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Sie öffnete sacht die Tür und blieb einen Augenblick regungslos auf der Schwelle stehn, die Hand in dem schwarzen Halbhandschuh erhebend. Dann ging sie mit kleinen Schritten weiter, verstohlen, geblendet, so allein wie eine Tote am hellen Tage. Ihr altes Köpfchen verschwand unter einem dreifach umgewickelten Wollschal. Ein Sonnenstrahl fiel schräg durch die ganze Länge des Zimmers. Als sie stehn blieb, tanzte der lichte Schatten der Linde weiter an der Wand.
»Wer ließ dich herkommen, Mutter? Wozu?« fragte Herr de Clergerie. »Zu dieser frühen Morgenstunde! Was macht denn Franziska?«
Er war am andern Ende des Saales erschienen, die Schildpattbrille auf der Nase, das Tuchkäppchen auf dem Kopfe, einen Hausrock mit Aufschlägen über dem Nachthemd. Doch sie starrte ihn immer noch an, als wollte sie ihn besser erkennen und ihm einen Platz in der geheimnisvollen zwangsläufigen Abfolge ihrer Gedanken zuweisen. Er trat achselzuckend auf sie zu und drückte ihr leicht den Arm, ohne zu sprechen.
»Die Schlüssel?« fragte sie.
»Vielleicht hast du sie auf deinem Nachttische liegen lassen, Mutter. Gestern schon, entsinne dich. Halt, ich fühle sie in deiner Tasche. Da sind sie ja.«
Ihre runzlige Hand packte sie, behend wie ein kleines Tier. Sie hielt sie an ihre Ohren, ließ sie klimpern, dann lächelte sie boshaft. Die Stimme ihres Sohnes, ein Druck seiner Finger, seine bloße Gegenwart vermochte sie stets zu beruhigen. Aber ihre Züge entspannten sich heute nur für einen Augenblick, und sie begann wieder, leise vor sich hinzureden.
»Ich weiß, was dich beunruhigt, ja, ja«, sagte er, ohne den Arm loszulassen, dessen ohnmächtigen Widerstand er durch den dicken Stoff hindurchfühlte. »Ich weiß. Mach dir keine Sorge … Sie wird heute noch nicht aufstehn. Sie wird ihr Zimmer nicht verlassen. Ich verlasse mich völlig auf dich, Mutter.«
»Welche schwache Gesundheit, mein armer Junge!« fuhr die alte Dame nach tiefem Sinnen fort. »Welche schwache Gesundheit … Einerlei: ich sorge für alles, mein Sohn. Laß mich nur machen. Ich fühle mich heute so tatkräftig, so munter, es ist nicht zu glauben. Wir werden auf die Wäsche aufpassen. Hat Edmund den Schlüssel vom Heuboden abgegeben? Oh, ein Haus wie das deine ist eine schwere Last für mich … Dein Vater ist sehr gemein, sehr gemein.«
Sie hatte einen Zipfel ihres Schals gelüftet und zeigte ihren grauen Blick, der noch voller Mißtrauen, aber schon fester war. Und plötzlich gab ihr Arm von selbst jedes Sträuben auf, gab sich hin. Sie lachte befreit auf. »Warum verhehlst du mir, daß sie tot ist, mein Junge?« sagte sie. »Hier ist ihr Schlüsselbund. Sie wird heute noch nicht aufstehn, sagst du, das arme Ding. Ach nein! Sie wird ganz gewiß nicht aufstehn. Welche schreckliche Komödie! Hältst du mich denn für verrückt?«
»Nicht doch, Mutter, nicht doch!« versetzte Herr de Clergerie. »Ich sehe vielmehr, du bist jetzt ganz wach, zermarterst dir den Kopf nicht mehr. Hast du unsern Speisezettel für heute geschrieben? Ich will ihn in die Küche schicken lassen.«
»Da, da«, sagte sie und zog lebhaft aus ihrem Busen ein viereckiges Papier, das mit unverständlichen Zeichen bedeckt war. »Ich habe großen Hunger, fabelhaften Hunger. Zu ihrer Zeit – ich mache ihr keine Vorwürfe, armes Kind, es war nun mal so – machte die Köchin, was sie wollte, ein Essen … Übrigens! Dabei fällt mir ein, mein Lieber …«
Sie klopfte mit dem Zeigefinger mehrmals gegen ihr Kinn, und die plötzliche Zorneswallung trieb ihr das Blut in die Wangen. Ihr Blick flirrte von neuem:
»Gestern hat sie allein das halbe Gericht gegessen, ich sah es – das Stück Niere, so fettglänzend, sie allein –, eine Sünde, eine wahre Sünde. Ich frage dich, haben Kranke solchen Hunger? Aber du bist so einfältig wie ein Kind.«
Er wagte nicht, sie zu unterbrechen, wagte diesen hinfälligen, zornbebenden Körper nicht mal mehr zu berühren. Ihre Stimme war im Alter merkwürdig schrill geworden, ohne jedoch die Klangfarbe zu verlieren; er hatte sie schon als Kind fürchten gelernt, aber sie hatte auch stets seine Ängste beschwichtigt, seine Skrupel mit einem Worte zerstreut, war vor den Menschen für ihn eingetreten und schien das Geheimnis seines mittelmäßigen Lebens, seiner trüben Freuden, seiner Gewissensbisse zu bewahren, um es dereinst ins Schattenreich mitzunehmen. Er liebte sie, liebte sie vor allem, weil sie das einzige lebende Ding war, das er völlig verstand, verstand, wie man liebt, mit einer Regung tiefen, fleischlichen Mitgefühls. Er hätte gewünscht, sie in der Todesstunde vernehmen zu können, so, wie sie war, nicht abgedämpft, sondern mit ihrem besonderen Tonfall, dem gleichen Beben vor verhaltener Wut oder Verachtung, das seine Nerven einst so oft beruhigt hatte, wenn er in seiner kümmerlichen Jugendzeit des Nachts plötzlich angstvoll erwachte. »Dummkopf!« sagte die erhoffte befreiende Stimme. »Du hast ja gar nichts gesehn … Und wenn du den Vater aufweckst, kriegst du es mit mir zu tun.« Dann steckte er beschämt die Nase unter die Bettdecke, von einer Riesenlast befreit. Denn heute, an der Schwelle des Greisenalters, trägt der Ärmste mit Widerwillen die allgemeine Achtung, die nur seinem Bilde, dem leeren Scheinbilde seines Ruhmes gilt, wie eine täglich drückendere Last.
Herr de Clergerie ist ein kleiner, schwarzhaariger, schwermütiger Mann mit einem Rattenkopfe. Auch seine Unruhe, die kurzen scharfen Bewegungen, das ewige Hin und Her haben etwas Rattenhaftes. Zwölf langweilige Bände stehn auf seinem schmalen Gesicht geschrieben, das sich immerfort faltet und glättet unter einem geheimen, wachsamen, hartnäckigen Gedanken, der in allen Lebensaltern der gleiche bleibt und ihm so innig vertraut ist, daß er ihn nicht mal mehr erkennt, ihn jetzt nicht mehr in verständliche Worte fassen könnte. Er brütet über das Unglück seiner Nebenbuhler, aber ohne jeden Aufwand von Haß, mit pünktlichem, arbeitsamem Herzen. Damit glaubt er nur seine Aussichten abzuwägen. Hat er doch die Ehre, Mitglied der Akademie für Geisteswissenschaften zu sein, und strebt glatt nach einem Sitz in der Académie Française.
Aber das göttliche Mitleid, dem nichts fern ist, hat es nicht gewollt, daß das Männchen mehr tut als knabbern und nagen, wie es das Gesetz seiner Natur will. Er übt seine scharfen Zähne nur an wertlosen Gütern. Alles Große verblüfft ihn, und er weicht ihm betroffen aus. Höchstens wagt er, es wunschlos von fern zu betrachten, während seine fiebernde Hand über den kurzen grauen Bart streicht. Seine Bosheit, die nur die Züge geistreicher Dummheit hat, ist allein für Dummköpfe tödlich, die weniger scharfsinnig sind als er. Denn die einzige Stärke dieses Strebers in Miniaturformat ist die, daß er kein Ding und keinen Menschen bewundert, da er sich selbst für einen armen Menschen hält, der eifrig bestrebt ist, seine Nichtigkeit zu verbergen. So hält er sich instinktiv an die Mittelmäßigkeiten seines Schlages und behandelt sie als solche mit einer Art furchtbarer Harmlosigkeit, dringt in ihre Lüge ein, ohne sich einen Augenblick durch armselige Hindernisse abschrecken zu lassen, deren Schwäche er kennt. Jedes Wesen, für wie erbärmlich man es auch halten mag, hat jedoch seine Wahrheit. Aber was liegt Einem, der es nie unternommen hat, seine eigne Wahrheit zu suchen, an der Wahrheit der Wesen?
Unter seinen Kollegen vom Journalismus oder von der Akademie, denen die geräumige Treppe seines Stadthauses in der Rue de Luynes imponiert, gilt er so ziemlich für einen Grandseigneur. So ist er in der Stadt ein Edelmann und auf dem Lande ein Bauer. Denn die alten Philosophen des Wirtshauses, die voller Erfahrung und prächtiger Schmäuse sind und mit einem Blick das Gewicht eines Mehlsackes oder den Umfang eines Färsenleibes zu ermessen verstehn, haben sich darüber nicht getäuscht. Er ist ein Bauer wie sie, nur zu schwach, zum bloßen Zuschauer, zum erbitterten, untröstlichen Zuschauer der gewaltigen Fruchtbarkeit des Bodens geworden. Seine Knauserei entzückt sie. Seine sprichwörtliche Feigheit – denn er gilt dafür, die Betrunkenen und die Wilddiebe gleichermaßen zu fürchten – rührt sie. Was sie von seinen Arbeiten und seinen Erfolgen erfahren, in den Zeitungen lesen, erfüllt sie mit boshafter Freude, denn sie glauben kein Wort davon, schlagen die Kosten einer solchen Berühmtheit an. »Was!« sagen sie, »er läßt sichs was kosten, versteht sich auf Berichte, hat aber kein Leben.« Doch sie vermögen ihren allzu feinen Gedanken nur durch ein stummes Lachen oder bloß durch ein Augenzwinkern auszudrücken.
Der Irrtum des Ruhmes, wenn er sich dem Genius unbegreiflich versagt, hat gewiß etwas Tragisches, aber auch die verkannte Mittelmäßigkeit hat ihren Kalvarienberg. Ihre Last drückt Herrn de Clergerie so schwer, erdrückt ihn unwissentlich seit so vielen Jahren, daß er bisweilen zu seinem Vergnügen, in einer Art trübsinniger Ergötzung, seine doch so schmerzlichen Jugenderinnerungen wachruft, – damals, als er im Gymnasium von Coutances nur ein magerer, schmächtiger, heimtückischer Knabe war, der zu keinem Spiel taugte. Damals glaubte er keinen andern Wunsch zu hegen als die bescheidene Rache an seinen kräftigeren Gefährten, als das Leben eines wohlhabenden Besitzers und Dorfschulzen, vielleicht gar eines Generalrates. Allein seine ersten Erfolge auf der Universität hatten es anders gefügt. Nachdem er eine These über den Investiturstreit glänzend verfochten, hatte der Bischof von Bayeux, der sich auf einer Konfirmationsreise befand, nach Courville zu fahren geruht, um den jungen Doktor mündlich zu beglückwünschen. Seitdem begann er voll heimlichen Schreckens über eine so rasche Promotion seine Rolle als gelehrter Edelmann, als wohlmeinender Berater der gutgesinnten Gesellschaft und als künftiger Akademiker schlecht und recht zu spielen. Die Bewunderung seines Vaters ließ ihm keine Ruhe mehr. Obwohl für eine Laufbahn und nicht für das Leben geboren, mußte er mit dreißig Jahren Luise d'Alliges heiraten, eine kleine Fee aus der Provence mit meerfarbenem Blick, die ein blöder Vormund auf dem Altar der Geschichte und der Archäologie opferte. Sie liebte ihn mit reinem Herzen. Sie starb bald, wie sie glaubte, an Langeweile, in Wirklichkeit aber, weil sie ihn unwillkürlich dumm und häßlich und ihrer unwert fand. Sie hinterließ eine Tochter von anderthalb Jahren, Chantal, auf die die Großmutter sofort Beschlag legte, wie man ein gestohlenes Gut wiederfindet. Denn die alte Dame hatte, wenn auch mit Vorsicht und mit ländlicher Schonung, ohne eine gewagte Gebärde, die Fremde mit den traurigen Augen verachtet, die nie ihre Butter abgewogen und ihren Schlüsselbund auf einer Tischecke hatte liegen lassen. Die Schlüssel …
»Mutter,« sagte er schließlich, »du machst mir viel Sorge. Wozu? Wenn du nur willst, bist du ebenso vernünftig wie ich. Soll dich Franziska denn auslachen? Sie kann uns hören.«
»Man kommt hier wie in eine Mühle«, sagte die Irre spitz. »Es war immer so. Du bist nicht mißtrauisch. So wenig wie dein Vater … Welche Unordnung bei seinen Lebzeiten! Und sage mir doch auch, mein Junge, warum muß ich so zittern? Friere ich denn?«
»Du hast dich nur erbost, jawohl.«
»Ich entsinne mich nicht mehr«, sagte sie nach einer Pause. »Über wen? Soll ichs glauben? Ich habe nie unbedacht gesprochen. Hör mich an, du bist unglücklich, sehr unglücklich, ich weiß es: Du hast keinen Charakter, so ists, nicht mehr Charakter als ich im kleinen Finger. Sie auch nicht.«
»Von wem sprichst du, Mutter?«
Einen Augenblick betrachtete sie ihn mit listiger Miene.
»Die Jahreszeit tut dir nicht gut, mein Junge«, sagte sie. »Du hast rote Ohren und Blutandrang nach dem Kopfe. Davon kommt alles. Es ist nichts, gar nichts. Bah! Bah! Du beschäftigst dich nur mit dir, mit deinem Befinden. Ich wette, du mißt deine Temperatur noch zweimal täglich wie mit zwanzig Jahren, entsinnst du dich? Ich habe das Thermometer zum Fenster hinausgeworfen. Eine Kranke in deinem Hause, gütiger Gott! Das wäre der Untergang.«
»Von wem sprichst du denn, Mutter?«
»Spiele doch nicht den Dummen. Was für eine Frage!«
Er griff auf gut Glück nach der Hand in dem schwarzen Halbhandschuh, die auf dem Tische lag, und behielt sie in der seinen.
»Schweig doch wenigstens still«, sagte er. »Sei vernünftig. Ich will nach Franziska klingeln. Sie soll etwas mit dir ausgehn, bis zum Frühstück. Nur zu!«
»Du weichst meiner Antwort aus«, entgegnete sie. »Du bist ein Schlingel …« (Sie drohte ihm mit ihrer frei gebliebenen Hand.) »Gott, wie bin ich matt! Siehst du, ich begreife deine Tücken nicht gleich im Augenblick, aber sie kommen mir dann wieder ins Gedächtnis, ich bin es gewohnt. Also ist Luise seit zehn Jahren tot, vielleicht gar seit zwanzig? Als du eben sagtest: »Beunruhige dich nicht, sie steht heute nicht auf«, warum hätte ich dir da glauben sollen? Armes, liebes Wesen! Ich komme nicht in Gefahr, ihr auf dem Flur zu begegnen, mit ihren schönen Zähnen und meinem Schlüsselbund in der Hand. Die Harmlose! Was sollte sie wohl mit einem Schlüsselbund machen, frag ich dich? Sie schloß ja keinen Wandschrank ab, überhaupt nichts.«
»Warum darauf zurückkommen? Du hast sie nicht geliebt. Das ist alles.«
»Wie, ich hätte sie nicht geliebt!« rief die alte Dame und kreuzte krampfhaft die beiden Schal-Enden über ihre Brust. »Sie war freilich gefräßig. Wie viele gute Stücke hat sie sich vor meinen Augen von der Schüssel genommen! Damals achtete ich nicht mal darauf … aber jetzt denke ich stets daran. Ich sehe sie wieder, sie machen mich hungrig, es ist eine Narrheit … In meinen Jahren … Und du, soll ich dir sagen, daß du nicht so gesund bist, wie ein Mann sein soll? Du ißt auch wie ein Fresser, aber ohne Nutzen, das verkehrt sich in Galle. Sie hatte einen Abscheu vor deiner gelben Hautfarbe, das arme liebe Wesen. Eine Mutter sieht alles. Sie machte sich gewiß Vorwürfe, mußte sich im Beichtstuhl dafür anklagen. Du hast die Frauen nie verstanden, mein Junge.«
»Vielleicht«, sagte er achselzuckend und blickte ungeduldig nach der Tür. »Ich frage mich nur, welchen Spaß es dir machen kann, mich zu quälen. Ich habe schrecklich viel zu tun, Mutter, das weißt du wohl, viel Arbeit.«
»Basta!« sagte sie. »Arbeit? Du mußt arbeiten. Du mußt deine Nerven kleinkriegen: die Arbeit ist deine Gesundheit. Sonst würde deine Leber dich ersticken, ich hab' es dir immer gesagt. Du bist nicht wie dein Vater. Von uns hast du alles.«
Sie hielt plötzlich inne, horchte, und als die Tür aufging, blickte sie eisig zu Boden.
»Franziska,« sagte Herr de Clergerie errötend, »meine Mutter wird heute etwas früher als sonst spazieren gehn. Sehn Sie sich vor der prallen Sonne vor, achten Sie darauf, sich auf der linken Seite der Allee zu halten. An der Kreuzung drehen Sie um, dann kehren Sie ruhig durch den Buchenhain und das Nußwäldchen zurück. Will meine Mutter sich im Schatten hinsetzen, so ist es gut, wenn Sie ihr Cape mitnehmen und es ihr dann unter die Schultern legen.«
Während er so sprach, wurde die alte Dame plötzlich leichenfahl und fühlte sich wahrscheinlich bis auf den Grund ihrer armen, verdunkelten Seele gedemütigt. Sie reckte ihre kleine Gestalt auf und bemühte sich, das Zittern ihrer Hände unter ihrem Schal zu verbergen. Schließlich schien sie sich zu beruhigen.
»Es tut mir leid, Sie so früh zu stören, Franziska,« sagte sie, »noch dazu am Donnerstag! Da gibt es soviel zu tun. Morgen haben wir Wäsche. Ich …«
Langsam strich sie sich mit ihren schmalen Fingerspitzen über die Schläfen, vielleicht um die Gedanken noch für eine Minute in ihrem erschöpften Hirn zu bannen oder sie wieder zu erhaschen; denn sie waren so leicht, ohne Form, ohne Schwere und Farbe, oder plötzlich ungestüm und summend wie Fliegen.
»Ich will sehn, wo der Maurer ist. Wartet er noch eine Woche, so nimmt ihn seine Arbeit in der Stadt in Anspruch, und wir sehn ihn nicht wieder. Es ist in dieser Jahreszeit stets so, du weißt es wohl … Früher holten wir uns selbst unsern Bedarf in der Ziegelei. Denke einmal nach: das Hundert Ziegel kam auf zehn Sous. Die Scheune von Deruault hat uns mit Dach dreitausend Franken gekostet.«
Wieder begannen ihre Hände vor Ermüdung zu zittern und verschwanden unter der gestrickten Wolle. Mit höchster Anstrengung, über die das gelbhaarige Mädchen bitter lachte, preßte sie die Lippen fest zusammen, um den sinnlosen Worten, dem gefährlichen Geschwätz Einhalt zu tun, das sie aufsteigen fühlte, das ihr Wille nicht mehr beherrschen würde. Mit feuchter Stirn und wirrem, aber noch hartem Blick lächelte sie ihrem Sohne ein Lebewohl zu und verschwand mit kleinen Schritten, undurchdringlich.
Herr de Clergerie winkte Franziska zurück und sagte leise:
»Lassen Sie meine Mutter vorausgehn, wie es ihr beliebt, und tun Sie, als ob Sie nicht auf sie aufpaßten. Kommen Sie ihr nur näher, wenn es nötig ist. Ferner bitte ich Sie nochmals, reden Sie in ihrer Gegenwart und mit ihr nur sehr vorsichtig. Ihr Gedächtnis ist offenbar altersschwach geworden, aber Verstand und Wille sind noch ungeschwächt. Sie versteht alles, kann alles verstehn, selbst wenn Sie am wenigsten darauf gefaßt sind. Nicht wahr? Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, Franziska … Sagen Sie bitte auch meiner Tochter, ich möchte sie sprechen, sobald sie aus der Messe zurück ist.«
»Schön, gnädiger Herr … Ich verspreche Ihnen … Der gnädige Herr kann sich auf mich verlassen«, wiederholte das Mädchen mit komischem Nicken ihres runden Kopfes und mit weiser Miene.
Sie ging hinaus, holte ihre Herrin auf der Küchenschwelle ein und sagte seelenruhig, ohne die Stimme zu senken oder zu heben, ganz einfach:
»Franz, mach die Treppe fertig. Ich muß das Kamel spazieren führen.«
Der Diener zeigte für einen Augenblick sein bleiches Gesicht; dann blickte er wieder auf seine schönen Lederpantoffeln und sagte:
»Nur zu. Versuche, sie in den Froschteich zu führen. Der heilige Alexius wird dich segnen.«
Die alte Dame war folgsam auf ihrem gewohnten Platz in der dunkeln Zimmerecke stehn geblieben und wartete, das Gesicht nach dem Fenster gekehrt. Seit einer Reihe von Tagen fand sie sich ersichtlich mit diesem Morgenvergnügen ab, obwohl das Herz ihr vor Angst versagte und jedes Schimpfwort, dessen Sinn sie durchaus verstand, wie ein Stich in ihre arme Brust drang. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, es war ihr unmöglich, diese Schimpfworte von ihrem inneren Träumen, von dem eintönigen Brüten ihres gelähmten Gedächtnisses zu trennen. Wurden sie wirklich gesprochen? Dachte sie sich diese Worte nur aus wie so viele Dinge, die ihr allein bekannt und nicht mitteilbar waren? Umsonst spähte ihr begieriger Blick unter den zur Vorsicht halb geschlossenen Lidern nach den Lippen, suchte sie die kaum ausgesprochene Schmähung im Fluge zu erhaschen, rieb in diesem ungeheuern Unternehmen umsonst ihre Geduld und ihre List auf. Verlorene Mühe! Sie sah die höhnische Falte im Mundwinkel der unbewegten Gesichter, und lange, lange nachher, so schien es ihr, kam das rohe Wort zu ihr, zu spät, viel zu spät. Die Lüge der ehrerbietigen Gebärden betrog sie wider Willen. Die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Marter täuschte ihr einen Albtraum vor. Zudem stellte ihr das tägliche Leben, außer in Anwesenheit ihres Sohnes, nur noch solche Rätsel, die sie kaum noch zu lösen wagte, weil sie fürchtete, daß ihr Verstand alsbald wanken werde. Eines Tages war ihr die Geduld gerissen. Sie hatte das gelbhaarige Mädchen geohrfeigt, und die allgemeine Verblüffung, das Mitleid, das sie in allen Blicken zu lesen glaubte, hatten ihren Stolz grausamer verletzt als die schlimmste Schmähung. Seitdem litt sie, ohne zu klagen, mit der Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit eines Tiers.
