Carl Albrecht Bernoulli
Bürgerziel
Carl Albrecht Bernoulli

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Tag.

Anfang Mai 1918.

I.

Im Volkshause, an der Rüsthausgasse, waren die Kränze und der andere Schmuck vom jährlichen Standesfeste der Arbeiterschaft noch nicht völlig wieder entfernt. Der endlose Umzug am Weltfeiertag durch alle bedeutenderen Straßen und Gassen war in Ruhe verlaufen. Aber der Kampf um die Macht ruhte nicht. Schon vier Tage später wurde frühmorgens im Volkshaus wieder beraten. Ein freisinniger Nationalrat war plötzlich, während seiner Amtsdauer, am Schlagfluß verstorben. Durch welche Kandidatur konnte den Bürgerlichen der Sitz entrissen werden? Welcher Name sprang aus der Masse des namenlosen Volkes in die Öffentlichkeit empor?

In einem der Sitzungszimmer war schon vor sieben Uhr früh eine Beratung des Wahlausschusses anberaumt. Die Aufgebotenen saßen da, Pletterer 109 als Vorsitzender begann die Verhandlungen. In der sich öffnenden Türe erschien der Genosse Oberrichter Deubelbeiß, modisch gekleidet in einem pfefferundsalzgrauen Sackanzug, die Stirne mit kleinen Schmissen übersät. Er schnarrte gegen Pletterer eine Entschuldigung wegen verspäteten Eintreffens: »Aber potz Millionen, ist es erhört? In dieser Herrgottsfrühe? Das sind mir doch einschneidende Neuerungen! Es ist ja kaum Tag, und nun soll man schon tagen?« Pletterer gab ihm zu merken, daß diese Verlegenheitswitze ihren Eindruck verfehlten. Man hatte pünktlich zu sein.

Die Stellungnahme zur Stichwahl drängte. Neben den Vereinsanlässen und Ausschußsitzungen war eine allen Beteiligten genehme Abendstunde für die laufende Woche nicht mehr erhältlich gewesen. Das Wort erhielt Werner Walthard.

Er führte sich als Berufsgenossen des Kandidaten Meisterhans ein und dann auch als dessen persönlichen Freund. Man müsse ihn näher kennen, um ihm ganz gerecht zu werden. »Werte Genossen, stellen wir Emil Meisterhans getrost auf. Wir werden Ehre mit ihm einlegen. Er wird sich, einmal auf dem parlamentarischen Posten, zu einem prachtvollen Kämpfer für die Sache des Proletariates entwickeln.«

Das Geräusch des erwachenden Werktages schallte von der Gasse herauf. Wagen rasselten über das Pflaster. Milchhändler riefen und läuteten und gaben lang hinhallende Zeichen mit Pfeifchen. Über 110 die Häuser hinweg hörte man die Schienen kreischen und vernahm das Läutewerk der ersten Straßenbahnkurse.

Der Lokomotivführer Brast zog vom Leder. Dicke, grobe Worte purzelten ihm aus dem Munde.

Ohne das Wort zu verlangen, fuhr Deubelbeiß heraus – in barschem Tone, mit dem er als Richter hinter den Schranken hervor eigensinnige Angeklagte anzufahren pflegte. »Um Gottes willen, Meisterhans! Ich habe ihn im Verdacht, er dichte. Heute zwingt man! Heute herrscht man!« Der Genosse Oberrichter sah sich im Kreise um und zählte im stillen die zustimmend nickenden Köpfe. Es nickten fast alle.

Pletterer zuckte die Achseln: »Wir müssen doch sehen, daß wir zu einem Ergebnis gelangen.« Irgend welche Leidenschaft war von ihm für diese Ersatzwahl nicht zu verlangen. Es wäre ja ganz schön, wenn aus dem Sesselzuwachs etwas würde – auf jeden Fall gab die Kraftprobe dann das tatsächliche Stärkeverhältnis ziffernmäßig an. Das war freilich die letzte Wahl nach dem Mehrheitssystem, für die bevorstehende Gesamterneuerung wurden dann neue Saiten aufgezogen. Wer nun im alten Verfahren noch nachhinkte, war eigentlich gleichgültig. Die Stichwahl entschied nichts.

»An sich wäre die Nomination Meisterhans nicht ungeschickt. Obschon –« Und nun nahm der Vorsitzende einen Anlauf zu wirklichem Ernst.

111 Das schräge Brettchen seiner langschmalen Stirn war völlig klar gescheuert, zeigte keine einzige Runzel mehr. Er brach den angebrochenen Nebensatz ab, um die Mitteilung richtig anzusetzen: »Ich habe Ysenschmied bis jetzt politisch für ungefährlich gehalten. Er hat sich ja auch kaum hervorgewagt. Das eigentliche Wucherkapital ist ihm gar nicht gewogen. Darum ist es recht bezeichnend, wenn sie wirklich ihn bringen. Es ist das ihr letztes Holz, das sie abhauen. Ich muß aber beifügen, nachdem was ich neuestens weiß – ihr bestes.«

Strenge Vertraulichkeit einschärfend, gab Pletterer bekannt, ein Typograph habe Druckbogen einer Geheimschrift entwendet und zu den Akten der Parteileitung gegeben. Verfasser sei Ysenschmied. Rein als Plan zum Aufmarsch für den Kampf könne etwas so Folgerichtiges und wesentlich Gesehenes nur der geborne Staatsmann aushecken. Pletterer zog nun Druckbogen aus der Tasche und gab aus der Schrift des künftigen Wahlgegners einige eindringliche Stellen unter abermaliger Anempfehlung dichtester Verschwiegenheit zum besten.

Draußen war die Stadt vollends erwacht. Das Straßentreiben schallte mit wachsenden Geräuschen in den Versammlungsraum hinauf. Die frohen lenzlichen Lüfte und Düfte, die immerzu schon durch das offene Fenster in den kleinen Saal drangen, umspielten die frühe Tagung.

 

II.

112 Dieselben Düfte und Lüfte spielten zwei Stunden später in das geräumige Klassenzimmer des Schulhauses für höhere Töchter, das sich unweit davon erhob. Edgar Zeerleder stand vor den wenigen Zeilen zweisitziger Bänke. Er erteilte Unterricht in allgemeiner Lebenskunde und erörterte vor seinen Schülerinnen die merkwürdige Rolle des Bewußtseins. An der Wandtafel hatte er mit bunten Kreiden einen menschlichen Schädel umrissen. Die Schülerinnen mußten die Bestandteile des Gehirns herzählen. Schließlich rief er Gonda auf.

Sie trat vor und nahm eine Kreide zur Hand: »Das ist das Großhirn – und da das Kleinhirn – und da sind die Scheitellappen.« Sie strichelte und malte, wie sie es von den Vorlagen des anatomischen Atlasses noch in Erinnerung hatte.

»Gut – sehr gut – und nun soll uns Adelgunda sagen: Wo ist der Sitz des Bewußtseins?« Das Fräulein sah ihn groß an – ihre Augen erweiterten sich vorwurfsvoll.

»Nun ja,« ermunterte der Lehrer, »der Sitz des seelischen Lebens – was zögern Sie denn? Sie haben das eben alles so schön hergezeichnet – auf welcher Hirnpartie spielen sich denn die 113 seelischen Prozesse ab – was besinnen Sie sich denn noch lange?« Ihre Brauen näherten sich einander unter der verdüsterten Stirn, ihr Blick traf ihn feindlich.

»Der Sitz des Seelenlebens,« zögerte sie – – »ist das Herz!« Zeerleder zuckte zusammen. Auch war ihm, es gehe ein Ruck durch die Klasse – ein Stoß verhaltenen Lachens. Er wappnete sich.

»Das Herz, sagen Sie? Sie haben eben das Großhirn gemalt und verlegen die Seele ins Herz! Nun, ich darf nicht vergessen, ich stehe vor jungen Damen, da muß man nachsichtig sein. Nur dürfen die jungen Damen ihrerseits nicht vergessen, wir lesen jetzt nicht Romane, wir lernen Biologie.« Einige bescheitelte und bezopfte Köpfe duckten sich.

Zeerleder sagte sich, nun gelte es, und begann zu reden. Gonda benagte das äußerste Ende ihres Federhalters mit blanken Zähnen und ließ ihre dunklen Augen forschend an der Gipsdecke des Schulzimmers wandern. Der Lehrer erging sich in Darlegungen: »Gewiß – etwas ist ja daran. Unser Organismus wird im Umlauf erhalten vom Herzen aus . . .« Ping! tickte es ihm unter der Nase, kurz und trocken. Er vernahm und überhörte es zur gleichen Zeit. Jetzt sprach er ja! Jetzt träumte er doch nicht! Die Uhr auf dem Flur schlug anders – weit und breit kein Fernsprecher! Also es war nichts gewesen. Weiter im Text. –

»So eine Art Turbinenbetrieb! Man kann ja 114 im gewissen Sinne sogar so weit gehen und gerade nach den neuesten Theorien die Frage aufwerfen, inwiefern der Herzschlag und der Blutgang unser Lebensgefühl bestimmen. Stellen wir uns eine ruhelos sich drehende Spindel vor . . .!« Ping! schrillte es abermals – in seiner nächsten Nähe, diesmal ein bißchen länger.

Irgendwie war der Teufel los, kein Zweifel darüber! Fragte sich nur, wie sich benehmen. In den Mundwinkeln und Augenecken der Mädchen wetterleuchtete es. Ein Schelmenstreich war im Gange, er saß auf dem Pulverfaß – elektrisch ging es zu – –

Er suchte einen Übergang. Vielleicht konnte er sich noch mit Glimpf draus ziehen. »Es kann ja vorkommen, daß infolge einer großen Überraschung plötzlich der Verstand stille steht, wie man zu sagen pflegt – gemeint ist dann allerdings mehr das Empfindungsleben als das Denken.« – – – »Ping!« ertönte das Klingelzeichen zum drittenmal ohne vorerst abzubrechen. Das war die offene Kriegserklärung – die ganze Klasse brach in ein fröhliches Gelächter aus. Alle Augen richteten sich halb mutwillig, halb verschämt auf den herausgeforderten Gestrengen.

»Ja, meine jungen Damen – nun legen Sie alle Hände vor sich auf die Pultflächen. Aber wirklich alle ohne Ausnahme – Sie auch, Gonda –« Er erhob sich und übte einen scharfen Augenschein 115 aus – alle verfügbaren Händepaare waren zum Zeichen der Unschuld hingelegt – die verborgene Klingel raste weiter – –.

»Nun, ich muß gestehen, die Sache interessiert mich gewaltig, mein Unterricht trägt Frucht, ich scheine weibliche Monteure ausgebildet zu haben – Bitte, nun still endlich mit dem Geschell!« In diesem Augenblick schwieg die Klingel. »Ah – das geht ja prompt – nun vielleicht einmal drei kurze Schläge hintereinander – aber die Hände oben behalten bitte –« Die drei schrillen Schalltupfen erfolgten, alle Hände lagen flach ausgebreitet. – »Klappt tadellos,« forschte Zeerleder weiter. »Nicht schlecht! Stehen Sie nun alle miteinander auf!« Es geschah. »So – und nun soll die Klingel wieder in Tätigkeit treten.«

Es entging dem Lehrer nicht, daß Gondas Gestalt sich etwas verkleinerte, ehe das Geläute anhob. – »Was ist das, Gonda! Wollen Sie wohl gerade stehen. Kerzengerade! Keinen Buckel! Wenn man gewachsen ist wie eine Tanne!« Gonda leistete der Weisung Folge – kein Läuten mehr!

Zeerleder hatte sich inzwischen vergewissert, daß die Glocke tatsächlich in seinem Pulte angebracht sein müsse und hob den Deckel.

