aufs Scherzen: »Eisgraue Augen haben Sie ja – aber ob Sie blond sind? Diese eure Wollmütze!«
Im Wagen lachten sie. Einige Hände langten nach der Kopfbedeckung, um sie ihr abzuheben. Ja, sie selbst erhob beide Hände und schob die wollene Kapuze von der Stirn hinter sich. Im selben 21 Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung. So langsam die Räder zunächst nur vom Fleck rückten, das bewußte Fenster legte sich hinter einen Tragpfosten des Vordachs. Er lief mit. Aber der Stationsvorsteher mit der roten Mütze lief ebenfalls mit. Die Kreisscheibe am erhobenen Befehlsstabe verdeckte den Fensterausschnitt. Noch hätte sie sich nur vorzubeugen brauchen, das enthüllte Haupt der grüßenden Hand nachneigend – sie tat es nicht! Dann verunmöglichte ein falscher Schlagschatten die letzte Gelegenheit. Da die Ausfahrt eine Schleife bildete, schwenkte der hinterste Wagen ein. In der Mitte über den Puffern höhnte ein rotes Glasauge. Es war zum Rasendwerden. Nun wußte er nicht, was die Russin für Haare hatte!
»Aber vielleicht wußte Schultze das?«
Sie saßen einander gegenüber. Im ratternden Raume des Abteils befiel ihn das Unbehagen stärker. Da hatte er's nun – ein Wochenende kittet rasch zusammen.
Dieser Fabrikaufseher konnte nicht anders, als in derjenigen Zeitspanne ganz aufgehen, in der er sich selber befand. In dem gerundeten, leicht geröteten Gesicht rührten bewegliche blaue Augen gutmütig alles an, was in Sehweite lag. Er musterte Hüte und Rucksäcke der Reisenden. Auch erkannte er sofort eine an sich belanglose Neuerung an der Ausrüstung des diensttuenden Schaffners. Auf Befragen bestätigte dieser, daß es die erste Dienstwoche sei, da sie getragen werde.
Nichtakademikern hört ein Student meistens mit beleidigender Herablassung zu.
»Wir haben ja beide fast täglich mit dem Generaldirektor zu tun. Das ist wohl einer der erfolgreichsten Geschäftsleute seit dem Kriege. Wissen Sie noch jemanden, dem alles so geraten ist, wie ihm?« So fragte jetzt Ull.
22 »Sie wissen, er ist emporgekommen?« tastete Schultze. »Die Mutter war Waschfrau.«
»Ich wohne bei ihr,« bemerkte der junge Mann. Er sagte dem Werkmeister nichts Neues. Schon die früheren Hauslehrer und Privatsekretäre hätten da gewohnt. Gleichzeitig taute Schultze am Wagenfenster mit seinem Hauch ein Guckloch auf, erhob sich, griff ins Querfach hinauf nach den Rucksäcken: »Wir wechseln.«
Als sie in den Schnellzug hinüberstiegen, bekam Ull einen Begriff von dem überragenden Ansehen des Sozialdemokraten innerhalb seiner Partei. Der Schaffner holte beim Einsteigen Schultze aus dem Knäuel der andrängenden Menge heraus. »Wieviel sind Sie, Schultze? Bloß zwei. Na, da kommen Sie mal mit her,« und wies ihnen wegen Überfüllung der ›dritten Güte‹ statt Holzklasse Polsterklasse an. Die Rucksäcke lagen nun in Tragnetzen, die aus Schnüren geflochten waren; sie selbst saßen sich auf braunem Mokettüberzug bequem gegenüber. Aber das Gespräch sank auf den toten Punkt. Die gesunde Müdigkeit der sportlichen Arbeit machte sich bemerkbar. Bald nickte der eine ein, bald der andere. Zwei Stunden, wenn auch Eilzug, wollen eben doch abgefahren sein.
Plötzlich war vor Ull wieder das Bildchen da! Was hatte die Russin von Schultze gesagt? Das war ja wirklich ganz ausgezeichnet gewesen! Daß er von Erfahrung triefe! Ull wurde ganz munter bei der Erinnerung. »Hören Sie, Herr Schultze, das muß ich schon sagen, gegen Sie läßt sich allerdings nicht aufkommen. Sie triefen ja vor Erfahrung.« Auf diese Worte hin zog der Werkmeister verdutzt sein Gesicht krumm und griff sich sein Taschentuch heraus. Er verwendete diesen Gebrauchsgegenstand so, als wäre er über einer feuchten Nase oder tränenden Augen ertappt worden. Ull ließ das Mißverständnis nicht peinlich werden. »Ach nein, ich meine bloß, daß alles Hand und Fuß hat, was Sie sagen,« beschwichtigte er. Es hatte wirklich nicht in seiner Absicht 23 gelegen, dem guten Manne zu nahe zu treten. Fast fand er Gefallen an ihm.
Der Werkmeister spürte dieses unausgesprochene Einvernehmen heraus und war nicht der Mann, es zu unterschätzen.
Als sie auf dem Bahnsteig ihrer Stadt standen, stellte Ull fest, daß sie nicht die gleiche Elektrische zu benützen hätten. »– war mir aber wirklich äußerst angenehm. Auf Wiedersehen, Herr Doktor – das sind Sie ja wohl bald? Bestimmt auf Wiederschaun!« Beim Handschlag vor dem Auseinandergehen verfiel Schultze leicht in eine amtliche Achtungsstellung.
Heinrich betrat sein Zimmer gegen Mitternacht, streifte Mütze und Lodenkragen ab und setzte sich in das kleine Sofa, das nicht auf das beste gepolstert war. In der Eisenbahn saß ich weicher, in der Allgemeinheit lebt unsereiner besser als im Privatstande. Das verdanken wir der Sozialdemokratie. Sie sollen hochleben, Herr Schultze! Er sah sich nach seinem Tee um.
Vereinbartermaßen stand der braune Topf dort, wo er zu stehen pflegte. Die alte Godwein hatte Wort gehalten. Sie hatte ihm den Lindenblütentee hingestellt wie immer. Auf die Bedienung war hier noch Verlaß. Er holte sich Topf und Tasse heran.
Komisch, hochkomisch, was man erleben kann! Ausgerechnet Oli Fay – von der Reklamewand heruntergestiegen – sich unters Volk gemischt – droben auf dem Skifeld! Sieh mal einer an! Er goß sich ein. Die Brühe duftete nach der Blüte, aus der sie gekocht war. An dem leichten Frühlingsgeruch wurde er munter. Der Tee war unter der Mütze beinahe heiß geblieben. Der Schluck rann ihm durch die Glieder. Und er trank gleich die zweite Tasse hinterher.
Erregt sprang er auf. Sein Blick suchte Bücher. Die meisten standen auf dem Regal. In ihrem ›Stall‹, wo sie hingehörten! Einige lagen aber auch unaufgeräumt auf den paar waagrechten 24 Flächen des kleinen Raumes. Gewiß, er schlug sich mit Lehrbüchern herum.
Sein Doktorexamen zog sich hinaus. Die Wahl des Hauptfachs hielt ihn in Spannung – knirschend gestand er sich das ein.
Strich unter das alles! Es gab einen Ausweg aus der Unruhe. Wenige Minuten später lag die Stube dunkel und war erfüllt von den regelmäßigen Atemzügen eines Schlafenden . . . Am anderen Morgen, noch ehe er die Augen aufschlug in das graue Zwielicht, das durch das verhängte Fenster nach seinem Bette hin sickerte, lag ihm ein Gedanke deutlich und tatsächlich im Sinn: Die andere Leibnymphe der Oli Fay hieß doch Mirjam Lanz. Die streifte die Mütze zurück – sie hatte schwarze Haare. Die standen ihr gut zur bleichen Hautfarbe. Sie war wohl Jüdin. Er trauerte nicht länger. Mit dem guten Schlaf war seine Verliebtheit gewichen. Jetzt war Werktag, das gefiel ihm auch nicht schlecht. In bester Stimmung zog er sich an.
Das saubere Einfamilienhäuschen lag in einem werdenden Außenviertel. Eine Großstadt treibt ihre Ausläufer ins Gelände. Angefangene Straßen mit gelben oder backsteinroten Häusern laufen unfertig aus. Abraumplätze klecksen häßlich zwischen Wiesen. Verwahrloste Baumgruppen, mit grauem Baustaub bespritzt, ragen aus ehemaligen Landsitzen, die nun der Güterschlächterei anheimfallen. Ringsum breiten sich die Pflanzgärten des armen Mannes mit Gemüsebeeten und Hüttenlauben aus. Liniert und skizziert durch einige schnurgerade Zeilen hellroter Dächer, neuangepflanzte Gärten und künftige Alleen ist diese Eigenheimsiedelung, in Belohnung sparsamer Lebensführung und rechtschaffenen Wandels, vom Stadtrat angelegt.
Tag für Tag als erste schlug auch heute frühmorgens die Witwe Brigitte Godwein im Quartier die Fensterläden zurück. Sie trat 25 vor die Haustüre und sah empor zum nächtlichen Himmel. Zugleich warf sie den Blick nach dem Fenster ihres Zimmerherrn, ob es schon erleuchtet sei. Nun stieg sie solange in die kleine Waschküche hinunter.
Als sie später in ihr Eßzimmer trat, stand er, die Hände in den Hosentaschen, den Rücken gegen die Tür, vor einem großen Steindruck, der eingerahmt an der Wand hing: ›Die Rosse von Mars-la-Tour.‹ Ein Trompeter blies hoch im Sattel zum Sammeln. Vorn herrenlose Pferde, sich bäumend; andere stoben von hinten herzu. Welch grausamer Kitsch – und der da macht's nicht besser. Er griff nach einem in gelbes Leinen gebundenen Bändchen und blätterte darin, da brachte sie das Tablett herein.
Die alte Frau war in ihrer Mädchenzeit eine Zeitlang beim Dichter Theodor Fontane Dienstmädchen gewesen. Auch sein Bild zierte in Glas und Rahmen die Wand und war mit seinem Namenszug versehen. Später hatte sie ihm jahrelang die Wäsche ins Haus gebracht und war manchmal von ihm ›meine Tochter‹ angeredet worden.