»Hör mal«, fuhr der Diener fort. »Merke dir, was ich dir sage, meine Schönste. Abgesehn von dem Kamel wird das Haus noch ganz unerträglich werden: Es lebe Paris! Fjodor hat mich zum Pokern rausgeholt, wir haben die Nacht durchgespielt.«
»Schau dich nur im Spiegel an«, entgegnete das Mädchen ruhig im gleichen Tone. »Du ruinierst dir die Gesundheit. Zeige mir den Kerl, einen noch so pfiffigen, der dem Herrn Fjodor über wäre.«
»Herr Fjodor … Herr Fjodor … Warum Herr? Warum Fjodor? Sehr richtig … Ein früherer russischer Offizier, was macht mir das aus? Ich bin nicht erst gestern aus meinem Dorfe gekommen, Kleine, mit Stroh in den Holzschuhen. Bei der Baronin Voinard, sieh mal, hab' ich ebenso feine Gesellen gefunden, zum Beispiel den Hausmeister, einen Kerl aus Mont-de-Marsan, einen früheren Seminaristen, der fünf Goldstücke für seine Krawatten bezahlte.«
»Geh doch, Franz«, sagte eine weiche, singende Stimme hinter der Tür. »Mach dir keine Gedanken über mich, Alterchen. Wozu das? Was? Eifersüchtig sein, das ist gemein … Das gnädige Fräulein ist zurück. Ich denke, du solltest die alte Dame ausführen, Franziska?«
Das Zimmermädchen wurde rot, zuckte die Achseln, nahm ihre Herrin beim Arm und ging langsam die Stufen zum Garten hinab.
»Idiotische Göhre«, bemerkte Franz und ergriff einen seiner kostbaren Pantoffeln, um den Staub abzuschütteln.
»Durchaus nicht«, entgegnete Fjodor. »Warum idiotisch? Sie verliert nur ihre Natürlichkeit – wie nennt ihr das? – kurz ihre Natur. Wie häßlich ist das! Ich hatte sie so gern! Man hätte glauben können, sie käme aus einem Spielzeugkasten, mit einem Pachthof, Bäumen und kleinen Kühen aus Holz. Tatsächlich, sie roch nach lackiertem Fichtenholz.«
Vor Verblüffung ließ der Diener fast seinen Pantoffel fallen.
»Immerhin treiben Sies stark!« rief er aus. »Sie bezahlen ihr ihren Lippenstift von Heurtebise, ihren Puder und ihr Rot. Witzbold! Und jetzt haben Sie sie gar Äther trinken lassen. Sie hat sich beinahe vergiftet.« »Wer ist Schuld daran?« entgegnete der Andere mit seiner weichen Stimme. »Das ist so meine Natur, ich gestehe es. Jeder muß seine Natur verteidigen, das ist die Moral. Warum hat sie die ihre nicht verteidigt? Niemand verteidigt hier seine Natur, mir wird übel dabei. Weder Franziska noch Sie, noch der Herr, niemand. Jawohl, reden Sie nur vom Herrn! Ich habe seine Bücher gelesen. Es ist zweifellos ein bedeutender Mann, aber wie blind! (… Lassen Sie doch die widerlichen Pantoffel; Sie sehn ja aus wie ein armer Student. Hören Sie mich an …) Nun also, dies Bürgerhaus scheint würdig und ehrbar: es wird von den Insekten zerfressen.«
»Ach, was Sie da sagen!«
»Von den Insekten«, wiederholte der Chauffeur wütend. »So ist es!«
»Herr Fjodor,« sagte Franz, »Sie bringen sich mit Ihren Bluffs um. Man müßte Sie einsperren, jawohl, zu Ihrem eigenen Besten. Nach meiner Ansicht müßte die Regierung die Menschen gegen ihre Charakterschwäche schützen. Ein Kerl höheren Schlages wie Sie, sich mit solchen Flausen abzugeben, nein!«
»Sie folgen mir schlecht«, entgegnete der frühere russische Offizier und unterdrückte ein Gähnen mit den Fingerspitzen. »Sie verstehn nichts von Insekten. Unser eigenes riesiges Land ist von den Insekten aufgefressen worden. Sie werden schließlich mit der ganzen Welt fertig werden, verstehn Sie? Lieber Freund, Sie besitzen natürliche Vornehmheit, aber es fehlt Ihnen an Bildung, verzeihen Sie … Ich fürchte, ich kann nicht so offen weiter reden.«
»Was für Insekten? Milben? Kornwürmer? Oder was?«
»Keine Witze … Nach meiner Meinung gibt es hier nur zwei, die nach ihrer Natur leben, sei sie gut oder schlecht, die alte Dame und das junge Fräulein, nicht mehr und nicht weniger. Die andern sind Insekten.«
»Sie halten mich zum Besten, Herr Fjodor.«
»Durchaus nicht, bitte. In keiner Weise. Sie stehn einfach nicht im Leben. Ich auch nicht, übrigens freiwillig, bitte ich zu bemerken. Vielleicht kehre ich mal ins Leben zurück. Heute können wir nichts tun als uns gegenseitig auffressen. Das ist die Macht der Lüge. Welch ein Einfall von dem ehrbaren alten Herrn, einen Diener wie mich ins Haus zu nehmen! Ich bitte Sie: bin ich hier an meinem Platz? Und er würde um nichts in der Welt seinen Fuß in einen Tanzsalon setzen, er geht um halb zehn Uhr zu Bett! Aber ich bin ihm von der Gräfin Davelu empfohlen, das ist schick, er will großmütig sein. Hören Sie nur, wie er mit mir redet. Trotzdem hat er Angst vor mir … Ich fahre furchtbar drauf los, wenn ich Lust kriege, mich zu erholen. Welch ein Elend! Ihr andern habt auch Angst vor mir, und ich habe in gewissem Sinne Angst vor euch. Wir machen uns gegenseitig bange, weil wir nur unsere Lügen kennen. Und was steckt dahinter? Welche Falle? Warum spielen Sie Poker, Alterchen? Warum üben Sie sich, Whisky und abscheulich trockenen Champagner zu trinken, wie im Klub? Warum trinkt die Kleine Äther? Wozu diese Lügen? Weder die alte Dame noch das Fräulein haben Angst, das gestehe ich. Denn die Alte, mein Lieber, ist voller Haß und Sünde; die andre ist ein Kind. Wenn sie zwischen ihren Milchzähnen pfeift, werden Sie einen Engel auf dem Dachfirst erscheinen sehn, einen richtigen kleinen Engel, so leicht wie ein Distelkopf.«
»Sie sind im Rausch«, sagte ruhig der Diener, der seit einer Weile seine Fingernägel mit seinem Messer bearbeitete. »Jeder hat sein Laster. Trotzdem ruiniert der Wein die Leute weniger, geben Sie es zu.«
Fjodor öffnete seine roten Lippen zu einem stummen Lächeln.
»Vor dem Wein habe ich ebensowenig Angst,« sagte er, »welcher Witz! Ich habe nur etwas zuviel geschwatzt; es tut mir leid, daß ich Sie gelangweilt habe. Jetzt gehe ich nach dem Wagen sehn. Ich muß zum Zuge um sechs Uhr dreißig abends fort; es kommt einer an.«
»Wer denn? Ich habe keinen Befehl, auch Franziska nicht.«
»Er wird schon kommen. Regen Sie sich nicht auf, Alter. Bleiben Sie ruhig. Sie sollten mich lieber bedauern: ich habe eine blöde Arbeit, muß was abmontieren, im Öl herumpantschen. Na, und dann, soll ich Ihnen die Befehle von mir aus geben? Also, beziehen Sie das Bett in dem Zimmer – wie zum Teufel nennen Sies doch? Kanarienzimmer, ja, so ist es? … Welch ein Einfall! Kurz, das Zimmer, dessen Kabinett auf die Bibliothek geht, für die Leute, die arbeiten, was?«
»Ich verstehe«, sagte der Diener. »Ich sehe sie schon kommen. Hier gibt es nicht so viele, die arbeiten. Sie können nur zwei Kerle meinen, denn der Auvergnate ist ja tot: Mazenet oder Herrn Cénabre.«
»Sie habens erfaßt: es ist der Abbé Cénabre. Ich soll ihn sogar unterwegs bis Dorville fahren. Unter uns, Alter, warum bloß Mazenet, warum Herr Cénabre?«
»Ich weiß nicht«, sagte der Andre rot werdend. »Ein Einfall. Das kam mir so. Oh! Sie sind zu gerissen. Sie suchen überall was …«
Fjodor reckte sich, streckte die Arme mit wohligem Stöhnen zur Decke und trat plötzlich an das Fenster, das noch im Schatten lag. Der Widerschein des besonnten Rasenplatzes ließ seine glatt rasierten Backen, seine schwermütige Stirn noch blasser erscheinen. Der weite, blühende Garten spiegelte sich zum zweitenmal in seinem schlummernden Blicke. Dazu prallte eine große Hummel gegen die Scheibe wie eine Kugel.
»Da sehn Sie«, sagte er mit seiner wieder weich gewordenen Stimme. »Sehn Sie, mein Lieber, da unten kommen die Beiden aus dem Buchengehölz. Die alte Dame lauscht gewiß den Vögeln und beeilt sich, sie zu lieben, denn nie hat ihr altes, verhärtetes Herz für irgendwen geschlagen, wahrhaftig … Im Ernst, was halten Sie von diesem Haus und von dieser Herrschaft, Franz?«
»Was ich davon halte? Gar nichts. Was soll ich davon halten? Es wird besser geführt als andre Häuser. Gelehrte, Akademiker, große solide Besitzer, fast keine Frauen, das geht.«
»Ich erkläre Ihnen, es wird von den Insekten aufgefressen«, fuhr Fjodor im gleichen vertraulichen Tone fort. »Jawohl, ich wiederhole es, und Sie werden verblüffende Dinge erleben.«
»Es ist schon ein Spaß, Sie darin zu sehn«, bemerkte der Diener, abermals errötend.
»Franz!« rief Fräulein Chantal.
Sie hatte nur den Kopf durch die Türspalte gesteckt und zeigte nichts als ihre aschfarbenen Haare, ihren leuchtenden Blick und den helleren Fleck ihrer Zähne. »Ich wollte Sie bitten, Franziska zu rufen«, fuhr sie fort. »Aber sie ist wohl bei der Großmutter? Es handelt sich nur darum, das Kanarienzimmer für heute abend fertig zu machen. Das ist alles. Fjodor hat es Ihnen wohl schon gesagt?«
Während sie so sprach, war sie bis zum Tisch vorgetreten, und eine Hand auf die Kante legend, fragte sie den schönen Russen mit einem Blick ihrer ruhigen Augen.
»Ich bedaure, gnädiges Fräulein«, entgegnete er trocken. »Das ist nicht mein Dienst. Ich habe keinen Auftrag.«
»Mein Gott!« rief sie aus, »es geht auch ohne Auftrag! Und dann bin ich sicher, Sie haben es aufs Beste gemacht, es ist ja stets so. Nicht wahr, Franz? Sie wußten es schon?«
»Gnädiges Fräulein haben richtig geraten«, antwortete der Diener sofort mit boshaftem Lächeln. »Ich weiß, daß der Herr Abbé Cénabre mit dem Zuge um sechs Uhr dreißig ankommt.«
»Gut! Reden wir nicht weiter davon! Die Sache ist also in Ordnung. Sie finden das Bettzeug im Leinenschrank, die Toilettensachen und die Seife. Aber die Seife ist gräßlich! Sie stinkt.«
»Franziska hat sie neulich in Falaise selbst ausgesucht. Ich habe es ihr schon vorgehalten. Oh, ich verstehe mich auf meinen Dienst. Gnädiges Fräulein können es glauben. Aber die letzte Sendung von Guerlain ist erst gestern gekommen; die Kiste ist noch nicht aufgemacht. Ich will sie gleich aufnageln und nachsehn.«
Er verschwand so schnell (offenbar absichtlich), daß Fräulein Chantal eine Gebärde der Überraschung oder vielleicht des Erschreckens nicht unterdrücken konnte. Übrigens legte sie ihre kleine, stets ruhige Hand fast sofort wieder auf den Tisch.
»Ich muß sagen,« begann der fremde Chauffeur, ohne daß eine Runzel sein steinernes Gesicht bewegte, »ich muß Ihnen sagen, daß …«
»Sie haben mir nichts zu sagen, Fjodor«, unterbrach sie. »Mein Vater ist mit Ihnen zufrieden, das genügt. Haben Sie über jemanden zu klagen?«
»Nein«, sagte er. »Bemerken Sie nur gütigst, daß ich mich ohne Ihre Erlaubnis nicht dem aussetzen kann, Sie durch übermäßige Offenherzigkeit, durch ungeschickte Offenheit zu verletzen.«
Sie schüttelte sanft den Kopf.
»Es gibt keine ungeschickte Offenheit«, sagte sie. »Keine Offenheit verletzt mich.«
Er begegnete diesem reinen, kaum zitternden Blick und versuchte, ihn auszuhalten, brachte es aber nur zu einer halb schmerzlichen, halb grausamen Grimasse.
»Ich kann dies Haus nicht verlassen,« murmelte er, »und doch vermag ich ebensowenig Ihre Mißachtung noch länger zu ertragen.«
Ein Blutstrom schoß in Fräulein Chantals Wangen.
»Und ich,« sagte sie, ohne die Erregung ihrer Stimme zu verbergen, »ich habe nichts getan, um solche Worte zu hören. Nein, ich habe nichts getan. Mein Gott! Begreifen Sie doch wenigstens, daß schon Ihr Ton eine sehr bittere Demütigung ist, und daß ich ungerecht leide. Schämen Sie sich nicht, derart Mißbrauch mit einem angeblichen Geheimnis zu treiben, das für Sie zudem wie ein gestohlenes Gut ist? Gehn Sie fort! Gehn Sie fort!«
Er machte eine Gebärde der Sorglosigkeit.
»Wohin soll ich gehn?« fragte er mit seiner knabenhaft singenden Stimme, die in merkwürdigem Gegensatze zu dem eigensinnigen, verschlagenen Ausdruck seiner Züge stand. »Wohin soll ich gehn? Bleibt mir irgendeine Aussicht, meine Seele je wiederzufinden, so liegt sie hier. Sie werden die Wunder vollbringen, wenn Sie wollen. Diesen heiligen Händen ist alles möglich.«
»Diesen heiligen Händen«, murmelte sie und bemühte sich, tapfer zu lächeln, obwohl ihre Augen voller Tränen waren.
Plötzlich errötete sie abermals stark, und ein Gefühl, das gewiß ebensosehr dem Zorn wie der Scham glich, schwellte ihre Lippen.
»Sie haben nichts gesagt! Nein, Sie können nicht gewagt haben zu sprechen. Hätten Sie es getan, Sie fänden nicht so viel Vergnügen daran, mich zu quälen.«
»Mit wem sollte ich gesprochen haben? Wer könnte es hier auch verstehn? Gestatten Sie mir gütigst noch eins: Sie sagten eben: ›Keine Offenheit verletzt mich‹. Ich habe es geglaubt. Meine Worte mögen Ihnen mißfallen, aber mein Benehmen ist einfach. Was ich gesehn habe, das habe ich gesehn. Einerlei, ob ich würdig dazu war oder nicht. Bin ich denn schon in dieser Welt so verworfen, daß ich nicht mal das Recht habe, Gottes Werke zu sehn? Wir Russen sind Kinder.«
»Gott weiß,« sagte sie leise, »Gott weiß, welche Sünde Sie begehn, indem Sie seinen Namen meinetwegen nennen. Gottes Werke! Wenn noch etwas von seiner Gnade in Ihrer getauften Seele lebt, so müßte die Reue Ihnen jetzt den Mund schließen. Übrigens handelt es sich doch nicht um Gottes Werke! Sie haben nur eine arme Kranke eines Tages zufällig überrascht und lauern ihr seitdem unablässig auf, mit höllischer Bosheit, jawohl! … Oder wenigstens mit einer sehr grausamen Neugier. Ich habe keine solche Angst vor der Lächerlichkeit. Ich würde das alles leicht in Kauf nehmen. Aber ich bin hier nötig, verstehn Sie? Ich bin für meinen Vater noch der gesunde Verstand, die Vernunft, eine sichere Verbündete. Ich weiß, wie leicht er zu erschrecken ist, wie ängstlich! Er hielte mich für völlig verrückt, und gewiß nicht mit Unrecht … Aber Sie! Sie! Was liegt Ihnen an … an …«
»An Wundern«, sagte er. »An wirklichen Wundern, die von Ihnen abfallen wie Blumen. Ich bin ein schlechter Mensch und glaube gar nicht an Gott. Warum fand ich Sie trotzdem in jener ersten Nacht, ohne Sie zu suchen, warum Sie und nicht eine andere? Jawohl, irgend jemand hätte ebensogut die Tür öffnen können. Warum ich? Und wenn die Worte »Heilige« und »Ekstase« einen Sinn haben, so waren Sie diese Heilige in der Ekstase.«
Sie schüttelte mutlos den Kopf, aber ohne Zorn.
»Wie soll ich Ihnen vertrauen? Die Dummheiten, die Sie heute verschweigen, werden Sie morgen ausplaudern, aus Selbstsucht, aus Eitelkeit oder nur aus Schadenfreude. Welche Feigheit treibt mich dazu, mit Ihnen über dies elende Geheimnis zu streiten? Hätte ich mehr Mut, es wäre besser, schon jetzt alles zu gestehn. Wie man mir gesagt hat, litt meine arme Mutter unter solchen Nervenanfällen, an diesen oder an andern, was liegt daran? Also? Aber das ists: ich habe keinen Mut, die geringste Prüfung erschöpft mich.«
Mit beiden Händen wischte sie sich in einer kindlichen Bewegung die strömenden Tränen aus den Augen.
»Nun also,« fuhr sie fort, »ich kann nicht mehr, – nein, ich kann nicht mehr in diesem beständigen Zwange leben. Ich wage nicht mal mehr, frei zu atmen. Wie entsetzlich, unbewußt, wider Willen diese unsinnige Komödie zu spielen! Ich bin kein kleines Mädchen, ich weiß sehr wohl, wie entehrend ein solcher Vertrauensmißbrauch für einen Mann ist. Wären Sie der, als den Sie sich ausgeben, Sie wären schon lange von hier fort.«
Bei diesen letzten Worten sah er sie dermaßen erbleichen, daß das Mitleid einen Augenblick in ihm überwog, und er wandte den Kopf in einer Art Schamgefühl ab.
»Demütigen Sie mich«, sagte er. »Offenbar bin ich ein schlechter, ein sittenloser Mensch, aber ich bin auch ein Unglücklicher. Sie haben Mitleid mit allem, lächeln allem zu, selbst den Blättern an den Bäumen, selbst den Fliegen. Und doch haben Sie für mich immer nur verächtliche Worte.«
»Nicht verächtliche«, rief sie aus. »Mitleidige. Weil ich weiß, daß Sie lügen und Gott nichts so verabscheut. Ja, Herr, ich habe weder Erfahrung noch Geist, aber ich weiß, daß Sie Ihre Seele hassen und sie töten würden, wenn Sie es vermöchten.«
»Sie ist freilich eine ziemlich schwere Last«, entgegnete er kalt. »Was ich hier seit drei Wochen sah, hilft mir trotzdem, sie zu tragen. Sie waren so gütig zu sagen, daß ich Sie ausspioniere. Geben Sie lieber zu, daß das, was Sie so sehr zu verbergen wünschen, ohne mich vielleicht schon bekannt wäre. Noch gestern …«
»Das ist nicht wahr!« sagte sie mit zitternder Stimme und gezwungenem Lächeln. »Sie wollen mir nur Angst machen.«
»Genug, schön, ich schweige still. Ich sage nur noch das Eine: Ich bin in Ihrem Hause schließlich nur ein Diener wie ein anderer. Ihr Vater mag mich entlassen: ein Wort von Ihnen genügt. An Vorwänden fehlt es nicht.«
Sie zwang ihn von neuem, die Augen niederzuschlagen. »Dazu bin ich nicht fähig«, sagte sie traurig. »Das wissen Sie. Zudem ist mein Vater nicht der Mann, der irgendwen entläßt … Und dann … Und dann: wer sollte denn ohne mich an seine Ruhe denken? Der kleinste Verdruß ist noch zu schwer für ihn … Auch das wissen Sie.«
Plötzlich ward ihr Blick milder, und mit Überraschung, ja fast mit Schrecken sah er eine unbeschreibliche Bosheit darin aufglänzen, so fremd wie ein Wort einer unbekannten Sprache.
»Sie werden es schon müde werden, auf Wunder zu warten,« sagte sie, »sogar welche zu erfinden … Sie werden alles satt bekommen, selbst den Schmerz der Andren. Mir scheint, das Böse ist viel unkomplizierter als Sie glauben wollen. Hier wie anderswo und stets gibt es nur eine einzige Sünde.«
»Welche Sünde?«
»Gott zu versuchen«, sagte sie. »Wozu auch? Ich glaube, Sie sind sehr ungeschickt … Gott sieht an, was ihm gefällt. Wenn er Sie noch nicht ansieht, wozu? Wozu ihn versuchen?«
»Ich … wirklich … daran hatte ich nicht gedacht.«
Er versuchte zu lachen, obwohl die gleiche schmerzliche Grimasse seine Wange komisch verzerrte. Aber Fräulein Chantals Antlitz war wieder ruhig geworden, und ihre Augen leuchteten in so reinem Naß, als hätte sie sich niemals erregt.
Zudem trat die Köchin im selben Augenblick ein, unter dem Arm ein riesiges Bündel Karotten, die noch mit schöner brauner Erde gefleckt waren.
»Nicht doch!« rief das junge Mädchen lachend. »Nicht doch, Ferdinande, keine Karotten mit Sahne mehr; mein Vater kann sie nicht ausstehn.«
»Ich habe dem Herrn aber doch den Speisezettel vorgelegt«, sagte die pfiffige Normännin, ebenso goldrot wie ihre Karotten.