»Alle Wetter!« Er räumte die davorgestellten Bücher aus dem Wege, worauf das Nickelgehäuse aufschimmerte. »Da haben wir's ja, das metallene Vogelnest! Und nun wollen wir der Leitung 116 nachgehen – also da habt ihr wahrhaftig durchgebohrt. Wie? An der Wand oben drüber genommen – eine Leiter angestellt –? Kühn, muß ich sagen – sehr kühn! Und hier biegt es um. Jaja, verkleben hilft nicht viel – hier auf die Bank zu – nun kommt mal heraus – ich will mir die Einrichtung gründlich besehen – das ist ja alles verteufelt hinterlistig ausgeheckt. Was? Ein Kabel sogar? Und nun siehe! Was für eine schändliche Spitzbüberei – eine aufrechtstehende Klappe an einem Scharnier – die einfach, wenn man davor sitzt, mit dem Knie leicht zurückgedrückt zu werden braucht. – Allen Respekt, Ihr könntet wahrhaftig Höllenmaschinen herstellen, es gäbe Euch nichts zu tun! Und nun will ich einmal mein Heil versuchen – wahrhaftig, hört –« Er hatte das unter der Bank senkrecht angebrachte bewegliche Brettchen leicht mit einem Finger angerührt und konnte nun die untadelige Güte des Apparates feststellen.

Es läutete so oft er wollte. Erst kurz, dann lang, dann wieder ein paarmal rasch hintereinander. Ein Fachmann hätte es nicht besser einrichten können! – Schon strahlte die ganze Klasse und wiegte sich in der Hoffnung, der gewagte Handel könne sich noch zu einem Verbrüderungsfest auswachsen: der geprellte Regent war von dem Putsch entzückt und machte seinen Aufrührern den Hof?

Für den Rest der Stunde beschäftigte Zeerleder die Klasse schriftlich und zog sich in sein Pultgehäuse 117 zurück, von wo aus er zerstreut die Zöglinge überwachte. Sollte er diesen gelungenen, aber doch recht frechen Streich dem Rektor zur Anzeige bringen? Oder ließ er es bewenden und deckte den Mantel der Liebe drüber?

Nicht übel: »Mantel der Liebe!« Er lächelte verlegen vor sich hin und ließ die Beerenlippe hängen. Eine kecke Hummel das – diese Gonda da unten! Aber wirklich eine kecke Hummel!

Und fünf Minuten vor dem Stundenschlage rief er Gonda auf. Sie ganz allein. Und prüfte sie! Sein Gesicht lag in schrecklichen Falten, und seine Stimme herrschte die Schülerin unerbittlich an. Eine Frage halsbrecherischer als die andere. Voll Erbarmen nahm die Klasse teil: kein Zweifel, es ging mit der Ärmsten auf Tod und Leben. Gonda stand in der Bank. Sie zitterte leise. Aber sie blieb keine einzige Antwort schuldig. Es ging über Stock und Stein. Differential! Integral! Das hatte die Klasse ja noch gar nicht gehabt! Aber mit ihrem gelehrten mathematischen Mönche, der zugleich ihr Beichtvater gewesen war – mit dem hatte sie dergleichen Gehirnkünste wie zum Scherze getrieben. Nun ja, das frühreife Kind des Südens. Und in der Not des Augenblicks versagte ihr Gedächtnis nicht ein einzigesmal.

Bei einer besonders glänzenden Auskunft hielt die Strenge des Lehrers nicht länger stand. Die rote Beere seiner Unterlippe verschob sich. Er konnte 118 nicht anders als vergnügt lächeln. Zugleich schlug auf dem Flur die Uhr.

»Ich muß den Unfug dem Rektor melden,« sagte der Doktor Zeerleder, als er sein Pult verließ, »aber ich werde beifügen, daß Sie die Scharte einigermaßen ausgewetzt haben. So wird denn, hoffe ich, das Urteil gnädig ausfallen.«

 

III.

Der Staatsanwalt auf seinem Amtszimmer schlug die Akten des Vatermörders zu, klappte die Oberschale seiner goldenen Uhr auf und verglich das Zifferblatt mit der Wanduhr.

»So –!« Es war Zeit, sich in die Sitzung zu begeben.

Sein Gang nach dem Zunfthause, in dessen kleinem Saale die Beratung stattfand, führte ihn auf Hauptstraßen mitten durch das Getümmel des Wochenmarktes. Rosige Spanferkelchen in vergitterten Kisten aufschimmernd – dazwischen der aufgestapelte Grünkram der Frühgemüse, – die blauen Überhemden oder dunkelbraunen Röcke der handelnden Bauern, Bäuerinnen in der schwarzweißen Tracht mit den silbernen Ketten – das alles aufgebaut zwischen die sonnbeschienenen hellgrauen Pfeiler und Laubenbogen.

Die bedächtigen Tauschgespräche der Händler, die ihm ans Ohr schlugen, folgten einem 119 unzweideutigen Grundgefühle – sie wollten verdienen, wollten etwas vor sich bringen! Sie feilschten, betrogen vermutlich auch, soweit es die Sache mit sich brachte, oder rundeten wenigstens nach oben auf, damit der Franken voll wurde. Hie und da überraschte ihn ein ehrerbietiger Gruß aus der Menge – ein Polizist oder irgend ein Jemand, der ihm halbwegs bekannt vorkam, ohne daß er sich gleich auf den Namen besinnen konnte. Endlich war er angelangt und betrat eine getäfelte Stube.

Die gleich ihm Aufgebotenen fanden sich ziemlich pünktlich ein, und darunter denn auch jene beiden stadtbekannten Biedermänner, auf die er es heimlich abgesehen hatte. Als witterten sie in ihm den Gegner, den zu beschwichtigen ratsam sei, zeichneten ihn beide, obwohl sie an Alter ihm um eine gehörige Strecke voraus waren, durch eine zuvorkommende Begrüßung aus. Der Handelskammerherr Dojourdhui von der Spitalgasse mit den zwei gepflegten rötlich silbernen Backenbärten und dem dazwischen reinlich ausgeschabten Grübchenkinn sprach ihn mit sanfter, salbungsvoller Stimme auf die obschwebenden Wahlaussichten an und bezeichnete sie als Lichtpunkt in der überhandnehmenden öffentlichen Dunkelheit. Die Schmeichelei lief Ysenschmied sehr wider den Strich, und als auch noch der Herr Spezierer Venner-Joß nicht weniger zuckersüß sich an diesen Freundlichkeiten beteiligte, packte er einen vor ihm stehenden Stuhl bei der Lehne und deutete 120 auf einen Herrn, oben am Tisch, der mitteilte, man wolle ›denk wohl‹ beginnen. Auf dem ovalen Eichentische prangten Aschenbecher mit den unbeholfenen geschnitzten Bären, die schwarzrote Schärpen trugen, und aufgesteckte Fähnchen von derselben Doppelfarbe.

Sobald sich eine Gelegenheit fand, verlangte Herr Dojourdhui das Wort und führte in demütiger, hingebender Weise Beschwerde über sich selbst und seine Standesgenossen, die eben beim ehrlichsten Willen den sozialen Anforderungen an die Bessergestellten nicht von einem Tag auf den andern vollkommen zu entsprechen vermöchten. Es solle gewiß alles geschehen, was menschenmöglich verlangt werden könne. Nur solle man Nachsicht üben in diesen Zeiten, wo man vor Verpflichtungen und außergeschäftlicher, ehrenamtlicher Inanspruchnahme wirklich nicht mehr wisse wo einem der Kopf stehe. Jeder müsse eben nach bestem Wissen und Gewissen wirken in dem besondern Felde öffentlicher Tätigkeit, in das ihn Gott hineingestellt habe. »Ich selbst blicke, wie Sie wissen, auf eine bald dreißigjährige Erfahrung in der Lebensmittelbelieferung zurück und kann nur sagen, ich habe seit dem Kriege völlig umlernen müssen.« Sein sowieso schon friedfertiges Gesicht erleuchtete sich zu einem Sonnenschein von innen heraus, als er fortfuhr: »Meine Herren, da muß ich eben wieder einmal ausrufen: Gottlob und Dank sind wir Berner – ich meine das jetzt nicht in äußerer, sondern in wirklich innerer Hinsicht 121 – Bern als die Stadt des prächtigen Jeremias Gotthelf! Ich darf daran erinnern, daß in meinen Warenberichten je und je Stellen aus seinen Werken eingeflochten sind. Denn was wäre zeitgemäßer, als jene herzerquickende Schilderung der bis unter den Dachfirst gefüllten Speicher in unsern Bauernhäusern –«

»Damit beschönigen Sie die Hamsterei!« unterbrach ihn unversehens Ysenschmied, der alle die Zeit geduckt und sprungbereit dagesessen hatte. Der Kaufherr verbat sich die unbefugte Unterstellung in einem zum voraus verzeihenden, mildkläglichem Tone, versprach, sich im weiteren kurz zu fassen und setzte sich denn auch in der Tat nach wenigen Sätzen, indem ein betrübtes Lächeln seine sauber ausrasierten Mundwinkel umspielte.

Der Vorsitzende glättete die mituntergelaufene Reibung aus: Er sehe es nicht ungern, wenn in so ernsten Dingen auch einmal die Geister aufeinander platzten. Da wisse man dann doch, daß das erforderliche Interesse vorhanden sei. Ysenschmied hatte in der letzten Viertelstunde seine durchgerauchte Zigarre nicht wieder ersetzt – die Glut des Stummels verendete auf dem Aschenbecher.

»Herr Präsident, meine Herren –« begann er, sobald ihm das Wort erteilt wurde. »Ich will Ihnen kurz von einem Ehrenmann erzählen, der für mich weiter keinen Namen hat. Ob er hier unter uns sitzt oder irgendwo draußen herumläuft, kümmert 122 mich nicht. Ich habe es mit den Zuständen zu tun, die er verkörpert. Also: mein Ehrenmann ist reich, konservativ, fromm, insbesondere ein Gönner christlicher Liebeswerke und der Heidenmission. Er führt als legitimes – dies ist ein Fachausdruck – Großimportgeschäft massenhaft Fett ein. Anstatt es mit bescheidenem Gewinne dem Volksverbrauche zuzuführen, der es sehr nötig hätte, verkauft er es zu bedeutend höherem Preise an Leute, von denen er wissen muß, daß sie Exportschieber sind, – das heißt, daß sie die Ware zusammenkaufen, um sie an ausländische Einkaufsstellen abzugeben, die sie dann ins Ausland weiterleiten. Dadurch vermindert er wissentlich die Volksernährung, insofern ja bekanntlich nur soviel Ware eingeführt werden darf, als zur Selbsternährung der Schweiz knapp ausreicht. Leider kann diese ungemein volksschädigende Handlung mit dem Gesetze nicht gefaßt werden.« Hier ließ nun der Prokurator gleichsam beiläufig einige bissige Bemerkungen einfließen über die eidgenössische Gesetzes- und Verordnungspfuscherei während des Krieges.

Dann wendete er sich wieder seinem Ehrenmanne zu. »Im Herbst 1914 schloß er einen großen Kauf ab. Die Ware liegt in Arisland – so heißen ja unsere Bauern Amerika. Der damalige Preis beträgt, sagen wir, 115. Infolge der Einfuhrschwierigkeiten bleibt sie bis Frühjahr 1915 in einem französischen Hafen liegen. Als sie endlich in die 123 Schweiz gelangt, wo eben infolge dieser Einfuhrschwierigkeiten größter Mangel an dieser Ware herrscht, ist der Preis auf 205 gestiegen. Mein Ehrenmann begnügt sich nun nicht mit dem gewöhnlichen, schon recht anständigen Gewinne von etwa 10 Prozent, womit er der Landesversorgung eine höchst wohltätige Erleichterung verschaffen könnte – also sagen wir etwa zu 130. Nein – er verkauft sie zum Tagespreise von 205, sackt also einen Gewinn von fast 100 Prozent ein. Meine Herren, kaufmännisch unanfechtbar! Ja er würde als ein Esel, mehr noch als ein solidaritätswidriger Preisbrecher verschrien, ginge er anders vor. Die Kaufherren haben Saison, wie sie das zu nennen pflegen – wäre es nicht geradezu unsittlich, die durch höhere Fügung ihnen bescherte Ernte nicht restlos einzuheimsen? So denken mein Ehrenmann und die überwiegende Mehrzahl seiner Zunft. Nach dem Gefühl aller anständigen Leute aber gilt ein solches Verhalten für unehrenhaft. Erst dieses Jahr hat das Bundesgericht eine solche Handlungsweise als strafbar erklärt – vorher ließ sich nichts dagegen machen.«

Das Rücken eines Stuhles lenkte die Augen auf den Sitzplatz der anwesenden Kaufherren Dojourdhui und Venner-Joß. Beide fielen durch starre Haltung auf. Alles Blut war ihnen aus dem Gesicht gewichen. Besonders wirkte das bei Herrn Dojourdhui erschreckend – seine spitze Nase steckte 124 wie ein Leichenpfahl zwischen den rötlich leuchtenden Koteletten. Seine rechte Hand lag tot vor ihm auf dem Tisch, nur der Mittelfinger ging wie an einem Drähtchen sehr schnell auf und ab.