»Nanu, schon auf den Beinen?« grüßte sie. »Ich wäre klüger an Ihrer Stelle. Wer lange schläft, den Gott ernährt. Ist gestern spät geworden – wollten Sie sich nicht auch mal was gönnen?«
Indem er sich ihr zuwandte, senkte sich sein Unterkiefer ein bißchen – Erstaunen, mehr noch Unglaube malte sich auf seinem Gesicht. Sein Blick heftete sich an ihr vorüber an die Wand; zugleich entsank der Fontaneband seinen Fingern und fiel auf einen Stuhl. »Da hängt ja was Neues? Seit wann hängt es da? Die muß ich doch kennen? Wie kommt die hierher?« Er beugte sich über eine gerahmte Photographie. Unter der Uhr hing sie und mußte an dieser Stelle erst vor kurzem gegen etwas Älteres vertauscht worden sein. Eine Täuschung war nicht möglich –: seine Russin!
»Das dächte ich wohl, daß Sie die kennen sollten – kommen 26 Sie doch täglich dort ins Haus – das ist doch Ottilie, Alfreds Älteste –«
Ahnungslos sagte er: »Nein, diese Ähnlichkeit!« An der nächstliegenden Folgerung dachte er blind vorbei. Was sollte er Verwunderliches daran finden, daß ein Mädchen gleichen Alters einem anderen, wildfremden ähnlich sah wie ein Ei dem anderen? Blutferne Formen wiederholten sich, wo sie Lust hatten. »Ach, was Sie nicht sagen, soso, das ist Ihre Enkelin. Ich fuhr gestern Schneeschuh mit einer Turnerin oder Tänzerin – es könnte die Zwillingsschwester sein.« Und er setzte sich an den Kaffeetisch mit der großen Kanne, der Butterschale und den Weißbrotknüppeln. Die Witwe Godwein in der geklöppelten weißen Haube führte die Unterhaltung auch diesmal stehend – zwischen Tür und Tisch; der Zimmerherr sollte auf der Stelle bedient sein, sobald es an etwas fehle.
»Sonderbar ist es ja,« erklärte er jetzt. »Nun – verstehe – eben standesgemäß. Einen Hauslehrer hält man sich vom Leine.«
»Die Gemahlin ist eine gar Stolze,« versetzte sie kleinlaut, »eine Adelige. Mich hat sie sich noch nie besehen. Und doch hätte sie Zeit dazu gehabt.« Die Haarflechte erglänzte ihr silbern über der Stirn.
»Zimmer vermieten, das würde Ihnen das blaue Blut vielleicht noch verziehen haben, aber die Wäscherin? Und sieht denn Ihr Herr Sohn nicht klar?«
Sie nahm den Einwand auf die Ehre. »Habe ich es Ihnen nicht brühwarm erzählt vorige Woche?« – Als er auf zwei Minuten mit seinem Wagen bei ihr vorfuhr und sie unten im Erdgeschoß überraschte – mit Lackstiefeln, deren Spitzen er zwischen die Ausgußbäche auf die trockenen Stellen des Zementbodens aufsetzte. Wohl hundertmal schon habe er es ihr verboten. Aber was das eigentlich heiße, ihr die Arbeit zu verbieten, solange sie nachweisen könne, daß sie nützliche leiste. Nie blieben ihr die Bestellungen aus. »Lauter ordentliche Kundschaft, Herr Ull – und ich suche 27 sie mir aus – jawohl!« Die getragene Wochenwäsche würde hergebracht oder abgeholt durch Nachbarskinder in Körben, auf Handwagen.
»Verstehe!« warf der junge Mann unbarmherzig hin und stellte mit einem klirrenden Schlage die ausgetrunkene Tasse auf den Untersatz, »die Katze läßt das Mausen nicht!«
Der Alten wurden die Augen feucht. »Ach,« wehrte sie sich, »man läßt schwer von dem, was man kann. Eigenbrot nährt besser als Gnadenbrot.«
Die Tränen flossen ihr still: »Jetzt will ich Ihnen etwas sagen.« Sie ballte ihre weißgelaugte Wäscherinnenfaust und stieß damit gen Himmel: »Solang es noch Dreck in der Welt gibt, kann unsereins vom Waschen nicht lassen.« Bis auf das winzigste Pünktchen und Fleckchen allen Schmutz herausbringen aus einer strahlenden weißen Leinwand! Und wohlgemerkt, nur mit Wasser und guter Schmierseife, dank ihrem Paar fleißiger Hände. »Keine ätzenden Zutaten!« Kunden, die ihr Schonung der Wäsche noch besonders meinten anempfehlen zu müssen, kamen bei ihr schön an. »Ich und Chlor gehören nicht zusammen. Bei mir wird alles klar gewaschen.«
Die Gefühlsausbrüche der Wirtin forderten sonst meistens seinen Beifall heraus oder belustigten ihn heimlich. Diesmal vermehrten sie seine Verstimmung. Die rührseligen reiterlosen ›Rosse‹ im Bilde da oben und der alte Fontane mit eigenhändiger Inschrift – für den legte er auch nicht die Hand ins Feuer, ob seine Bücher den drohenden Stockflecken entgingen. Vielleicht Kitsch nicht gerade, aber doch in das unvergängliche Kapitel gehörig vom Fraße des Rostes und der Motten!
Sein Frühstück war beendet. Er erhob sich vom Stuhle. Wieder fesselte ihn das Bild des Mädchens. Es war ihm entfallen, daß es da hing, während er ihm den Rücken kehrte.
»Ottilie, sagen Sie? Seit wann hängt es denn da?« Ihr Sohn 28 habe es ihr mitgebracht, kürzlich, bei seinem letzten der seltenen und heimlichen Besuche. Und aufgehängt hatte sie es gestern nachmittag. Vor einem Jahr etwa verweilte das Mädchen zur Kur in der Schweiz. »In Dowas – gibt's das? Oder wie heißt's doch gleich?«
»Davos!« Auch das noch! Hatte nicht die Russin gestern ihm den Besuch der berühmten Luftheilstätte empfohlen? »Wissen Sie was, Mutter Godwein. Heute nachmittag, vor der Stunde mit Karl, schicke ich meine Karte hinein und versuche bis zur gnädigen Frau vorzudringen. Mehr als nicht empfangen werden kann ich ja nicht. Vielleicht habe ich Glück und bekomme gleich auch noch ›dies Bildnis ist bezaubernd schön‹ im Original zu Gesicht.«
Um nicht im Unguten von ihr zu gehen: »Sehn Sie, Sie prächtige Frau,« – Ton und Blick machten nun alles wieder gut. »Das, was Sie da mit Ihrem Reinemachen schmutziger Wäsche immer noch treiben, das heißt heute Sport.« Die Witwe beendete den Wortwechsel erst unter der Haustüre, als der Mieter mit offener Windjacke die Straße hinunterlief. Von der um einige hundert Meter entfernten Endhaltestelle tönte ungeduldig das Läutezeichen.
Heinrich schwang sich im Augenblick der Abfahrt neben den Führer auf das Trittbrett. Sein Blick, zufällig geradeaus gerichtet, fiel auf den eisernen Schienenstrang. Eifrig und unentwegt lief der Doppelstrich aus Stahl vor dem eilenden Wagen her. Hatte er gestern nicht auch über den Parallelismus der Schneespur unter seinen Skiern nachgesonnen? Nun aber nicht Schnee, der zerrann – nein, Stahl, der blieb! Das durfte sich noch sehen lassen, seit gut hundert Jahren hatte sich's bewährt. Die auf dem gleitenden Erzbande erzeugte Eile blieb nicht ein ergötzliches Privatvergnügen des einzelnen.
Dann beobachtete er den Wagenführer, einen stämmigen, untersetzten Mann – mit den Händen bediente er die Griffe und 29 Kurbeln und ließ mit der einen Schuhsohle die schrille Glocke ertönen. Vor ihr wichen auf der vorliegenden Strecke rückständige Fußgänger und Fuhrwerke schleunigst zur Seite. Sichtbar nützliche Wirkung eines Fußtrittes im Dienste der öffentlichen Wohlfahrt!
Aus den Seitenstraßen und durch Häuserlücken fiel Sonne ein. Leichte Lichter tanzten auf den beiden schwarzen, dünnen, unverrückbaren Linien. Sie schmiegten sich dem Gange der Straße an, buchteten aus, flogen im flachen Winkel auf eine neue Aussicht zu. Der Wagen stieß das Schienenpaar eilends vor sich her. Die Straße bot sich jetzt anders dar als noch eben – größere Häuser, mehr Geschäftsauslagen. Der Verkehr nahm zu. An einer Haltestelle, schon mitten in der Stadt, stieg ein Bekannter zu. Ein Wort gab das andere über den gestern verbrachten Sonntag. Sie tauschten Erwägungen über die genossenen Sportfreuden.
Als sie ausstiegen, fing der Begleiter an, ihn zu beneiden. Er verkörpere in einer glücklichen Form den sonst etwas aus der Mode gekommenen Nachkriegstypus des Werkstudenten – halb lebe er seinen Studien, halb seinem Verdienst. »Sie sind fein heraus, der allmächtige Godwein braucht Sie im Büro und braucht Sie bei sich zu Hause. Wen unterrichten Sie eigentlich?«
Die zudringlichen Erkundigungen verdrossen Ull. Er warf sich im stillen vor, viel zu offenherzig gegen Fernerstehende zu sein. Diese Vertraulichkeit konnte sich rächen. Er vergeudete seine Kräfte, statt immerwährend den Blick streng auf den einen Punkt zu richten, wo gerade das Ziel saß. Er war viel zu sehr den Eindrücken preisgegeben, die an ihm vorüberhuschten. Weg mit allem Gaukelspiel, es taugte nichts! Geschäft, Wissen, Umgang mit Menschen und dessen feinste und schwierigste Spielart, die Liebe – das alles durfte nicht im Unbestimmbaren flackern und schweifen. Es mußte feststehn, kaufmännisch greifbar, auf kurze Sicht fällig! Wann schrieb er, Ull, sich das endlich hinter die Ohren?