»Und er hat ja gesagt, ohne ihn zu lesen, ja, ich weiß. Mein armes Mädchen, tragen wir beide die Gerichte mit Sahne zu Grabe. Man muß auf den Geschmack der Andren Rücksicht nehmen. Ihnen brauche ich das doch wohl nicht zu sagen, einer Köchin von der alten Schule! … Und zunächst, Ferdinande, unter uns gesagt, nicht wahr? … Die normannische Küche ist manchmal … wie soll ich sagen … etwas … naiv, etwas weichlich. Man macht uns Vorwürfe, Mißbrauch mit Hausfrauenrezepten zu treiben. Das schmeckt nach seiner Pächtersfrau, sehn Sie. Man delektiert sich daran, aber man ißt nicht.«
»Man ißt nicht … Was kann das dem Herrn wohl ausmachen, frage ich Sie? Er zerbeißt ja einen Zwieback mit den Zahnspitzen und schwemmt ihn dann mit einem Liter Mineralwasser herunter. Und Sie selbst, gnädiges Fräulein! Ist es zu glauben, daß ein so feines Wesen wie Sie so wenig Freude am Essen hat? Seit zwei Monaten essen Sie wie ein Vogel.«
»Ich bin eben feinschmeckerischer als man denkt, das ist alles.«
»Feinschmeckerisch! Und die Seezungenfilets in Chambertin am letzten Freitag? Die berühmten Seezungenfilets in Chambertin! Den ganzen Vormittag lagen Sie mir damit in den Ohren: Achtung auf dies, Achtung auf das. Und dann haben Sie sie kaum gekostet … Ja, soll ich Ihnen was sagen, gnädiges Fräulein?«
»Sagen Sie nichts! Mein Vater hält jetzt sehr auf den guten Ruf seiner Tafel, und mit Recht. Mein Gott, Ferdinande, man soll nichts geringschätzen, man soll stets sein Bestes tun. Haben Sie bemerkt, wie traurig wir sind, besonders die Männer, sobald sie stillschweigen, sobald sie allein sind? Früher, als ich noch klein war, denken Sie nur, arme Ferdinande, weinte ich manchmal, weil ich sie so unglücklich sah … Und sie sind wirklich sehr unglücklich, denken Sie doch! Wir haben so viele Wünsche und Freude an gar nichts! Da ist eine Köchin voller Selbstgefühl, die ihr Handwerk versteht, nicht unnütz, nein! Unsere guten Diners sind gewiß nicht so viel wert wie eine Predigt, aber was geht uns das an? Jeder hat die Pflichten seines Standes. Und die unsere ist heute nicht leicht. Elf Gäste heute abend, arme Ferdinande, und dazu Freitag! Einerlei. Der Herr wird zufrieden sein, Sie werden sehn. Hier ist unser Speisezettel. Ich habe kein Pünktchen daran geändert. Erst Fastensuppe …«
»Ach, die!«
»Still! Sie wird Ihnen diesmal besser gelingen. Sie dürfen die gerösteten Brötchen mit Parmesankäse nicht vergessen. Lassen Sie den Teig nicht ganz kalt werden, nehmen Sie sich in acht, sonst zerbricht er zu leicht und läßt sich nicht mehr schneiden, das ist scheußlich! Sie müssen auch die Butter, in der Sie die Karpfenmilch und die Rochenlebern schmoren, mit Wein anfeuchten. Soviel von der Suppe. Dann haben wir Maifisch, auf dem Rost gebraten, mit Sauerampfer, und Lachspastete, die Pastete zu Ehren des Monsignore Espelette, der dafür schwärmt.«
Die Köchin schlug sich die Ärmel ihres baumwollenen Hemdes sorgfältig über die Ellbogen zurück, und ohne ihre Fischaugen von ihrer jungen Herrin abzuwenden, sagte sie einfach:
»Man wird mir nicht ausreden, daß das gnädige Fräulein sich aus alledem gar nichts macht. Sie tut nur so.«
»Tut was, Ferdinande?«
»Das denke ich mir so«, wiederholte die dicke Köchin kopfschüttelnd. »Übrigens wird es im Hause bald nicht mehr auszuhalten sein, nein … Daß der Herr das Recht hat, sich seine Leute auszusuchen, bestreite ich nicht. Aber warum nimmt er sich die neuen Leute dann aus den Pariser Mietbüros, statt von hier, wie sein seliger Vater? Ich habe Erfahrung, gnädiges Fräulein kann es mir glauben. Ich bin zweimal Witwe geworden; ich kenne das Leben. Aber die Leute verstehe ich nicht. Sehn Sie, der zum Beispiel, der eben wegging, das ist ein Narr, ein richtiger Narr: einsperren sollte man ihn. Oh! die schönen Redensarten führen mich in meinen Jahren nicht mehr hinters Licht, das können Sie sich denken! Natürlich schweigen sie in meiner Gegenwart still und spielen die Harmlosen. Aber ich habe ein feines Ohr. Man wird hier außerordentliche Dinge erleben, gnädiges Fräulein, Dinge, wie man sie nicht in den Büchern findet.«
»Aber Ferdinande, ich bitte Sie«, sagte Fräulein Chantal mit erstickter Stimme.
Sie konnte eine zu plötzliche Gebärde des Widerwillens oder der Angst nicht bezwingen und blieb stumm und wachsbleich stehn, mit düsterem, fast hartem Blick.
»Sie haben mir Angst gemacht«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, was mir ist. Sie sind selbst närrisch, Ferdinande.«
Doch die Köchin beobachtete sie einen Augenblick, ohne zu antworten, mit vorgeneigtem Kopfe und naiver, bäurischer Neugier.
»Sie erinnern mich an Ihre Mutter«, sagte sie schließlich. »Ich hätte in der letzten Zeit darauf schwören können, daß ich sie sah, die arme Gnädige, der alles gleich so nahe ging, die von einem Nichts umgeworfen wurde, und stets mit ihrem traurigen Händchen auf dem Herzen – eine Heilige. Ihre Großmutter war damals eine starke, kräftige Dame … Oh, die Gesundheit, man mag sagen, was man will, darin liegt alles. Wer gesund ist, wird mit allem fertig.«
»Rufen Sie mich zum Frühstück«, schloß Fräulein Chantal mit noch immer zitternder Stimme. »Rufen Sie mich punkt elf Uhr.«
Und sie schloß geräuschlos die Tür.
. . . . . . .
Ein freudestrahlender, blühender Tag, ein Augustmorgen mit seinem Duft und seinem Glanz, doch in der drückenden Luft schon die tückischen Düfte des Herbstes, leuchtete an jedem Fenster der endlosen Veranda durch die roten und grünen Scheiben. Es war der Frohsinn dieses Tages und durch irgend einen vergänglichen Glanz auch der Frohsinn eines einzigen Tages, der einzige Tag, so zart, so hinfällig in seiner ungetrübten Heiterkeit, in der zum erstenmal auf dem glühenden Gipfel der Hundstage der verräterische Dunst aufsteigt, der sich noch am Horizont hinschleppt, aber in wenigen Wochen mit dem Duft welken Laubes auf den erschöpften Boden, die vergilbten Wiesen, das schlafende Wasser herabsinken wird.
Mit ihrem regelmäßigen, leichten, selten hastigen Schritt ging das junge Mädchen durch diese Lichtfülle und blieb erst im Schatten des Vestibüls stehn, dessen Läden geschlossen waren. Sie hörte ihr Herz pochen, und gewiß nicht vor Schreck oder vor eitler Neugier, denn seit einer Reihe von Wochen war jede Stunde ihres Lebens, vielleicht ohne daß sie darauf achtete, ausgefüllt und vollkommen. Ihr war, als ob alle ihre vereinten Kräfte nichts hinzutun noch gar etwas davon wegnehmen könnten … Es waren die Stunden von einst, so ähnlich denen der Kindheit; ihnen fehlte nicht mal die wunderbare Erwartung, die ihr einst die Täuschung bereitet hatte, als liefe sie atemlos am Rand eines verzauberten Abgrunds. Tiefe Wonnen, geheimer als ein tiefer Herzschlag! Am Abhang der Pyrenäen, auf schwindelndem Pfade, während ihr Blick durch die Wagentür auf den rosigen Abgrund fällt, in dem die Adler kreisen, ruft das Lieblingstöchterchen der Heiligen Therese aus: »Ich kann nur noch in Gott fallen!« … Das waren vielleicht die Stunden von einst, aber sie hatte selbst die Neigung verloren, sie im Vorüberziehen zu erfassen, um ihnen ihren Inhalt an Freude oder Trübsal zu entnehmen, wie man eine Frucht aufbricht.
Sie hatte anfangs geglaubt, hätte stets glauben mögen, daß diese Art glückseliger Gleichgültigkeit, dieser holde Schlaf der Begierde, nichts anderes sei als die wundersame Sorglosigkeit der Kinder, ihre Reinheit. Aber der Tod des Abbé Chevance kennzeichnete unwiderruflich, für immer, den entscheidenden Schritt, und wie sie sich auch anstrengte, ihn abzurücken, der Leichnam wachte auf der Schwelle des neuen Friedens wie ein aufmerksamer, schweigsamer Wächter. »Ich gebe Ihnen meine Freude!« Sie hatte ihm in der Tat ihre Freude gegeben und dafür sofort eine andere aus den alten, vom Tode gefesselten Händen empfangen. Gewiß warf sie sich innerlich ihre Gleichgültigkeit, ihre Dürre vor, bemühte sich, Zerknirschung und Reue darüber zu empfinden. Aber ihr Verstand war zu grade, ihr Bewußtsein zu klar; sie empfand ihre Schwäche nicht, oder aber es war die Schwäche der Natur, ihre unsägliche Armut. Wen kann es betrüben, arm zu sein in den Händen eines Herrn, der reicher ist als alle Könige? Schon lange, bevor sie es irgendwem anvertraut hatte, ja bevor sie fähig war, es klar zu begreifen, hatte die Armut, eine übernatürliche, abgründige Armut über ihrer Kindheit geglänzt wie ein vertrautes Gestirn, ein gleichmäßiger, sanfter Schimmer. Soweit sie in die Vergangenheit zurückging, hatte ein erlesener Sinn für ihre eigne Schwäche sie wunderbar gestärkt und getröstet, denn sie erschien ihr als unauslöschliches Zeichen der Gegenwart Gottes, als Gott selbst, der in ihrem Herzen strahlte. Sie glaubte, nie mehr begehrt zu haben, als was ihr erreichbar war, und doch war die Anstrengung, wenn die Stunde kam, stets geringer gewesen, als sie zu glauben gewagt hätte, gleich als wäre das himmlische Mitleid ihr wundersam vorausgegangen.
Bis zu den letzten Wochen dieses Monats hatte bisher keine Prüfung ihre demütige Heiterkeit, ihre Gewißheit gefährdet, für die leichten Werke geboren zu sein, welche die großen Seelen verschmähen, noch jene Art von boshafter Hellsichtigkeit, die anfangs auch die Unbedachtesten verblüffte und deren Geheimnis nur der Abbé Chevance kannte. Übrigens war der schlichte und eigensinnige Alte erst auf die Dauer in dies Geheimnis eingedrungen, denn er fürchtete, ihr Fragen zu stellen, fürchtete vor allem, er möchte aus eitler Ungeduld, zu erfahren und zu bewundern, eine so empfindsame Seele am empfindlichsten Punkte verletzen, wo sich, allen unbewußt, in einer Stille, die reiner ist als die des Sternenhimmels, die Vereinigung mit Gott, die Hingabe ohnegleichen vollzieht. Vielleicht lief er eine Zeitlang sogar Gefahr, unschuldig in die Falle zu gehn, die ihm dies klare und tiefe Bewußtsein stellte. Vielleicht hielt er sein kleines Beichtkind für weniger gleichgültig gegen die Welt, als er angenommen hätte, gegen ihre verzeihlichen Erfolge, gegen den bürgerlichen Wohlstand eines akademischen Salons, den der frühere Pfarrer von Costerel-sur-Meuse harmloserweise (von Hörensagen) für großartig hielt. Ein anderer als er hätte vielleicht zu früh Anstoß an den Roben von Chérioux oder Segret, an den Hüten von Rose und Jenny genommen, selbst an dem perlgrauen Mantel, den sie mit einer etwas lebhaften und kecken Bewegung ihrer mageren Arme so artig auf ihrer Brust zu raffen verstand … Doch schon hatte er in ihr, wie in einer genialen Ahnung, das erkannt, was er in der geräuschvollen und leeren Welt, durch die er als Fremdling irrte, schon so lange suchte: den Geist, den strahlenden Geist des Vertrauens und der Hingebung. »Was soll ich tun?« fragte sie ihn. »Bin ich fähig zu wählen? Ich würde es nie wagen. Jede Stunde empfange ich, was Gott mir gibt, weil ich nicht mal die Kraft hätte, es zu verweigern. Ich empfange es mit geschlossenen Augen, wie ich einst im Pensionat, am Samstag abend, dem Verlesen meiner Wochenzensur zuhörte. Schlage ich die Augen auf, so merke ich, daß es mir noch erspart bleibt, daß ich diesmal davon gekommen bin.« Und sie sagte auch: »Im Ganzen ist es ein Vorteil, kurzatmig zu sein. Da ist man gezwungen, die Anhöhen im Schritt hinaufzugehn.«
So hatte sie damals gesprochen und so dachte sie noch immer, doch wem hätte sie es jetzt gesagt? Der alte Mann hatte etwas mit sich fortgenommen, oder wenigstens war ein kostbarer Teil ihrer selbst in dem stillen und feierlichen, für sie unbegreiflichen Sterben versunken. Nicht die himmlische Hoffnung, die ihr Lebensquell war. Auch nicht die unschuldige Sicherheit, die feiner und sicherer war als irgend eine Berechnung unruhiger Seelen. Aber der strenge Lehrer fehlte, der ihre geheimnisvolle Freude nach und nach sammelte, damit sie ihre übernatürliche Last nicht empfände. Jetzt mußte sie sie erkennen, sie in Besitz nehmen, sie völlig besitzen. O Brunnen voller Süßigkeit!
Sie hatte diese Prüfung mit der gleichen naiven Anmut hingenommen, ohne jedwede Furcht. Ihre Gewißheit, den Frieden nur einer wunderbaren Laune Gottes zu verdanken, bewahrte sie zur Genüge vor jeder Selbstgefälligkeit über diese unverhoffte Entdeckung, deren tückische Gefahr sie nicht ahnte. So lange war es ja ihre Sorge und Mühe gewesen, nichts für sich zu behalten, das vom Himmel gefallene Almosen Tag für Tag auszugeben, und warum hätte sie es auch abwägen sollen? Was lag daran? Es war ja nur nötig, dem alten Priester genaue Rechenschaft davon abzulegen. Er aber, undurchdringlicher in seiner außergewöhnlichen Milde, wartete geduldig, bis das Maß voll war und Gott selbst sich diesem Herzen offenbarte, das schon nichtsahnend von ihm überquoll. Bisweilen zuckte der Beichtvater der Dienstmädchen die Achseln und sagte halb ernst, halb lachend in seiner lothringischen Mundart: »Wie verschwenderisch sind Sie doch veranlagt, meine Tochter! Wir andern, sehn Sie, wir kennen allzuviele fromme Seelen, die das Ausgeben erst lernen müssen, die ihre Schätze aufspeichern. Das verdirbt das Urteil etwas, welch ein Elend! Es gibt nichts Schlimmeres, als Gottes Gnade geringschätzen, aber man soll sie auch nicht Heller für Heller zusammensparen, nein! Denn verstehn Sie, meine Tochter? unser Herr ist reich.«
Eines Tages hatte er ein noch merkwürdigeres Wort gesprochen, dessen Sinn sie zuerst nicht ganz erfaßt hatte, das sie aber wundersam getröstet hatte, als hätte es ihr die Zukunft aufgetan und ihr jenseits der unvermeidlichen Prüfungen, deren Art und Dauer sie nicht ahnen konnte, die Gewißheit und die Ruhe gezeigt. »Manche würden mich zu schüchtern oder zu anspruchsvoll gegen Sie finden; das ist mir sehr recht, ich bin nicht unzufrieden. Liebe Tochter, sollte ich Ihnen zu früh fehlen, so verbiete ich Ihnen, irgend etwas an Ihrer Lebensweise plötzlich zu ändern. Unser Leben soll in einem sehr vertraulichen Stil geschrieben werden, dessen Schlüssel allein unser Herr hat, wenn es einen Schlüssel gibt.«
Ein bis zweimal wunderte sie sich darüber, daß er sie zu tadeln schien, weil sie einigen Gelegenheiten, zu gefallen oder gelobt zu werden, geschickt ausgewichen war, denn sie war so boshaft und lebendig, daß man ihr gern zuhörte. »Aber,« rief sie aus, »was wissen Sie denn eigentlich von der Welt, Sie, ein alter Einsiedler? Soll ich denn gefallsüchtig, eitel oder sonst was werden?« Errötend hatte er geantwortet: »Doch, ich weiß, was die Welt ist, meine Tochter. Es hat mir bisweilen viel Sorge gemacht, wo nicht bewundert, so doch geliebt zu werden. So ist die Welt.« Und mit tiefer Feinheit, die niemand dem ehemaligen Priester von Costerel-sur-Meuse zugetraut hätte, setzte er alsbald hinzu: »Ich hatte mehr von der Welt zu fürchten als Sie.«
Es war an einem Abend im letzten Winter gewesen. Der bleiche Tagesschein fiel durch die Fenster seines armseligen Zimmers, kroch bis zu dem wackeligen Tisch, auf den er die Ellbogen stützte, während seine hagere Hand ein unbestimmtes Zeichen in die Luft machte. Und plötzlich leuchtete das ganze Licht des sterbenden Tages in seinen Augen auf, indes er mit lauter und kräftiger Stimme sprach:
»Mein Töchterchen, ich weiß, was Ihnen nottut. Es wird zu seiner Zeit kommen, denn auch für die Seelen gibt es Jahreszeiten. Ja, es gibt Jahreszeiten. Ich kenne eine jede, bin ein alter Bauer vom Maaslande. Der Frost wird kommen, selbst im Mai. Hindert das meine Mirabellen am Blühen? Schont der liebe Gott seinen Lenz, mißt er Sonne und Regen ab? Lassen wir ihn sein Gut zum Fenster hinauswerfen. Ich bin nur ein schlichter Mensch ohne viel Urteil oder Erfahrung, aber ich weiß auch eins, woran der ehrwürdige Pater Riancourt nicht gedacht hat … Das heißt, er dachte vielleicht nicht daran … Oh, die Jesuiten sind klug und fein! Sie gereichen der Kirche gewiß zur Ehre. Aber so ist es: sie sind gleichsam Gelehrte der Landwirtschaft, haben Methoden, viel Wissenschaft, haben ihre Methoden … Auch der arme Pächter hat gute Gedanken, wenn er nicht über sein kleines Feld hinausgeht. Nun also: ja, meine Tochter, es gibt eine Zeit, wo man unserm Herrn in seiner Freigebigkeit beistehn muß. Wir empfangen hundert Gnaden für eine. Warum für ein so schlichtes, so gemeines Leben, das anscheinend für jeden erreichbar ist, das Dreifache bezahlen? So denkt die Welt. Übereilen wir trotzdem nichts. Man bezahlt die Gnade, unbemerkt durchs Leben zu gehn, nie zu hoch – oder Gott gebe wenigstens, daß man gegenwärtig an Ihnen nur Blüten sieht! Ja, Gott gebe, daß Sie zunächst alle Ihre Blüten entfalten, meine Tochter! Die Früchte wachsen nicht ohne Mühe, das wird schon kommen, und so sanft die Hand auch sei, die sie pflückt, Sie werden das Abreißen doch spüren. Bis dahin üben Sie sich, in Gottes Händen so fügsam und geschmeidig zu sein, daß niemand es ahnt. Denn es ist ein Zeichen großer Liebe, daß sie lange geheim bleibt … Sehn Sie die Mädchen aus meiner Heimat, die Lothringerinnen …«
Sie lachte auf, machte ein Zeichen, daß sie zu kurzsichtig sei, sie nicht aus so weiter Ferne sehn könne. Da zuckte er mit gespielter Ungeduld die Achseln.
»Bah! Bah! Sie mögen sich lustig machen. Die jungen Pariserinnen, denken Sie, die haben es eilig, die singen immer schon vor Sonnenaufgang wie die Amseln. Aber unsere lothringischen Mädchen, ach, wie besonnen, wie verständig! Meine verstorbene Mutter sagte drei Jahre vor ihrer Hochzeit, ja, drei Jahre, zu unserm Großonkel, dem Dekan von Mondreville: »Ich heirate niemanden außer den Gilbert, den Küfer, oder gar nicht!« (Mein verstorbener Vater war Küfer.) Und er, Gilbert, wußte nichts davon; sie hatte nicht mal gewagt, ihm ins Gesicht zu sehn, das heilige Gotteskind! Aber sie sind gute Eheleute geworden, im Leben wie im Tode, bis zum Ende; denn die Wurzel war tief, die Wurzel war lange in den Boden hineingewachsen, ehe der Stengel blühte. So will es Gott, daß wir lieben. Möge man von Ihnen sagen können: »Wie gut sie ist, wie sanft und heiter! Wie gerne sieht man sie! Wie lehrt sie uns gut sein!« Möchten Sie schon ganz unserm Herrn gehören, noch ehe ein Mensch weiß, in wessen Händen Sie sind!«
Ach, seitdem hatte sie gesehn, wie der Blick ihres alten Freundes sich nach und nach trübte und dann ganz nach der andern Seite der Finsternis hinüberglitt. Sie hatte gehört, wie seine Stimme röchelte und gleichsam fremd ward, und fürwahr, an diesem so verlassenen, so nackten Tode glich nichts mehr dem Bilde, das sie sich anfangs davon gemacht hatte. War dieser Tod die letzte Prüfung für den unbekannten Heiligen, den verlassenen Menschen gewesen? Oder nur die letzte, entscheidende Lehre des Lehrers an seine kleine Schülerin, seine feierliche Mahnung? Fürchtete er, der so rasch in die Nacht fortgerissen ward, ihm möchte die Zeit fehlen, das heldenhafte Kind auf die harten Erfahrungen des Innenlebens, auf die abgründige Enttäuschung vorzubereiten, die ein für Gott bestimmtes Herz eines Tages stählen muß? Gewiß hatte sie sich bisher in einem sehr sichern Instinkt dagegen gesträubt, allzulange über ein Problem nachzugrübeln, dessen Lösung, wie sie wohl wußte, ihr stets entgehn würde, weil sie jenseits aller Vernunft und jeder menschlichen Annahme lag –, nur in Gott allein. Und doch, ob sie wollte oder nicht, aus jenem Schwindel der Trübsal, aus jener ungeheuern Einsamkeit, die sie an der Leiche dessen, den sie schon wie einen Heiligen ehrte, kaum erschaut und geahnt hatte, war eine Art von Gespenst aufgestiegen, das nicht alle Züge des Lebenden trug, dessen stummen Ruf zu vernehmen sie nicht so sicher war. Sie entsann sich gewisser Worte, die er einst gesprochen, zum Beispiel daß er einmal zu ihr gesagt hatte: »Wenn auch die göttliche Liebe hundertmal strenger und härter ist als die Gerechtigkeit, so kann Gott uns doch lange die Gnade erweisen, uns zu lieben, wie wir die Kinder lieben. Doch die Stunde kommt, wo wir um den Preis furchtbarer Ängste lernen, daß die unmenschlichste menschliche Leidenschaft in ihm ihr unaussprechliches Abbild hat und daß er, wie schon die alten Juden errieten, ohne es zu begreifen, ein eifersüchtiger Gott ist.«
Ein eifersüchtiger Gott … In Gott jene nachdenkliche, strenge Begierde, jene Gier und Begehrlichkeit der Kreatur? Sie konnte es noch nicht glauben, oder es war ein zu kühner, zu erhabener Anblick, von dem sie ihre Blicke abwenden mußte. Und dann war selbst das Wort für sie leer, fast sinnlos. Sie war auf niemanden eifersüchtig, und so tief sie sich befragte, sie meinte, daß keine Eifersucht, auch die göttliche, sich auf sie richten könne. Fühlte sie sich doch täglich weniger imstande, irgend etwas zu versagen, weil sie sicher war, nichts zu besitzen. Sie hielt ihr Leben für allzu schlicht, für allzu eng durch eintönige, alltägliche Pflichten bestimmt, als daß sie jemals gewagt hätte, sich weniger aus Tugend als aus bloßer Notwendigkeit weit von der Stelle zu entfernen, an der auch der anspruchsvollste Lehrer sie gefunden hätte. Denn auch das war eine der tiefen und weisen Lehren des Abbé Chevance, daß es vor allem nottäte, sich so wenig wie möglich von der bestimmten Stelle zu entfernen, an der Gott uns stehn läßt und uns wiederfinden kann, wenn es ihm gefällt. Die unvergleichliche Trübsal unserer Art ist ja ihre Unbeständigkeit.