Ysenschmied war nicht zu Ende. »Mein Ehrenmann beeinflußt die Kundsame auch durch die Presse in anfechtbarer Weise. Er behauptet in Inseraten wider besseres Wissen, es werde demnächst ein großer Preisaufschlag eintreten, obwohl er genau weiß, daß das Gegenteil zu erwarten ist, nur um seine Ware noch zu den hohen Preisen loszuschlagen. Das greift in das oben erwähnte Kapitel, und wir werden also neuestens in der Lage sein, mit einem Bundesgerichtsentscheid einem derartigen Benehmen auf den Leib zu rücken. Herr Präsident, meine Herren – das wären so ein paar Musterchen, die beweisen, daß kein Anlaß vorliegt, über das soziale Empfinden und die persönliche Gewissenhaftigkeit unserer bürgerlichen Gesellschaft besonders beruhigt zu sein. Hier ist Not am Mann. Hier muß jeder, den es trifft, an die eigene Brust schlagen und von Grund aus Wandel schaffen. Sonst wird unser bernisches Bürgertum, das teure Erbgut unserer Ahnen, dem Zorngericht, das es rings umdroht, nicht entgehen.«

Diesen Worten folgte eine jener peinlichen Pausen, von denen das Sprichwort sagt, es gehe ein Engel durchs Zimmer. Dann bemerkte der Vorsitzende: »Ich glaube, es ist besser, wir hören 125 dergleichen von unseren eigenen Gesinnungsgenossen, als daß wir es im ›Volksweg‹ aufgetischt bekommen. Wir müssen die Mahnung beherzigen, auch wenn sie bitter schmeckt.« Der Staatsanwalt vermied es, bei Schluß der Sitzung im Hinausgehen angesprochen zu werden, mußte aber gleichzeitig unter dem Mißmut leiden, daß dies eine überflüssige Vorsicht sei. Die andern hielten sich ebenso sehr von ihm zurück, wie er sich von ihnen. –

Da legte sich ihm sanft eine Hand auf die Schulter. Er sah sich um und begegnete zwei tiefblauen Augen, die in einem dunklen Ernste erstrahlten.

»Ah, Herr Direktor von Roll – so so – auch zugegen?« Er hatte ihn nicht bemerkt, weil dieser später eingetroffen war und sich bescheiden im Hintergrunde gehalten hatte. Aber von Roll ging auf diesen launigen Ton nicht ein und entgegnete: »Sie haben aber angepackt! Ich wäre das nicht imstande gewesen. Wir mögen ja besser sein. Doch ob wir gerade viel besser sind, also daß es sich lohnt, ein Aufhebens davon zu machen – ich weiß es nicht.« Und langsam reichte er ihm am gerundeten Arm die tiefliegende Hand.

Vergnügt wurde Ysenschmied erst, als er auf dem Nachhauseweg kurz vor zwölf Uhr am Zeitglockenturm vorbeikam und dort die wartende Menge der Schaulustigen gewahr wurde, die das altfränkische Figurenläutewerk sich nicht entgehen lassen wollten, den paukenden Narren, den krähenden Hahn, 126 die sich im Kreise drehende Bärenschar. Und da eben überfiel ihn gute Laune, als er an sich bemerkte, wie er unwillkürlich, ehe irgend eine Überlegung mitsprechen konnte, seine Schritte beschleunigte und scheu zur Seite sah. Das hatte die Bewandtnis, daß er noch niemals in seinem Leben sich diese Kuriosität der Reisehandbücher angesehen hatte, weil es gewissermaßen zur Erziehung der Burgersöhne gehörte, davor nicht stehen zu bleiben. »Das ist für die Fremden!« hatte es immer geheißen zu Hause und unter den Jungen selbst. Und nun trieb dieser Instinkt der Jugendzeit ihn weißgott wieder daran vorüber – wie vor dreißig Jahren!

 

Als er und Zeerleder eine halbe Stunde später sich zu Tische setzten, machte es sich Bernhard ohne Oberrock, in bloßen Hemdsärmeln, bequem. Heute bei dem warmen Sonnenschein des Maitages wurde dies zum erstenmal möglich. Edgar bemerkte, daß er frische und feine Wäsche trug. Auch Beinkleider und Weste, die gewechselt waren, brachten ihn auf die Spur.

»Richtig, heute ist ja großer Basar bei Manuels.«

Bernhard wandte sich seiner Gepflogenheit zu, Suppe zu schöpfen. Was diesmal aus der dampfenden Schüssel aufschimmerte, eine eigelbe gebundene Brühe, stimmte schon durch den Anblick, dank der 127 damit verknüpften Erinnerung, tröstlich. Sie gehörte zu den bewährten Leibspeisen des Junggesellentisches.

Seit die Vorfenster ausgehängt waren, war dies der erste sonnige Mittag. Nun war es gleich richtig heiß, als wollte der Frühling, nachdem er auf sich hatte warten lassen, auch überhüpft werden. Die Haushälterin mußte kommen, die Fenster schließen. Die weißen Gardinen, gegeneinander zugezogen, brachten die schläfrige Mittagsdämmerung zuwege – die Fliegen summten zudringlich. Bernhard sprang auf, riß sich das Mundtuch aus dem Westenknopf und peitschte an die Tapete herunter. Der weiße Zipfel knallte wie ein Geißelzwick, so herrisch zuckte sein Handgelenk. Dann setzte er sich wieder hin, schenkte Edgar aus der schlaffbäuchigen Karaffe das halbe Glas Weißwein ein und schloß sie mit dem gläsernen Stöpsel.

Sie schreckten beide zusammen ob einem tierischen Zähnefletschen. Prinz, der Pudel, biß sich mit ein paar stillen Fliegen herum.

 

IV.

Bernhard fand seine Schwester oben im Ausguckzimmer. Das Erdgeschoß des Hauses zum Bühl war völlig zur Aufnahme des Heimschaffungsbasars eingerichtet worden. Sie fuhr ruhelos herum.

128 »Wo hat das Schaf jetzt die Zuckerzange hingehext?« – und dann wieder mit erhobener Stimme: »Berta – wecke jetzt Kläuschen – ich will ihn anziehen – nachher komm ich nicht mehr dazu –.«

Der Bruder, der das alles über sich ergehen ließ, betrachtete lange Zeit eine erblühte Hyazinthe, die über einem Glase treibend auf dem Simse stand, und konnte es nicht unterlassen, sich über diese Verschiebung der Jahreszeit, die er sich nicht zu deuten wußte, zu äußern. Schlaff hingen die Wurzelschnüre, die sich schon faulend bräunten, ins lautere Wasser hinab. Was nun das wieder heißen sollte – die Treibhausherrlichkeit des Spätwinters jetzt, wo sie sich vor der Blütenpracht draußen in den Gärten ja lächerlich mache. Frau Manuel warf hin, die vergessene Zwiebel habe sich vor einigen Wochen in einem Papier vorgefunden, und da sei es ums Versuchen zu tun gewesen, ob sie so spät noch treibe – sie habe wohl bald ausgelebt.

Manuel kam und benahm sich gleichmütig wie immer zu seinem Schwager. Er fing von der Wahlbewegung an – sie hätten jetzt noch eine ruhige Viertelstunde. »Wenn du dich bei der ganzen Geschichte nur nicht übernimmst! Du bist zu sehr nur du selbst, fürcht' ich – wirst beim ersten besten Anlaß zum unvorsichtigen Draufgänger. Deine Überzeugung ist nicht spitz genug, um durchdringen zu können!«

129 Bernhard würdigte die klugen Worte. Er deutete durchs offene Fenster hinaus: »Siehst du, Hans! Dort über den Ausschnitt der Dächer weg – die Tramhaltestelle Burgernziel – ‹

»Links an der Pappelgruppe vorbei – was hat das damit zu tun?« wurde Manuel aufmerksam.

Bescheiden kam es von Bernhards Lippen: – »Heute ist das Bürgerziel auch in der Politik zu einem punktartigen Ziele geworden – du sagtest richtig, es bedarf heutzutage einer zugespitzten Überzeugung. Wie war das bei den Vätern alles noch viel breiter angelegt! Da war das Bürgerziel, wie du weißt, nicht auf eine einzelne kleine Stelle zusammengeschrumpft – es war eine ausgedehnte Grenzlinie, die sich über die Landschaft hinzog.« Manuel nickte. Die Worte hingen dunstartig im Raume – als ein zartes, geistiges Räuchlein gleich dem schmalen Havannahecht, den der vornehme Hausherr aus seiner Zigarre wölkchenhaft über sich ansammelte.

Bernhard seinerseits, die Kaffeetasse in der Hand, freute sich des Diplomaten. Er wußte, dieser Nachmittag mit der freiwilligen Veranstaltung des Basars kostete seinen Schwager, der begütert, aber nicht übermäßig reich war, viel Geld. Er gab diese Summe her in freigebigem Bürgerstolz – im großen und ganzen uneigennützig, wenn schon zur Vollendung des Oberstengrades vielleicht sich der dritte breite Goldstreifen an seiner Dienstmütze daraufhin 130 um einige Monate früher einstellen mochte, als in dem natürlichen Ablauf der Dinge gelegen hätte. In dieser beschaulichen Empfindung standen sich die Schwäger gegenüber, als sie ein dumpfer, schußähnlicher Knall erschreckte. Bernhard klirrte der silberne Kaffeelöffel vom Rande der Untertasse zu Boden – Manuel löste sich der zollgroße, sorgfältig durchgehaltene Aschenansatz von der Zigarre los und zerkrümelte auf Rock und Weste zu grauem Staube, daß er mit schnellendem Zeigefinger vom Tuch weggespickt werden mußte. Sie sahen sich um. In ihrem Rücken am Boden lag die Hyazinthe. Sie war vom Glase geglitten, der niedere Rand vermochte die schwere Blume nicht länger im Gleichgewicht zu erhalten. Die aufgetürmte Dolde hatte in ihrem überblühten Zustande das Übergewicht erhalten über die schmale Zwiebel, aus der sie emporragte. Die Knolle wog so schwer, daß sie bei dieser Fallhöhe und bei der Zugkraft der vorausstürzenden Blume mit solcher schallenden Wucht aufschlagen konnte. »Es ist heute verteufelt mit diesen Rückengeräuschen,« beklagte sich Bernhard, »schon zu Hause verursachte Prinz einen ähnlichen Spektakel.« Aber der Legationsrat meinte: »Heute ist mehr los als sonst – wir sind gespannter, also nervöser als sonst – daher sind wir diesen Überfällen zugänglicher.«

»Ist das aber auch ein Verstand – eine Zwiebel künstlich treiben lassen, wenn man schon Frühling 131 hat!« brummte Bernhard, dem der dumme Schrecken noch im Leibe bohrte.

Kläuschen kam gelaufen. Er trug das Kuttchen aus dem Stoff des Ratsherrenmantels. Grüne Schnüre und Besätze machten es sehr freundlich und kleidsam. Der Onkel erkannte und lobte es.

»Onkel Bernhard,« richtete er aus, »unten sind Damen. Und ein prächtiges, spanisches Fräulein – ja wahrhaftig ein spanisches –« Er betonte diese fremdländische Herkunft wiederholt mit aufgesperrten Augen.

Frau Anna, nun in ihrem Empfangskleide, schob den Kopf zwischen die Türe. Ob die Audienz vorüber sei? So stiegen sie alle drei hinunter, um zu empfangen.