Auf dem Randstein des Bürgersteigs, während der andere 30 lebhaft auf ihn einsprach – er hörte nicht, was –, riß er sich mit einem Ruck los und ließ den Jemand stehen.
›Gonßen AG.‹ – lief ein Band feingeschnittener metallener Lettern oben quer durch die Fassade mit den strebenden Pilastern am grauen Sandsteinbau, der den Platz beherrschte.
Heinrich ging nicht durch den großen, noch neuen Eingang für das Personal, das nach Hunderten von Köpfen zählte. Er war nicht Beamter der Firma, sollte überhaupt nicht auffallen, wie einer, der dazugehört. Er war eine der sogenannten ›rechten Hände‹ des Generaldirektors, deren gab es mehrere; doch wechselten sie öfters bis auf die wichtigste, geradezu unentbehrlichste; eine Dame, Fräulein Hilde Dohm.
Bis zu seinem Arbeitsplatz hatte er einen längeren Weg zurückzulegen. Fünf granitene Stufen des Torvorsprungs. Die schwere Gitterpforte aus viereckigen schwarzen Stahlstäben dreht sich mäuschenstill. Lautlos verneigt sich des Pförtners grüngoldene Kleidung. Die ehemalige Staatstreppe im alten Gebäude, marmorn, aus einer oberen Kuppel belichtet – unhörbar auch der eigene Schritt auf dem dicken Läufer – dämpfende Farbenfenster zwischen Säulen.
Der Flur zieht sich, ein langer Gang, Tür an Tür. Jede von dunkelgebeiztem Eichenholz umrahmt und einem geschnitzten Quersturz gekrönt. Nirgendwo eine Zahl oder Nummer, keine Schilder mit gemalten Händen oder Aufschriften. Und niemand um die Wege. Auch hinter den Türen kein Laut, kein Geräusch. Erst am Ende des Korridors tritt ein alter Diener aus der Loge, er trägt einen schwarzen Frack und eine weiße Halsbinde. Er verneigt sich wie unten der Grüngoldene, beantwortet eine Frage, richtet einen Auftrag aus und klinkt die zweiflügelige Tür auf, die den Gang abschließt.
Ein runder Vorraum mit Wartesesseln. Auf einem Tisch liegen 31 Zeitschriften aus. Derselbe Diener tritt aus der Garderobe, um Hut und Stock abzunehmen. Er hat zu tun. Hier ist der mittelste Sitz einer der ausgedehntesten Verwaltungen Deutschlands. Eine große Tür, nur klare Scheibe in Metallrahmen, Eingang und Ausgang, mit dem Blick in den Anbau, ruht nicht vor ständigem Verkehr.
Ull, hutlos, reichte ihm die abgestreifte Windjacke und betrat die Schreiberei. Zunächst die Registratur mit den Regalen und den endlosen Zeilen der Pappbände und Einordner. Dahinter lag das Zimmer für die Privatsekretärin der Direktion und ihn.
Die Dohm lachte. Sie ließ ihn nicht einmal seinen Stuhl erreichen. »Nun, wie war's gestern auf der Hohen Koppe? Schön, wie ich vernommen habe.«
»Wie Sie vernommen haben? Das ist ja nett. Als wir Samstagmittag zusammen hier weggingen, wußte ich noch nicht, ob ich ins Wochenende fahre, also auch nicht, wohin. Nun teilen Sie mir mit, ich sei auf der Hohen Koppe gewesen. Nachrichtendienst von heute. Ihre Auskunftei befindet sich auf der Höhe der Zeit, das muß ich sagen. Geben Sie her!« Er nahm an seinem Tisch Platz. Sie brachte ihm Papiere. Die begleitenden Erläuterungen fielen wortkarg aus. Es war zwischen ihnen ausgemacht, daß seine Auffassungsfähigkeit nicht unterschätzt werde. Er verbat sich im voraus faustdicke Gebrauchsanweisungen. Er war ein Mensch mit Nerven.
Nun arbeiteten sie. So wie heute menschliche Arbeit geworden ist. Unhörbare Gehirnkraft, die sich in den maschinellen Ablauf einfügt. Reibungslos. Kaum Störungen durch Sprache oder Platzwechsel. Gänge leise auftretend, Anrufe am Draht halblaut.
Um dreizehn Uhr wickelte die Dohm, längst an die englische Arbeitszeit gewöhnt, ein belegtes Brot aus dem knitternden Papierumschlag. Der Diener brachte ihr heiße Gemüsebrühe mit Ei aus der Kantine herüber. Sie hatte gute Zähne mit einigen Goldpunkten und ließ sie im Kauen blitzen.
32 »Wann essen Sie Mittag?« warf sie Ull zu.
»Zu jeder Tageszeit, wenn überhaupt!« gab er zurück, ohne aufzublicken. Er mußte nun doch aufsehen, sogar sich von seinem Sitze erheben, weil der Chef eintrat, Alfred Godwein, zum Ausgehen angetan, im Gehpelz und grauem, weichem Filz. Die Hand an der Klinke, auf der Schwelle verweilend, nickte er nur eben einen ›Guten Morgen!‹ herein und fragte Ull:
»Wie steht's mit dem Gutachten? Haben Sie's schon entworfen? Herr Geheimrat Gonßen möchte es auch noch sehen. Bis morgen abend? Dann ist gut. Reicht reichlich. Auf Wiedersehen!«
Der Halbtag des Studenten, zu dem er ins Geschäft verpflichtet war, ging um drei Uhr zu Ende. Auch er kramte einen Handbissen hervor, als der Vorgesetzte die Tür ins Schloß legte. Die Dohm bemerkte:
»Er ist heute schon um halb acht im Betrieb gewesen, dann pflegt er über Mittag zum Frühstück nach Hause zu fahren.«
Frau Elisabeth Godwein las das Buch, von dem die Welt sprach. Sie klappte zu und legte den Band weg.
Ob er kam? Oft blieb sein Stuhl leer. Sie trat in den Flur. Der Diener – im Hausanzug, blauweiß gestreiftem Waschrock mit weißer Binde – brachte mit dem Klöppel das Gong zum Brummen. Draußen verhallte das Hupensignal. Er kam also.
Karl, ihr ältester Sohn, das zweite Kind, Oberprimaner, brachte sie an die Eßzimmertür und ließ sie höflich die Schwelle überschreiten. Er trug das schmale, in der Umrißlinie aufgehende, zusehende, entgegennehmende Äußere des jungen Sportsmannes zur Schau – die goldbraunen, nicht zu kurz geschnittenen Haare glatt nach hinten geklebt, daß man die Bahnen der Bürste wahrnahm. Der Körper sehnig und geschmeidig, von fast nachlässiger Haltung und doch beherrscht, auch wenn er achtlos daherkam.
33 »Sie muß ja doch immer erst geholt werden,« bemerkte er, als die Mutter nach Suse rief. Und unmittelbar hinterher: »Na, da haben wir's ja wieder. Immer rutscht er das Geländer hinunter.« Im Türflügel, der offenstand, schlug eine Decke dichten Haares auf die Erde hin, ohne daß es zum Weinen kam. »Wolfgang!« Der Diener sprang herzu, um das Bündel zusammenzulesen. Aus den großen Augen quoll Gram, der dicke Knabenschädel bot den Anblick eines denkwürdigen Schreckens. »Bitte, Mama, ich habe nicht geschrien,« meldete er sich, noch kummervoll in Stimme und Blick. Aus der Seitentüre glitt auch Susanne auf ihren Stuhl. Beim Eintritt des Vaters kam das Lachen über alle.
In Frau Elisabeth wirkte die Lektüre nach. Dann steigerten sich für sie Mann und Kinder. Vom fremden Schicksal erregt, sog sie sehnsüchtig den Anblick der Ihrigen ein, die sie um sich versammelt sah. Wolfgang war wieder froh und neckte sich mit Suse. Beide aßen mit gutem Benehmen, weil der Vater sie im Auge behielt.
»Wie gut Mama aussieht. Ordentlich jung wieder. Könnte eure Schwester sein.« Den Wurzeln seines rotblonden Schnurrbartes entstieg ein deutliches Erstaunen. Es glitt aufwärts über die klare Form der Nase, spaltete sich an ihren Wänden, sprang hoch hinauf in die Stirnfläche und versah diese mit zwei kühnen, spitz auslaufenden Bogen. Blonde Brauen überwölbten sie. Unter ihnen glühten die blauen Augen hart. Ja: hart. Dieses Blau in seinem Blick! Fast schon nicht mehr blau – blank wie Eiswasser. Ottilie hatte noch diese Augen. Dafür lag in seiner Stimme ein wärmerer Ton als sonst. Auch gebärdeten sich seine Hände, auch wenn er lebhaft wurde, gerundet und maßvoll. In ihm spannte sich etwas an. Er nahm sich zusammen. Er war anders, als sie ihn kannte.
Sie brauchte sich nichts merken zu lassen. Das Tischgespräch betraf gegebene Dinge. Auch beaufsichtigte sie die Kinder. Aber Angst und Neugier pochten in ihr. Irgendwoher löste sich sein Wesen. 34 Ihm angeborene Kräfte, sonst verschüttet oder eingerostet, rangen sich in ihm frei. So sah sie es.
Sie legte nichts in ihn hinein. Es war so. Über sie sann er nach. Das Rätsel für sie bestand in seiner Auslegung ihres Verhaltens. An ihr lag es, daß er prüfend spähte. Nun ja! Sie merkte etwas – hatte alles Recht dazu. Das war nun nicht anders und ging vorüber. Sie brauchte nicht bange zu sein.
»Übrigens, Elisabeth,« – er war froh, daß ihm das eben einfiel, »wie weit bist du denn in deinem Roman – bist du zu Ende damit? Ich würde mich nicht wundern, so wie er dich fesselte.« –
Da geschah ihm das Unerwartete, daß quer über den Tisch ihre braunen Augen heiß das starre Eisblau der seinigen aufsuchten. Und dazu hörte er ihre Stimme, ebenfalls in ihrem Klang etwas Braunes: »Viele tausend Tage sind wir verheiratet, Alfred. Ja doch, einundzwanzig Jahre sind viele tausend Tage.« Hörte er recht? Was wollte sie damit? Zitierte sie? Stand dieser Satz in dem Buche? Ein künstlicher Satz auf jeden Fall, er mutete ihn geschraubt an.