So hatte sie sich denn in ihrer neuen Einsamkeit zunächst mit ganzem Herzen gewissenhaft beflissen, den vertrauten Weg mit keinem Schritt zu verlassen, bis sie einen andern Führer gefunden hätte, der dem verlorenen vergleichbar war. Die leichten Dinge tadellos zu vollbringen, war nicht nur der Wunsch, sondern das Bedürfnis dieses unbeugsamen und sanften Willens, den der Abbé Chevance doch mit so großer Kunst fügsam gemacht hatte. Gewiß hatte sie gar keinen Begriff von einer so wunderbaren Stärke, und doch war die unvergessene Stimme verstummt, die ihr nach Gutdünken gebot. Welches unerschrockene Herz erkennt auch mühelos das Leichte, wo das Unmögliche ihr Maß zu sein scheint? Und welche Versuchung wäre feiner und tückischer gewesen? Wie hätte sie auch wissen sollen, daß es schon seit Monaten die einzige Sorge ihres schlichten Freundes gewesen war, den Schwung ihres gewaltigen Aufstieges zu mäßigen oder wenigstens ihrem Blick die ungeheuere Bahn ihres Fluges, die Leere, die sich allmählich unter ihren Flügeln grub, zu entziehn? Jetzt begann sie, diese Gelassenheit zu fürchten, die ihr bisher als Zeichen der Schwäche, der Mittelmäßigkeit ihres Wesens erschienen war. Und nachdem das Gleichgewicht einmal gestört war, sobald sie sich bemüht hatte, es zu brechen, suchte sie es von neuem, entfloh ihm wieder und erkannte darin voller Schrecken bisher unbekannte Wonnen.
Welche Wonnen, wenn nicht von übernatürlicher Traurigkeit, an denen das Empfindungsvermögen keinen Anteil hatte, sondern ganz auf sich beruhend, in der geheimsten Tiefe der Seele. »Du warst nie so heiter«, sagte Herr de Clergerie bisweilen mißlaunig. War es denn wahr? Welches war diese unsichtbare Quelle, diese herbe Frische für sie allein? Welchen Namen hätte ihr der Abbé Chevance gegeben? Versuchte sie den armen, jetzt nutzlosen Toten zu befragen, der stets in ihrem Gedächtnis auftauchte, genau an der noch schmerzhaften Stelle, das letzte Bild, das sie von ihm bewahrt hatte, die düsteren, gleichsam tränenleeren Augen, die Falte im Mundwinkel, die gewaltige Erschöpfung seiner Arme, die auf der blutgeröteten Decke lagen, nein! da durfte sie ihn nicht suchen … Da glitt sie ins Gebet hinüber, ohne es zu wollen und zu begreifen, denn sie verschmähte die brennende Trübsal, die eitle Gabe der Tränen, deren Betrug sie fürchtete, weil sie nicht mehr hoffen durfte, den Greis anderswo zu finden als in seiner ewigen Ruhe, in Gott.
War es das Gebet? Fürwahr, sie wußte es nicht. Zudem hätte sie nicht gewagt, etwas so zu nennen, was für sie bisher nur ein seltsames Hinausschieben von Schmerz und Freude war, oder das langsame Hinschwinden beider in einem einzigen, unsäglichen Gefühl, in dem Zärtlichkeit, Vertrauen, ein unruhiges und doch holdes Suchen zu verschmelzen schienen, und noch etwas anderes, was jenem erhabenen Mitleid glich, das sie oft in den verbrauchten Augen ihres Lehrers hatte aufglänzen sehn. Übrigens gestand sie sich selbst willig, daß sie unfähig war zu beten. Sie bedauerte es, ihr Denken nicht lange auf die kleinen Übungen richten zu können, die von frommen Schriftstellern aufgestellt waren, deren Einbildungskraft ihrem Eifer nicht gleichkommt und die nur darauf erpicht sind, alles zu definieren und in Formeln zu bringen. »Fragen Sie mich nicht«, hatte der Abbé Chevance damals zu ihr gesagt. »Wozu? Was liegt Ihnen daran zu wissen, ob Sie beten oder nicht? Und was liegt mir daran, es zu erfahren, wenn ich mich nur befleißige, das Gebot der Barmherzigkeit von Tag zu Tag in Ihnen zu verwirklichen? Ingressa igitur cuncta per ordinem ostia … Als Esther auf Befehl alle Türen durchschritten hatte, trat sie vor den König, wo er Hof hielt.«
Ach, wer würde ihr nun die Türen öffnen? Wer würde ihr an jeder neuen Schwelle die Freundeshand reichen? War nicht die letzte Angst des Sterbenden die zu späte Entdeckung gewesen, daß die holde Unwissenheit, in der er seine Tochter so lange gelassen, sich nach seinem Verschwinden plötzlich in furchtbare Einsamkeit verwandeln würde? »Wie gut hat Gott sich in Ihnen verborgen! Möge er in Ihnen ruhen?« hatte er einmal mit zitternder Stimme ausgerufen. Er hatte seinen Anteil an diesem Geheimnis ins Schattenreich mitgenommen, und sie war fortan außerstande, irgendwem etwas von ihrem Anteil zu entdecken, denn sie war weit entfernt, die geringste Vorstellung von dem zu haben, was in ihr vorging. Gewiß war die scheinbare Mittelmäßigkeit ihrer Beichten, ihre Bedeutungslosigkeit ihr zuwider, und im Innern machte sie sich Vorwürfe, dem Dekan von Idouville so schlecht zu beichten. Der kannte sie von klein auf und behandelte sie wie einst in jedem Sommer als Ferienkind … Aber was sollte sie ihm sagen? Was sollte sie von einer Unterwerfung unter Gott sagen, die so vollkommen, so kindlich war, daß sie sich von dem bescheidenen Lebenslaufe kaum unterschied? Sie kam auf nichts Neues, was zu sagen sich verlohnt hätte, außer jener allzu tiefen, allzu wesentlichen Erregtheit der Seele, die wie ein fernes Gewitter war, das nur noch ein flüchtiger Schein ist, ein Abglanz am heiteren Himmel, ein fast unmerkliches Beben der glühenden Luft.
Und doch hatte sie unbewußt schon den entscheidenden Schritt getan, ging sie jetzt durch ein unbekanntes Land, jenseits der Grenzen ihres alten Paradieses, und allein. Eine andere als dies furchtlose Mädchen wäre vom Gefühl ihrer Einsamkeit niedergeschmettert worden und verstört ins Kloster gegangen wie in ein letztes Asyl. Sie aber hatte schon zu lange gelernt, nur bei Gott ihre Ruhe zu suchen; sie war unfähig, zu fliehen oder sich auch nur vor der Zeit zu entziehn, bereit, die Stirn zu bieten, und ihr Blick war ebenso fest und sicher in seiner erbarmungslosen Reinheit wie der eines beherzten Mannes. Ihre herrliche, fast unbewußte, unwillkürliche Anstrengung, sich nicht in sich selbst zurückzuziehn, sich nicht zu verkleinern, die Notwendigkeit, alle Kräfte ihres Herzens zugleich aufzubieten, wie ein Heerführer alle seine Regimenter gegen einen Feind einsetzt, ohne dessen Stellung und Absichten zu kennen, hatte sie in wenigen Wochen verwandelt. Wie ein Mensch, der in der Morgendämmerung einschläft und im grellen Mittagslicht erwacht, in seinen Augen noch den Glanz der Morgenröte hat, so offenbarte sich jetzt die Welt, – die Welt, die für sie bisher nur ein geheimnisvolles Wort gewesen war, – nicht vor ihrer Erfahrung, sondern vor ihrer Liebe, durch Erkennen, Sich-Entfalten und Ausstrahlen des Mitleids. Nur blinde Geister glauben, daß das Böse sich allein den Elenden enthüllt, die sich von ihm allmählich verzehren lassen. Und doch kennen diese am Ende ihrer traurigen Werke nur seine ungewissen Wollüste, seine stumpfe Trübsal, sein dumpfes, unfruchtbares Wiederkäuen. Oh vergeblicher Fall, oh Rufe, die von keinem Lebenden gehört werden, kalte Boten der uferlosen Nacht! Wenn die Hölle dem Verdammten nichts antwortet, so ist es nicht, weil sie nicht antworten will, denn leider ist das unvergängliche Feuer von strengerer Observanz: in Wirklichkeit hat die Hölle nichts zu sagen und wird nie etwas sagen in alle Ewigkeit.
Nur eine gewisse Reinheit, eine gewisse Einfalt, die göttliche Unwissenheit der Heiligen, die das Böse unversehens erfaßt, dringt durch ihre dicke Mauer, die dicke Mauer der alten Lüge. Wer die Wahrheit des Menschen sucht, muß sich durch ein Wunder des Mitleids seines Schmerzes bemächtigen, und was liegt daran, dessen unreine Quelle zu kennen oder nicht? »Was ich von der Sünde weiß,« sagte der Heilige von Ars, »das lernte ich aus dem eignen Munde der Sünder.« Und was hatte das alte erhabene Kind aus so vielen schmählichen Anvertrauungen und aus unversieglichem Geschwätz herausgehört, wenn nicht das Stöhnen und Röcheln der erschöpften Begierde, das auch die härteste Brust sprengt? Welche Erfahrung vom Bösen wäre stärker als die des Schmerzes? Was geht weiter als das Mitleid?
Somit konnte Fräulein Chantal glauben, daß nichts ihren Frieden gestört, ihre Freude getrübt hätte; aber schon öffnete sich die geheimnisvolle Wunde, aus der eine menschlichere, fleischlichere Liebe strömte, die Gott im Manne entdeckt und beide in dem gleichen übermenschlichen Mitleid miteinander verschmilzt. Diese Verwandlung des Seelenlebens ist zu geheim, zu tief, als daß sie nach außen durch sichtbare Zeichen hervorträte. Das war schrittweise, unmerklich gekommen, war langsam in ihrem Herzen aufgestiegen. Gewiß war das Böse ihr nicht unbekannt, und sie hatte nie so getan, als kenne sie es nicht. War sie doch zu feinfühlig und zu rasch, um sich selbst etwas vorzumachen, wie es bei vielen absichtlich Harmlosen, bei gewissen Arten von Mißtrauen und Ekel der Fall ist, aber ihre Rechtschaffenheit war sehr stark. Diese Ahnung der Sünde, ihrer Erniedrigungen, ihres Elends, blieb unbestimmt und unklar, denn es bedarf der herzzerreißenden Erfahrung der enttäuschten Bewunderung oder Liebe, um uns das tragische Geheimnis des Bösen zu verraten, seine geheime Triebfeder bloßzulegen, jene abgründige Heuchelei, nicht im Benehmen, sondern in den Absichten, die das Leben so vieler Menschen zu einem scheußlichen Drama macht, dessen Schlüssel sie selbst verloren haben, zu einem Wunder von Täuschung und Kunstgriffen, einem lebenden Tod. Wer aber vermag eine Seele zu enttäuschen, die im Voraus glaubt, nichts zu besitzen und nichts zu verdienen, die nichts erwartet, außer von der Nachsicht und Barmherzigkeit des Nächsten? Wer kann die freudige Demut enttäuschen? Und doch hatte das Sterben des alten Priesters dies Wunder vollbracht.
Das war wirklich die einzige Enttäuschung, die sie jemals erfahren hatte, und keine andere als sie hätte sie an dem empfindlichen Punkte zu treffen vermocht, hätte ihre kindliche Heiterkeit unversehens antasten können. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Gott ihr jemals fehlen werde, und doch: hatte sie ihn in jener denkwürdigen Nacht nicht vergebens gesucht? Er war unsichtbar und stumm geworden. Wie die ganz kleinen Kinder, die vom Menschenantlitz nur das Lachen kennen, den ersten strengen Blick ohne den mindesten Schrecken, aber mit einer Art erstaunter Neugier aushalten, so hatte die Bitterkeit jenes Sterbens ihr Vertrauen nicht abgeschwächt, obwohl die Erinnerung daran wie ein Schatten zwischen ihr und der göttlichen Gegenwart blieb, der einzigen Quelle ihrer Freudigkeit. Wie mächtig war also die Lüge, wenn sie selbst das Antlitz der Heiligen in den elenden Augen der Menschen derart zu verändern vermochte? Und plötzlich, gleichwie jene allzu lichten, allzu bebenden Landschaften, die mit einem Schlag in der Dämmerung versinken, aber langsam, kaum kenntlich, aus dem Abgrunde der Nacht wieder emporzusteigen scheinen, nahm die enge, vertraute Welt, in der sie geboren war und in der sie gelebt hatte, ein neues Gesicht an. Es schien, als wären ihr die Dinge selbst fremd geworden, selbst die anspruchsvolle, altmodische Wohnungseinrichtung des millionenreichen Professors mit ihrem phantasielosen Reichtum, mit ihrer unvornehmen, akademischen und bürgerlichen Strenge. Schon oft hatte sie darüber gelächelt, aber mit nachsichtiger Bosheit, wie man über ehrwürdige und lächerliche alte Leute lächelt, die man stets gekannt hat, und die von den Kindheitserinnerungen untrennbar sind.
Und nun blickte unter dem Damast und Gold die klägliche Armseligkeit und Gemeinheit hervor. Sie sah das alles nur noch mit unbeschreiblichem Unbehagen, einer Art von bangem Mißtrauen. Wie viele vergessene Geständnisse waren einst diesen kalten, bedächtigen, falschen Zeugen gemacht worden! Ahnte sie, daß sie vor zwanzig Jahren die gleichen vergeblichen Geständnisse von einer jungen Frau mit traurigen Blicken empfangen hatten? Gewiß fiel es ihr nicht ein, sie zu hassen oder zu verachten; sie war nur versucht, sie zu beklagen, wie Sklaven, die zum Lügen erzogen sind, die auf Befehl lügen. Sie empfand sie nicht nur als Zeugen, sondern als Mitschuldige eines Lebens nach ihrem Bilde, das eng, starrsinnig, berechnend, ehr- und lieblos, von tückischer Feierlichkeit, von verdächtigem Anstand war. Und je mehr die Orte und Wesen sich unter ihrem Blick verwandelten, verrieten sich auch die Gesichter, die Gebärden, die Stimmen und gaben einen Teil ihres Geheimnisses preis. Zu leidenschaftlich, um ihre Mittelmäßigkeit zu begreifen, oder zu rein, um sich je ihre Schande vorzustellen, empfand sie nur ihre Trübsal, die Trübsal so vieler verlorener Stunden, zweckloser Unternehmungen, Gefühle des Grolls, der Feindschaft und der Ehrsucht, die steinhart und doch leichter als Träume waren. Selbst ihre kindliche Zärtlichkeit hatte zwar eine Weile Widerstand geleistet, sich dann aber in ein weniger einfaches Gefühl verwandelt, und ohne daß sie darauf achtete, hatte das Bild ihres Vaters nach und nach seine vertrauten Züge verloren, war gewissermaßen mit der Umgebung verschmolzen, zerging schließlich in Schatten. Wie fern standen ihr alle! Wie irrend und unglücklich waren sie! … Warum? Ihnen wie dem Sterbenden hatte sie nur ihre arme Freude zu schenken, die ebenso geheimnisvoll war wie die Trübsal der andern … Und gewiß wollte sie sie ihnen schenken, auch wenn es umsonst war!
Zudem wäre es falsch, anzunehmen, daß sich zu Anfang irgend etwas an dem gleichmäßigen Verlauf ihres bescheidenen Lebens durch eine solche innere Offenbarung scheinbar geändert hätte. Sie hatte diese Trübsal hingenommen, wie sie alles hinnahm, ohne in ihren Gedanken unnötig dabei zu verweilen. Wenn man ihr helles Lachen hörte, wenn man sah, wie sie hinter ihren beiden großen Hunden Pyramus und Thisbe einherlief und ihr blauer Schatten über die Wand huschte, wäre auch der aufmerksamste Beobachter schwerlich auf den Gedanken gekommen, daß sie eben eine Welt entdeckt hatte, in der der Moralist nur mit Blei an den Füßen vorwärts kommt, daß sie mit einem Schlage, in einem Aufschwung, gleichsam in einem göttlichen Spiel, so tief in den menschlichen Schmerz eingedrungen war. Sie selbst wähnte, die komischen oder tragischen Personen, deren Name und Antlitz ihr vertraut war, stets mit den gleichen Augen zu sehn, und sie wunderte sich, daß sie mit so viel Mitleid an sie dachte. Aber wie sollte sie ein Mitleid zurückweisen, das so herzzerreißend und süß war und jetzt schließlich aus ihrem Blick hervorleuchtete und sie derart verklärte, daß es einige ihrer scharfsichtigeren Freunde beunruhigte? Sie gab sich ihm nicht vorbehaltlos hin, suchte ihm ihre Seele manchmal, wenigstens für einen Augenblick, zu verschließen – und nach und nach, unmerklich, wie eine kleine emsige Quelle, sprudelte das gleiche übernatürliche, umsonst bezwungene Mitleid im Gebet hervor. Denn nie war ihr Gebet so süß, ihre Vereinigung mit Gott so eng wie nach diesen vergeblichen Kämpfen, in denen sich unwissentlich alle Kräfte ihres Wesens übten. O Gebet, du bist nur noch eine unaussprechliche Befreiung oder gleichsam das Stöhnen der aus sich herausgerissenen, von der Gnade erschöpften Natur! Wer hätte ihr jetzt seine Vollkommenheit und seine Gefahr gesagt!
Indessen verging seit dem Tode des Abbe Chevance Woche um Woche, ohne daß sie merkte, daß auch ihr Gebet sich verwandelt, sich einer so neuen, ganz innerlichen, transzendenten Erfahrung von Wirklichkeiten angepaßt hatte, von denen sie nie eine Ahnung gehabt hatte. Der Irrtum war um so leichter, als sie ihre Pflichten nach wie vor erfüllt und ihr Haus mit der gleichen Heiterkeit geleitet hatte, die der Heiterkeit der Kinder so ähnlich war. Sie entwaffnete selbst die Frechheit unwahrscheinlicher Dienstboten, die ihr Vater aus Laune, auf die ungereimtesten Empfehlungen hin angestellt hatte, und die außerdem immerfort wechselten. In der Tat zeigte das Männchen in der Wahl seiner Dienstboten einen unsinnigen Optimismus, der durch Mißtrauen oder Geiz zwar frühzeitig verbittert, aber so sprichwörtlich war, daß ein paar heimtückische Freundinnen es darauf ablegten, ihm in jeder Jahreszeit ungewöhnlichen Ersatz zu liefern. Sie hatten die Tüchtigkeit dieser Leute zwar auf eigene Kosten erprobt, setzten sie aber ohne Umstände unbekümmert vor die Tür, denn die Entlassung einer rätselhaften Persönlichkeit mit konsonantenreichem Namen und schwarzem, aufmerksamem Blick, die aus weiter Ferne, aus Städten gekommen ist, die in keinem Atlas zu finden sind, ist keine leichtzunehmende Kleinigkeit. »Du bist matt«, sagte der künftige Akademiker manchmal zu seiner Tochter. »Die Last ist zu schwer für dich. Deine arme Mutter hat sich dabei aufgerieben.« Doch sie lachte ihr schönes, beherztes Lachen, und er tröstete sich alsbald in dem Gedanken: »Wie jung ist sie!«
Dann pfiff sie ihren Hunden oder lief in ihr Zimmer, um besser an ihren alten Freund zu denken. Wie frisch und rein war die Stille! Wie liebte sie sie! Vielleicht zu sehr? Keins ihrer ehemaligen Gebete glich diesem ganz. Einst hatte sie zum Abbé Chevance gesagt: »Ich rede immerfort mit Gott; mir scheint, ich kann sehr gut mit ihm sprechen. Ich rede ungleich besser mit ihm als ich bete.« Heute jedoch, wenigstens in den seltnen Augenblicken seliger Ruhe, erstarben die Worte von selbst auf ihren Lippen, ohne daß sie darauf achtete. Die unterdrückte Trübsal, das Mitleid, oder vielmehr die Art von schmerzlicher, mitleidvoller Angst, die sie jetzt vor jedem Menschenantlitz empfand, das alles leuchtete in einem einzigen tiefen Strahl aus ihrem Blick. Anfangs hatte sie dieser seltsamen Neuheit keine Bedeutung beigelegt. »Ich schlafe beim Beten ein,« dachte sie, »das ist alles.« Denn eine andre Erklärung, die sie beruhigt hätte, konnte sie nicht finden. Bis zu dem Tage …
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Unter so vielen andern beunruhigenden Gesichtern hatte das des Russen sie erregt und mit unauslöschlichem Mißtrauen erfüllt, das dem Abscheu glich, wäre Chantal zu diesem Gefühl überhaupt fähig gewesen. Zwei-, dreimal vielleicht war er gekommen, bescheiden und zurückhaltend, den Blick gesenkt, in seinen langen, unruhigen Händen mit den polierten Fingernägeln riesige Handschuhe aus Seehundleder knüllend, mit unsicherer, gleichsam verschleierter Stimme, in der sein kaum merklicher heimischer Akzent nur noch wie ein schwermütiges, allzu abgetöntes und einschmeichelndes Singen mitklang. Er brachte unter vielem andern ein lobendes Zeugnis der alten Baronin von Montanel, die bekanntlich über mindestens sechs schöne akademische Stimmen verfügt und die ganze Redaktion der Revue internationale alle vierzehn Tage mit leichtem Tee labt. Sie bürgte für seine tadellose Erziehung, seine Ehrlichkeit, vor allem für seine wunderbare Vorsicht, die ihn zu einem Chauffeur ohnegleichen machte, so sicher wie der Kutscher einer vornehmen Witwe. Schließlich hatte er zum Kadettenregiment gehört, in der Garde, dann unter Denikin gedient und unschätzbaren Familienschmuck verkauft, um nicht Hungers zu sterben. Doch sein größtes Verdienst war, daß er die Erinnerung an eine lange Studie über die wichtigen gelehrten Arbeiten des Herrn de Clergerie bewahrt hatte, die vor dem Kriege im Messager russe erschienen war.