 

Die zum Empfang der Käufer wohl ausstaffierten Räume empfingen ihren Rückhalt in der gewaltigen Halle, in die sie alle mündeten. Wie in einem fürstlichen Jagdschlosse prangte eine Sammlung schöner Geweihe und Gehörne an den aufstrebenden, weißen Flächen und verlor sich im Luftraum des Treppenaufstiegs. Größere Anordnungen sammelten sich um einzelne Prunkstücke – als da waren zwei Zehnender, ein Falkenhorst und auf dem Ehrenpostament ein balzender Auerhahn.mit seiner weißblauen Kopfhaube. Ein mächtiges Bärenfell reichte vom Treppengeländer herunter. Büchsen und 132 Hirschfänger, Pulverhörner und fremdländische Schabraken ergänzten die Ausstattung.

Es würde an Verständnis und Anerkennung nicht fehlen. Bundesräte hatten zugesagt – die ausländischen Vertretungen würden aufrücken! Großartig! Besonderer Gunst hatten sich die Serben zu versehen – viele waren vom Rückzug auf Korfu über Genf in die Schweiz gelangt – Severinovits, bei seiner Gesandtschaft zurzeit in großen Ehren, wollte im Nationalkostüm erscheinen! »Ah, wir sind nicht wählerisch gewesen,« bemerkte Frau Anna bedeutsam, »wir haben nicht lange gefragt, wir haben eingeladen, wer kommen will!«

Als dann der Name Rysold fiel, horchte sie auf. Was ist mit Rysold? Das zog ihr Neckereien zu. Der leichtsinnige Rechtsanwalt – einst ihr Backfischschwarm! Sie bekam es wieder zu hören. Ihre Schläfen verdunkelten sich ein wenig – immerhin auffallend unter so hellem Haar. Sie bekannte sich dazu: »Sagt selbst, ist es nicht furchtbar schade um ihn. Ein so hochbegabter, ein so prächtiger Mensch. Dieser unnachahmliche Plauderer! Und gleich in drei Sprachen aufs Mal in gleicher Vollendung. Ah – und noch immer schön! Die Stirnlinie ohne Knick über die Nase herunter. An ihn halt ich mich heute – er reißt mir die Sache heraus – Ach, geht mir doch, ihr untadeligen Ehrenmänner – das bißchen Hautgoût an seinem Leumund macht ihn nur anziehender –.«

133 Während sie diese Anspielungen etwas kokett von sich gab, verschlang sie aber den Gemahl, der in Frackjacke und Lackstiefeln vor ihr stand, mit zärtlichen Blicken. Welch ein Mann – ihr Mann! Militär und Jagdherr, ein Reiter und Fahrer wie kein zweiter – hielt in seiner geschmeidigen, zielsicheren Hand die verborgenen Zügel des öffentlichen Geschehens. Einstweilen noch im Schatten älterer Vorgesetzter, – dennoch einer, der ohne alles Aufheben sich dem obersten Landesschicksal unentbehrlich zu machen verstanden hatte. »Das hast du schön gemacht, Hans – übrigens wie immer,« sagte sie stolz, »das freut mich – heute, wo die Gesandten der kriegführenden Mächte –« Sie legte mächtig aus – der Gatte trat an sie heran, faßte nach dem Läppchen ihres durchaus zierlichen Ohres, führte sie auf das behutsamste in den Salon, zu dem Prunksofa unter dem Hodler – wo sie sich ihm mit einem Ruck entwand und lachend meinte, er lasse sie es eben immer aufs neue fühlen, wie sehr unter seinem Stand und Geiste er geheiratet habe. »Nicht wahr, Bruder Bernhard – das müssen wir uns eben gefallen lassen.«

Die hellgelb polierte Haustüre wurde geöffnet angehakt – um den erwarteten Menschenstrom einzulassen. Die Hausfrau heimste Glückwünsche ein für das schöne trockene Wetter – welche Verwüstung, wenn es gegossen hätte – so ein paar hundert nasser und schmutziger Schuhe – das wäre etwas gewesen. 134 Die Räume belebten sich – frische Stimmen mischten sich und schwollen – helle, bewegte Frühjahrskleider deckten Wände, Möbel, Durchgänge auf Augenblicke zu, um sie dann wieder freizugeben.

Die ›großen Tiere‹ strömten herbei. Es traten erst hohe teutonische Gestalten auf, Herren und Damen, unter anderem jener hochblonde Junker, dem man die schneidige Prophezeiung nachsagte: »Und wenn wir dann mit der ganzen Bande fertig sind, holen wir noch die Berliner Feuerwehr und nehmen die Schweiz.« Diese Äußerung war mit dem Unkraut der Gerüchte aufgeschossen und ihm wie eine Klette von hinten an den Rockschoß geworfen worden – insofern nicht unverschuldet, als dieser Baron Rüdiger Zitzewitz-Wendelstätt ein geschliffenes Mundwerk an seinem hoch aufgerichteten Kopfe trug. Er blieb in verbindlichster Haltung in der Nähe von Anna Manuel, der er von Stand zu Stand folgte und mit der Ergebenheit eines Spielers jeden noch so kostspieligen Ankauf erfüllte, zu dem sie ihm riet. »Ja ja, Herr Baron – jetzt müssen Sie sich eben ein bißchen unters Volk mischen – – es hilft Ihnen nichts.« Der Hausherr empfing im Flur. Aber der Prokurator hielt sich an der Seite der Schwester.

Sie traten selbdritt vor einen Tisch mit Büchern. Von da begaben sie sich in den Erfrischungsraum. Frau Anna hielt den Augenblick für gekommen, sich ins geistige Bild zu schieben. Es klang 135 ein wenig nach dem Pensionat, als sie verlauten ließ: »Als Gattin und Mutter wurzeln wir Frauen in einem festen, geruhsamen Glück – aber was fangen wir mit unserer Sehnsucht an, auf die auch wir ein Recht haben? Nun, ich denke, die Lektüre! Gut – wir greifen zum Buch – es fesselt uns über zehn, zwanzig Seiten hin – dann entsinkt es Händen, die tagsüber mehr Küchengeschirr anrühren als Saffianbände – es wäre denn, man staubte gerade die Bibliothek ab. Ich gehe sogar so weit, daß ich mich frage: hat es nicht manchmal seine Schattenseiten, kein Blaustrumpf zu sein? Also was tun? Der Tag ist vorbei – die Kinder schlummern oben – den Gatten weiß man irgendwo in einem Herrenabend – und einfach aus Langeweile schlafen zu gehn, ohne müde zu sein, finde ich unwürdig. Sehn Sie, Herr Baron – und auch du, Bruderherz, kannst es dir merken – das ist die Tragödie der modernen anständigen Frau.« Die leicht theatralische Pose geriet ihr nach Wunsch. Herr von Zitzewitz verschluckte sich vor Vergnügen an seinem Champagnerkelch, aus dem er gerade trank, und Bernhard neben ihnen lachte auf den Stockzähnen: Anna, als große Dame inmitten ihrer Weltpflichten – sie zog sich nicht übel aus der Sache!

Einheimische Elemente, Patriziat, Bürgertum und selbst der kleinere Mittelstand überwogen zusehends. Junge Junker warfen sich in den weichen Pfühl der Klubsessel im Flur und erstanden sich 136 als verwöhnte Raucher goldgelbe überseeische Rüben von Adelgunde, die in Carmentracht feilbot – einen silbernen großen Fünfer das Stück! Auch beehrten die Herrchen die Heimschaffungskasse mit der seltenen Gabe von Goldvögeln und zwar von englischen. Sie boten mit gelassener Miene irgend eine gewagte Wette an und warfen ein ›Pfündchen‹ in die Luft, das klingend auf den Fliesen tanzte, ehe es zur Ruhe kam, und dann, je nachdem es Kopf oder Schild zeigte, an den wohltätigen Zweck verloren war. Die vornehmen Jüngelchen stachelte der Hausherr durch Zurufe zur Verschwendung an. Er kannte sie und kannte ihre Väter und dachte sich seine Sache. Da war Bobs Stürler, war ein von Graffenried, ein von Morlot und ein von Wurstemberger – alles bei Leibe keine Trottel trotz ihren zum Teil höchst aristokratischen Schafsnasen.

 

Der lange Professor von Travolet erschien inmitten einer Anzahl schwarzer Herren – Bundesrat Schauensee, Vizepräsident des Nationalrates Zwyer von Evibach, dem der ›große Krachschlager Gottes in der Diaspora‹ Dr. Schnyder mit andern katholischen Parlamentariern folgte. Die Fensterecke des Eßzimmers war frei gehalten worden als behaglicher Winkel. Travolet wurde auf die Wahlaussichten seines Freundes Ysenschmied angesprochen, zu gleicher Zeit von anderer Seite die Anwesenheit des Konvertiten Luternau erwähnt und daran 137 anknüpfend des seltsamen Umstandes gedacht, der Intimus Ysenschmied scheine sich jeder Ahnung zu widersetzen. daß jener ja Jesuit sei. Travolet erklärte das so: »Der gute Cato ist durch geheime Sympathie unbewußt dem Jugendfreund enger verbunden geblieben als er sich selber eingesteht – sein Sinn sträubt sich instinktiv gegen die Enttäuschung – verstehen Sie mich?«

Die Herren nickten bedächtig ihr Verständnis. »Ah, instinktiv – ganz richtig,« murmelte Bundesrat Schauensee.

Da kniff aber Doktor Schnyder seine Kugelaugen zusammen: »Ich habe etwas gegen Ihren Cato den Zensor –, ich kann eine Bemerkung nicht verwinden, die er mir einmal vor den Geschwornen hinwarf – er nahm sich heraus zu bemerken: ›Meine Herren Geschwornen, der Herr Verteidiger verwechselt die Gemütsruhe, mit der er gelegentlich auf einem Bahnhofbüfett zwischen zwei Zügen eine Flasche Dezaley ausjaßt, mit der Wahrheitsliebe, die er soeben hoch und heilig beteuert.‹ Ja wohl, das hat er sich mir gegenüber erlaubt – ist das nicht starker Tabak?« –

»Warum haben Sie nicht Beschwerde geführt?« warf Bundesrat Schauensee ein.

Da mischte sich auf dem runden Gesicht des Advokaten das gutmütige und das verschlagene Temperament zu einem gelungenen Ausdruck – die Schelmennatur eulenspiegelte die Entrüstung weg: 138 »Ah, sehen Sie, Herr Bundesrat – eine Beschwerde, nein. Dazu fühlte ich mich zu sehr betroffen. Der Hieb war ausgezeichnet. Hätte er ihn einem Kollegen versetzt, ich wär ihm um den Hals gefallen. So geht es mir immer mit Ysenschmied. Wenn ich mich nicht so oft über ihn ärgerte, würde ich ihn lieben. Ich bewundere ihn, ich verehre ihn – aber leiden kann ich ihn nicht. Und so wird es auch jetzt gehen – wenn er kandidiert. Es kribbelt mir in den Fingerspitzen. Ich werde in unserer Zeitung ein kleines unsigniertes Eingesandt gegen ihn loslassen. Ich versündige mich damit am nationalen Block – aber sonst wird er zu hochmütig!« – Travolet nahm diese Offenherzigkeit mit dem Verständnis entgegen, auf das sie berechnet war, und man kam lachend überein, den heißen Boden solcher Anspielungen zu verlassen.

 

Um diese Viertelstunde mochte sich die Aufmerksamkeit aller Besucher, ausgeglichen verteilt und von einer zur andern Gruppe gesprächsweise fortgepflanzt, am nachdrücklichsten einem hagern, schwarzgekleideten Herrn zuwenden, der, gefolgt von einer bescheidenen Frau, schlicht und natürlich von allen Seiten ohne Ausnahme Grüße in Empfang nahm und erwiderte. Sogar am Tische der klerikalen Volksvertreter mußte er länger verweilen der mannigfachen Händedrücke wegen, die ihm von den katholischen Herren dargebracht wurden. »Ja – weiß ich 139 wohl – hab ich nie geleugnet – das ist ein Mann, der nichts als Gutes tut,« anerkannte Dr. Schnyder hinterher, während Jakob Wahrmund, Pfarrer an der Heiliggeistkirche, seinen Rundgang fortsetzte.