»Bist du fertig? Hast du das Buch ausgelesen? Befriedigt es dich?« Er fragte gleich dreifach, bat um Auskunft, weil er selber nicht zum Lesen käme. Diese Hast verstimmte sie. Die eigentliche Antwort unterblieb. Elisabeth schaute von ihm weg, ließ ihn unangefochten. Da spürte sich Alfred Godwein abermals unter einen Blick genommen. Kühl, forschend, wissend, vorwurfsvoll suchte und traf ihn dieser andere Blick. Ebenfalls quer über den Tisch. Karl saß zur Rechten seiner Mutter.
Was war das nun gar? Es galt am Ende bereits Ernst? Die beiden wußten mehr, als sie wissen konnten – verbündeten sich gegen ihn auf Gerüchte hin, auf unnachgeprüfte Hintertragungen? Donnerwetter, wenn es so stand! Vielleicht schon ein Komplott im eigenen Hause? Im Geschäft erlebte er Tücken und Listen täglich. Zuvorzukommen galt es auch jetzt, ehe die Minute um war.
35 Siebzehn Jahre alt, schweigsam dasitzend, die Unterlippe unter die mittleren Zähne geklemmt – damit bekam er es vielleicht bald zu tun. »Karl, wie kommst du mit Herrn Ull aus? Nachmittags um fünf. Auch heute wieder, nicht wahr?« Und ohne die Bestätigung abzuwarten, wendete er sich an die Gattin. Immer zuerst den Feind trennen, eine bestehende Berührung unterbrechen, ein vorhandenes Einverständnis stören. »Es fällt mir auf, Elisabeth, daß du ja Ull noch nicht kennst – gar nicht weißt, wie er aussieht. Er könnte auf den Gedanken kommen, du wolltest ihn schneiden. Das würde mir unliebsam die Pläne durchkreuzen, die ich mit ihm habe. Junge Begabungen, wie er eine ist, sind empfindsam. Es wäre schade, wenn unserseits etwas versäumt würde. Es wäre Zeit, ihn wissen zu lassen, er solle dir Besuch machen. Ich kann ihm sofort noch ins Geschäft Bericht geben, er ist bis drei dort.« Die Gattin rührte sich nicht, obschon er fragend eine kleine Pause ließ. »Meinetwegen kann es damit auch gute Weile haben. Ich nötige dich zu nichts. Du bist hier Herrin. Daran rührt mir keiner. Ich selbst auch nicht. Öffne deine Tür dem – nur dem, den du deines Umganges wert hältst« – Ach nein, nun verfiel er ja gar in einen feierlichen, salbungsvollen Ton, das mußte er nicht, das klang ja verdächtig. Aber abbrechen durfte er auch nicht. Er mußte fortfahren –. »Halte es, wie du willst. Von mir aus kann ich nur so viel sagen – der junge Mann besitzt außerordentliche Fähigkeiten. Ich bin nicht der einzige, den er in Erstaunen versetzt. Ihr solltet nur einmal dabei sein, wie er in den Beratungen seinen Mann stellt. Mit kaum fünfundzwanzig Jahren. Und du, Karl, bist du mit seinen Stunden zufrieden?«
Karl erwiderte leise, etwas stockend sogar. Seine Stimme klang rauh und ein bißchen unrein, sie hatte sich vor kurzem erst gebrochen. Man war gewohnt, wenn man ihn am elterlichen Tisch zum Reden brachte, von ihm ein Urteil zu hören. Ein ganzer Satz aus seinem Munde, wenn er nicht nur in der Unterhaltung neben andern herlief, sondern auf sich selber stand, hatte dann immer auch einen 36 erwogenen, durchdachten Inhalt. Von dieser Art war auch die Äußerung seiner Freude über Ulls Unterricht. »Es handelte sich bei mir nicht eigentlich um Nachhilfe. Ich komme ja gut mit. Er fördert mich namentlich in Deutsch, Griechisch und Geschichte. Das sind eben die Fächer, in denen ich sowieso am besten bin – bei mir selbst und in der Klasse.« Er schätzte es an Ull, daß er so streng sei in der Anwendung grammatikalischer Regeln, nur um alsdann den Gebrauch der Muttersprache zu veredeln. Die Eltern wechselten einen Blick. Das hatte der Junge also von sich aus herausgefunden. Zugleich verstummten sie. Jeder Teil hütete sich, fortzufahren. Es hielt schwer, das richtige Endchen zu fassen, um anzuknüpfen.
Auch ging die Mahlzeit zu Ende. Wölfchen schlapperte geräuschvoll an seiner süßen Speise herum. Auch Suschen mißbilligte diese Handhabungen und beschwor ihn, doch bitte anständiger zu essen. Wolfgang ließ sich in der Auffassung seiner Ernährungsweise vorerst nicht beirren. Die paar Löffel, mit denen er auf seinem Teller Kehraus machte, führten sich in seinem Munde so auf, als horchte man an einem Schweinekoben. Dann aber war für ihn die Angelegenheit bestens erledigt – es hatte ihm geschmeckt, er war satt, und mit dem Tuch sich ordentlich den Mund abgewischt hatte er auch. Was erwartete man denn noch von ihm?
Er wäre seitlich vom Stuhle geglitten. Sobald er mit seiner Sättigung zurechtgekommen war, pflegte er vom Sitz zu rutschen und zu verduften. Der Vater bekam eben noch sein Handgelenk zu fassen. »Nichts da, wie hebt ein deutsches Haus seine Tafel auf?« Sie kannten den Befehl, erhoben sich alle – die Blicke wanderten sich zu in frohem Tausch. Aus den angefaßten Händen schloß sich der Kreis der fünf. »Für Ottilie mit!« warf er ein. Die Arme, hoch im Wurf, eine unzerreißbare Kette, senkten sich mit einem Ruck, dann erst lösten sich die Finger voneinander. »So lob ich mir's. Das ist ein guter Gruß.« Das Gefühl des Familienvaters durchrann ihn. »Das war jetzt wieder schön, mit euch zusammen. Ihr wißt ja, 37 untertags kann ich nur selten abkommen. Und dann muß ich immer gleich den Mund wischen.« –
Der Diener brachte Überzieher, Stock und Hut. Die beiden Jüngsten hängten sich mit lautem Gefühlsaufwand an ihn. Dem Sohne Karl warf er einen Blick zu, wie es unter Freunden Brauch ist. Dann legte er der Gattin sacht die Hand an die Wange und streichelte sie.
»Mit Ull war das eine Meinung, überleg dir's.«
»Du meinst vielleicht, ich meide ihn, weil er bei deiner Mutter wohnt?«
Er warf den Kopf zur Seite – blickte sie an: »Könnte das der Grund sein?«
Auf ihrem Zimmer schloß sie den Schreibtisch auf, entnahm einem Schubfach Geld, legte es in einen Umschlag, klebte ihn zu und überschrieb ihn. Sie war es zufrieden, daß sie das tat. Mochte es wenig Sinn haben, sie hatte doch nun irgendwie die Hand mit im Spiel.
Sie legte sich auf ihre Ottomane. Nickte sie darüber ein, so war's auch gut. Da dachte sie dann an die Mutter ihres Mannes, die Waschfrau; in deren guter Stube lag zweifelsohne ein Kissen, auf dem gestickt stand: »Nur ein Viertelst.« – abgekürzt, weil die Wolle oder der verfügbare Raum auf der Leinwand nicht mehr ausreichte! Konnte man ihr Standeshochmut vorwerfen wegen ihrer Weigerung, eine brave Kleinbürgerin in ihren Verkehr aufzunehmen? Das hätte den regelmäßigen Umgang ihrer Kinder mit der Großmutter nach sich gezogen. Und einen solchen hätte sie nicht dulden dürfen. ›Niveau,‹ das war heutzutage das köstliche Geschenk, das einem gesunden und begabten Menschen seine Kinderstube ins Leben hinaus mitgab.
Frau Elisabeth lag auf ihrem Ruhebett da, wie eine gotische Königin auf der Steinplatte ihres Grabmals. Edle Glieder an einer 38 hohen Gestalt waagrecht auf das Lager hingedehnt, während unter der gesenkten Stirn die Augenlider sich lauschend schlossen.
Die lieblichen Lautblasen einer menschlichen Stimme stiegen durch den stillen Raum zur Decke empor. Sie entquollen dem Schallbecher eines Fernsprechers, der neben der Ottomane stand. In der Reichweite eines ausgestreckten Armes. Das Tischchen stand am Kopfende. Sie nahm liegend den Hörer und hielt ihn sich ans Ohr.
Ottilie rief an. »Mama, Mama – noch jetzt lassen sie mir keine Ruhe, weil sie wissen, daß er bei uns zu Hause verkehrt. Ich sage dir, sie sind alle wild auf Nachrichten von ihm.« Sie hatte sich bis über die Ohren in diesen Ull verliebt.
Natürlich geriet die Mutter selber in eine gelinde Klemme, als sie mitteilen sollte, wie denn sie ihn finde, ob er ihr nicht auch gefalle. Der Hörer lag wieder auf der vernickelten Gabel des Gestells. Nachdem die Liegende sich mit den Handflächen das Haar etwas nach hinten gepreßt hatte, stellte sich das Bild einer verewigten Königin für die nächsten Augenblicke wieder her. Sie mochte in dieser Lage etwas eingeschlummert sein, als ein lebhaftes Gerede ihrer Kinder auf dem Flur sie weckte. Deutlich unterschied sie draußen alle drei Stimmen. Zum raschen Nachsehen veranlaßt, sprang sie auf und strich sich nochmals Haar und Gewand glatt.
Als sie einen Türspalt öffnete, drang Suschen bei ihr ein. Wolfgang kugelte nach. Auf Karls linker Schulter stand hochgebuckelt Bibri, der falbe siamesische Kater. In seinem roten, kurzhaarigen Fell, mit den regelmäßig verteilten schwarzen Flecken und den feuerroten Augen, sah dieses Haustier weit eher einem kleinen Panther als einer Katze gleich. Suschen stellte sich schnippisch hin. »Ist es wahr, daß unsere Großmutter Waschfrau ist?« Der Kater sprang mit einem lässigen Schwung von der Schulter auf das weichere Sofa, als Karl die Mutter mit einem Blick bat, antworten zu dürfen.