In dieser schweigsamen Persönlichkeit hatte Fräulein Chantal vom ersten Tag an einen Feind gewittert, einen zu fürchtenden Menschen, der weniger für sie selbst gefährlich war als für diese naiven Menschen, die er sogleich durch unerschütterliche Sanftmut und grenzenlose Gefälligkeit bestrickt hatte. Sie wußte nichts von ihm, konnte nichts von ihm wissen, würde vielleicht nie etwas von ihm erfahren, denn sie war in ihrer Wahrhaftigkeit ebenso unverletzlich wie er in seiner Lüge, und doch haßte sie ihn, ohne daß er es wußte, mit eifersüchtigem Haß. Welchen andern Namen könnte man auch der Auflehnung eines allzu reinen, so wohl beschirmten und zugleich so wehrlosen Gewissens geben? Sie haßte ihn instinktiv, als hätte er schon ein unvergleichliches Geheimnis gegen sie, ja gegen Gott selbst besessen. »Was wirfst du ihm vor?« fragte Herr de Clergerie. »Er scheint etwas hinterhältig zu sein, das gebe ich zu; er ist zweifellos ein Gescheiterter; ich halte die Slaven nicht für Engel. Aber man kann sich ebensowenig Dienstboten in den Patronaten verschaffen, mein Kind. Zum mindesten finde ich ihn tadellos erzogen, diskret und gefällig. Und mag er sein, wie er will, ein Mädchen in deinen Jahren vermag kein Urteil darüber zu haben.«
Sie fand keine Antwort, denn ihr sicheres Urteil, ihre junge Weisheit, ihr natürlicher, klarblickender Abscheu gegen alle Formen der Lüge, selbst ihre etwas spöttische Heiterkeit, beschützten sie zwar hinreichend, vermochten ihr aber kein bestimmtes Argument zu liefern. Übrigens machte sie sich bisweilen Vorwürfe, daß sie ungerecht gegen den Neuling sei, der wahrscheinlich weder besser noch schlechter war als irgend einer seiner Gefährten, und sie strengte sich sehr an, um ihre Furcht zu überwinden, ihm die gleiche Güte, die gleiche zarte Menschenliebe zu erweisen. Doch dieser verdächtige Unbekannte, dieser schlechte Mensch, dessen Lüge sich in der Tiefe seines bleichen Blickes regte wie ein Strandgut in stehendem Wasser, begnügte sich im Gegensatze zu allen andern, mit Ausnahme eines Einzigen, der nicht mehr am Leben war, nicht damit, dem Zauber zu unterliegen, sondern er suchte seine geheimen Ursachen zu ergründen. Welches wahrhaft reine Herz schützt sich nicht von selbst gegen die Neugier eines Freundes? Aber welch unerwartete Prüfung ist es erst, wenn man sich von dem erraten fühlt, den man verachtet?
Denn sie hielt sich sogleich für erraten. Das kam von der naiven Unkenntnis ihres eignen Innenlebens, das sie für zu bescheiden und zu schwach hielt, um sich lange der Neugier irgend eines Menschen zu erwehren. Und dann: was lag schließlich daran, erraten zu sein? Diese geduldige, beharrliche, unerklärliche Neugier, die sie allein kannte, die so geschickt war, daß sie nichts davon hätte angeben können, ohne sich lächerlich zu machen, und so verstohlen, daß sie sie nur unversehens und zufällig ertappte, die berechnete Wachsamkeit, – ja, diese Neugier war es, deren Verrat sie dunkel spürte. Von der Begierde, selbst von der eines solchen Menschen, verfolgt zu werden, hätte sie nicht so sehr erregt, denn in diesem alten lateinischen Lande hält sich auch das harmloseste Mädchen nie ganz für bar an Hilfsmitteln und an Geist, und das sanfte Beichtkind des Abbé Chevance hätte sich leicht und mit jenem boshaften Stolze, den jedes Weib unserer Rasse von seinen Großmüttern geerbt hat, aus dieser Verlegenheit geholfen. Aber die Begierde ist nicht so ruhig, so aufmerksam und vor allem nicht so unbekümmert darum, zu gefallen. Was sie in seinen kalten Augen las, war vielmehr jene Neugier, die man im Blick von Tieren sieht, die dressiert oder von ihrem allzu nachsichtigen Herrn verwöhnt sind, wenn sie ihre freien und glücklichen Gefährten von fern auf der Straße wittern. Was betrachtete er wohl so mit Neid? Was suchte er, das sie ihm hätte geben können? Oft hatte sie über ihre Befürchtungen gelacht und hielt sie dann für unsinnig; war sie doch unfähig, sie zu begründen, noch selbst sie in vernünftigen Worten auszudrücken. Sie fühlte, wie ein Netz, das klüglich Garn für Garn gesponnen war, sich um sie zusammenzog, – und nicht um sie allein, denn sie hatte das unbestimmte Bewußtsein, daß andere, Schwächere, schon in das gleiche Netz gegangen waren. Wie gern hätte sie sie beschützt!
Nach Verlassen des Klosters, als Herr de Clergerie von seiner Tochter verlangte, daß sie sein Haus führte, wußte er nicht, welche schwere Pflicht er auf solche Schultern lud, noch daß die tägliche Beaufsichtigung von sechs bis sieben Dienstboten, die auf gut Glück angenommen und ebenso entlassen wurden, eine harte und gefährliche Schule für ein siebzehnjähriges Kind ist, das nie ganz von seiner eignen Unschuld getäuscht und durch das, was es errät, öfter und schmerzhafter verletzt wird als durch das, was es weiß. Aber sie hatte sich auf ihre Weise geschützt, durch sinnreiche Güte, ohne Geräusch, ohne sichtbare Anstrengung, die Aufmerksamkeit hätte erregen, ihr Lob oder Tadel eintragen können. Und jetzt schien es, als sei sie in die Falle dieser selben Güte gegangen, deren stets frischen, unversieglichen Zauberquell sie allein zu kennen gewähnt hatte. Dieser Unbekannte, der übrigens scheinbar ohne Tadel war, dem sie kein bestimmtes Vergehn, keine absichtliche, vorsätzliche Verfehlung nachweisen konnte, der schließlich für jedermann nur ein Lohndiener, das heißt ein Namenloser, ein Zugvogel war, dem so viel Beachtung zu schenken sie sich geschämt hätte, wenn sie minder rein gewesen wäre, – gerade der flößte ihr unter allen andern zum ersten Male die bange Furcht ein, sie sei ihrer bescheidenen Aufgabe nicht gewachsen, werde von dunkeln, erbarmungslosen Kräften bedroht, gegen die einfache Sanftmut nichts ausrichtet, besitze gegen eine gewisse, bisher unbekannte Bosheit nur eine Kinderwaffe, ein Spielzeug … Diese Furcht, die sie sofort mit allen Kräften ihrer Seele von sich wies, war übrigens ohne Bitterkeit und löste sich schließlich in Wonne, wenn sie, ärmer und einsamer denn je, unter diesen feindlichen oder verschlossenen Gesichtern ihre erhabene Hoffnung austeilte, verschwendete, sie mit vollen Händen hinstreute. Ja, die selige Erschöpfung ihrer Menschenliebe, ihre holde Not war damals so groß, daß sie sich eilends in ihr Zimmer flüchtete, die Tränen niederzwang und wie trunken von Ermüdung und Flehen, während ihre Lippen noch ein Gebet sprachen, das sie nicht mehr hörte, die Augen auf ihr Kruzifix geheftet, langsam in Schlaf zu sinken, dann plötzlich hineinzustürzen glaubte … Und doch sank sie nur in Gott.
So hatte er sie eines Tages gesehn, er, jener Fremdling. Er steht neben ihr, mit verstörten Zügen und ausgestrecktem Arm, denn er hatte soeben ihre Schulter berührt … Wie spät ist es? Das Fenster ist nächtlich, der Flur leuchtet hinter der halboffnen Tür. »Wie kommen Sie hierher?« fragt sie. »Warum?« Umsonst sucht sie nach Worten, einem Schrei der Entrüstung, des Zornes; sie findet nur stumpfe Überraschung. Er wendet seinen Blick nicht ab; sie liest darin keine kränkende Neugier, keine Überraschung, die der ihrigen gleich käme, aber trotz seiner erstaunlichen Ruhe eine Art von tückischer Mitschuld, die darauf brennt, sich einzugestehn, die im Begriff ist, es zu tun … »Wie kommen Sie hierher? … Wer hat Ihnen erlaubt …?« – »Es ist schon lange angerichtet. Ich hatte nicht die Absicht einzutreten; die Tür war nur angelehnt. Sie suchen das gnädige Fräulein im Park, haben sogar den Gärtner zu dem kleinen Arnold geschickt.« Am ganzen Leibe zitternd, hat sie sich aufgerichtet und stammelt: »Ich … ich war eingeschlafen.« Da blickt er sie lange, zu lange an, mit einem Vorwurf – ja Vorwurf – in seinen lügnerischen Augen. »Ich hab' es gut gemeint. Gnädiges Fräulein mögen selbst urteilen. Man hätte Sie finden können … Niemand würde verstehn … Sie würden nicht verstehn … Es sind ja nur Tiere, glückliche Tiere. Gnädiges Fräulein mögen sich in acht nehmen, wenn Sie mir glauben wollen. Ich weiß … Nur die Engel schlafen wie Sie, auf diese Weise. Gestatten Sie mir: ich sah in Gutschiwo eine orthodoxe Nonne, eine Tochter Gottes, die Ihnen glich. Unsere Russen hatten ihr die Beine zerbrochen. Sie lag am Boden vor dem Ikon, fast, nackt, seit Tagen ohne Speise und Trank, in den Himmel entrückt, ein holdes Wunder, ein Kindermärchen, weißer als Schnee. Ich glaube nicht an Gott, aber wie sollte ich nicht an diese Weiße glauben, sie nicht lieben? Denn es gibt in dieser schwarzen Welt Weißeres als man glaubt. Übrigens rede ich hier Worte, die ich gewiß nicht vor Ihnen zu reden habe. Doch ich kann nicht anders, – entschuldigen Sie, – damit Sie wenigstens wissen, wer Ihre Geheimnisse erfahren hat, nicht heute erst, sondern schon seit Wochen, weil es bei Ihnen vorkommt … vorgekommen ist – was soll ich sagen? – Kurz, dies, diese Sache ist in meinem Beisein geschehn, ohne daß Sie es wußten, früher eine Minute lang, nur eine Minute, einen Augenblick, jetzt aber so häufig, daß ich mich frage, durch welches Wunder (denn ein Wunder kostet Ihnen nichts) die Leute, so dumm sie auch sind, nichts merken …«
Dann hatte er sich sehr tief verbeugt und war hinausgeschlüpft, ohne auf eine Antwort zu warten. Er hatte die Tür absichtlich weit offengelassen, damit das Licht sie vielleicht völlig wachriefe … Erst viel später hatte sie seinen gedämpften Schritt, die fernen Stimmen gehört, und als sie sich bleich vor Scham umwandte, hatte sie im Spiegel ihre Augen gesehn, riesengroß, dunkel, nicht wiederzuerkennen … Ihre Augen? War es nicht vielmehr ein anderer Blick, den sie nur zu wohl kannte, kaum zu ertragen durch seine finstere Starrheit, in der ein gestaltloser Traum ohne Farbe und Umrisse schwebt, die Leiche eines Traumes, ein verwester Traum? Jawohl, das waren die Augen ihrer Großmutter, ihre eigenen Augen! Der Blitz der Angst zuckte durch ihre Brusthöhle, leuchtete bis in die letzte Fiber hinein. Von allen Schlägen, die sie hätte fürchten, erwarten können, war dieser der härteste, unerwartetste, unabwehrbarste. Die ungemeine, übernatürliche Einfalt ihres Lebens, ihre demütige Frömmigkeit, ihr naiver Abscheu vor Verwirrung, Unordnung, vor allem, was die lautere Klarheit der Worte, Handlungen und Absichten trüben kann, die standhafte Weisheit, die bewegliche Vernunft, die der alte Priester so behutsam und liebevoll herangebildet hatte, – nichts bereitete sie auf diese außerordentliche Prüfung vor. Zweifellos hatte der Wahnsinn ihrer Großmutter, jene wunderliche, stille, von Lichtschimmern durchsetzte Umnachtung, ihre Jugend grausamer gezeichnet, als sie zu wähnen gewagt hätte. Der Zweifel, der in ihrem armen, noch in die Ekstase getauchten Hirn aufkeimte, bohrte sich wie ein Eisen just in den verletzten Punkt, drang mit einem Schlage so tief, daß sie nicht mal auf den Gedanken kam, das einzige Zeugnis eines Unbekannten zu bezweifeln oder auch nur zu erörtern. Weder die Worte noch die gleich verdächtigen Absichten dieses Menschen, seine ruhige Frechheit, seine Dreistigkeit beschäftigten sie einen Augenblick; sie war nur empfänglich für die niederschmetternde, ungeheuere Ähnlichkeit eines Alptraums, dessen tragisches Zeichen sie noch im Spiegel erblickte. »Wir sind Nervöse, wir sind große Nervöse«, pflegte Herr de Clergerie zu sagen, um seine schlechte Verdauung zu rechtfertigen und weil er für die neumodische Psychiatrie schwärmte … Übrigens hatte ihn der Pater de Riancourt, sein früherer Seelsorger in Sacré-Coeur, ehedem vor einem kindlichen Mystizismus, einer zu zärtlichen Frömmigkeit gewarnt und ihn sogar davor erröten gelehrt, indem er auf die Gefahr einer gewissen Prahlerei hinwies, die zu verachten sie selbst bereits allzusehr geneigt war. W7ie hatte der Abbé Chevance sie seitdem doch beruhigt! Wie hatte er es verstanden, ihre Bedenken zu zerstreuen, sie mit leichter Hand zu lösen, sie selbst wieder sacht auf den Weg zu bringen, einen kleinen, sichern, verschwiegenen Weg, der niemandes Neid erregt! Gewiß hatte sie ihren gebrechlichen Frieden nur der zarten Sorgfalt des alten Priesters zu verdanken. Schon am Totenbett dieses Gerechten hatte sie sich, wenn auch nicht schon in Auflehnung gefühlt, so doch sich selbst entrissen, durch irgendetwas sehr Ernstes, sehr Starkes versucht, ein völliges Opfer, o Hirngespinst! Und seitdem …
»Ich war um fünf Uhr hier«, sagte sie sich, ohne daß sie gewagt hätte, ihren Blick von dem Spiegel abzuwenden, als hätte sie gefürchtet, dadurch den Beweis, den einzigen, entscheidenden Beweis für ihr schreckliches Erlebnis zu verlieren. »Ich hatte Großmutter gerade ihren Tee und ihre gerösteten Brötchen gebracht. Jetzt ist es halb neun Uhr … Trotzdem bin ich sicher, daß ich nicht geschlafen habe … Und ich kam eben wieder zu mir, als er mich an der Schulter berührte, am gleichen Fleck, mit gekreuzten Armen. Ist's möglich!« Ihre Muskeln zogen sich noch so schmerzhaft zusammen, daß sie die Beine nicht bewegen konnte; sie hatte Angst zu fallen. Ihr kläglicher Blick, verdunkelt und ungewiß, sobald sie die Augäpfel bewegte, ward von zuckenden Blitzen gestreift. »Nie und nimmer komme ich allein die Treppe hinunter! Sie werden herkommen, mich so finden.« Ihr fiel ein, daß der Dr. Michaud erzählt hatte, ihre Mutter habe wenige Wochen vor ihrem Tode, auf der höchsten Stufe nervöser Erschöpfung, an Anfällen von Lethargie gelitten, offenbar an den gleichen wie sie jetzt oder doch solchen von gleicher Art. Obwohl die unvergleichliche Freude sich noch in der Tiefe ihres Herzens regte, hätte sie nicht eine Minute daran zu denken vermocht, der eben gemachten Entdeckung einen weniger demütigenden Sinn zu geben. Nur zu wohl kannte sie die Trefflichkeit von Gottes Gaben, ihre Seltenheit. Und ebenso gut kannte sie deren grobe Fälschungen, die den redlichen Abbé Chevance so stark beunruhigt hatten, von denen er stets mit solcher Verachtung – vielleicht zu verächtlich – sprach: die Trugbilder, die halb ehrlichen Haltungen, und, was noch schlimmer ist: die noch geheimeren, halb geistigen, halb fleischlichen Mängel, da, wo Körper und Geist ineinander übergehn. Die Wissenschaft hat sie ernst klassifiziert und katalogisiert, hat zu ihrer Benennung den Garten der griechischen Wurzeln geplündert, und doch waren sie den alten niederländischen Mystikern des 12. oder 13. Jahrhunderts schon ebenso vertraut, obwohl sie der seltsamen Gelehrsamkeit Siegmund Freuds nichts verdankten. Sie war auch zu schlicht, zu gleichgültig gegen sich selbst, zu gut beschützt vor einer ersten Regung der enttäuschten Eigenliebe, um auf den Einfall zu kommen, den schwarzen Engel als Dritten in ihr klägliches Abenteuer hineinzuziehn. Zudem hatte sie nie viel nach dem Teufel und seinen Künsten gefragt; war sie doch sicher, ihm durch ihre eigene Winzigkeit zu entgehn. Denn der, dessen Geduld so viele Dinge durchdringt, der riesige, stiere Blick, dessen Begehrlichkeit ohne Maß ist, dessen Haß selbst Gottes Glorie anfrißt, bohrt ja seit Jahrhunderten vergebens mit all seiner Ungeheuern Aufmerksamkeit, dreht in seinen Glutpfannen umsonst die sehr reine, sehr keusche Demut wie ein unveränderliches Steinchen.
Das war für sie, wer weiß? dieser kurze Augenblick. Nur in völliger Verwirrung des Herzens und der Vernunft läßt sich ein hochherziger Wille durch eine Seelenerregung überrumpeln, die stärker ist als sein Schrecken. Das arme Kind glaubte zu begreifen, daß sie verloren war, wenn sie nicht sofort diesen Zauberkreis durchbrach. Sie beugte sich noch dichter über den Spiegel, legte die Ellbogen auf den Marmor und bemühte sich, noch an allen Gliedern zitternd, zu lächeln, lächelte ihrem bleichen Ebenbild zu. Dies tragische Gesicht, von der Angst gespannt, flößte ihr weniger Mitleid als Widerwillen ein. »Ich muß einen Entschluß gefaßt haben, ehe ich hinuntergehe«, sagte sie ruhig. »Ich muß einen Entschluß fassen, jetzt oder nie … Zunächst bin ich lächerlich … Diese Geschichte ist lachhaft …« Sie entsann sich einer früheren Versuchung, die sie dem Abbé Chevance unter vielen Tränen anvertraut hatte. Er hatte ihr lächelnd zugehört, genau so, wie sie eben sich selbst zugelächelt hatte. Dann hatte er sehr sanft gesagt: »Gehn Sie speisen. Es ist sieben Uhr. Lassen Sie Ihren Vater deswegen nicht warten.« Und sie hatte ihn in Frieden verlassen. »Warum einen Entschlußfassen? Ich werde gar keinen Entschluß fassen! Wozu auch? Es ist auch jetzt Essenszeit!« Sie kannte die reizende Antwort Ludwigs von Gonzaga an seine kleineren Gefährten, die sich in der Erholungsstunde gegenseitig fragten: »Was würden wir tun, wenn man uns das Ende der Welt für die nächste Viertelstunde ankündigte?« – »Ich möchte diese Partie Mühle zu Ende spielen«, sagte er … Das Blut pochte von neuem in ihren Schläfen; sie rieb sich mit den Spitzen ihrer dünnen Finger die Wangen, damit sie schneller rot würden. »Es ist nichts, vielleicht weniger als nichts. Es hat mich nur sehr gedemütigt. Ich hielt mich noch für zu weise. Was liegt Gott an einer Zerschlagenheit mehr oder weniger? Es ist gut, in seinen Händen schwach zu sein … Es ist besser, schwach zu sein. Und wer ist schwächer als ich jetzt? Ich darf nicht mehr hoffen, mich allein zu leiten, buchstäblich. Ich bin diesem Russen preisgegeben!« Sie versuchte zu lachen, doch sie hatte sich in diesem Augenblick zu viel zugemutet. Blitzhaft sah sie den Unbekannten wieder vor sich stehn, mit seinem verdächtigen, mitschuldigen Blick. Ihr Schamgefühl war so herzzerreißend, daß sie einen Schrei erstickte. »Es ist meine Schuld«, stammelte sie, während ihre Finger an der Puderquaste zitterten. »Man muß alles vorhersehn, auch das Schlimmste, sich im voraus damit abfinden und nicht mehr daran denken. Nun also, was geschehn ist, ist geschehn. Natürlich, es ist nicht so leicht, wie man denkt, die Schlichtheit seines Lebens zu wahren, aber die Schwierigkeiten kommen stets von draußen. Die Schlichtheit kommt von innen. Was kann ich Einfacheres tun als die Leute beruhigen und zum Essen zu gehn? Jetzt kann ich mich wieder zeigen. Zum Glück hat Annette ihr Rot hier gelassen. Ich bin geschminkt wie eine Tänzerin … Wenn nur Großmutter und Franziska nichts merken! Sie gleichen sich beide ein wenig: sie haben ein Auge auf jeden von uns und sind auch nicht so nachsichtig. Donnerstag will ich dem Dekan von Idouville mit Gottes Gnade alles gestehn. Er wird sagen, ich hätte geträumt, ich sei närrisch, der arme Abbé Chevance habe mir den Kopf verdreht. Um so schlimmer! Das ist immer noch besser als Gott mit Nervenanfällen und Ohnmächten zu beehren wie die Wahnsinnigen und dem Nächsten Ärgernis zu geben … Ein holdes Wunder, ein Kindermärchen, weißer als Schnee? Wie abscheulich!«
Sie wankte bereits die Treppe hinunter, krampfte sich mit ihren kleinen Händen so fest an das Geländer, daß sie sich auf jeder Treppenstufe Zwang antun mußte, um die Finger zu öffnen. Durch die Tür des Vestibüls schlug der gedämpfte Lärm der Unterhaltung seltsam verstärkt an ihr Ohr. Sie sprach noch immer mit sich selbst, ganz leise, fast zärtlich, wie man ein Kind oder einen Irren beschwichtigt. War sie jetzt völlig aufrichtig? Verurteilte sie jetzt mit aller Härte, verwarf sie ohne Reue für alle Zeit, was seit so vielen Wochen – das fühlte sie jetzt deutlich – ihre geheimnisvolle Nahrung gewesen war? »Mißtrauen Sie allem, was verwirrt!« Das so oft wiederholte Gebot ihres alten Freundes, des Abbé Chevance, hallte noch in ihrem Herzen wider. Nichts gleicht an Tiefe der ersten Auflehnung einer reinen Seele gegen die Unternehmungen des Geistes. Daß sie verwirrt war, es seit langem unbewußt gewesen war, daran konnte sie jetzt nicht zweifeln. Was soll man mehr verlangen, wenn selbst der Körper die Schwäche des Wesens bezeugt? Sie war zu klug, um sich zu eiteln Skrupeln hinreißen zu lassen, die ihre Ketten nur enger geschnürt hätten. Sie hatte nur den Wunsch, ihre tägliche Aufgabe wieder auf sich zu nehmen, einfache, bestimmte, wirkliche Pflichten zu üben, in das gedemütigte Leben zurückzukehren, die allgemeine Zufluchtsstätte, den einzigen Ort, der den Heiligen wie den Sündern offensteht, wo sie Ruhe empfand wie ein im Gewitter verlorenes Schaf … Aber während sie langsam auf das Licht und die Stimmen zuschritt, kam ihr wieder der Gedanke an die Einsamkeit, der sie wider Willen entgegenging, in der sie ohne Zweifel sterben würde, kam mit solcher Gewalt, daß sie naiv stehn blieb, als hätte ihr armseliges Geschick von diesem Schritt abgehangen. Ach, es war nur allzu wahr! Sie war nur eine Kranke, eins jener armen Wesen, die sich durch Fleisch und Blut verraten, die die Neugier der Psychiater unterhalten und von denen die wahren Mägde Gottes weniger mit Mitleid als mit Abneigung sprechen. Was blieb ihr denn noch zu eigen? Nicht mal ihr Gebet, nicht ein einziger Schlag ihres Herzens. Dieser Gedanke ging ihr durch und durch, sie fühlte buchstäblich sein blendendes Zucken. Sie besaß nichts mehr, was sie künftig Gott ohne Furcht, ohne Vorbehalt, selbst ohne Scham darbringen konnte. Die Vollständigkeit, die Unübertrefflichkeit dieser Entblößung, die Allmacht Gottes über eine so klägliche Armut, die Gewißheit der fast völligen Abhängigkeit von dem, was die Menschen Zufall genannt haben, und was doch nur eine der geheimsten Formen des göttlichen Mitleides ist, das alles trat miteinander vor sie, um sie mit liebevoller Traurigkeit zu überfluten, aus der plötzlich die strahlende Freude hervorschoß … Da floh sie dem Licht und den Stimmen entgegen, blieb nur auf der Türschwelle stehn, legte eine Hand auf ihre junge Brust und stand mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen so hell da, daß Herr de Clergerie ausrief: »Ich habe keinen Mut, dich zu schelten. Wie gleichst du doch ihr! Wie gleichst du deiner Mutter! Der lange Schlaf hat dir wohlgetan.«
Als jedoch Ferdinande allzu bitter klagte, sie sei schuld daran, daß ihr Essen verpfuscht sei, eilte sie lachend nach der Küche und aß nochmals von dem Schokoladenauflauf.