Seine Gattin wurde beinahe von allen vornehmen Damen, die sie umringten, mit Du angesprochen, da sie nicht nur selbst, sondern auch durch ihre verstorbene Schwiegermutter mit dem stadtbernischen Adel nah verwandt war. Nun staute sich mit einem Male die Ansammlung auf, weil Pfarrer Wahrmund in seinem langsamen Vorrücken schroff anhielt vor einem von Kopf zu Fuß graugekleideten Herrn von ungemein gewählter, abstandgebietender, zurückweisender Haltung. Der protestantische Geistliche ging an ihm vorüber mit halbgesenkten Augen, und um die Mundwinkel zuckten ihm flüchtige Blitze des Widerwillens.

Und nicht mit geringerer Abneigung erduldete er einige Schritte weiter die vertrauliche Anrede des Advokaten Rysold, der ihm die Hand auf den Unterarm legte und zu ihm sagte: »Alter Schulkamerad – meinetwegen – strähl du mir nur die Läus vom Kopf, ich halte dir geduldig hin – aber sieh dir doch ja den Prokurator und künftigen Nationalrat an. Eine solche Unschuld kannst du in deiner Unterweisungsstube vergebens suchen. Dieses Untersuchungsgenie hat immer noch nicht gemerkt, wohin mit dem stolzen Grauen dahinten!«

Trotzdem im Knopfloch des Pfarrers das blaue 140 Bändchen flammte, das Abzeichen der Enthaltsamkeit vom Alkoholgenusse, steuerte er, nur um von Rysold wegzukommen, auf eine Tafelrunde zu, die ihm in Spitzkelchen leuchtenden Wein entgegenhob: »Prosit, Herr Pfarrer!« Es wurde ihm erklärt, das sei ein Tropfen von Namen: Belle-Truche aus dem Familienkeller derer von Mülinen! Die jungen Zecher waren dieselben fröhlichen Früchtchen der heimischen Aristokratie, die schon vorhin auf der Diele draußen die Goldvögel fliegen ließen. Sie ruhten nicht, bis der Abstinenzapostel nebst Frau Gemahlin in ihrer sündigen Mitte sich niederließ: er bekam eine Flasche kohlensaures Wasser und sie eine prächtige Tasse Kaffee mit Kuchen vorgesetzt! Und dann musterte Bobsli Stürler eifrigst den schönen Tisch, an dem sie saßen. Ein echter Bündnertisch! Welch stattliches Altertum! Die vier runden, gewundenen Beine waren stark auswärts gespreizt und über dem Boden durch Fußlatten verbunden. Die zum Ausziehen berechnete dicke und doppelte Platte bestand in ihrem Mittelstück aus einer mächtigen Schiefertafel, die stilgerechtermaßen zerbrochen sein muß und auch richtig einige Risse aufwies. Die klassische Unterlage für ein Kartenspiel! Aber die wohlerzogenen Herrchen blickten nach dem blauen Bändchen im Knopfloch und wußten was sie sich schuldig waren.

 

Im Nebenzimmer, wo die Wirtschaft betrieben wurde, fesselte Bernhard ein grauberockter 141 Herrenrücken. Der Beobachtete sah sich um – es war Wilhelm von Luternau. Er stritt sich mit Jakob Ursprung und dessen jungsozialem Anhang.

»Gut, daß du kommst,« rief er dem Staatsanwalt zu, »ich habe einen schweren Stand. Diese jungen Arbeiterfreunde fragten mich nach der sozialen Bedeutung des Evangeliums.« Ursprung nannte einen deutschen Reformphilosophen der Kriegszeit und rief: »Das ist der klügste Kopf seit Ignatius von Loyola.«

Luternau erhob sich verletzt und nahm Bernhard in eine Fensternische: Ein rasch prüfender Blick vergewisserte ihn, daß die auf ihn selbst gemünzte Anspielung auf den Stifter des Jesuitenordens dem Prokurator entgangen war. Desto besser! »Was ich dir doch gleich sagen wollte – ich habe meinen Namen geändert. Auch er durfte mich nicht mehr länger an die Vergangenheit fesseln. Ich heiße fortan Sebastian Stuckishaus.« Er bat, da allerlei Leute sich näherten, ihn unter dem neuen Namen bekannt zu machen. Und da Ysenschmied sich weigerte, diesem seltsamen Einfall zu willfahren, stellte er sich einigen, die sich ihm zuwandten, selber unter der veränderten Bezeichnung vor.

Seltsamerweise befand sich unter den Vorübergehenden, die seine Sonderbarkeit vernahmen, auch die alte Frau Marquart. Ein bitteres Lächeln verzog ihren Mund, sie sah sich nach ›Carmen‹ um, die in der Nähe verkaufte. Auch an deren Ohr war 142 der Mummenschanz des Namentausches geschlagen von der Stimme, die sie sogleich erkannte. Sie erbleichte und barg sich geschäftig hinter ihren Käufern, an denen es ihrem Tische am wenigsten gebrach. Aber schon nickte der Konvertit mitten im Reden in die Leute hinaus.

Unter einigen Diakonissen löste sich Beate von Diesbach los und trat auf die Freunde zu: »Guten Tag, Herr Prokurator – guten Tag, Vetter! So so? Wieder im Land? Statt in der Soutane im grauen Rock! Und man heißt nicht mehr Luternau, wie ich höre – und führt tolerante Reden? Ich habe dich damals am Reformationstag beobachtet – im Münster!« Bernhard sperrte seine Augen weit auf: die betreffende Kundgebung des Fanatikers war also damals wirklich erfolgt?

»O ja – und ob!«, bestätigte ihm die Krankenschwester mit bedeutsamem Kopfnicken. »Einige meinten, er suche sich einen Platz und wollten zur Seite rücken.« Und schalt dann den Ruhestörer noch nachträglich: »Entsetzlich dein Gesichtsausdruck damals! Totenbleich, gelbe Schwefelfarbe im Blick, den Mund gekrampft, wie um auszuspeien – der verkörperte Racheschwur! O Wilhelm – oder also meinetwegen neuestens Sebastian – du hast dich getäuscht –« Sie warf ihr Haupt zurück, ihre Augen brannten: »Mit derselben Inbrunst, mit der du abgefallen bist, werde ich treu bleiben. Das Wort – sie sollen lassen stahn.« Der Konvertit ließ die 143 Verurteilung mit vollkommener Gelassenheit über sich ergehen – auf dem Parkett des Salons war er Abbé vom Scheitel bis zur Sohle.

 

Der Wechsel im Bestande der Besucher fing an sich geltend zu machen. Die Hausfrau eilte geschäftig durch das Getriebe. Gebieterisch winkte sie den Bruder zu sich heran. »Bitte, die Franzosen kommen! Ich verlasse mich auf dich!« Es tauchten rassige, kultivierte Weltleute auf – Grandseigneure mit makelloser Hemdenbrust und blaurasierten Wangen.

Ein schlanker junger Diplomat begrüßte angelegentlich Luternau-Stuckishaus: runde, glatte Züge, bartlos, faltenlos, wie ausgebügelt – die braunen, kurzen Haare lagen gegossen über dem langen Schädel. Der Konvertit stellte den Staatsanwalt vor: »Seh'n Sie, das ist nun ein Berner, in dem kein Falsch ist.«

Der Pariser folgerte mit zeremoniellem Wohlwollen: »Also ein Freund Frankreichs!« Das war nach dem Klischee der Höflichkeit gesagt und wollte weiter nicht auf die Goldwage gelegt sein. Aber Ysenschmied wurde von seiner hilflosen Ehrlichkeit übermannt:

»Ein Freund Frankreichs, sagen Sie?« – verständigte er sich sauber und fließend. »Ja! Heißt das, nein – geschichtlich verstanden! Seh'n Sie – natürlich – Paris – die alte Kultur, das 144 lateinische Genie – keine Frage! Jedoch bei einem Blick auf die Schweizergeschichte müssen Sie uns zugeben – alles Unglück ist unserem kleinen Lande von Frankreich zugefügt worden.« Er sah sich um und stellte vor sich selber fest, er habe das im Hause seiner Schwester so gesagt und da stehe ihm ein solches Wort frei – und war froh, als es draußen war.

Der Franzose stutzte mit Herablassung. »Unglück, wieso? Ich dächte doch eher: alles Glück, alles Heil! Helvetische Republik – Befreiung der Waadt.«

Eben steuerte der Untersuchungsrichter von Jenner an der Gruppe vorbei – Ysenschmied bekam ihn am Ärmel zu fassen. »Hier Monsieur, haben Sie einen Nachkommen jener famosen Berner Ratsperrücke, die dem französischen General Schauenburg unter die Nase sagte: Ich bin zwar nicht Fischhändler, aber man wird euch zu essen geben.«

Diese Einschaltung entspannte die Lage etwas: »Ach so!« lächelte der Mann von Welt, »Sie sind noch über hundertundzwanzig Jahre weg beleidigt. Ihr Sinn steht nach Vergeltung für 1798!« Seine Miene erfüllte Mitleid, er sah sich in der Runde nach einer Gelegenheit um, wie diesem hoffnungslosen Provinzler zu entkommen sei.

 

In der Halle wurde ein Glücksrad in Bewegung gesetzt. Die gezogenen Scherzartikel erfreuten sich 145 großen Beifalls. Die Lose gingen reißend ab. Der Hausherr leitete die Versteigerung in Person und rief die Nummern aus, umdrängt von schönen, lachenden Damen, die er sich vom Leibe hielt, indem er von Mal zu Mal eine Glocke schwang. Inzwischen war Frau Manuel wieder einmal zum Bruder Bernhard geflüchtet. Sie war ungewiß, ob die Veranstaltung ein Erfolg werde. Lohnte sich die viele Mühe? Und ihr Mann? Ob er zufrieden sei? Ach keinen Blick hatte er mehr übrig für sein armes Weib! Stand er nicht dort wieder inmitten einer ausgesuchten Damenschar – der Salonlöwe, der erfahrene Umgangsmensch? Keine Frau, die es mit ihm zu tun bekam, war so von Geheimnissen umgeben wie die eigene. Bernhard spürte, was für eine eifersüchtige Spannung eben jetzt wieder das Herz der Schwester auseinanderbog. Und nun geschah es, daß Manuel eben ausschaute und über die eleganten Toiletten und Frisuren seiner Umgebung hinweg das Geschwisterpaar streifte.

Bernhard, er, fing den schwägerlichen Blick auf und verstand ihn. Im frivolen Sinne der Lebewelt war Hans Manuel ein Weiberkenner gewiß nicht. Aber der Ehemann in ihm, verbunden mit dem gesunden Gesellschafter, der seit Jahren alle Welt sah und kannte, verhalf ihm zu einer sehr sicheren Einsicht in das Seelenleben des gesunden Weibes. Für eine Ehe ist Geschwisterliebe oft das Sicherheitsventil. Frau Anna besaß am einzigen 146 Bruder etwas Unersetzliches, etwas, das aus ihrem häuslichen Glücke wegzudenken ihr ein schreckliches Ansinnen gewesen wäre. Das war gut! Und der verstohlene Blick des Schwagers, den Bernhard in sich auffing, hieß es obendrein ebenfalls gut. Und so packte ihn denn, da ihn das Hin- und Herfluten abermals neben Anna schob, die Herzensklammer des Bruderblutes heftig.

»Ah, Schwesterherz! Meinen Glückwunsch! Du heimsest einen vollen Erfolg ein! Das ist dir nun wirklich geraten!« löste sich dem Wortkargen, den sie in ihm vor allem kannte, die lebhaft bewegte Zunge.

Beglückt gab sie zurück: »Nun ja – dann wird es ja wohl so sein. Wann im Leben hättest du mir geschmeichelt! Ich freue mich, daß die Mühe nicht umsonst war – namentlich für Hans!« Und sie stand da – den anstürmenden Knaben Kläuschen beschwichtigend, von Huldigungen bedrängt, in ihrer geschmackvollen Robe, jedes Haar am Haupt an seiner Stelle, mit hellen, prüfenden Augen und in den gebogenen Mundwinkeln das verhaltene Lächeln über das gewonnene Spiel – die schöne, vornehme, anstandshohe Bürgersfrau!