»Suse, du weißt nicht in der Familie Bescheid. Großmutter hieß 39 doch früher Hartmann. Am sechzehnten August achtzehnhundertsiebzig ist ihr erster Mann, der Dragonergefreite im ersten Garderegiment unter Oberst von Auerswald beim Angriff auf Mars-la-Tour gefallen. Sein Pferd war eins der dreihundert, die sich ohne ihre Reiter zum Appell um die hochgetragene Standarte sammelten – auf das Signal hin, am Waldrand.« Suschen wollte sich nicht befriedigt erklären. Warum die Großmutter dann noch waschen gehe. Frau Elisabeth saß jetzt im Lehnstuhl mit dem Gobelinüberzug am Fenster. Karl ließ sich mit Bibri, der Katze, auf dem Rande des Ruhebetts nieder. Wolfgang gruppierte sich neben Suse, die vor einem Schemel stand.
»Ich will nicht hoffen, daß eins von euch sich je seiner Großmutter schäme. Sie ist an dem tapferen Reitersmann jung zur Witwe geworden. Dann reichte sie ihre Hand euerm Großvater Friedrich Godwein. Auch er hatte den Feldzug mitgemacht. Im übrigen war er Aktenausträger beim Magistrat und hat nichts versäumt, um seinem Sohne eine gute Erziehung zu geben. Eure Großeltern väterlicherseits waren grundbrave, ehrenwerte Leute. Das laßt euch, bitte, gesagt sein ein für allemal. Es gefällt mir gar nicht, daß ich euch das dumme Geschwätz verweisen muß. Wie kommt ihr dazu? Woher habt ihr das?«
Es stellte sich heraus, daß Wolfgang an der Weitergabe des Gerüchts nur gedankenlos beteiligt war. Suschen hingegen benahm sich verstockt, wollte die Klatscherei auf die Dienstmädchen schieben – diese konnten von der Gärtnersfrau angestiftet sein. Frau Elisabeth merkte, hier waren unterirdische Minen vorgetrieben worden, dazu bestimmt, unter ihren Füßen zu platzen. Der Neid der besitzlosen Klasse zettelte einen gar nicht so harmlosen Anschlag auf das Gemüt ihrer Kinder an. Alle drei nahmen die Zornesfalte wahr, die sich ihr in die Stirn grub. Wolf spielte geistesabwesend mit der Troddel am Schemel. Suse aber gab sich noch nicht zufrieden. »Wenn denn Großmutter gut und lieb ist, wie du sagst, warum 40 kommt sie nie zu uns, warum gehst du nie mit uns zu ihr?« Sie bebte vor Scheu. Mit großen Augen starrte sie angstvoll die Mutter an.
Frau Elisabeth sprach das Wort, das ihrer Meinung nach nun zu sprechen war: »Man nennt das Standesunterschied, Kinder. Ihr müßt euch das merken, wenn ihr es auch noch nicht versteht. Die Großmutter würde sich hier gar nicht wohl fühlen. Und ihr, in ihrem Häuschen, würdet ihr lästig fallen mit euern Fragen und Bemerkungen. Es ist also besser, wir kommen nicht zueinander. Man kann verwandt sein und doch nicht zueinander passen.« Suse knickte auf den Sitz. Man wußte, wessen man sich zu versehen hatte, wenn Mama ungemütlich wurde.
Karl setzte sich die rötliche Pumakatze auf den Schoß und ließ sie behaglich schnurren.
Seine Mutter schätzte es, als sie ihn so vor sich sah – seine Befriedigung übertrug sich auf sie. Es erfüllte sie jedesmal mit Unbehagen, gegen ihre Kinder eine gehobene und lehrhafte Sprache zu führen. Umständliche Erzieherei lag ihrer herben, im Grunde abweisenden Natur wenig. Was eine richtige Zucht war, das mußte doch aus sich selber wachsen, meinte sie. Auch hatte Suses rasche Frage ein etwas heikles Kapitel angeschnitten. Sie selbst aus hochvornehmem Hause, ihr Gatte ein Emporkömmling! Doch standen Anstand und Klugheit, die Grundzüge ihres Wesens, unter dem Segen der Verhältnisse, in die sie eingetreten war. Die staunenswerte Tüchtigkeit des Godweinschen Geistes, die frische Angriffslust und lebendige Spannkraft dieses einst kleinen Bürgertums hatten sie zu einem Grade von persönlicher Bedeutung geführt, daß ihre Ehe mit Alfred Godwein ihr ein unantastbares Gut verkörperte. Was hätte die Generalstochter mit dem Überrest uradeligen Blutes in den Adern heute bedeutet, stände sie nicht an der Seite dieses Sohnes einer ›Wäscherin‹?
*
41 Der Diener brachte die Karte. Hinter ihm sah Karl den Besuch im Flur stehen. Das hatte noch gefehlt. »Mama,« rief er vergnügt, »zu dir kommt Ull.« Der Student überschritt die Schwelle des Damenzimmers. Es nahm ihn auf, als die Tür sich hinter ihm schloß, wie ein nach allen Seiten abgedichteter Behälter. Ein Raum, höher im Schnitt der schlanken Kreuzstöcke, als man ihn heute zu behaglichem Wohnen baut, angenehm durchwärmt, das Hochstrebende daran hervorgehoben durch die säulensteif senkrecht herabfallenden schweren Seidenvorhänge. Ein Weinrot gegen ein fast weißes Zitronengelb gestreift. Dazwischen eine Tapete in Blau und Braun, von einigen Ölgemälden, meist Stilleben, überhängt. Zierliche Damenmöbel eines ehemaligen Geschmacks, Stück um Stück miteinander alt geworden, standen da. Das Licht des Nachmittags rann wesenlos aus dem winterlichen Garten durch das Gestänge der kahlen Bäume.
Frau Elisabeth hielt den Arm auf der Lehne aufgestützt. Ihre linke Wange ruhte in der Schale ihrer Hand. Die andere überließ sie dem Handkuß des Studenten. Er hatte gewandt die paar Schritte über den Teppich bis zu ihr zurückgelegt. Sie gewahrte den guten Anzug, die neuen Lederhandschuhe und den weichen grauen Filzhut mit dem braunen Bande. Den nahm Karl ihm ab, als er ihm den Stuhl zuschob.
»Wir sprachen bei Tisch von Ihnen,« sagte sie nicht unfreundlich. »Mein Mann äußerte die Absicht, Sie aufzufordern.«
»Gnädige Frau,« entgegnete Ull, »nein, es ist meine eigene Kühnheit, weil ich auch bei Ihnen, gnädige Frau, in einem großen Vertrauen stehe.«
»Sie haben gestern auf der Hohen Koppe meine Tochter Ottilie getroffen,« sagte nun Frau Godwein zu ihm. Nach einer Pause fügte sie bei: »Es soll ja sehr fröhlich zugegangen sein. Sie hat mir vorhin telephoniert. Daher weiß ich's«
Ull war es erst, er höre das nicht, was er doch hörte. Er schloß 42 die Augen, besann sich auf das Notwendige und schlug sie wieder auf. Völlig verbergen ließ sich die Bestürzung nicht. Aber sie wurde in keiner Weise Herr über ihn. Blitzschnell ordnete sich eins zum andern in diesem Aufhellungsvorgang – das Bild, das er heute früh in der guten Stube seiner Wirtin entdeckt hatte, beschleunigte ihm die Gewißheit. Er sei mit dem Fräulein Schneeschuh gelaufen, er habe sich um sie bemüht, hätte gerne ihren Namen erfahren, er kam nicht dazu, sie zu fragen. »Schließlich quälte mich noch eine lustige Neugier – die muß ich aber für mich behalten, es geht nicht an, daß ich es gestehe.«
»Ich glaube, ich weiß darum,« entgegnete Frau Elisabeth königlich, »Sie wollten wissen, was sie für Haare habe – sie waren zugedeckt von der Wollmütze. War es nicht so?«
Darüber errötete Ull. Er konnte der aufspülenden Welle Blutes nicht wehren. Frau Elisabeth fiel ein: »Sie können den versäumten Anblick nachholen, wenn Sie Lust haben. Aber Sie müssen Ihre Handschuhe ausziehen. Suse, schließ den Glasschrank auf! Dort die Kupferschale! Du weißt, welche. Sie steht zu vorderst. Ich sehe sie von hier. Und bringe sie mir. Aber sorgfältig, Suse!«
Ratlos gehorchte Ull. Er streifte sich tatsächlich die Lederhülsen einzeln von den Fingern. Zögernd, er wußte ja nicht, wozu. Er sah wohl, daß da eine weite, durchsichtige Vitrine an der Wand stand, kostbar gefügt aus Kristallglas und schmalen Metallstäben, zur Aufbewahrung von Seltenheiten und Wertgegenständen wie in einem Museum. Ein Hausschatz vermutlich, um angeschaut und vorgezeigt zu werden. Und das sollte nun für ihn der Fall sein mit einer dieser Kostbarkeiten?