. . . . . . .
Seit jener entscheidenden Nacht waren Wochen verstrichen, so kurz wie Tage. Sie hatte mit niemandem gesprochen, nicht mal mit dem Dekan von Idouville. Die Nachricht von dem bevorstehenden Besuche des Abbé Cénabre, der seit vier Monaten fern von Paris weilte, hatte sie bestimmt, bis zu seiner Ankunft zu schweigen. Sie hatte ihn seit dem Tode des Abbé Chevance nicht mehr sehn können, zum großen Leidwesen ihres Vaters, der seine Tochter nicht für zu unwürdig hielt, sich von diesem starken Geiste leiten zu lassen. Sie selbst hatte gewiß kein Vorurteil gegen den berühmten Biographen Taulers. Übrigens kannte sie ihn kaum, obwohl er in dem Stadthause in der Rue de Luynes oft erschienen war und sie stets mit einer Art von strengem Wohlwollen behandelt hatte, dessen Höflichkeit sie zu schätzen wußte, denn Vertraulichkeit war diesem so schlichten jungen Mädchen verhaßt. Von seinen Büchern kannte sie nur die Titel, aber trotz des Geredes oder des boshaften Klatsches empfand sie eine dunkle, etwas ängstliche Sympathie für einen Mann, der allein und frei, vielleicht auch arm, in scheuer Unabhängigkeit lebte. Warum war der Name seines alten Mitschülers, den er in ihrer Gegenwart so selten aussprach, im Todeskampfe so oft auf die Lippen des Abbé Chevance getreten? Vertraute er ihm im Geiste seine Tochter an, wie Herr de Clergerie es noch annahm? … »Ich sollte ihn lieben«, sagte sie sich.
Heute Abend sollte er eintreffen und eine Woche lang bleiben. Statt jedoch wie sonst die Gelegenheit, die stets zur Zeit kommt, die gütige Hilfe Gottes in Ruhe abzuwarten, hatte sie sich wegen einiger Worte aufgeregt, die Ferdinande aus Bosheit oder Dummheit entschlüpft waren: » Man wird hier außerordentliche Dinge erleben, Fräulein, Dinge, wie man sie nicht in den Büchern findet.« Warum? Ist für solche Dinge wirklich Platz in einem Familienhaus, wo alles an die Kindheit gemahnt, und an einem schönen Sommertage? In Paris mag es noch hingehn, aber hier? Und welche Dinge? »Wie nervös ich bin, wie unruhig; es ist eine Schande. Außerordentlich ist zunächst ein sinnloses Wort, eins jener Worte, von denen der Abbé Chevance zu sagen pflegte, sie seien dem Menschen wohl nicht von Gott im Paradiese gegeben worden, sondern Adam habe sie jenseits der sieben Ströme durch die tägliche Erfahrung im Kampfe mit dem Unglück gelernt. Nichts ist außerhalb der Ordnung, alles kehrt in Gottes Ordnung zurück. Und dann: ist man denn je allein? Kann man Angst haben? Wovor?« – »Ihr Vater mag mich wegschicken, an Vorwänden fehlt es nicht«, hatte jener Mann gesagt. Wozu? Nachdem die erste Überraschung besiegt war, empfand Chantal ihm gegenüber ebensoviel Abscheu wie Mitleid. War er wirklich so verschieden von seinen Vorgängern oder seinen künftigen Nachfolgern, so vielen verdächtigen und dreisten, frechen und zugleich knechtischen Fremden, die dem Hausherrn eine Woche gefielen und eines Morgens weggingen, wie sie gekommen waren, mit haßerfülltem Blick, Stoppelbart, kurzem Kittel und gelben Stiefeln, einen Leinwandkoffer in der Hand? Hatte doch ihr Vater, gerade wie es ihm einfiel, und auch aus geheimem Haß auf die französischen Diener, ein spottsüchtiges Geschlecht, abwechselnd knochige, langbeinige Tschechen, geschorene Polen, einen vom Nuntius empfohlenen Ungarn, ja sogar einen levantinischen Griechen angestellt, der verdächtiger war als alle andern mitsamt, und der mit einem Torpedowagen geräuschlos verschwunden war. Dieser Russe sprach wenigstens nicht viel, obwohl er es mit außerordentlicher Geschicklichkeit mehrfach verstanden hatte, seine junge Herrin zu jenen doppelsinnigen Gesprächen voll heimtückischer Anspielungen zu zwingen, durch die zwei Menschen, die miteinander reden, auf die Dauer zu zwei Mitschuldigen werden, zu Mitwissern des gleichen Geheimnisses. Beim erstenmal hatte sie vor Scham zu vergehn geglaubt … War sie nicht vor allem ein junges Mädchen? »Gott macht gut, was er macht,« sagte oft der zukünftige Akademiker, »eine andere als du, leichtblütiger zum Beispiel, romantischer … hätte nicht so leicht die mütterliche Hut entbehrt. Ach!«
Nein, es war weder er noch ein anderer, weder dies mäßige Abenteuer noch selbst die seltsame Angst, die sie jetzt vor ihrem eignen Blick hatte, vor ihrem bleichen Mund, ihren oft zitternden Händen, kurz vor ihrem ganzen Körper, diesem komplizierten Apparat aus Fleisch, Blut und Nerven, dessen Gehorsams sie fortan nicht mehr sicher war, diesem heimtückischen, gedemütigten, schwermütigen Tier, dem sie ihre Heiterkeit, Glauben, Hoffnung und Menschenliebe aufzwang wie einen goldenen Zügel. Zehnmal, vielleicht zwanzigmal war sie fast dem Schwindel erlegen, war bis an den Rand des Lichtabgrundes gerollt und hatte ihr Gebet nur unter unerträglicher Anstrengung richtig beendet. Aber war sie nicht unbewußt gefallen? »Geben Sie vielmehr gütigst zu, daß das, was Sie so sehr verbergen möchten, ohne mich schon bekannt wäre. Noch gestern …« So hatte er noch eben gesprochen und dann geschwiegen; das war der Sinn seines kaltblütigen Lächelns. Diese rätselhaften Worte verglich sie mit Ferdinandes blöder Prophezeiung. » Außerordentliche Dinge, Dinge, wie man sie nicht in Büchern findet …« Wie doch! Der Teil ihres Lebens, den sie in Gott verbergen wollte, in Gott allein und für immerdar, sollte zugleich mit dem armseligen Geheimnis ihres erblichen Leidens wie zum Spott dem Gerede, der Neugier der Küche ausgeliefert werden! » Wunder, wirkliche Wunder, die von Ihnen abfallen wie Blumen.« »Ich errege Anstoß bei ihnen«, dachte sie. »Derart spottet man Gottes.«
Warum, durch welches Wunder erschloß diese höchste Angst, sobald sie aufhörte, darüber nachzudenken, sich ihrer zu erwehren, in ihr einen frischern, reinern Quell, als hätte sie den Wesensgrund ihres Trostes in der Vorstellung von der völligen, unheilbaren Not, dem Schwinden aller menschlichen Hoffnung, einer blutigen Enttäuschung gefunden? In ihren eignen Augen lächerlich zu sein, das zerriß die letzten Bande der Eigenliebe, befreite sie. »Ich war zufrieden, daß Gott selbst sich die Mühe gemacht hat, mich so sorgfältig zu entblößen, daß ich unmöglich ärmer hätte werden können. Ich komme mir vor wie ein Unglücklicher, der nur noch ein paar Heller in der Tasche hat und plötzlich merkt, daß gerade diese Heller außer Kurs gesetzt sind.«
Ein Wolkenschatten verdüsterte nacheinander die ersten roten und grünen Glasscheiben der Veranda, dann erloschen alle zumal, und der weite Garten dahinter erschien farblos. »Ich träume hier seit zehn Minuten,« dachte sie, »das ist unsinnig. Werde ich mich entschließen, hineinzugehn oder nicht? …« Durch die Tür hörte sie das leichte nervöse Husten ihres Vaters, sogar das regelmäßige Eintauchen der Feder in das Kristalltintenfaß. »Hätte ich Mut, ich müßte ihm vielleicht jetzt gleich alles gestehn. Habe ich ein Recht, derart seit Wochen zu verbergen, daß ich krank bin? Ist es nicht recht und billig, daß er selbst es vor dem Abbé Cénabre, einem Fremden, erfährt? Denn ich mag tun und sagen, was ich will, man muß die Dinge doch sehn, wie sie sind. Was? Krank sein ist doch keine Gewissenssache!« Und sie trat ein.
Herr de Clergerie erhob seine gerunzelte Stirn hinter einem Wall von Büchern und Zetteln.
»Na, es ist vielleicht schon eine Viertelstunde her, daß ich dich im Vestibül umherhuschen höre wie eine Fledermaus. Wie sonderbar! Wenn ich von Anstrengung erschöpft und in meine Schlaflosigkeit zurückgesunken bin, bemerke ich sofort eine außerordentliche Überreizung des Gehörsinns. Ich will diese Wahrnehmung dem Professor La Pérouse mitteilen. Warum lachst du?«
»Mein Gott, um nichts! Weil mich bei dem bloßen Namen des Professors La Pérouse das Lachen anwandelt: Jean François de Galaup, Graf von La Pérouse, Kommandant der »Boussole« und des »Astrolabe«, und von den Wilden der Insel Vanikoro gefressen.«
»Nun, nun, Chantal …«
»Und dann, verzeih mir, aber alle Theorien des Professors La Pérouse, ob wahr oder falsch, haben gegen deine Migräne nichts ausgerichtet. In Paris sahst du besser aus.«
»Findest du? Oh, ich mache mir keine Illusionen: diese Theorien über die Einflüsse auf die Nerven, über die kosmischen Wellen, die Erdstrahlungen, diese neuen Behandlungsmethoden, bei denen der eigentliche Arzt dem Chemiker das Feld zu räumen scheint … Ich bin etwas verwirrt, ich gestehe es. Vielleicht sollte ich es mit Homöopathie versuchen. In Dingen der Wissenschaft sind wir naiv. Der namhafteste Mann unter meinen Altersgenossen könnte bei einem Oberprimaner in die Lehre gehn; das ist lächerlich. Und doch ist der Humanist, ein richtiger Humanist, der in den guten Methoden der grammatischen, juristischen oder historischen Exegese erzogen ist, befugter als irgendwer zur Lösung dieser großen Probleme. Mein alter Lehrer Ferdinand Brunetiere hat es genügend bewiesen! Wie nennst du zum Beispiel einen spiralförmig gewundenen Kupferdraht?«
»Aber … nun, es ist ein spiralförmig gewundener Kupferdraht, das genügt.«
»Ich frage dich nach dem wissenschaftlichen Namen, der mir entfallen ist.«
»Ein Solenoid, wenn du willst.«
»Das ists! Solen – Röhre, eidos – Form …«
»Und es heißt so bei offenem wie bei geschlossenem Stromkreis. Ich hielt mich nicht für so gelehrt. Doch beim Abiturium hatte ich einen fabelhaften Examinator, der die Sache sportmäßig betrieb. Er sagte zu mir: Entwickeln Sie mir die Theorie der Dynamomaschine.«
»Du bist zeitgemäß. La Pérouses Idee ist anscheinend sehr sinnreich. Selbst Duval gibt das zu. Mir als Laien erscheint sie … wie soll ich sagen? … bizarr. Kurz, es handelt sich darum, den Nervus sympathicus dem Einfluß unbekannter, aber tatsächlich vorhandener Strahlungen zu entziehen. La Pérouse schlägt daher vor, den Kranken – vor allem den unter Angstzuständen Leidenden – ins Innere eines spiralförmig gewundenen Kupferdrahts zu setzen, der ein schützendes Solenoid mit offenem Stromkreis bildet und den kosmischen Strahlungen gegenüber als Isolator wirkt.«
»Er schlägt vor! …«
»Jawohl, du findest das lächerlich. Trotzdem hat er Resultate erzielt – allerdings auf einem ganz andern Studiengebiet. Er hat die vegetabilischen Schwellungen des Storchschnabels, eine Art Krebs, geheilt. Zucke nicht die Achseln! Der Storchschnabel ist keine Pflanze, die nur in den Laboratorien dieser Herren wächst, wie du glaubst: er ist einfach das Geranium.«
»Meine armen Geranien! Wollen sie nicht mal unsere Blumen in Frieden lassen?«
»Das ist der Standpunkt des Dichters. Mein armes Kind, glaube nicht, ich nähme diese Spekulationen des Geistes tragisch. Sie verwirren mich bloß. Das Paradoxe von gestern ist die Wahrheit von morgen. Die alten Leute wie ich wehren sich umsonst und murren: sie müssen sich anpassen; es hilft nichts. Das Alter kommt, die Krankheiten, Rheumatismus, Schlaflosigkeit, die schrecklichen Symptome nervöser Erschöpfung, was weiß ich noch? Am Ziel angelangt, wird das Leben kraftlos. Mit zwanzig Jahren geben wir stets dem Dichter recht, mit sechzig hat der Arzt niemals unrecht. Er besitzt das Geheimnis unserer Mißstände.«
»Welcher Mißstände, mein Gott! Wie froh wäre ich, alt zu sein! Ach, ich wollte, ich wäre ein altes Weiblein mit Brille und Stock, ganz nahe dem Kirchhof und seinem kleinen Grabe, ein Mütterchen, das mit seinen halbblinden boshaften Augen einen Wollstrumpf strickt.«
»Ja, ja, doch inzwischen singst du den ganzen Tag.«
»Es gibt so viele Alte, die singen! Man hört nur nicht darauf, das ist alles.«
»Du bist außerordentlich! Jawohl! Wenn ich dich nicht so gut kennte, hielt ich das für Ziererei. Sieh mal, mein Herzchen, jeder Mensch zeichnet sich einen Lebensweg vor, schlägt seine Laufbahn ein, wartet auf die Weihe eines höchsten, entscheidenden Erfolges: ein Amt, eine Stellung, einen Titel, bisweilen auf den Ruhm. Was mich betrifft, so mag kommen, was da will: ich habe dich wenigstens glücklich gemacht, deiner Jugend einen Zauber verliehen, sie zum Feste gemacht, zu einem schönen Sommermorgen wie dieser. Die Prüfungen werden bald genug kommen. Ach, hätte deine liebe Mutter das gewußt! Hätte sie zu lächeln verstanden! Dann wäre ich nicht, was ich bin. Ich hatte trotz schlechtem Anschein eine kräftige Gesundheit, die Gesundheit meines Vaters, eine bäurische, normannische Gesundheit. Aber auch ein so leicht erschüttertes Nervensystem. Da begreifst du, mein Kind, diese Trauer, ein langer Todeskampf, zwanzig Monate Trübsal … Warum weinst du?« fragte er naiv.
»Ich weine doch nicht!« rief sie, ihren hübschen Kopf schüttelnd. »Woraus schließt du, daß ich weine? Ach, du bist ein zu bequemer Vater. Ich möchte, du wärest strenger. Nein, es ist nicht leicht, dir etwas zu sagen … kurz, dir was anderes zu sagen, als was du im Augenblick gerade im Kopfe hast … Und du bist mir gar noch böse, daß ich zu heiter bin! Trotzdem hast du eben selbst zugegeben, daß ich für zwei habe lächeln müssen.«
Sie ließ ihren klaren Blick auf ihm ruhen, und mit einer Stimme, deren Tonfall und Seele er nicht erkannte, sprach sie:
»Es ist besser, ich mache so weiter.«
Wie einst – vielleicht am selben Fleck –, wie an andern Sommertagen, als ein Leben, hinfälliger als das einer Biene im Spätherbst, unter der Last seiner emsigen, kleinlichen Selbstsucht langsam dahinschwand, glaubte er das Unglück nahen zu fühlen, das kalte Eisen, und rechts oder links einen furchtlosen Haß, bereit, sich zu verdoppeln. Welcher neue Schlag sollte ihn treffen? Aber das war nur ein Blitz.
Seine Tochter war aufgestanden, schritt schon schweigend durchs Zimmer. Eine Hand emporhebend, lüftete sie die Vorhänge, blickte über die noch verdunkelten Rasenflächen auf den leuchtenden Garten, den Jeumont entworfen hatte, mit seinen Bosketten im Stil des zweiten Kaiserreichs, seiner etwas verwilderten Anmut, seinem Blumenbeet »Impératrice« und seinen Baumgängen, die in dem allzu harten Licht gelb und violett gescheckt da lagen. Durch die dünne Buchenhecke sah man die alte Dame, ganz schwarzgekleidet, mit kleinen Schritten Franziskas leichterem Schatten voranschreiten.
»Chantal,« sagte Herr de Clergerie in plötzlicher, seltsamer Sucht, sich zu erregen, zu entspannen, »manchmal mache ich mir Vorwürfe, daß ich dich vernachlässige. Im ganzen lebe ich einsam mit meiner Arbeit, mit meinen Verdrießlichkeiten – denn ich habe Verdruß, große Verdrießlichkeiten. Deine Großmutter kann mir zu nichts mehr nützen, die Ärmste! Zudem kennst du ja mein Vertrauen zu dir, meine Hochachtung – jawohl, Hochachtung – vor deinem frühreifen Verstand, deinem Urteil, deiner Rechtschaffenheit. Doch! Im Grunde brauchst du keinen Menschen: du wächst kerzengerade auf wie eine Lilie. Ich habe Erfahrung mit solchen Seelen, ich bewundere sie. Es kommt nicht in Frage, auf deinen Willen zu drücken. Zum Glück gehörst du zu denen, die sich die Leitung eines verständigen, frommen, aufgeklärten Priesters herrlich zunutze zu machen wissen. Deine Beschlüsse werden stets auf hohen, übersinnlichen Gründen beruhen … Welche Sicherheit gibt das einem Vater! Ich hegte die größte Hochachtung für den Abbé Chevance. Ich warf ihm bei seinen herrlichen Gaben nur eins vor, seine Unkenntnis der Welt, seine übermäßige Schüchternheit. Versteh mich recht: es handelt sich hier nicht um Erziehung, Manieren, was liegt daran? Ich hatte nur etwas Angst vor seiner Neigung zu Mittelwegen und daß es ihm im gegebenen Augenblick an Entschlossenheit, Festigkeit, Kühnheit gebräche. Er hat dich behandelt wie ein Kind. Leugne es nicht.«
»Ich leugne ja nichts. Ich weiß nicht. Sieh mal, Vater, sei gerecht. Hätte ich mehr über den Abbé Chevance gewußt als er über mich … Nun, dann hätte ich mir einen Leiter erspart … Aber ich will dir auch nicht verwehren, ihn zu bewundern: das macht dir ja so viel Vergnügen!«
»Ich bewundre ihn … Kurz, ich beneide dich. Man wirft mir ja gern vor, ich sei ehrgeizig. Gewiß! Es gibt berechtigten Ehrgeiz! So ist der meine. Nicht wahr? Du kennst ihn. Ich verlange von der Akademie nur die endgültige Weihe einer mehr als ehrenvollen Laufbahn, eines Lebens, das der Wissenschaft gewidmet war, dem selbstlosen Kult der Wissenschaft. Ein Mann von meiner Erziehung, meiner sozialen Stellung, der ein gewisses Vermögen besitzt, muß notwendig Rücksicht auf die Welt nehmen, auf ihre Gebräuche, ihre Vorurteile, wenn du willst. In den Augen eines Chevance, eines Cénabre – ich trenne die beiden nicht – erscheint diese Art von Pflichten als nichtig. Sie ist es aber weniger, als man denkt. Sie gebietet zahllose Opfer. Einen steten, heilsamen Zwang. Jawohl, heilsam! Eine Selbstzucht. Die Selbstzucht ist an sich schön. Das verdient deinen Respekt, mein Kind. Glaubst du, man könne sich leicht und mutwillig mit gewissen Zugeständnissen abfinden, die die Flachköpfe in ihrer gewohnten Härte nur zu rasch verurteilen? Zugeständnisse? Aber es gibt solche, die schwerer, verdienstlicher sind als manche Unnachgiebigkeiten, die übrigens durch die Bewunderung des Publikums hundertfach belohnt werden, denn das Publikum geht unwillkürlich mit dem Ja und dem Nein, den theatralischen Gebärden. Deine arme Mutter hielt sich einst für ein Opfer. Sie war noch so jung, dazu eine Provençalin. Eine Grasmücke im Mai, eine Dichterin, etwas Zartes, Singendes! Sie begriff nicht, daß auch ich mich opferte. Ich opferte mich im voraus dem Ziel, das ich mir gesteckt hatte. Nicht wahr? Jeder trägt sein Teil bei. Deiner Großmutter habe ich nichts vorzuwerfen. Sie hat mir alles gegeben, alles und jedes. Gott wird es ihr lohnen: sie war eine ungewöhnliche Frau. In ihrem verwirrten Verstande findet sie bisweilen noch ein vernünftiges, sinnreiches Wort, eine jener Bemerkungen, die ich mir zunutze machen kann. Man wird dir sagen, sie hätte nur mich geliebt, sei hart gegen alle gewesen. Allerdings hat sie mich verteidigt, wie sie ihr Haus, ihre Felder, ihre ganze Habe verteidigte. Auch sie mußt du achten, mein Kind. Mehr als ich. Daß sie deine Mutter ungerecht hat leiden lassen, wie Böswillige vielleicht behaupten werden, halte ich für ein Märchen. Wenigstens hat sie nie die leiseste Reue durchblicken lassen. Sie trägt dies Geheimnis, wenn es eins ist, mit wunderbarer Würde … Wirklich, um grob und volkstümlich zu reden, du hast nur gute und schöne Beispiele um dich gehabt.«
»Mein Gott, Vater,« rief sie und wandte ihm ihre halbgeschlossenen, vom Licht des Gartens geblendeten Augen zu, »wie ernst du bist! Und beredt! Ich bin jetzt sicher, daß du leidest. Doch!«
»Laß mich ausreden«, sagte er. (Sie bemerkte plötzlich die Blässe seiner Wangen und seiner Stirn.) »Ich habe das Bedürfnis, heute von dir zu hören, daß ich dich glücklich gemacht habe.«
»Ich werde es einmal statt hundertmal sagen! Sieht man das nicht zur Genüge? Nein? Oh, Vater, ich spreche im Ernst. Ich habe nie gehofft, eine tadellose Tochter zu sein, noch selbst eine sehr gute Tochter. Aber wenn du daran zweifeln könntest, ob ich glücklich war, so tauge ich noch weniger, als ich dachte …«
Er sah, wie ihre Hand sich krampfhaft um den Fenstergriff klammerte … und verwunderte sich.