Der Glanz des Sieges umschwebte sie von da an, wo sie ging und stand. Sie spürte von hinten her, ohne es zu sehen, wie Bewunderung und Dankbarkeit ihr folgten.

»Bei ihnen muß man in die Schule gehen,« 147 sagte die Gemahlin des englischen Gesandten zu ihr. Diese Freundlichkeit der Lady schärfte ihr den Blick für die Lage und das Gefühl ihrer Verantwortung. Ein auffallender Geruch stieg ihr in die Nase. Sie schnellte herum: eine ›Neusilberne‹ war in der Wahl ihrer Wohlgerüche nicht eben sorgfältig gewesen. Es roch durchdringend, – sie verbreitete eine wahre Wolke um sich herum im Weitergehen. »Mir so das Haus zu verpesten! Wer ist die Person?« grollte Frau Anna und riß höchst anschaulich ein Fenster auf.

»Um Gottes Willen, was führen die im Schilde?« rief sie Rysold entgegen, hinter dem eine noch zum Knäuel geballte Schar den Windfang und Hausgang füllte. Der Fürsprech überwand ihre Bedenken spielend, indem er näheren Angaben vorerst auszuweichen verstand. Er durfte vor ihr, die zwischen würdigen Damen das Sofa inne hatte, auf einem Taburett sich niedersetzen und ließ zunächst die eine Neuigkeit einfließen: »Severinovits hat wirklich seine Nationaltracht an – seh'n Sie dort – in der Halle – als Woiwode! Prachtvoll, diese Spitzenbehänge – und wie die Farben gegeneinander abgewogen sind.« Der als spitze Zunge stadtbekannte Gesellschafter zu Füßen der Hausdame mußte auffallen – die Gnade, die er gefunden hatte, sprach sich rasch herum. Die Besucher stauten sich um den Winkel im Wohnzimmer und hörten zu.

Statt auf der Hut zu sein, ließ sich Rysold 148 gehen. Umgeben von lauter Leuten, die sich näher oder weiter betroffen fühlen durften, verkündete er großartig: »Geld? Amt? Heutzutage? Jetzt bitt ich Sie! Wer Renten lebt und Zinsen pickt, ist ein lakierter Seehund – und wer sich einen Berufspolitiker schelten läßt, ist auch ein lakierter Seehund. Ich kehre nicht die Hand um. –«

Frau Anna strafte ihn mit einem entsetzten Blicke. Was fiel ihm ein? Er vertrieb ihr die besten Käufer! Sie brach ihre Sofapause ab und ging erregt durch die Räume, um zum Rechten zu sehen. Jetzt hinterbrachten ihr Freundinnen die herrschende Meinung, die Preise seien übersetzt, der Absatz drohe zu stocken – die Leute hätten kein Geld mehr.

Ihr Pate, ein alter Herr, bestätigte ihr das – er klopfte verschmitzt auf seine leeren Taschen und kicherte: »Hier wendet sich der Gast mit Grausen – So kann ich hier nicht länger hausen!« Er trug zwei Paketchen an der Schnurschleife davon.

Erleichtert erblickte sie ihre alte Muhme aus der Gerechtigkeitsgasse. Sie kaufte geruhsam ein, knauserte nicht und zahlte mit Goldstücken. Ihr Sohn, der Bäckermeister, sah sehr schlecht aus und atmete mühsam, war aber guter Dinge und in seiner breiten Art gesprächig. Das behäbige Paar bewegte sich nur langsam vorwärts und hatte nach allen Seiten hin Grüße zu erwidern und Rede zu stehen. Sie landeten auf der Veranda, wo sich ein 149 Parlamentariertisch gebildet hatte um den Inhaber einer Aktienmühle, Oberst und Nationalrat Fritz Freudiger von Worbwabern – ein Mann von eidgenössischem Ansehen, gleich geachtet bei den Bauern wie bei der städtischen Bürgerschaft. Ihm stand ein belehrendes Wort von der Zukunft des schweizerischen Brotes zu, und Sohn und Mutter Rohr wurden von ihm lebhaft herangewinkt. Als Bäckersleute! Oberst Freudiger saß auf seinem Stuhl vornübergelehnt, die Knie auseinander, mit ausgelegten Ellenbogen und dämpfte seine dröhnende Befehlshaberstimme auf den gemächlichen Gesprächston. Er ließ sich seine Aussagen gelegentlich von Otto Rohr bestätigen. Und auch der Staatsanwalt konnte sich der Beteiligung an einer Unterhaltung nicht entziehen, in der ja der Kornwucher des Zwischenhandels ein Rolle spielte.

In den Zimmern drinnen wuchs die Gärung.

»Was? Die? Hier? Ja ist sie denn nicht eingesperrt?« hörte Frau Anna in einiger Entfernung tuscheln.

Sofort holte sie sich Rysold her: »Ist das wahr?« Er glaubte sich auch diesem Verhöre gewachsen und spöttelte über das blöde Geschwätz – die Verhaftung habe sage und schreibe vier Stunden gedauert und liege um ein halbes Jahr zurück.

»Einerlei,« schrie sie ihn entschlossen an, »jetzt rede ich berndeutsch.«

Severinovits in seinem Staatskostüm trat von 150 der Halle über die Schwelle, Maria Ozorai am Arm. Die Herrin des Hauses sah ihnen entgegen:

»Ah, – Herr Severinovits – mit Verlaub! Wir haben wohl alle Welt eingeladen – aber nicht die halbe! Bei uns wird nicht Takelwurm gespielt. Man erspare mir das weitere!« Bebend stieß sie das hervor, zwischen gepreßten Lippen, mit verhaltenem Atem. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne – an ihrem dünnbekleideten Arm zitterte die Seide. Unverwandt nahmen ihre Augen das Paar aufs Ziel. Bei Severinovits blitzte im Verdruß der ersten Sekunde ein frecher Blick nur eben auf, dann ließ er das Gericht in einer halben Verbeugung über sich ergehen, richtete sich, eine verächtliche Lippenfalte im Mundwinkel, auf und bot der Ozorai den über und über mit Spitzen behängten Arm.

In diesem halsbrecherischen Augenblick benahm sich die junge Ungarin unvergleichlich. Hundert sondierende, untersuchende Augenpaare wußte sie auf sich gerichtet. Langsam hob sie die Augendeckel mit den dunklen Wimpern. Und nun bekamen die Berner dieses himmlische Antlitz zu sehen – das Engelköpfchen, von dem die meisten nur gehört hatten, glänzte mondmild auf im demütigen Schimmer gekränkter Unschuld. Und bekamen des ferneren zu sehen jene künstliche kostbare Armuhr, die ums Handgelenk schimmerte. Weinte die Ärmste? Hilfeflehend verzog sie den kleinen Mund, und wieder vernahmen so Rysold als Jenner als Ysenschmied 151 von einem Feenstimmchen jenen Seufzer der Angst, wie damals aus der Zelle:

»Was macht man mit mir?«

Zugleich griff sie sich mit den Fingerspitzen beider Hände an die schmale Stirne. Worauf denn die mädchenhafte Sanftmut nach dem stummen Augenaufschlag am Arm des Serben verschwand!

Mit diesem Auftritt war der Höhepunkt des Basars überschritten. Päckchenbeladen und neuigkeitengesättigt entfernten sich die Besucher.

 

Einige ihr näher Bekannte hielt Frau Anna Manuel mit verschwiegener Bitte zurück. Der Kassensturz mußte von treuer Hand vollzogen und der Überrest der Eßwaren, der sonst verdarb, in ein gemütliches Abendbrot aus dem Stegreif verwandelt werden. So blieb im engmaschigen Siebe dieser Auswahl eine recht gegensätzliche Auslese zurück.

Sebastian Stuckishaus sprach eben angelegentlich mit seiner Tante Marquart, als Gonda, ihrer Carmentracht ledig, im luftigen, wadenfreien Gesellschaftskleidchen das Zimmer betrat. Die alte Dame winkte die Großnichte-Pflegetochter herbei und fand bald einen Vorwand, um sich auszuschalten. Der gewesene Vater und die Tochter, die es nicht mehr sein durfte, standen sich gegenüber!

Ihr Herz tat einen Schlag mehr. Ihr feines Kleidchen fing an zu beben. Sonst aber hielt sie an 152 sich, sah ihm pfeilgerade in die Augen und erwartete seine Anrede.

Da sagte er mit geschmeidiger Stimme:

»Fräulein von Luternau, ich habe heute zum ersten Male die Ehre.«

Sie zuckte. Ihr Gesicht überdeckte sich mit Röte. Er fuhr fort: »Sie wissen, ich habe früher Ihren Vater gekannt.«

Die Neugierde streckte ihr den Rücken in einem großen Stolze: was würde er ihr jetzt noch zu sagen vermögen?

»Sie tragen sich unvorsichtig, wie mir scheint. Fleischeslust, Augenlust, hoffärtiges Leben! Meinen Sie nicht?« Sein Blick durchbohrte sie erforschend.

Da erzählte sie ihm von ihrem Leben, einst, im vornehmen spanischen Kloster. Und von dem blauen Seidenbande, das man tragen durfte, wenn man artig war. Und wie man sich schämte, wenn hoher geistlicher Besuch kam – und wurde vorgestellt und trug an diesem Tage das blaue Ehrenbändchen leider nicht!

So hatte sie einmal vor seiner Eminenz dem apostolischen Nuntius tief erröten müssen.

Kühn und zuversichtlich kam es über ihre Lippen;

»Ehrwürdiger Herr Pater, meinen Sie nicht auch, es hieße eine Erziehung, wie ich sie genießen durfte, herabwürdigen, wenn man ihr nicht zutraute, 153 daß sie im späteren Leben vorhielte?« Sie freute sich, auf diese Erwiderung verfallen zu sein.

Pater Sebastian im grauen Rocke verneigte sich mit vollendeter Höflichkeit.

 

V.

Oberst Freudiger, Staatsanwalt Ysenschmied und Bäckermeister Rohr betraten gegen fünf Uhr die Wirtschaft »zur Wage«, in der die Bäcker mit den Müllern über den Mehlkauf handelseins wurden. An einem der gelblackierten, abgegriffenen Tische nahmen sie eine Ecke in Beschlag und bestellten alten Wein. Es war Sitte, daß der Müller, der für die verkaufte Ware sein Geld einstrich, eine gute Flasche auffahren ließ und den Bäcker, der ihm bares Geld hinlegte, dazu einlud. An den übrigen Tischen ging auch dieser übliche Handel flott im Schwunge – die silbernen Taler rollten, und der gelbe Waadtländer blinkte in den erhobenen Gläsern.

Ein armseliges, verstoßenes Schuldenbecklein, namens Hans Lanz, drückte sich von Tisch zu Tisch und von Müller zu Müller und landete schließlich verdattert an dem leeren Bankende neben dem wohlbeleibten und handelskräftigen Meister aus der Gerechtigkeitsgasse. »Was hättest du gern«, fragte Rohr herablassend, und als das Becklein mit schweißperlender Stirn ihn vor die Wahl stellte, ihm Bürge 154 zu sein oder auf der Stelle einen Barbetrag von zweihundert Franken vorzustrecken, zog Rohr zwei Noten aus der Brieftasche und schraubte die Goldfeder aus dem schwarzen Füllröhrchen heraus, indem er nach dem vorgelegten Bürgschaftsschein langte.