Als Frau Elisabeth sich überzeugte, daß Suse ihren Auftrag so ausrichtete, wie sie es wünschte, sagte sie zu dem Studenten: »Ich lasse mir da eine wertvolle Schale bringen. Sie ist in Griechenland ausgegraben worden. Ein altes heidnisches Opfergerät, meint man. Dieses Gefäß birgt auch einen kostbaren Inhalt, wenn Sie wollen. 43 Es liegt ein alter Brokat drüber. Ich werde ihn abheben, damit Sie sehen können, was drunter liegt. Eine Tracht Frauenhaar! Sie können sich gleich überzeugen, in welcher Farbe es schimmert, ob blond oder dunkel. Dieses Haar trug meine Tochter Ottilie. Dem Kinde quoll mit achtzehn Jahren ein wahres Vlies vom Kopfe. Wenn sie es löste und hintenüberfallen ließ, konnte sie sich darauf setzen. Sie wehrte sich lange gegen den Schnitt. Es kam zu Tränen. Aber zum Eintritt bei Oli Fay war das Bedingung. – Komm her damit, Suse.« Sie hob die Decke ab. »Und nun bring Herrn Ull die Schale, er hat ja die Handschuhe ausgezogen. Versuchen Sie's nur – beide Hände mit dem Rücken hinein. Die Haut taucht in ein kühles Element, doch zugleich ist es trocken – verstehen Sie. Man hat eine eigentümliche Empfindung dabei – überzeugen Sie sich nur!«
Leise erhob sich Karl. Völlig geräuschlos, aber rasch wie ein senkrecht aufschießender Pfeil, daß er zugleich, wie er noch saß, auch schon aufrecht dastand! Bewegungslos spähte er zwischen Mutter und Ull.
Frau Elisabeth entging das drohende Erstaunen ihres Sohnes keineswegs. Es war immer schon ihr Stolz, daß er so scharf beobachtete, so richtig erriet.
»Ich habe gnädige Frau doch wohl nicht richtig verstanden?« brachte Ull hervor. Er tat es nicht verlegen, stotterte nicht.
»Sie haben mich wohl verstanden. Ich möchte Ihnen den Wunsch erfüllen. Sie haben ihn gestern gehegt. Es geschieht ja hier in meinem Zimmer – Sie sind ja hier in der Familie bedienstet.« Das wurde überlegen gesagt und gebietend.
Karl rührte sich nicht. Junge Priesterinnen mußten im alten Orient der Großen Göttin ihr Haupthaar auf den Altar legen. Die Schale barg eine ebensolche Schur. »Wenn Mama meint, versuchen Sie's doch – tauchen Sie wenigstens die Fingerspitzen hinein!« bedeutete er Ull. Zugleich hob Suse ihm das Gefäß entgegen. 44 »Ottilie hat kastanienbraunes Haar, überzeugen Sie sich nur,« sagte das Mädchen geflissentlich, sie war sich der Wichtigkeit ihrer Sendung bewußt.
Heinrich Ull liebte die freudige Hingabe an jede Wirklichkeit. Vorhandenes wurde ihm wirklicher, je unglaublicher es war. Und so hing denn jetzt für ihn buchstäblich alles ›an einem Haar‹. Er hob den Blick zur Herrin des Hauses, ob er denn dürfe und Folge leisten solle. Diese lächelnde Verlegenheit in seinen Gesichtszügen gewann dem Vorfall rasch seine ganze Unschuld zurück. »Aber gewiß, tun Sie es nur,« ermunterte sie ihn.
Da ließ er seine Hände in die Schale sinken. Er berührte das Haar mit dem Rücken erst der einen, dann der andern Hand und empfand mittelst des Tastsinns den weichen Flaum, ohne hinzusehn noch den Blick zu senken. Dann kehrte er langsam die Hände in der Schale um und grub die Finger tiefer, bis zum Boden. Unter dem Haar spürte er das kalte Metall. In diesem kühlen Wunderbade versank er bei geschlossenen Lidern auf einen Augenblick mit seinem ganzen Wesen.
»Aber Sie sehen ja gar nicht hin,« mahnte Suse, »Sie wollten doch wissen, was Ottilie für Haare hat. Sie müssen sich die Farbe ansehen.«
Eingeschüchtert von diesem hellstimmigen Befehle aus Kindermund, hob er die Handflächen mit den gespreiteten Fingern, erblickte die dünne, flüchtige Last darüber und sah Abgeschnittenes, Entzweigeteiltes, Gestaltloses in die Schale zurückrinnen, in der Tat, den rotbraunen Glanz einer geglätteten Fruchtrinde wies das Haar auf. »O ja, kastanienbraun, ich seh es.« Und er schwieg. Ihn befiel Müdigkeit, er brachte kein Wort sonst über die Lippen.
»Sehn Sie, nun ist es ja schmerzlos überstanden.« Frau Elisabeth mußte gleich anderswo zum Rechten sehn, da sich Wolfgang nun ebenfalls um den Vorgang noch nachträglich kümmerte und mit einigen sinnlosen Geleitäußerungen ebenfalls ›eintauchen‹ wollte. 45 So hatte sie dem drohenden Unfug zu steuern, daß kleine, hastig wühlende Fingerchen sehr langes und dünnes Haar auf den Teppich und über Stühle hinstreuten. Sie nahm Suse das Gefäß ab, ordnete es, deckte es zu und trug es persönlich mit unverkennbarer Sorgfalt an seinen Ort im Schrank zurück.
Karl hielt den Blick unverwandt auf seine Mutter gerichtet. Er kannte die energische Strichfalte über die geglättete, angespannte Haut der Wangen hinunter – die beherrschte auch jetzt wieder den gesamten Gesichtsausdruck.
Auf einen Blick der Dame nahm Ull seinen Platz wieder ein, zu der merkwürdigen Stegreifzeremonie hatte er sich erhoben.
»Ich höre,« sagte sie, indem auch sie sich wieder in ihren Lehnstuhl niederließ, »Sie wohnen bei der Mutter meines Mannes. Ich komme nicht mit der Frau zusammen. Vielleicht erzählen Sie uns etwas von ihr. Geht es ihr gut? Besorgt sie immer noch Wäsche?« Karl erstarrte in einer neuen Anspannung.
Ull verneigte sich leicht. Ohne Besinnen bot er sein heutiges Morgengespräch mit der biederen Wirtin. Jawohl, sie wusch immerzu und begründete ihr Tagewerk damit, daß es ihr zur Freude und Leidenschaft gereiche, blendendes Leinen, weil es das nicht länger mehr war, seinem früheren Zustand zurückzugeben, indem sie es blank scheuerte. Und um nun dieser Versicherung der ehrwürdigen Witwe den Nachdruck zu verleihen, von dem er selber so kräftig getroffen worden war, gab er auch vor der vornehmen Dame, mit der er sprach, und in dem ausgesuchten Raume, in dem sie ihn empfing, den groben Ausdruck zum besten, weil hierin zweifellos das eigentliche Leben der Äußerung steckte. Er scheute nicht davor zurück – die alte Frau Godwein hatte wörtlich gesagt, und zwar noch heute früh – solange es noch Dreck in der Welt gebe, solange wasche sie. An dem in einem Damensalon in der Tat nicht unbedingt angebrachten Schlagwort ermunterte sich zunächst Wolfgang. Er bejubelte das Wort ›Dreck‹, indem er es begeistert 46 wiederholte. Bumsfallera, die Großmutter hatte Dreck gesagt! Und ihm war von seiner Mutter auf das strengste verwiesen, diese Bezeichnung jemals ohne Not in den Mund zu nehmen! Vor allem dieser Wirkung auf die Kinder wegen schien Frau Elisabeth die harte Form des Zitats zu mißbilligen, obschon sie sich ja im stillen Schuld gab, daß es dazu kam. Auf ihrer Stirn lagerte eine Gewitterfalte. Über das neue Schweigen half Suses altkluge Frage hinweg: »Wenn Waschfrauen Großmütter werden, haben ihre Enkel es dann alle so gut wie wir?«
Karl befand sich in der Hochspannung des Spielers, wenn es ums Ganze geht. Kühl, aber unverwandt, unter deckenden Wimpern, lag sein Blick auf der Mutter. Auch hier waren wohl aller guten Dinge drei! Jede Wette, nun setzte sie den Punkt aufs i!
Und richtig! Frau Godwein griff nach der Handtasche. »Sie haben nun zwölfmal Unterricht erteilt. Hier! Es wird getrennt abgerechnet von Ihrer Arbeit im Büro.« Mit diesem Bescheide gelangte der Umschlag mit dem Gelde, den sie überschrieben und zu sich gesteckt hatte, in Ulls Hand. Sie ersparte ihm die Übergabe vor ihren anwesenden Kindern nicht! Es ging ein ›Zahltag‹ vor sich, wie bei Dienstboten und Arbeitern! Jedenfalls öffnete Suse zur Hälfte den Mund. Karl erbleichte geradezu etwas. Bestand Herr Ull auch diese ihm zugedachte Probe? Der Ruck des Erstaunens konnte künstlich und gewollt sein.
»Ah, gnädige Frau? Aber ist das denn so eilig? Sie befinden so –? Dann meinen ergebensten Dank!« Karl sah dann zugleich, wie die Mutter ihr schon leicht silbergrau durchspieltes Haar gegen den Besuch neigte. Er bat Herrn Ull, ihm nach oben zu folgen.
Im Mansardenstock war in einigen Kammern die Wand durchgebrochen worden. So entstand ein langer Büchergang. Dazwischen stand Karls Schreibtisch, sein Klavier. Hinten, in einer 47 Dachausbuchtung, rundete sich um einen Tisch ein Ring von Klubsesseln aus großgeblümtem Zeugstoff. Dort pflegte die ›Stunde‹ stattzufinden.
Karl benahm sich heute etwas patzig, fiel Ull auf. War es doch der hochfahrende Herrensohn, der den Hauslehrer merken ließ, wer er sei? Von dieser Seite kannte er ihn bisher nicht. Noch im Stehen schnitt ihm der Schüler ein etwas schnödes Gesicht. In herausforderndem Tone verlangte er Rechenschaft über die gestern stattgehabte Skitour, und zwar fragte er ihn über die Ausstattung aus: »Hattet ihr braune Anzüge? Hattet ihr Blusen mit Reißverschluß? Hattet ihr Ärmelriemen? Und hoffentlich keine Mütze mehr auf dem Kopf, sondern die Mephistohaube! Sie starren mich an, Herr Ull. Zum Skilaufen in Gesellschaft muß man das Neueste tragen. Wenn schon, denn schon. Es ist ja niemand verpflichtet, ins Wochenende zu fahren. Entweder tipptopp oder auf die Leibesübung in frischer Luft verzichten.« Karls Zähne blitzten. Der Schalk spritzte ihm aus den Augen.