»Bist du denn auch nervös? Du! … Und dann fahre doch nicht so zusammen, das tut mir weh. Ich muß meine Ruhe, mein kaltes Blut wahren. Nicht aus Selbstsucht, aus Notwendigkeit. Schlimme Naturanlage! Ich büße eine einzige Aufregung mit einer schlaflosen Nacht. Ist das richtig? Aber die Leute trauen nur dem Augenschein. Kurz, ich habe dich glücklich gemacht, das ist gut, ist die Hauptsache. Übrigens bist du ja leicht zufriedenzustellen, das gebe ich zu. Du hast den Sinn für Selbstverleugnung und Aufopferung, ich möchte sogar sagen, den Instinkt dafür. Welche Gnade Gottes! Seine Freude aus der Freude der andern zu schöpfen wissen, ist das Geheimnis des Glückes. Mit sieben Jahren, wenn du den Kuchenteller herumreichtest, geschah es, daß du dich selbst vergaßest, wie unabsichtlich, aus Zerstreutheit. Mutter sagte dann mit ihrem gesunden, etwas alltäglichen Verstande: »Sie ist wie ich, sie mag die Süßigkeiten nicht, das ist alles.« Doch ich wußte wohl, du liebtest sie, armes Herzchen! Ja. Du bist mit einem Nichts zufrieden. Dein Vater dankt dir dafür. Ich konnte alle meine Kräfte in den Dienst der täglichen Arbeit stellen, sie meinem Werk, meiner Laufbahn widmen. Hätte ich dich weniger geliebt, ich hätte deine Gegenwart vergessen. Diese Zeit ist nicht mehr. Sehnen wir sie nicht zurück. Seien wir verständig. Ich fürchte nur, der liebe Abbé Chevance hat dich nicht auf andere Pflichten vorbereitet.«
»Doch! Ich bin vorbereitet … Das heißt, er wünschte nicht, daß man seine Pläne zu weit spannt … (Ich glaube, ihn zu hören!) Oh, du weißt es, Vater. Gehorchen ist leicht! … Offenbar bin ich etwas lebhaft, etwas spöttisch, habe etwas Geist, amüsiere: das erweckt Illusionen. Und doch: halte mich nicht, nein, halte mich nicht für eins jener tatkräftigen, entschlossenen Mädchen, die den Punkt auf der Karte ein für allemal bezeichnet, den Weg gezogen und die Abweichung vom Kurse berechnet haben. Ich gehe nicht nach dem Kompaß! Man hat mir nur sehr einfache Anweisungen gegeben, offenbar weil ich nicht für die großen Reisen geschaffen bin. Ich darf niemals die Küste außer Sicht lassen … Auch ich habe Schmerzen. Vater, – freilich nach meinem Maßstabe. Immerhin sind es doch Schmerzen, nicht wahr? Ich trage, was ich vermag. Wenn du von meiner frühreifen Vernunft sprichst, so läßt das mich erstarren, mich auf der Stelle alt werden; ich glaube dann, ich habe Säckchen unter den Augen, Runzeln, schrumpfe zusammen. In Wahrheit tauge ich nicht viel, nein. Ich bin gehorsam, mache mir das, was man mir gibt, etwas zunutze, arbeite auf meine Weise, verstehst du? Oh, Vater, komm nicht auf den Gedanken, daß ich derart ohne Geheiß, ja ohne Vorbereitung, ohne Rat, mein Leben selbst gestalten soll wie eine mutige Amerikanerin. Gib dir noch etwas Mühe, Vater! Ich bin sicher, wenn du mich betrachten willst, – ja, wenn du dich ein paar Wochen mit mir beschäftigen willst, – würdest du mich weniger bewundern …«
Fast flüsternd setzte sie mit traurig-zärtlichem Lächeln hinzu:
»Doch du würdest mich vielleicht mehr lieben.«
»Geh, geh!« sagte er. »Du bist nicht nur verständig, mein Herzchen, du bist die Energie selbst. Sieh mal, gibt es wohl viele Mädchen in deinen Jahren, die imstande gewesen wären, unsern alten Voisinwagen auf der Straße nach Tantonville eines Abends auf mehr als 120 Kilometer zu bringen? So hat man es mir gesagt, nach dem Zähler berechnet. Selbst der Chauffeur war ganz aufgeschmissen.«
»Das war er wirklich, denn bei der Ausfahrt nach Liancourt saß er mit einer Panne fest. Der Motor sprang sehr gut an, doch nach hundert Metern versagte er, blieb stehn. Der Stumme war ratlos. Da fuhr ich rasch zurück, weil wir die Gräfin Walsh zum Souper erwarteten, entsinnst du dich? Doch ich langweile dich, du magst die Autos nicht. Der Abbé Chevance konnte sie auch nicht leiden.«
»Ich verstehe dich nicht. Diese Geschichten von dem ratlosen Stummen, diese Fahrten auf Leben und Tod, – und dann deine Unsichtbarkeit, deine Neigung zum Innenleben, deine lebhafte Frömmigkeit – halt, selbst dein plötzliches Verständnis für gewisse Kochkünste, mit denen du dich bisher nie abgegeben hattest … (Jawohl, um mir Freude zu machen, aus Gehorsam, ich weiß es, Kind! … Bedarf es dazu aber nicht doch wohl einer natürlichen Anlage, einer Neigung? …) Kurz, die Gegensätze verblüffen mich. Woher soll ich die Zeit nehmen, mich ernstlich mit dir zu beschäftigen? Ich habe Vertrauen. Ich brauche Vertrauen. Gib auch du dir etwas Mühe, mein Herzchen. Laß mich dich blindlings lieben. Welche Ruhe in so vielen Sorgen!«
»Nun also, Vater, dann blicke anderswohin. Was willst du? Ich bin sehr glücklich. Warum wechseln?«
»Warum wechseln? Als ob du nicht wüßtest, daß das Leben ein ewiger Wechsel ist, ein Wandern, ein dauerndes Wandern … Die Umstände … Oh, du wirst mir Gerechtigkeit erweisen … Ich habe keiner Leidenschaft nachgegeben … Ich habe es mir überlegt …« Er trocknete seine fahle Stirn.
»Dieser Augenblick ist einer der schmerzlichsten, die ich seit dem Tode deiner Mutter durchgemacht habe«, fuhr er fort. »Und dabei war ich damals noch weniger eindrucksfähig, weniger erschöpft, jawohl! Weniger erschöpft. Doch Schluß damit. Die Vorsehung hat mir in meiner Jugend eine Lebensgefährtin entrissen, die ich zärtlich liebte. Es gefällt ihr, mir in reifen Jahren mehr als eine Lebensgefährtin und Freundin zu geben, eine Bundesgenossin, eine geistige Verbündete. Ich habe um die Hand der Baronin von Montanel angehalten.«
Sofort schlug er die Augen nieder und versank gleichsam in das Schweigen, das zwischen beiden eintrat. Die fünf etwas vergilbten Nägel seiner rechten Hand spielten mit den Blättern des aufgeschlagenen Buches. Seine Ohren füllten sich allein mit dem unerbittlichen Pendelschlag der Uhr. Er fand nur diese Worte, die er mit einer Art stumpfer Gleichgültigkeit wiederholte: »Keine Leidenschaft … Ich habe es mir überlegt … Keine Leidenschaft, nicht die geringste.«
Das Schweigen dauerte an. Es war ihm, als stürze er sich kopfüber hinein.
»Du kennst Frau von Montanel. Unser Alter paßt zusammen, auch unsere Neigungen, unsere Zukunftsabsichten. Jetzt, wo wir dicht vor drei wichtigen Wahlen für die Akademie stehn, die vielleicht über die meinige entscheiden werden, muß ich aus meiner Zurückhaltung hervortreten. Der Herzog von Janville wird sich erst im nächsten Frühjahr um den Sitz des Herrn Houdetot bewerben; die Gelegenheit ist also äußerst günstig. Eine wirkliche Hausfrau ist hier unerläßlich. Wir werden diesen Winter sehr viel Geselligkeit haben. Meine … meine … kurz, Frau von Montanel bringt mir ein paar Stimmen der Linken zu, die ungemein wertvoll sind, denn ihre Mutter war eine geborene Lepreux-Cadaillac und stand den besten Familien mit radikaler Überlieferung nahe. Sie selbst ist Patenkind Waldeck-Rousseaus. Gewiß ist meine Heirat nicht bloß ein Geschäft; andere, selbstlosere, persönliche Gründe übergehe ich ganz …«
Zu seiner großen Überraschung, denn er hatte noch nicht aufzublicken gewagt, fühlte er um seinem Hals einen frischen, so kindlichen Arm und auf seinen Schultern den zitternden Körper seiner Tochter wie eine leichte, lebendige Last.
»Chantal, mein Liebling!« rief er aus und ergriff ihr eisiges Händchen, das er nervös in seinen Händen preßte.
Doch sie machte sich sanft los; der Duft ihrer feinen Haare, ihre Liebkosung streifte ihn.
»Ich bitte dich, lieber Vater,« sagte sie, »rede nicht weiter … Tu nicht, als wolltest du etwas erklären, dich rechtfertigen … Das tut mir zu weh … Du kannst ja nicht wissen, wie weh das tut! …«
»Mich rechtfertigen«, wiederholte er trocken. »Warum, wenn's beliebt?«
»Ärgere dich nicht. Da du deinen Beschluß gefaßt hast, laß mir wenigstens das kleine Verdienst, ohne Widerrede zu gehorchen, nur an dich zu denken, an die Sicherheit deines Lebens. Du hast ja die Ruhe so nötig! Das übrige wird von selbst kommen … Was? Du fürchtest, mir weh zu tun, und ich fürchte, dir weh zu tun. Ist das nicht spaßhaft? Also wozu zwei Monologe fortsetzen, jeder für sich? Ich habe mit einem Kuß geschlossen.«
Ein Funke von Bosheit blitzte in ihren Augen.
»Vielleicht gab es kein anderes Mittel als das.«
»Mein Kind, ich hielt dich für verständiger«, sagte er mit zitternder Stimme. »Rede doch nicht von der Sicherheit meines Lebens! Die Umstände waren mir zwar oft günstig, das gebe ich zu. Aber die Vorsehung hat mir ein Kreuz auferlegt, ein schweres Kreuz. Oh, ich mache niemandem Vorwürfe. Es war nun mal so, ein Schicksal, das ist alles. Jeder hat das seine. Trotzdem ist es seltsam, daß ich niemals die Freude über meine Erfolge mit irgendwem ohne Hintergedanken teilen konnte! Ich habe nur die besten Absichten, suche nur bescheidene, feste Bande, habe mit den rechtmäßigsten Mitteln nur das getan, was ein jeder an meiner Stelle täte, – und doch scheint mein Glück nur die Kehrseite des Unglücks der andern; ich vermag nur auf Kosten anderer glücklich zu sein.«
Sie blickte ihn traurig an. War es Trauer oder Zustimmung eines heute wehrlosen Herzens?
»Du hast recht, Vater. Viele opfern sich, die nicht den Mut hätten, sich zu schenken.«
De Clergeries Erregung verriet sich von Minute zu Minute mehr, weniger am Zittern seiner Beine unter der leichten Wolldecke, die man in jeder Jahreszeit auf seinen Knien sah, als an seinen starren, trüben Augen.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Dies Wort ist rührend, mehr als rührend; es ist wahr, tief wahr. Sich schenken, sich so wie in plötzlichem Überschwang schenken – Gott, wenn das nicht die edelste Art zu leben wäre, wäre es doch noch die verständigste, die weiseste! Da man ja doch wohl oder übel dahinkommen muß, da man ja doch nie das tut, was man will! … Kurz, liebe Kleine … dies … dies glückliche Ereignis wird uns nicht nur nicht entzweien, sondern einander noch näher bringen. Seit vielen Jahren war ein Platz leer. Jetzt ist er ausgefüllt.«
In falscher Gutmütigkeit schlug er mit der Handfläche auf den Tisch. Chantals ruhiges Gesicht krampfte sich leicht zusammen, und das Lächeln, das noch ihren bleichen Mund spannte, schien langsam auf ihren Lippen hinzuwelken.
»Sieh mal, Vater,« sagte sie nach einer Pause, »ich war nicht darauf gefaßt … Ich hatte wirklich nicht daran gedacht … Vielleicht hattest du eben recht. Der arme, alte Abbé Chevance! Er hat mich verwöhnt. Man geht still seines Weges, glaubt vom lieben Gott getragen zu werden, sagt sich: ›Ich werde stets so viel Verstand haben, mich nicht zu sträuben, mich so leicht wie möglich zu machen, wie in Trouville im Arme des Schwimmlehrers …« Die kleinen Wellen machen einem Spaß. Und was schadet eine tiefe Woge? Sie hebt einen nur höher. Doch es kommt ein Augenblick, wo es nicht nur gilt, sich treiben zu lassen. Man schwimmt nicht, um zu schwimmen, sondern um schließlich irgendwohin zu kommen, einen Zielpunkt zu nehmen. Wo? Was soll ich jetzt tun? Ein leerer Platz, ein ausgefüllter Platz, das scheint einfach … Und doch ist es ein Abenteuer, ein gewaltiges Abenteuer, armer Vater. Du scheinst es nicht zu ahnen.«
»Nein, ich ahne es nicht!« rief er aus. »Du wirst doch nicht behaupten, deine Gegenwart sei hier unmöglich, weil Frau von Montanel …«
»Oh, das ist es nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Du vergißt nur zu sagen, daß wir … junge Mädchen sind … Ach, mein armer Vater, das ist eine sehr unglückliche Gattung. Und wie alle unglücklichen Gattungen ist sie im Begriff zu verschwinden. Die Menschen sind so beschäftigt, daß sie mit uns nichts mehr anzufangen wissen. Nicht das Geld fehlt, aber die Zeit … Wir verlangen große Sorgfalt, stets die gleiche, seit Jahrhunderten, denn wir wachsen und blühen langsamer als die holländischen Tulpen. Das ist ein Hohn auf die Wirtschaftsgesetze. Das moderne Leben schlägt alle Rekorde der Schnelligkeit, und wir gehn noch in dem Schneckentempo unserer Urahnen. Wir sind ebenso lächerlich und überlebt wie ein armer Seidenkokon in einer Kunstseidefabrik.«
»Chantal,« sagte er mit ungeheuchelter Überraschung, »was willst du mir damit sagen? Ich erkenne dich nicht wieder. Welche Bitterkeit!«
»Ich bin zu Ende. Ich werde nie wieder anfangen. Mir scheint, ich wollte etwas eifersüchtig werden – oh, nicht auf Frau von Montanel noch auf dich – auf niemand besonders … Ich bin eifersüchtig wie ein hungriger Mensch, wenn ein übereiliger Diener vergißt, ihm die Lieblingsspeise noch einmal zu reichen … Ich bin zu Ende … O gewiß, Vater, ich werde dir morgen oder übermorgen nicht minder lieb sein als heute: für dich hat sich nichts geändert. Und doch. Wir sind keine reinen Geister! Man hat das Bedürfnis, seinen Kopf, seine Arme, seine Beine zu beschäftigen, bisweilen auch sein Herz … Weil ich leider noch nicht so weit bin, wie die Engel zu lieben. Ich habe das Bedürfnis, mir Arbeit zu machen, und habe ich mich den ganzen Tag tüchtig abgemüht (es gibt hier viel Arbeit, das weißt du, die Dienstboten sind so sinnlos, so nachlässig), messe ich meine Zärtlichkeit an der Ermüdung meiner Hüften, meiner Knie, selbst an dem Reißen in der linken Schulter, das nicht weggehn will. Du hast soeben mein Amt eingezogen, machst mich zu einem Minister ohne Portefeuille.«
Sie lächelte von neuem.
»Sei auf deiner Hut! Die Arbeitslosigkeit demoralisiert die Arbeitermassen, hast du in der letzten Nummer der Revue geschrieben. Ich habe sie gelesen.«
»Das fürchtete ich vor allem«, seufzte de Clergerie. »Verwicklungen, immer wieder … Was verlange ich denn schließlich von dir? Du behauptest, du wünschest nur mein Glück, meine Ruhe. Werdet ihr zwei zu viel sein, um sie sicherzustellen? Wohlgemerkt spreche ich nur so, um auf deine Argumente einzugehn, deine Sprache zu reden. Übrigens ist das doch nur eine vorläufige Lösung. Früher oder später wirst du wählen müssen, Kind. Darf ich hinzusetzen – du weißt, wie sehr ich die Gewissen respektiere; ich habe kein Recht zu drängen; ich schlage nur vor, ich rate an – kurz, ich hätte gern geglaubt, glaube es noch, daß Gott dich für das religiöse Leben geschaffen hat … Oh, ich rede wohlverstanden nicht von einem beschaulichen Orden … Aber deine Frömmigkeit scheint mir zu ehrlich, zu tief, zu besonnen, um … um …«
Er stampfte unter dem Tisch mit dem Fuße auf, in seltsamer, unbegreiflicher Wut, die sich plötzlich entlud.
»Ich werfe dem Abbé Chevance vor, daß er dich absichtlich, aus lächerlichem – ja wohl, lächerlichem – Eigensinn, den er vor Gott zu verantworten haben wird, in einem Zustand der Gleichgültigkeit erhalten hat, einem Zustand unsinniger, kindlicher – jawohl kindlicher – Unwissenheit, – dich, die doch so ruhig, so vernünftig … selbst so gescheit war … (Er stotterte.) Du besitzt die nötige Erfahrung, um ein Haus wie dieses zu leiten, Bestimmtheit, einen prachtvollen Willen, und es scheint, du hast die Wette gemacht, in der Welt mit der Einfalt, der Unschuld, der Unterwürfigkeit eines Kindes zu leben. Welch ein Widerspruch! Welche Verantwortung für einen Vater! Es liegt so viel auf mir! Ich müßte mich auf dich stützen, und du entziehst dich mir mit deinem unveränderlichen Lächeln. Auf mein Wort! Es gibt Tage, wo ich dich weinen sehn möchte …«
Sie blickte ihn bestürzt an, und schon tauchte in ihrem starren Augen der Schatten eines Schmerzes auf, der so heftig war, daß er dem Schrecken glich.
»Mein Gott, Vater, was hast du nur? Was habe ich denn getan?« fragte sie mit zitternder Stimme.
Doch nichts hätte den wütenden Geschichtsschreiber zurückgehalten, denn er empfand seine eigne Schande und lehnte sich gegen sie auf.
»Ich bin kein Heiliger, sondern ein gewöhnlicher Mensch. Ich verstehe dich nicht, du gehst über meinen Horizont. Schön! Ich streite nicht mehr. Ich habe die Oberhand. Die Rollen sind vertauscht. Soll ich dir noch etwas sagen? Nun also: deine Sanftmut, deine Geduld könnte mich schließlich ungerecht, boshaft machen. Vorwürfe wären mir lieber. Sieh deine Großmutter: sie hat mich stets hart behandelt. Nichts gleicht dem Mitleid mehr, als ein gewisser blinder Gehorsam und nichts der Verachtung mehr, als das Mitleid. Zum Teufel, mit achtzehn Jahren weiß man doch, was man will! Und du weißt es, das ist klar. Du hängst doch noch an der Welt. Seit zwei Jahren erwarte ich fast von Woche zu Woche ein entscheidendes Wort, das deine Zukunft entscheidet. Warum verweigerst du es? Ich rede so nicht aus Selbstsucht. Eine passende Partie hätte mir genützt, hätte meiner Laufbahn genützt; du hättest Anspruch auf jede beliebige Heirat. Aber deine Berufung steht für niemanden im Zweifel. Noch gestern sagte unser verehrungswürdiger Dekan von Idouville …«
»Bitte, lassen wir das«, sagte sie in einem Tone, dessen Stolz sie nicht gleich zu bemeistern vermochte. »Ich war hier glücklich – was ist daran Schlimmes? Ich glaubte, dir auch nützlich zu sein, und warum soll ich lügen? Ich war es auch. Ich bin dir Wahrheit schuldig, Vater. Weder du noch der Dekan von Idouville, kein Mensch auf Erden, noch selbst ein Engel könnte mich überreden, eine Stunde zu früh Nonne zu werden. Wenn ich die kleinen Alltagspflichten so gut wie möglich erfülle – leider nach meiner Laune und nach meinen Kräften –, was beweist das? Die Klöster sind keine Asyle und Krankenhäuser. Wenigstens gehöre ich nicht zu denen, die dort Ruhe finden können, denn da werde ich sie nicht suchen … Nur darin hast du recht, daß du jetzt den Augenblick für gekommen hältst, wo ich meine Wahl treffe. Ich denke wie du und habe es dir zuerst gesagt. In alledem liegt aber kein Schatten eines Vorwandes, von dem armen Abbé Chevance oder von mir so zu reden, wie du es getan hast.«
Er hatte mit wachsender Erregung zugehört.
»Das klingt so, als wollte ich dich aus dem Hause jagen«, schrie er. »Wo willst du hinaus?«
»Laß mich gehn«, bat sie. »Wenigstens laß mich warten, bis du wieder kaltblütig bist. Wie habe ich dich nur so erregen können?«
Doch er litt selbst zu heftig, um diesen Schmerzensschrei, diesen letzten Ruf an sein Mitleid zu hören. Ungewollt war sie eben auf eine Selbstsucht gestoßen, die ebenso fest verkapselt und bedeckt war wie eine Schmetterlingslarve in ihrer seidenen Hülle. Gewiß, er glaubte seine Tochter zu lieben. Vielleicht hatte er einst auch den stummen, noch gegenwärtigen, aber verhüllten Schatten geliebt, die holde, glänzende Fremde? Gewiß hätte er sie beide von weitem, aus der Ferne geliebt, verehrt, angebetet wie Engel. Was ihn zerreißt, ist, daß er sich selbst entblößt, sein Elend und seine Qualen, sein eignes aschfahles Leben durch dies Zwillingsschicksal hindurch erkennt …
Totenbleich kehrt sie zu ihm zurück, legt eine Hand auf seine Schulter, schließt ihm mit den Fingern den Mund.