»Siehst du, Bernhard«, meinte er, als er unterschrieben hatte, »mit dem Staat ist und bleibt das eine halbe Sache. Staat ist Zwang. Es sollte aber zu machen sein ohne Zwang. Aus Fürsorge und Gemeinsinn – so wie ich jetzt hier dem Lanz Hans ausgeholfen habe, weil er es nicht hat und ich es zufällig habe. Auf genossenschaftlicher Grundlage – so mein ich das – alles lauter Gegenseitigkeit – die ganze Schweiz eine einzige große Raiffeisenkasse. Hier Lanz Hans – hast du noch fünfzig Franken extra – die kommen nicht mit auf das Schuldscheinchen.«

Nachdem sich Otto derartig seiner überflüssigen Barschaft entledigt hatte, fing er an, nach einem Fuhrmann Umschau zu halten, der ihm die Mehlsäcke in Freudigers Aktienmühle holen und vors Haus karren sollte. Zwei blaue Blusen saßen an der Wand – der eine wollte nicht anbeißen, benahm sich bockbeinig, zuerst paßte ihm das vorgeschlagene Quantum nicht und dann die vorgeschlagene Zeit nicht. Dem andern war sein Rößlein gestorben – ob es wohl eine ausgediente Mähre gewesen war, trauerte er ihr nach und trug an dem 155 Peitschenstiel, den er mit sich führte, in der Mitte ein schwarzes Schleifchen festgebunden. Ja, war denn kein Fuhrmann zu haben?

Ysenschmied und Oberst Freudiger holten den kleinen Schuldenbäcker noch völlig zu sich herauf, bis dieser auf der Bank rutschend und das Brett mit seiner Hose scheuernd, sich neben sie setzte. Sie vertrösteten ihn auf bessere Zeiten, flößten ihm Mut ein: er habe ja nun gesehen, daß Bürgerhilfe kein leerer Wahn sei. Dann füllten sie mehrmals das Glas nach, dem der arme Bäcker fleißig zusprach.

Endlich hatte Otto Rohr einen Fuhrmann gefunden und weidete sich neuerdings an der Dankbarkeit seines Schützlings. Er klopfte ihm auf die Schulter und nickte ihm zu: »Sei du nur zufrieden, Hans – ich will es noch erleben, daß du müllerfrei wirst.« Er erregte sich freudig und suchte mit dem irrenden Glas in der Luft nach andern, die an das seine stießen.

 

Eine halbe Stunde später befanden sich der Staatsanwalt und Oberst Freudiger fußwandernd auf einem Feldwege vor der Stadt. Die Landschaft erfüllte satter Sommerduft. Das Grün ringsum schimmerte ins Goldene. Zunächst war es noch vielfach unterbrochen durch Bauwerke aller Art, meistens vereinzelte Häuser oder Zweckgebäude, die weiß, grau oder braun leuchteten. Dann breitete sich die grüne Eintracht von Saat und Laub weiter aus, bis 156 sie ein Gehölz aufnahm. Ysenschmied führte Freudiger abseits in eine entlegene Lichtung.

Dort ragte eine einfach gemauerte graue Säule auf, die eine schwörende Hand trug. Das war das letzte noch übrige Denkmal des ›Bürgerziels‹ – ein Überrest versunkener Ordnung, dessen Anblick die beiden nachdenklich stimmte.

Im Weitergehen senkte sich der Feldweg, auf dem man aus der Ferne das Geräusch der Landstraße mit dem Rasseln und Läuten der elektrischen Kleinbahn gedämpft vernahm, einer Talmulde zu. Dunkelgrün, ins Bläuliche schillernd lag sie da am schattigen Rande des Waldes. Schafe weideten – helle, rötlich schimmernde Wolle. Sie wurden gehütet von einem alten Manne, der den mürrischen Mund um den Stiel einer kurzen Tabakspfeife herum krampfhaft verzog.

»Das kannte man doch bisher in unserer Gegend kaum – Schafe,« sagte Freudiger, während sie sich dem Idyll näherten. »Wahrhaftig, seh' ich recht – das ist ja Wüthrich selbst –« Der Greis, ein Millionenbauer, Pächter und Besitzer mehrerer an die Stadt grenzender Güter und Landstücke, hatte früher in den Räten gesessen und öffentlich viel gegolten. Nun überließ er alles äußere Ansehen den zahlreichen Söhnen und Schwiegersöhnen.

»Guten Abend, Wüthrich,« grüßte Freudiger, »so so – Ihr weidet Schafe.« –

»Ja halbenglische,« erwiderte der Alte. Seine 157 Hände steckten in den Hosentaschen. Unter den Arm klemmte er die Peitsche ein, den Griff nach vorn gekehrt. Wortkarg ließ er sich auf das gesuchte Gespräch ein – mit unfreundlichen, einsilbigen Antworten. Schwieg er, dann geriet sein Mund in immer heftigere Bewegung. Er zuckte, speichelte, spritzte giftig hervor: »Sie brauchen nur zu kommen. Wenn der Bürgerkrieg ausbricht, dann habe ich meinen Söhnen und Sohnsöhnen ein Schußgeld von zweihundert Franken ausgesetzt für jeden Revoluzzer, den sie mir über den Haufen schießen.« Den Staatsanwalt berührte dieser kalte Haß unheimlich. Der Anblick des halsstarrigen Alten verdroß ihn. Bald trennte er sich von Freudiger.

 

Der eine Ast der Weggabelung führte in einem Bogen durch Wald etwas oberhalb der Stadt an den Fluß. Das Bild Berns von dieser Seite aus liebte er. Dicht unter den Kuppeln des Palastes der vom ewigen Alpenschnee genährte Strom und davor ein graues kaum bebautes Ufer mit breitem Geröllrande, auf dem Zwergbestände von Sträuchern und Schilfgras sich stellenweise bemerkbar machen. Während er der Aare entlang auf einem etwas überhöhten Damme einherschritt im abendlichen Glanze, sah er um einiges tiefer in dem ausgewaschenen, ohne eigentliche Ränder ausgetretenen Pfade unten am Wasser ein junges Paar langsam 158 durch die Büsche wandeln und erkannte alsbald Meisterhans mit seiner Braut.

Ihr Heimweg, den der Schatten bereits beschlich, verlief genau in derselben Richtung wie der seinige, nur eben in der eigentlichen Niederung, um Stockwerke tiefer.

»Welch ein seltsames Zusammentreffen,« ging es ihm durch den Sinn – »mein Wahlgegner stärkt sich dort unten auf menschliche Weise – er herzt ein Liebchen und hält sich sein Blut warm. Ich gehe allein – habe aber die Augen offen für einen Strich Sonne –«.

Im Ausschnitt eines Gebüsches stand eine grüne Aussichtsbank. Auf ihr ließ er sich nieder. Zu seinen Füßen, am Aarenstrande, bereits im webenden Gespensterschatten des grauen Steinufers, kam das Liebespaar nachgewandelt, immerzu in die eigenen, weltabgewendeten Gedanken versunken. So wie er jetzt auf seiner Bank dasaß, angesichts des steinernen Sinnbilds über dem Flusse, überfiel ihn das Gefühl seiner menschlichen Einsamkeit und damit eine unwillkürliche Hochachtung vor allem Gemeinsamen, Verbundenen, Gepaarten. Emil und Alice überschritten inzwischen eng andeinandergeschmiegt ohne irgend einen Seitenblick oder eine Erhebung ihrer gesenkten Stirnen den Weg und entfernten sich bereits wieder von dem Sitzenden.

Bernhard sprang von der Bank auf. Glutendes, sich zusehends rötendes Gold entzündete den 159 Himmelsgrund über der Stadt. Gewißheit seines Wahlsieges erfüllte ihn aus diesem dunkelglühenden Anblick, wie ein Gefäß vom strömenden Wasser voll läuft. »Ich werde gewählt werden – ich werde meinen Einzug halten dort drüben – mein Wort wird vernommen werden im Rate der Erwählten –.« Er beschleunigte seine Schritte. Im letzten Tagesschein schimmerte der Flußbogen auf.

Der Entschluß, noch eben in der Gerechtigkeitsgasse vorzusprechen, befestigte sich. Er hatte heute alle Welt gesehen, nur Mathilde nicht. Rohrs schlechtes Aussehen und nervöses Benehmen in der »Wage« beunruhigte ihn hinterher. Das Beste war, er fuhr gleich hin.

 

Den Laden fand er bereits geschlossen. Er läutete. Oben an der Treppe empfing ihn eine Krankenschwester –:

»Beate! Sie?«

Otto Rohr hatte nach der Heimkunft von der Mehlbörse einen Blutsturz erlitten. Über dem Eintragen der ausgegebenen Kaufsumme und seines Vorschusses an den verschuldeten Lanz traf ihn der Anfall. Im Bureauraume, in den Ysenschmied geführt wurde, erschreckten ihn die braunen eintrocknenden Blutflecken auf dem aufgeschlagenen Blatte des Geschäftsbuches und auf dem Pultrande. In der Bestürzung hatte noch niemand Zeit gefunden, diese Spuren zu tilgen. –

160 Mathilde trat ein. Bleich. Aber kein schnelles Wort, keine hastige Bewegung raubten ihr die Ruhe.

»Ach du? Wie gut!« stieß sie aus, sobald sie Bernhard erkannte. Sie hätte sonst nach ihm geschickt – Otto, seufzend, röchelnd, verlangte nach Bernhard. Fieber, nein – nur kaum erhöhte Blutwärme! Aber sehr schwach. »Heinrich sieht düster.« Der Arzt beendete eben die Untersuchung. Dann sollte sich Bernhard oben für eine Minute zu ihm setzen – der Kranke quäle sich nach ihm. So stiegen sie zusammen in die Stube empor.

Herr Rohr lag in der rechten Hälfte eines staatsmäßigen, altväterischen Ehebettes, dessen hölzerner Himmel von gewundenen Säulen getragen war. Am Fenster vorn seine Mutter in einem Lehnsessel gebückt, geistesabwesend. Sie erhob sich nicht, als Bernhard eintrat.

Aber Otto grüßte ihn, indem er die Augen, die er aufschlug, offen behielt und sie auf ihn richtete. Heinrich trat vom Lager zurück, ebenso Schwester Beate, die geräuschlos Geschirr hinaus trug.

Ottos Gesicht versank tief im Kissen. Die Haut war fast so weiß, daß sie als Fortsetzung der sie umgebenden Leinwand erscheinen konnte. Die aschfahle Farbe des Todes lag über der Lagerstatt. Eine grüne verhüllte Lampe streute etwas Helligkeit aus.

Nur Mathilde stand neben dem Bett. Langsam über die Decke wegtastend wanderte Ottos rechte 161 Hand mit greifenden Fingern an den Rand hinaus und wurde da von der Hand seiner Gattin in Empfang genommen. Bernhard schaute Mathilde vor sich, die Hand des Dahingestreckten in der ihrigen. Das hilflose Zucken ihrer Oberlippe verriet ihm, daß sie weinte. Dann versenkte er seinen Blick wieder in den Ottos und fand diese unbeweglichen Augen im Blicken merkwürdig lebendig und klar.

Der Kranke öffnete den Mund. Das Sprechen verursachte ihm Mühe. Die langsamen Worte kamen völlig vernehmlich hervor. Er sagte: »Du siehst, was ich dir sagen wollte – ich danke dir, daß du noch gekommen bist.« Das war alles. Die Lider streiften sich über die Augäpfel. Die Überanstrengung dieses kurzen Satzes rächte sich mit dem folgenden leichten Ohnmachtsanfall.

Bernhard sah sich nach dem Arzte um, der ihn am Ärmel leise von hinten zog. Sie verließen zusammen das Haus. Heinrich ging in die Apotheke. Auf der Straße erfuhr Bernhard aus zuverlässigem Munde den trostlosen Stand der Dinge.

 

VI.

Am Abhang der großen Schanze, bis hinunter zum Schienenstrang, der den Bahnhof verläßt, hatte sich für diesen Sommer die Spekulation eingerichtet. Ein Gebäude mit vorspringendem breitem Glasdach und einer gemauerten Terrasse zum Laden der Güter 162 war als stattlicher Lagerschuppen eines rührigen Versandhauses gedacht gewesen. Der ausbrechende Krieg mit dem Stillstande des zwischenstaatlichen Frachtverkehrs hatte diese Pläne vorläufig ihres Zweckes beraubt. Nun waren ertragreiche Lustbarkeitsgeschäfte auf diesen sich ebenmäßig senkenden Fleck brachliegenden Landes aufmerksam und mit der Leitung der Arbeiterschaft einig geworden, einen großartigen Volksgarten ins Werk zu setzen, wo in hellen, schwülen Nächten Tausende von Zuschauern sich eines packenden, hinreißenden Schauspiels erfreuen könnten.