Nein, das war nicht Hochmut, sah Ull ein. Er machte Spaß, und beinahe hätte sein Lehrer das falsch verstanden. Aufpassen, Herr Lehrer! Sich keine Blöße geben vor einem solchen hellen Jungen. »Hoho, Karl!« lachte Ull zurück. »Das wußte nicht einmal Herr Schultze. Und der hat doch den Mädels ein Privatissimum erteilt, wie man sich für den Skilauf ausstattet.« Und dann verlangte die Lage, in der er sich befand, auch noch eine passende Ermahnung, wenn man Erzieher war. »Karl, es wundert mich ein wenig, daß auch Sie auf diese Dinge soviel Gewicht legen – ich weiß, das liegt in der Zeit, Karl. Dieser Todesernst in den Toilettenfragen für alle und jede Lebenslage. Demnächst wird ein Modejournal uns die offizielle Tracht für den Selbstmord vorschreiben, ohne die sich niemand das Leben nehmen darf! Wir werdens erleben.« Und nun setzten sie sich, um die Stunde zu beginnen. Das war ein munterer Eingang gewesen.
Kaum saßen sie, so sah sich Ull veranlaßt, aus seinem behaglichen 48 Korbstuhl wieder aufzuspringen. »Ja, um Gottes willen, was ist denn los mit einemmal?«
Karl war in einen Weinkrampf ausgebrochen. Er stieß Schimpfwörter aus und bewegte zu wilder Abwehr die geballten Fäuste vor sich her. Dann ließ er den Oberkörper vornüberfallen, stützte die Arme auf den Knien auf. »Ich schäme mich – ich schäme mich.«
»So sagen Sie doch, was haben Sie nur?« versuchte Ull einzudringen. »Wenn Sie meinen, das Benehmen Ihrer Frau Mutter habe mich verletzt, so machen Sie sich darüber keine Sorge.«
Karl blickte auf. »Ach nein – das ist es nicht. Es ist lieb von Ihnen, wenn Sie meiner Mutter keinen Span nachtragen. Ich habe Sie bewundern müssen.«
»Soviel Instinkt werde ich hoffentlich noch besitzen,« beschwichtigte Ull. »Ihre Frau Mutter trägt so sehr die Vorzüge ihrer Abkunft an sich, daß ich gern etwas von den damit verbundenen Vorurteilen hingenommen habe.«
Karl schüttelte den Kopf. »Sie ist Ihnen hochfahrend begegnet. Das tut sie meistens, wenn sie unglücklich ist. Möglich, daß sich über ihr etwas zusammenzieht. Aber klar sehe ich noch nicht.«
Ull wollte seinem Zögling näherkommen. »Was war denn das eben mit Ihnen, Karl? Wem gilt Ihre Wut?«
Karl schaute von unten her zu ihm hinüber: »Wem, fragen Sie noch? Sie sind köstlich. Sie vergessen, daß ich siebzehn bin. Vielleicht war es meine Pubertätskrisis! Sehen Sie mal an – wie interessant, nicht wahr?«
Darauf Ull: »Ich denke, wir wollen den Vorfall nicht vertuschen. Das wäre feige. Wir belassen es nicht beim Schwächeanfall.«
Ein kameradschaftlicher Zug glitt über Karls weiches Antlitz. »Gut, einverstanden. Ich sträube mich nicht länger. Ich soll die Waffen strecken? Es geschehe! Also zunächst einmal das da.« Er griff hinten ins Beinkleid und legte die schwarze rechteckige Stahlhülse mit dem kleinen Kaminröhrchen »auf den Tisch des Hauses«, wie er 49 beifügte. Dann fuhr er fort, nachdem er stumm Ull ins Gesicht gespäht hatte: »Ich sehe, Sie erschrecken nicht sehr. Ich kann Sie aber versichern, verehrtester Mentor, es stand auf der Kippe. Noch gestern abend. Ich hatte die Mündung schon am Haar angesetzt. Sehn Sie, hier – ziemlich weit hinten. Warum ich's gelassen habe? Aus Furcht? Kaum. Bin ja gesund, bin gescheit, auch nicht auf den Kopf gefallen, war vorsichtig in der Wahl meiner Eltern. Wissen Sie, was mir das Ding da in die Hand gedrückt hat – schon mehr als einmal – aber noch nie so dringlich wie gestern abend – ich will es Ihnen sagen – ich glaube nicht, daß ich mich täusche. Ich mußte kürzlich in der Französischstunde übersetzen: ›Le feu ne vaut pas la chandelle‹. Das ist's, was ich immer schon von mir aus gespürt habe. Was für ein Haufen Unschlitt für dieses fadenscheinige Flämmchen einer Kerze, wo wir doch heute das Elektrische haben. Ich unterschätze mich nicht. An Minderwertigkeitsgefühlen habe ich noch nicht eine Stunde lang gelitten. Dennoch weiß ich genau, daß an mir nichts liegt für den Lauf der Dinge. Die Welt wird nicht besser und nicht schlechter, auch wenn es mir einmal geraten sollte. Und das muß es doch bei all dem Aufwand. Aber eben – wozu? Was wird es für einen Sinn gehabt haben, daß gestern abend der Haken am Abzug nicht losging? Es war Schwäche, daß ich es ließ. Es wäre Mut gewesen, wenn ich es getan hätte. Die Fadheit alles Künftigen hat obgesiegt. So stehn die Sachen bei mir, bester Herr Ull. Stünde es anders, so läge ich jetzt dort vorn auf meiner Matratze und rührte kein Glied, und hier im Hause herrschte großes Lamento. Ich hatte wirklich nicht die Spur von Angst, ich hatte geradezu Lust darauf – und habe es doch nicht getan – verstehn Sie das?«
Heinrich vermochte an sich zu halten. Der Gedanke benahm ihm den Atem, es habe an einem Haar gehangen. Geflunkert war an alledem nichts. Eine Gänsehaut überlief ihn. Sein Blick senkte sich auf die unheimliche Waffe auf dem Tische da.
50 »Sind Sie nicht klar, warum Sie es dann doch gelassen haben – im letzten Augenblick der Besinnung?« fragte er sachlich.
»Ich glaube, doch –,« versetzte Karl, »ich will Ihnen das noch sagen. Wir sind nun dabei. Ich setzte die Pistole ab, als es mich zu guter Letzt noch durchblitzte: du tötest aber nicht nur dich, du tötest auch deinen Vater! Und sehn Sie, ich glaube, darin hatte ich mich nicht getäuscht – mein Vater hätte es nicht überstanden, er wäre daran zugrunde gegangen. Nicht aus irgendwelcher Standesrücksicht und wegen all dem Geklatsch und Getue drum und dran. Es knallt ja heute bald allenthalben und oft gerade da, wo man es am wenigsten erwartet. Mein Vater sitzt zur Zeit selber nicht allzu fest im Sattel. Es ist vielleicht vermessen von mir, es auszusprechen – aber ich nehme an, daß auch er ein solches Ding da besitzt und unter Umständen mit ihm einen ähnlichen Tanz aufführt, wie ich da gestern abend.«
Heinrich wollte das nicht glauben, erschrak tief. »Da täuschen Sie sich wohl. Ich sehe es aus nächster Nähe mit an, was Ihr Herr Vater leistet. Und nun zweifeln Sie, sein Sohn? Ist das Ihr Ernst?«
Karl senkte verächtlich seine Mundfalten. »Ich meine nicht das Geschäft. Obschon es schon klotzig ist in der letzten Zeit. Diese Sorgen bringen ihn nicht um. Das darf noch ganz anders kommen. Und dann wird er es doch überstehn. Aber wie könnte ein Mann wie Alfred Godwein vor der Welt dastehen, wie es der Fall ist, ohne ein persönliches Teil? Und da scheint es mir eben zu hapern, Herr Ull. Denken Sie – er vollbringt geistig, was ein großer Dynamo technisch. Der Vergleich ist nicht übertrieben. Und nun muß man schon so ein Ding an der Arbeit sehen – was es braucht, bis ein solches ungeheures Schwungrad im sausenden Umlauf erhalten wird. Sehr viel Schmutz und Dreck und Ruß und Rauch und Dunst geht drauf –«
»Karl!«
51 »Verzeihung!« bat der Jüngling, »ich muß Ihnen das jetzt anvertrauen dürfen. In den letzten Monaten beobachte ich scharf und sehe. Die Ehe meiner Eltern ist zur Zeit nicht glücklich. Mein Vater – um das schöne Gleichnis nicht zu scheuen – fährt dreispännig. Er hängt noch mit vielen Fasern an unserer Mutter und an uns Kindern. Er selbst sitzt gefangen in den Klauen von Oli Fay. Und um sich dieses gefährlichen Weibes zu erwehren, hat er sich jüngstens auch noch in ein Verhältnis mit seiner Privatsekretärin eingelassen. Ja ja, mit der Dohm, mit der Sie zusammen das Büro teilen. Sie werden zugeben – das ist ein bißchen viel auf 'nmal für einen, wenn er von Berufs wegen tagsüber nicht auf der faulen Haut liegt.« Als er verstummte, sanken ihm die Schneidezähne auf die Unterlippe und zogen sie in den Mund hinein.
Heinrich, rücklings in einen der Zeugsessel fallend, starrte Karl verglast ins Gesicht und schrie ihn an: »Junge, hör auf! Was soll das heißen? – Oder ich ziehe meines Weges.« Als sei er an einen Pseudomonomanen geraten! Dem Jüngling fehlte es am Nervensystem – er phantasierte sich selber etwas vor und glaubte daran.
»Herr Ull, um Gottes willen, Herr Ull!« Hilfeflehend erklang es. »Sie zweifeln an meinem guten Verstande. Sie dürfen mir das nicht antun. Es wäre ja nicht für mich zu ertragen.« Sein Blick suchte flackernd die daliegende Waffe.
Diesen Blick fing Heinrich auf; an ihm erkannte er den Ernst der Lage. Warum konnte Karl nicht alles völlig richtig durchschaut und erraten haben? »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, Karl,« sagte er gedämpft und suchte ihn anblickend zu begegnen, »verzeihen Sie! Aber ein so mächtiger Willensmensch wie Ihr Vater soll von Leidenschaften unterwühlt sein, die ihn schwächen?« Laute ließen ihn schärfer hinüberspähen – Karl sprach nicht, er kämpfte mit verzogenem Gesicht gegen aufsteigende Tränen.
Heinrich lag mit vorgestreckten Füßen schräg im Sessel, rührte kein Glied. Allmählich fand er sich an Geräuschen – entferntem, 52 aber noch hörbarem Uhrenschlagen, dreimal der Klangtupfen des Gongs, ein schwaches Wölkchen Kindergezänk, aus dem Hof das Horn eines Kraftwagens. Daran erwachte er in den Raum zurück und legte sich erschüttert die Hand ins Haar. »Und unsere Stunde?«
»Die kann ja jetzt erfolgen,« versetzte Karl sachlich. Er brachte einen griechischen Text und sein Aufsatzheft. Es lag den Schülern ob, eine Übersetzung aus dem Griechischen von Hölderlin am Original nachzuprüfen. Das taten nun die beiden ausgiebig und verwendeten darauf beinahe die ganze Zeit. Karl erfuhr, Ull habe damals, als das Flugzeug abstürzte, gerade Hölderlin gelesen, noch im Augenblick, als der Motor Feuer fing. »Ja, denken Sie nur, es lockte mich. Ich sagte mir, so in der Höhe oben mag er wohl noch nie gelesen worden sein. Stellen Sie sich vor, Karl, das Büchlein, das mir entglitt, wurde mehrere hundert Meter von der Unfallstelle aufgefunden. Ich werde es Ihnen mitbringen, Karl – doch, doch, zur Erinnerung an den heutigen Abend.«
Karl reckte den Kopf nach dem Kammerfenster. Ein feines Miauen ließ sich leise vernehmen. Sie errieten, mußten lachen und erhoben sich beide.
»Auf dich haben wir gerade gewartet,« sagte Karl und öffnete Bibri. Die Pumakatze mußte sich irgendwie von außen in die Dachrinne geschwungen haben und begehrte Einlaß. Mit einem weiten, weichen Sprung erreichte das Tier den Tisch und stellte sich in Denkmalshaltung neben den daliegenden Revolver – auf dem Hinterleib sitzend, die Vorderbeine zum Säulenpaar ausgerichtet – der Löwe des Donatello, klein aber lebendig!
»Es ist nicht mehr auszuhalten hier vor Symbolik,« beschwerte sich Karl.
Von Godweins aus begab sich Heinrich Ull zur Stadt und suchte ein Gasthaus auf. Nachher traf er sich mit Karl. Sie begaben sich 53 in eine Zusammenkunft junger Leute. Godwein wollte von Ull mitgenommen sein. Jünglinge in der Art Karls. Sie fanden sich, fanden sich überall. Immer nur wenige auf einmal, sechs oder acht höchstens. Aber nie suchte Ull vergebens nach solchen zufälligen Gruppen. Wie wenn sie's röchen, witterten sie ihn und umgaben ihn. Seit er Student war, vorher schon, auf der Schule, entdeckte er in sich diese Anziehungskraft auf jüngere. Es gab dieser Gleichgesinnten viel mehr, als er zu hoffen wagte. Heute abend waren es sogar zehn. In diesem kleinen Versammlungsraum, der unentgeltlich zur Verfügung stand.
Da saßen sie denn um ihn herum, schweigend, bescheiden, in guter Haltung, mit geschmeidigen Körpern, sich selbst achtend – diese Söhne von Kaufleuten, Beamten und ehemaligen Offizieren. Im Sommer, da gingen sie in leichter Kleidung, ohne Hut, durch Wald und Flur, ein sauberes Hemd, eine helle Hose, vom Gürtel gehalten. Jetzt, in der Winterszeit, war mancher von ihnen um das warme Kleidungsstück verlegen. In dunkler, abgetragener Hülle saßen sie da, manchem wurde auf der Straße unten luftig zumute. Was lag daran, kaum einer hatte noch etwas vor den anderen voraus. Es ging ja ihnen allen nicht zum besten, so harrte man denn mit starker Geduld der Dinge, die da kommen sollten und mußten. Sie rauchten nicht. Sie nahmen keinen Alkohol zu sich. Sie lebten von einem Glauben, der in ihnen brannte. Dieser Glaube schenkte ihnen einen unbedingten Sinn. Und wer an Jahren älter vor ihnen stand und zu ihnen sprach, den fragten blaue Augen: »Willst du, daß wir dir folgen? Bist du der Führer?«
Ull reiste gelegentlich, kannte große Städte, München, Hamburg. Seine Beziehungen wiesen ihn überall in die gleichen Gesellschaftskreise, in das obere, vaterländisch gesinnte Bürgertum. Und da erlebte er es denn, daß tatsächlich eine Treue und ein Wille von den Alpen bis zum Sund sein Volk durchpulste. Niemand gab sich mehr irgendwelchen Einbildungen hin. Die Weltwirtschaft drückte dem 54 Reiche den Brustkasten ein. Und im Innern brach die Obrigkeit in Stücke über dem heillosen Mißtrauen aller gegen alle. Der Staat ist die Haut, und in dieser Haut fühlt sich niemand wohl. Seit fünfzehn Jahren nichts als Nackenschläge. Und dennoch bis zum Halse angefüllt mit ungenützter, unterdrückter Lebenskraft, daß man schier daran barst. Nicht umsonst hielt man vier Jahre lang stand gegen die vereinigte Macht von zwanzig anderen Völkern – schlug sich zu gleicher Zeit in Flandern, in Polen, in den Karpathen, an den Dardanellen, am Roten Meer, in Ostafrika, in China! Wenn man wenigstens noch Kolonien hätte, Auswanderungsmöglichkeiten! Aber die Welt ist zugebaut. Der deutsche Spießer ist der eine Typ und der Deutsche, der Gefahren liebt, der andere. Dazu kommt, daß Hunderttausende wirtschaftlich vor dem Nichts stehen. Aber was kann einem noch genommen werden? Dieses Gefühl bietet vielen eine sehr große Kraft. In alle Schichten der Bevölkerung bricht ein ungestüm unbürgerlicher Zug ein. Wozu denn den täglich gedeckten Tisch? Wozu das Bankkonto? Wozu die Lebensversicherung? Mag das alles zu Ende gehen! Die Schwelle ist aufgerissen, und herauf steigen wieder die uraltgewohnten Zeiten der Unruhe, der Wildheit, der Wendung zum Schlimmen. Und da gilt dann nur noch, was jeder in sich trägt und was er seiner Seele wert ist.
Je mehr Ull, der, wo er hinkam, scharf beobachtete, sich von der Einheitlichkeit einer auf die Zähne beißenden Untergangsstimmung überzeugen mußte, desto tiefer erschrak er über die Möglichkeit und die Größe einer Sendung. Sollte ihm jemals auf den Schultern lasten, was seine Freunde ihm zutrauten? Mochte die erregte vaterländische Bewegung in Deutschland für Europa eine große Unannehmlichkeit bedeuten – sie war da. Ihre Todfeinde, die Kommunisten, gaben die Schlacht noch nicht verloren. Aber die Nation war erwacht, geweckt durch ein neues Geschlecht, das vor sechs Jahren noch auf der Schulbank saß. Ein Naturereignis, wenig angenehm. 55 Nur der öde Philister wähnte noch, es genüge, den Regenschirm aufzuspannen und sich über den Kopf zu halten, so würde man nicht naß! Nein – Windjacke an und mit hinaus in den Sturm!
So aber durfte der Führer nicht sprechen. Er mußte draußen im Orkan den Standort fassen, wo er stehen blieb und befehlen konnte. Um ihn sammelten sich die Windjacken, die den Sturm liebten, ihm gehorchten sie, er konnte sie zu Tausenden in den Tod schicken. Da hing alles davon ab, ob gut oder schlecht eingegriffen und verfahren wurde. Der Führer hatte nur eine Pflicht – nicht etwa den Sturm anzufachen, das stand ja gar nicht in seinem Vermögen –, wohl aber den Sturm zu beschwören. Dann schwand die gefährliche Geistesverfassung, die ganz Europa in Unruhe versetzte. Jeder Deutsche mußte wieder zu leben haben und wieder wissen, wohin er gehört. Er mußte also sich zu einer neuen Art von Bürgerlichkeit verstehen.
Übrigens, was wollte man denn? War die feste Hand, nach der man rief und verlangte, nicht irgendwo schon da? Zielbewußt und rücksichtslos sich regiert wissen, wie seit Bismarck nicht mehr, und das Land beruhigte sich! Kein Sturm auf die Bank, kein Sturm auf das Warenhaus. Man brauchte sich nicht mit Kerzen einzudecken, der Riesenstreik legte die öffentlichen Betriebe nicht still. Trotzdem man längst unter Notverordnungen stand. Erhob sich nicht schon morgen oben auf der Zinne der Macht der vom Vertrauen einer gewaltigen Volksmehrheit getragene Mann des Schicksals und hielt die Dinge fest in der Hand? Nur eine bange Frage schwebte – welcher Preis mußte für die wiederhergestellte Ordnung erlegt werden? Nur nicht die fürchterliche Stumpfheit und Unkultur! Wurden jene bürgerlichen Freiheiten in eine Regierungsform hinübergerettet, welche unter allen Umständen gesichert bleiben sollte, wenn Deutschland vor der Welt Größe bewahren will? . . . Wo Ull erschien und willkommen geheißen wurde, mußte er sprechen, und aus seinen drängenden Gedanken heraus sprach er erhobenen Hauptes, vor wem es war. Auch diesen Abend erlebte er es.
56 Nach Hause ging er zu Fuß. Es war neun vorbei, da lag das Außenquartier still. Er wollte noch an dem Gutachten arbeiten.
Die frische Nachtluft befreite ihn von den Anfechtungen seiner Gedanken. Es beschäftigte seine Aufmerksamkeit, wie sich die Stadt vor dem Horizonte zurückzog. Mit einigen Häuserlücken begann es. Dann wurde immer mehr hinweggeräumt, um den Himmelsfuß freizugeben. Von den Lichtern der Ebene, nur noch hilflos hingestreut, hob sich das blau sich wölbende Gezelt mit den goldenen Trauben der Gestirne.