Ein großes eisernes Bogentor wölbte sich und wies aus Glühlampen die Inschrift: »Volksgarten Schanzeneck.«

»Es – Ze – Ha – Eh! Schanzeneck – Schiefe Ebene« – scherzte man.

Der Volksgarten faßte über zweitausend Personen. Er füllte sich wie ein antikes Amphitheater – sich emporstufend in der Staffel der Ränge. Es schwoll und wuchs unbestimmt und elementar hinan, summendes Geräusch und schwärzliche Masse. Die auf gleicher Flucht sich erstreckenden Tischreihen linierten die schräge Tafel der Halde gleich einem Notenplan, in den sich in Gruppen die schwellende Menschheit emporkomponierte. In der bunten Masse dehnten sich einzelne erdgelbe oder himmelblaue Flecken aus – das waren eingespittelte Krieger, französische und englische, auch einige Amerikaner befanden sich bereits darunter. Diese feierten alle heute ein 163 seltsames, menschlich schönes Jahresfest: den Muttertag. Jeder ehrte seine Mutter, und die Liebe von Hunderten, demselben Gefühle gewidmet, stellte eine große heilige Ehrfurcht vor dem mütterlichen Urgrunde des Lebens dar. Die nüchternen Schweizer erlebten in ihrer Mitte die feierliche Verherrlichung der selbstverständlichsten aller Regungen, und es wäre ihnen von selbst nicht in den Sinn gekommen, in ihr den Anlaß zu einem besonderen Feste zu erblicken. Da mußten nun schon diese fremden Krieger unter ihnen wohnen, denen stündliche Todesgefahr den Gedanken an die Mutter als letztes, lichtes Geschenk entgegengetragen hatte. So boten jetzt rauhe Hände, die Mord und Brand hatten säen müssen, Blumen umher und entfalteten Briefe und zeigten Bilder, die sie sich gegenseitig im Tausch unter die Augen hielten.

Am Fuße des Abhangs, auf der geebneten Anfahrtsfläche des ehemaligen Güterschuppens war eine Anzahl Tische aufbehalten und im ersten Gewimmel seit Einlaß leer geblieben. Nun wurden sie allmählich besetzt. Der Oberrichter Deubelbeiß paradierte in einem nagelneuen Pfefferundsalz-Anzug und roter Kravatte. Sein etwas aufgeschwemmtes Vollmondgesicht zog seinen linken Mundwinkel, der nach unten ein Säckchen bildete, schmunzelnd ein – seine Hand wies mit dem Rücken den Berg hinan: »Mit dem Volk kann man's wagen.«

Vor den Vordersten fauchte ein Getöse auf. Sie 164 traten an die Rampe über den Schienensträngen. Eine Lokomotive auf dem nächsten Gleise pfiff und dampfte in kurzen Strecken hin und her. Im aufleuchtenden Heizfeuer erkannte man Brast. Er gab mit seiner Pfeife Signale ab – lange Striche und kurze Stöße wechselten. Pletterer trat hinzu, man hatte ihn nicht ankommen sehen. Er war plötzlich da und sammelte im Umkreis die Aufmerksamkeit auf sich.

Die Volksunterhaltung hatte ihren Anfang genommen. Der Tierbändiger hielt unter den Klängen der Blasmusik seinen Einzug mit den Bestien. Die Zuschauer gerieten in Bewegung. Gleich diese erste Nummer: ›Der Jaß im Löwenkäfig‹ reckte hundert Hälse. Als die üblichen Reifensprünge der übrigens sehr mageren und müden Raubtiere abgewickelt waren, auch das Haupt des Bändigers für eine halbe Minute in den Rachen des Tigers gebettet worden war, verkündete der Unternehmer in seinem roten Frack, während zwei Wärter in Livreen einen viereckigen Tisch hineintrugen, – es fehle der vierte Mann, ob vielleicht aus der Mitte der Zuschauer heraus sich ein Spieler fände. Ihn würde ein solches Vertrauen sehr ehren. Schon erschien der Polizeiinspektor Auenstein vor den Stäben und wollte den Vorschlag für unzulässig erklären, weil er gegen die Vorschriften der Sicherheitspolizei verstoße. Der Menageriebesitzer entgegnete, die Tiere seien erst gefüttert worden, also vorderhand gesättigt.

165 Da erhob sich Pletterer und warf einen fragenden Blick in die Runde – was man etwa zu dem Einfall sage, wenn er der Aufforderung Folge leiste. Sobald die Absicht ruchbar wurde, fuhr der Funke in die Masse – sie wurde elektrisch.

»Er wagt sich hinein«, erscholl der Ruf und rollte durch die Reihen. Zugleich stieß Brasts Maschine einen gellen Pfiff aus, daß die Raubtiere blinzelten. Achselzuckend ging der Arbeiterführer an dem Polizeiaufseher vorüber und verschwand.

Brausender Beifall empfing ihn von außen, sobald er in dem sich öffnenden Hintertürchen des Käfigs sich aus der gebückten Stellung erhob. Er nahm auf dem vierten noch leeren Stuhl Platz und die Leute trumpften einander nach Kräften an. Die Tiere lagen und standen an der hinteren Wand aufgereiht, mit der triebschwachen Gleichgültigkeit eingesperrter und zur Zeit nicht hungriger Raubtiere.

Auf den Schienen des Rangierbahnhofs manövrierte Brast eifrig und hitzig. Die Bestien im Käfig schnitten schläfrige Grimassen, hie und da gekitzelt von den Pfiffen der Lokomotive. Die Spielregeln des Kreuzjasses mit ihren Ansagen und Aufrufen wurden mit erhöhter Stimme befolgt – die geschwungenen Fäuste mit Getöse auf die Tischplatte aufgeschlagen.

Eine Löwin schlich hinter Pletterers Stuhl – er sah sich ruhig nach ihr um. Da ging hinten das Türchen zum andern Mal auf – Auenstein trat in 166 den Käfig. Er blieb neben dem Tiger stehen und rief Pletterer zu: »Das Volk hat jetzt gesehen, daß Sie mit der Bestie auf vertrautem Fuße stehen. Wollen Sie so gut sein und herauskommen. Die Komödie hat keinen Sinn.«

Der Löwe Abdullah hielt seine Schnauze nach dem Inspektor ausgestreckt und beschnüffelte ihn. Dieser ärgerte sich über Pletterer, der tat als hörte er nichts. Er versetzte der Philisterbestie mit dem Reitstock einen flachen Klaps auf die Mähne, worauf das Tier knurrend auswich. Der Tiger stieß ein Bellen aus. Drei liegende Löwen erhoben sich.

Auenstein drang darauf, daß Pletterer vor ihm den Käfig verließ. Man atmete auf, als man sie draußen hervorkommen sah: sie waren mit heiler Haut davon gekommen!

Der Bändiger im roten Frack warf die Karten auf den Tisch und nickte, das Spiel sei abgebrochen. Mit wütendem Blick griff er zur großen Peitsche, indem er einige seiner Tiere mit Namen anrief, um sie im Kreise um sich herum zu treiben.

Mit sausender Geißel jagte er sie über den Holzboden, der unter den dumpfen Aufschlägen der schweren Katzentatzen zu dröhnen begann.

 

Ysenschmied schaute von seinem Arbeitszimmer auf die ›Schiefe Ebene‹ hinunter. Er drehte sich den Zeißfeldstecher zurecht, den ihm Zeerleder hinhielt, und richtete ihn zwischen die Häuserlücke. In 167 dem eingedunkelten Mischmasch der Farben, die unter einigen elektrischen Lampen auflebten, unterschied er die erdbraunen und himmelblauen Flecken, die sich wandelnd hin und her bewegten. – Die französischen und englischen Krieger traten unten im Bühnenraume zusammen und sangen einstimmig ein schwermütiges Lied. Weil Hunderte sie vortrugen, hob sich die Melodie tönend und ringelte sich als schallerzeugte Schlange durch die Nacht.

»Ergreifend, dieses Lob der Mutter, aus rauhen Kriegerkehlen –«, raunte Ysenschmied, während er der traurigen Stunde an der Gerechtigkeitsgasse dachte, wo jetzt ebenfalls eine Mutter um ihren Sohn bangte oder ihn schon beweinte. Da wurde seine beschauliche Wehmut durchstochen von schrillem Lärm. Auf den Schienen hinter dem Schuppen raste Brasts Lokomotive auf und nieder, ließ Pfiffe aufschnellen und ergoß gespenstende Dampfwolken aus dem Rohr in die dunkle Luft hinauf. Pfiff und Gischt fielen Ysenschmied auf die Nerven. Er kniff die Augendeckel ein, klappte die Handflächen gegen die Ohrmuscheln und stampfte mit dem Fuße auf. Der Kerl da unten konnte ihn rasend machen.

»Das Volk wäre zu retten – es käme von selber zurecht,« überlegte er halblaut. »Eher noch es sich selber überlassen auf Geratewohl! Aber diese Maschinenführer – diese Einheizer – diese Signalpfeifer – der Teufel soll sie holen alle zusammen!«

168 Zeerleder wies ihn darauf hin, jener pfeife ja gar nicht mehr. Nur noch die Dampfwolken zerschwammen im Licht der Lampen wie Wolken im Mondschein, und das Lied der genesenen Krieger vom Lob der Mutter schwebte feierlich durch die Stille.

Zeerleder schloß die Fenster, drehte Licht an und setzte sich mit Zeitungen in den Lehnsessel.

Ysenschmied drückte auf die Klinke der Seitentüre, stieß diese auf und betrat seine Schlafstube. Er ließ sie unerhellt. Das Licht der Lampe, unter der Zeerleder las, drang in einen sehr alltäglichen Raum: auf dessen einer Seite stand ein abgedecktes Bett, erglänzten die weißen Schalen und Marmorplatten des Waschtisches, tauchten Zimmergegenstände in einem goldumrahmten Spiegelglas auf.

Erregt raschelte Zeerleder mit dem Zeitungspapier.

»Du, diesmal wird es dir wohl reichen. Es geht ein Rauschen durch Helvetiens Blätterwald. Und überall begegnet man deinem Namen. Das Bürgertum rafft sich auf. Du wirst ins Bundeshaus einziehen.«

Ysenschmied zog seinen Rock aus und ging in den Hemdärmeln durchs Halbdunkel. Die Wände glänzten matt. Das fiel ihm auf und erfüllte ihn mit Genugtuung. Wie gut, daß er damals das Schlafzimmer ganz in Öl hatte streichen lassen und mattgrün, statt es zu tapezieren. Es gab einen 169 warmen, altväterlichen Ton, dieses gemalte Getäfer!

Und an der Wand sah er die Bilder seiner Eltern hängen im ovalen schwarzen Rahmen. Daneben sich selbst, fünfjährig, mit dem drolligen Federbusch auf dem Hütchen!

Er fühlte sich müde. Die berechtigte, gesunde Abspannung nach einem wechselvollen Tage! Aber merkwürdig – es mischte sich ein Gefühl mit ein, das die Ermattung gewissermaßen wieder aufhob. Etwas Schwebendes, eine Leichtigkeit, etwas Befreites! Das mochte eine Folge der günstigen Wahlaussichten sein! Doch hielt auch das nicht vor. Bleiern fiel ihm der Pflichtgedanke ins Gemüt. Um halb neun wieder zum wer weiß wie viel tausendsten Male in den gelben Arbeitskittel mit den abgeschabten Ärmeln schlüpfen! Ob nun wohl Äschlimann die Bogen richtig vorstempelte und mit Nummern versah? Die Anklage gegen den Moritz Erhaben, genannt Max Leder, mußte endlich gebaut werden – Fahrradbestandteile und Kleie! Nicht zu vergessen das Syndikat für Fettwaren – siebundzwanzigste Abteilung! Und die beiden rot und schwarz beschärpten Bären auf dem Zunftaschenbecher von heute morgen begannen bedächtig einen Tanz vor ihm aufzuführen . . . 170

 


 


 << zurück weiter >>