»Sei nicht ungerecht, tu mir nicht weh, du wirst es bereuen …«
»Ich bin nicht ungerecht, ich verteidige dich … Ich verteidige dich gegen dich selbst. Durchaus. Allerdings hast du mehr gesunden Verstand als alle Abbés Chevance auf Erden. Du gehörst einem Geschlecht von Besitzern an, die alle den Wert der Dinge kannten, und in der Weltordnung des Übersinnlichen ist es nicht so gleichgültig, wie man denkt, ob man gute oder schlechte Geschäfte macht. Du bist nicht naiv, nein, aber du bist rein, unglaublich rein. Du hast die Verwegenheit der reinen Herzen. Ich bin nur ein kläglicher, schlichter Mensch, gut, der nichts vom Seelenleben versteht, der bereits eine Heilige unglücklich gemacht hat und im Begriff ist, dich unglücklich zu machen. Das wird man sagen, wird es ausschrein. So muß ich denn dreißig Jahre zäher Arbeit, erlittener, heruntergeschluckter Demütigungen, schrecklicher Enttäuschungen wie eine schmähliche Last tragen, und sie nennen mich die Pestratte.« Weil sie sich von ihm losgemacht hatte, weil er auf seinen Lippen noch die zitternde Liebkosung ihrer frischen Hand fühlte, ließ er sich sein Geheimnis fast unbewußt entschlüpfen, trunken von einer dunkeln Eifersucht, der er keinen Namen zu geben vermocht hätte.
»Ich hatte mir vorgenommen zu schweigen. Warum dich verwirren? Aber es ist auch nicht zwecklos, dich zu warnen … vor … vor Gefahren, die der einfache Menschenverstand, selbst die feinste Vernunft, nicht immer erkennt. Ach, man muß eine gewisse Erfahrung vom Bösen haben … wenigstens sein Vorgefühl … Kurz, reden wir deutlich. Du siehst den Oberst Fjodor täglich: hast du nichts bemerkt?«
»Doch … O doch! … Ich mißtraue dieser Sorte von Obersten sehr. Vater, ich war es nicht, der ihn angestellt hat.«
»Ja, ja«, sagte er bitter. »Ich habe ihn allerdings angestellt, auf Empfehlung der Frau von Montanel … Nun, er stellt dich mutwillig bloß, dieser Schafskopf?«
Der Schrecken war stärker als die Scham; Chantal konnte einen Angstschrei nicht unterdrücken.
»Was hat er gesagt?«
»Was er gesagt hat? Was sollte er sagen? Auf mein Wort, das fehlte noch gerade! Welche Naivität! Nein, er begnügt sich damit, unsern Leuten ein abstoßendes, lächerliches Beispiel zu geben. Er läuft dir nach wie dein Schatten. Er übertreibt die Rücksichten, die Achtung bis zur Lächerlichkeit, ist gegen deine geringsten Wünsche unterwürfig wie ein freiwilliger Sklave. Er verschlingt dich anscheinend mit den Augen.«
»Wieso anscheinend? Das … das stammt also nicht von dir, sondern … O Vater, wie bist du boshaft!«
»Ich bin nicht boshaft. Ich hatte die Gewissenspflicht, auf einen Bericht zu hören, eine Angeberei, wenn du willst, die mir aber selbstlos erschien, denn eine junge Magd weiß, was sie wagt … wenn sie … sich da hineinmischt … Kurz, Franziska hat geredet. Was sollte ich tun? Sie ist ein gutes, kleines Ding, sehr gesund, sehr schlicht und hängt an uns. Sie liebt deine Großmutter ungemein. Übrigens wollen wir nichts übertreiben, mein Kind! Wir wollen uns hüten, die Dinge tragisch zu nehmen … Die Geschichte ist banaler als du denkst.«
Fräulein Chantal hatte ihren Blick zum Fenster gewandt, dem goldenen Licht entgegen wie einem Freundesblick. Ein bleicher Fleck, der sich bis zu den Wangen ausdehnte, umgab ihre trockenen Augen. Das Gestammel des Greises summte in ihren Ohren nur noch wie ein Geräusch ohne bestimmten Sinn, eine Art von kindlicher Klage. Sie raffte alle Kraft zusammen, nicht um ihre Tränen niederzukämpfen, sondern um ihren Stolz zu bezwingen.
»Ich denke,« sagte sie plötzlich mit ihrer ruhigen Stimme, »es war unrecht von dir, Vater, Franziska Gehör zu geben, und auch, dich meinetwegen zu beunruhigen.«
»Du kennst die Welt nicht, du willst ja nichts von ihr wissen, das ist so viel einfacher! Schon deine Mutter wollte mit Aschenbrödels Pantoffel auf schmutzigen Wegen gehn. Ja, du mußtest es eines Tages mal lernen, daß die Welt nicht für die Engel gemacht ist. Ich bin ein strenger Katholik, habe einen Teil meines Lebens der Kirchengeschichte gewidmet, und ich sage: die Welt ist nicht für die Engel gemacht. Ich sage noch mehr: um so schlimmer für die Engel, die sich unvorsichtig hineinwagen! Umsonst schaust du mich mit diesem klaren. Blick an. Er ist klar, weil er nichts gesehn hat, in nichts eingedrungen ist. Jeder von uns hat sein Geheimnis, seine Geheimnisse, eine Menge Geheimnisse, die nach und nach im Bewußtsein verfaulen, langsam, ganz langsam verwesen … Auch du, meine Tochter, ja du, wenn du lange lebst, wirst du vielleicht in der Todesstunde diese Last spüren, das Plätschern des Schlammes im tiefen Wasser … Ach, was verlangt man von uns? Unmögliches. Zunächst muß man sich seinen Weg von der Kindheit zum Alter Schritt für Schritt bahnen, jeden Zollbreit des Bodens abtasten, die Fallen entspannen, kriechen, kriechen, stets kriechen. Zum Teufel, um sich verständlich zu machen, um anerkannt zu werden, muß man sich auf eine Stufe mit den andern stellen. Man redet nicht im Stehn mit Leuten, die auf dem Boden liegen. Wer sich aufrichtet, sieht sich plötzlich allein. Sind wir denn geschaffen, um allein zu leben? Das frage ich dich. Und zunächst: vermögen wir es? Hahaha, jawohl, vermögen wir es? Ich sagte es schon: an manchen Tagen bringt mich deine Hoffnung, deine Heiterkeit, deine unwahrscheinliche Sicherheit außer mir, versetzt mich in Wut … Ein gemeines Gefühl, nicht wahr? Ganz gemein, was? Ich bin sicher, du findest es gemein. Nun, so antworte doch.«
Sie schloß die Lider, um nicht das unglückliche Männchen zu sehn, das aus irgend einem Ekel an sich selbst wütete und sich öffnete wie eine reife Frucht.
»Du willst nicht antworten? … Es ist vielleicht ein gemeines Gefühl … in gewissem Sinne … Wer sagt dir übrigens, daß ich es nicht bekämpft habe? Aber die Umstände sind derart, ich stehe an einem so entscheidenden Wendepunkt meines Lebens, daß ich Aufrichtigkeit brauche, reine Luft … Antworte doch!«
»Aber Vater … Oh, Vater, ich liebe dich!« rief sie verzweifelt.
Denn sie hatte mit ungeheuerer Anstrengung die Auflehnung ihres Herzens bezwungen. Ihre schwachen Hände machten unbewußt die Gebärde des Auslöschens, Bedeckens, und ihr Blick leuchtete von jener Art Mitleid, die man nur in den Augen der Mütter sieht.
De Clergeries nervöse Überreiztheit brach plötzlich zusammen. Er begann seinen krebsroten Schädel sehr sorgfältig mit der Spitze seines Taschentuches zu reiben.
»Auch ich liebe dich«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Verzeih mir. Wohin sind wir schon gekommen? Wohin gingen wir? … Wieviel Torheiten! Die Überarbeitung, meine Schlaflosigkeit, die Gewitterschwüle … Sieh in deinem Vater nur einen Kranken, mein armes Kind. Ich bin ein Kranker, ein Sensitiver. Ich möchte nur glückliche Gesichter sehn, nur Worte der Freude, der Dankbarkeit hören. Ein Sensitiver ist stets enttäuscht.«
Er beobachtete sie schüchtern und bang durch seine halbgeschlossenen Lider. Es wunderte ihn, daß sie noch vor ihm stand, den Kopf leicht auf die rechte Schulter geneigt. In den Zügen ihres feinen, stets zärtlichen Gesichts, den hohen Brauen, der leicht gerunzelten Stirn lag der Ausdruck eines so reinen, unzerbrechlichen Willens, eine Art militärischer Entschlossenheit. »Sie ist nur ein Kind,« dachte er, »mein Kind …« Aber er hätte von diesem Augenblick an gewünscht, durch sie zu leiden oder von ihr gedemütigt zu werden.
»Rede doch mit mir!« sagte er. »Ich habe dich gekränkt. Aber du bist zu vertrauensvoll, zu klar! Man fürchtet, du hast nicht Mitleid genug für die Unglücklichen, die wie ich durch den Schmutz dieser Welt hinstapfen … Die Geschichte mit Fjodor ist banal und lächerlich, ich wiederhole es … Denken wir nicht mehr daran … Ich werde Rat schaffen … Rede doch nur, mein Liebling, antworte mir.«
»Ich dachte nach, Vater«, sagte sie traurig. »Dazu läßt du mir nicht viel Zeit … Einerlei. Man sieht nicht immer die Einzelheiten der leichten Dinge, aber die schwierigsten springen sofort in die Augen. Hüte dich wenigstens, Vater, dich zu fest auf mich zu stützen. Du darfst meine armen Schultern nicht zu sehr belasten. Sicherheit, Heiterkeit, das ist sehr hübsch. Jetzt sehe ich, das heißt, ich glaube zu begreifen, daß Gott sie uns bisweilen auf Borg gibt, niemals umsonst. Und dann, wenn wir Kapital und Zinsen bis zum letzten Heller bezahlen sollen! Doch wie? Ihr alle werdet schließlich von mir verlangen, nicht daß ich die Sterne herunterhole, sondern daß ich mich bücke, um sie aufzulesen. Ich lache über Fjodor und über Franziskas Geschichten. Im Grunde bin ich nicht so albern … Was mich so schmerzt, willst du es wissen? Nun, daß ich so ohnmächtig bin, dich glücklich zu machen, dich, euch alle, alle! Mir ist, als arbeitete ich schon seit Jahrhunderten daran, und ich bin nicht weiter als am ersten Tage. Als ich es aus deinem Munde vernahm, verlor ich fast meinen Mut in einer Sekunde, einem Augenblick. O Vater, auch ich kann also sehr traurig sein – nicht betrübt, schmerzvoll oder gar verzweifelt, denn schließlich war die Mutter Gottes am Fuße des Kreuzes verzweifelt –, sondern traurig, von jener Traurigkeit, die so kalt ist wie die Hölle! Jetzt habe ich es gemerkt und werde es niemals vergessen: es gibt einen Schwindel in der Traurigkeit, einen schmutzigen Schwindel! Es ist wie Schaum auf der Zunge; ich habe die verbotene Frucht gekaut, wie abscheulich … Um so besser für die, denen es gelingt, die Traurigkeit zu lieben, ohne Gott zu kränken, ohne gegen die Hoffnung zu sündigen. Ich vermöchte es nicht. Mit Satan ist die Traurigkeit in die Welt gekommen. Die Welt, für die unser Heiland nicht gebetet hat, die Welt, von der du behauptest, daß ich sie nicht kenne – bah, die ist nicht so schwer zu erkennen! Sie zieht die Kälte der Wärme vor. Was vermag Gott dem zu sagen, der von selbst, durch sein eignes Gewicht, zur Traurigkeit neigt, der sich instinktiv der Nacht zuwendet? Ach, Vater, wir berechnen die Zeit, die mir hier noch zu verleben bleibt. Wir machen tausend Zukunftspläne, und doch steigen wir abwärts, sind in einem Hohlweg; unser Himmelsstück verengt sich, der Horizont steigt. Ich mußte dich warnen: stütze dich nicht zu sehr auf mich; ich bin nicht mehr so fest auf den Beinen. Ja, ja, du magst lächeln, geh! Ich bitte um Gnade – nicht um Gnade, nein, um einen Waffenstillstand, einen bloßen Waffenstillstand, wie es Brauch ist, um die Toten zu begraben. Jawohl, die Toten! Es gibt keine Schlacht ohne Tote. Ihr alle scheint mich für eine Heilige zu halten, das ist wunderbar! Eine Heilige fühlt sich stets wohl, einerlei wann und wo … Welch schnurriger Einfall! … Also deine Heirat ist noch kaum beschlossen, und schon drängst du mich sacht ins Kloster, aus Vorsicht … Welches Kloster? Kein Mensch weiß es. Der Name ist ziemlich gleichgültig. Genug, daß es ein großes gelbes Steingebäude mit fünfundzwanzig Fuß hohen Mauern, schwerem Portal und der Schwester Pförtnerin am Schalter ist … Kann ich meine Hunde mitnehmen?«
Zwanzigmal hatte de Clergerie seine Hand bald fragend, bald gereizt, bald beschwörend zu seiner Tochter erhoben. Solche Reden, diese fast harte Stimme, diese aufsässige, geheimnisvolle Zärtlichkeit waren für ihn lauter Rätsel. Und doch hatte er noch einmal blitzhaft das seltsame Vorgefühl, das ihn bereits niedergeschmettert hatte. Welche Kostbarkeit verteidigte sie doch mit so wilder Energie. Welchen unbekannten Teil ihres Lebens? Bei ihren letzten Worten siegte die Verblüffung.
»Bist du es, die so redet, Chantal? In diesem Tone? Deine Hunde?«
»Ja, meine Hunde«, rief sie lachend, mit einem Lachen, das ihr sichtlich das Herz zerriß. »Meine Hunde haben mich ebenso nötig wie ihr alle. Und das merke dir wohl, Vater, armer Vater! Es ist wohl möglich, daß ich bald nichts mehr für sie noch für dich vermag.«
Sie winkte ihm ein Lebewohl zu und verschwand, ohne ihm Zeit zu lassen, ihr zu antworten oder auch nur sie zurückzurufen.
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Sicherlich hätte Herr de Clergerie sie umsonst zurückgerufen; Chantal war schon am andern Ende des Rasenplatzes im Schatten der Linden. Er sah nur noch flüchtig ihren hellen Kleiderrock. Die beiden Hunde schossen Schulter an Schulter wie Pfeile vorüber, eine doppelte Silberspur im dichten Grase zurücklassend. Sie ging wie ein Mensch, der sich heimlich davon macht, mit raschen und doch berechneten Schritten den schmalen Pfad entlang, der sich durch Oleander- und Jasminbüsche scharf nach den Viehtriften und dem kleinen baufälligen Pachthofe wendet, der so normannisch und treuherzig in einem kindlichen kleinen Tale liegt, von einer einzigen Pappel überragt, mit bemoostem Trog und binsendurchwuchertem Teich. Der Regen des letzten Gewitters glänzte noch in den Wagenspuren. Eine dicke, aufgescheuchte Amsel flog hoch, schien noch lange von Ast zu Ast zu hüpfen, und als sie sich endlich frei fühlte, stieß sie ihr schrilles Gelächter aus.
Vielleicht zum ersten Male schickte Chantal ihre Hunde unwirsch zurück. Ja, als sie so langsam wie möglich nach dem Holzgatter liefen, das den Weg sperrte, auf der Schwelle Halt machten und sich winselnd darauf legten, bückte sie sich, als suche sie zwischen den Fichtennadeln einen Stein, um sie zu verscheuchen. Übrigens verspürte sie gar keinen Zorn, wohl aber empfand sie zu ihrer großen Überraschung (denn sonst, wenn sie verwirrt oder auch nur unruhig war, hatte sie Einsamkeit und Müßiggang stets instinktiv gehaßt) plötzlich ein tiefes Bedürfnis nach Stille und Ruhe, eine unbestimmte Angst, gesehn zu werden. Auf halbem Wege ergriff sie die Ungeduld ob so vieler zweckloser Umwege; sie kletterte durch ein Loch in der Hecke, zerriß sich die Strümpfe, befand sich außerhalb des Parks in der glühenden Wiese und durchmaß sie im gleichen Schritt bis zu dem Schatten der Pappel. Da ließ sie sich ins Gras sinken und seufzte müde.
Eine Zeitlang erfüllte das Summen der überhitzten Erde noch ihre Ohren. Seit dem frühen Morgen hatten die Vögel ihre Verstecke aufgesucht; selbst die Grillen waren verstummt. Nichts regte sich; nur ein magerer Schmetterling flog über die Spitzen des wilden Hafers. Sie schloß die Augen.
Die gesprochenen Worte hatten bereits keinen Sinn mehr für sie; ihr blieb nur die Erinnerung an einen stechenden Schmerz, der jetzt fast ebenso unverständlich war wie die Worte, ein Gewissensbiß von traumhafter Unbestimmtheit, – aber gerade ihn wollte sie allmählich in das Licht ihres Bewußtseins emporheben. Was sie gesprochen, war ohne Belang, selbst wenn sie es an Geduld oder Sanftmut hätte fehlen lassen. Wie alle sehr reinen Seelen fand sie sich leicht mit begangenen Sünden ab, dachte nur daran, den Schaden so viel wie möglich wieder gutzumachen. »Von allen meinen Töchtern«, hatte der Abbé Chevance bisweilen gesagt, »sind Sie sicherlich die am wenigsten gewissenhafte.«
Ja, was lag an den Worten? Selbst eine Sünde, von der sich der Wille löst, hört auf, seinen Saft zu nähren, welkt rasch hin und stirbt unfruchtbar. Die Heimlichkeit der Absichten ist's, in der sich andere Gifte bilden, wie in der Tiefe einer zersetzten Humusschicht der schwarze Wald der künftigen Sünden und der nicht vergebenen Sünden gedeiht. Und gewiß hätte sie es nicht zu sagen vermocht, denn bis jetzt hatte ihre Seele jedesmal, wo sie es gewollt hätte, sich ohne Anstrengung dem Lichte Gottes aufgetan, wie ein Mensch alle Luft, die zum Atmen dient, mit voller Brust einsaugt. Warum heute ein dunkler Fleck? Was habe ich getan? fragte sie sich.
In der Ferne schlägt es feierlich zehn Uhr. Doch umsonst versucht sie, ihr Denken auf ihr schlichtes Tagewerk zu richten, – das Frühstück, das sie in Gang bringen muß, die Vorräte, die aus Lillebonne angekommen sind, die Abrechnung mit Ferdinande und auch der Korb mit Herzkirschen, die braunen Kirschen, die sie sorgfältig Stück für Stück aussuchen muß, weil Monsignore Espelette einen Ekel vor Maden hat. Wie? Die Arbeit sollte ihr in diesem Augenblick keine Hilfe sein, weil sie sie unfreudig, widerwillig verrichtete! Wer mißt, gibt nichts. Und doch hat sie seit dem Morgen eigentlich nichts getan als berechnen, messen – noch schlimmer: sie hat sich bei ihrem Messen und Berechnen derart verwirrt, daß sie offenbar selbst nicht mehr weiß, was sie will, wohin sie geht. Sie ist zu Herrn de Clergerie gegangen, aus Müdigkeit, aus Angst vor einer unbestimmten Gefahr; sie hat den feigen Wunsch gehegt, einen Teil ihres Kummers loszuwerden, und in gerechtem Hohn hat ihre Bürde sich durch Zaudern, Gewissensbisse, armselige Geheimnisse kleiner Menschen vermehrt. Sie hat sich zu befreien gewähnt, aber nur ihre Bürde befreit, auf Kosten ihres eigenen Friedens.
Mit ungeduldiger Gebärde schiebt sie die hohen Gräser fort, die ihre Wangen kitzeln, denn sie hat sich am Rande des Teiches auf den Leib gelegt. Der Schatten der Pappel hat sich allmählich gedreht; die Sonne fällt lotrecht auf ihre Schultern und versengt sie durch die leichte Seidenbluse hindurch. Soweit der Blick reicht, steht alles in dem harten Licht ohne jede Runzel. Es bebt nicht einmal mehr über den Binsen, um die vier Lehmmauern, die die Farbe der rotbraunen Felsen im Avretal angenommen haben. Die bleichen Strohdächer, die weit offnen Türschwellen, eine Gardine, die noch an ihrem Halter hängt, die übernatürliche Regungslosigkeit dieser einst lebenden Mauern, ihre Kahlheit, das alles bildet eine trostlose Landschaft, auf der das weite Firmament mit erdrückender Schwere lastet … »Was habe ich getan?« wiederholt sie traurig. »Welche Sünde habe ich begangen?«
Sie kommt nicht darauf, weil sie vielleicht grundlos, ziellos gelitten hat, weil es auf die gestellte Frage keine Antwort gibt, weil ihre Bängnis dazu bestimmt ist, sich mit so vielen andern in der allgemeinen Heiterkeit zu verlieren, wie ein Ruf nicht über einen bestimmten Raumkreis hinausdringt, jenseits dessen nichts ist. Mit seltsamer Aufmerksamkeit prüft sie jedes Ereignis dieses Morgens, eins nach dem andern, und sonderbar: ihr scheint, daß sie sich so eng, so fest zusammenschließen, daß kein Wille ihre unbarmherzige Logik hätte brechen können, daß sie sie hinnehmen muß, wie sie sind, in ihrer strengen Abfolge. Andere werden folgen, werden gewiß folgen, anscheinend ebenso wichtig (denn ihr kleines, so wesenloses Schicksal geht niemanden an außer Gott), und ihre Seele wird ihnen gegenüber gleich wehrlos sein. Hat sie bisher nicht geglaubt, daß jeder Tag für das Seine sorgt? Doch es kommt ein Tag, wo das Leben die himmlische Sorglosigkeit der Kleinen für immer bricht, wo es plötzlich zur entscheidenden Wahl zwingt, die Entsagung unverzüglich an Stelle der Freude setzt!
»Ich kann nicht entsagen«, hatte sie einst zu ihrem alten Freunde gesagt. »Entsagung ist traurig. Wie soll man sich in Gottes Willen fügen? Fügt man sich denn darein, geliebt zu werden?« Das schien ihr klar, allzu klar. Allein es gibt in Gottes Willen zweifellos ein Etwas, das die traurige Menschenliebe sich nie ganz aneignen, nie ganz in das eigne Wesen aufnehmen kann. Der große, ewige Durst hat sich von den lebendigen Quellen abgewandt, hat nur Essig und Galle gewollt, nur Bitternis gewünscht …
Übrigens ist dies nicht das erste Mal, wo Chantal sich an der Grenze einer neuen Welt sieht, die allzu verschieden von der ist, in der sie zu leben versucht. Aber wenn sie sich sonst unverzüglich von ihr abwandte und nichts von ihr kennen wollte, so scheint es ihr jetzt, als trieben die Ereignisse sie zu ihr hin, als beträte sie sie, befände sich bereits darin. Die Prüfungen dieser letzten Tage haben ihr die Pforten dieser neuen Welt geöffnet. Soll sie weitergehn, zurückweichen, stehn bleiben und warten? Niemand ist weniger als dies ehrliche Mädchen zu einer gewissen Emphase fähig, die auch das unbedeutendste Abenteuer willkürlich dramatisiert. Vielmehr hat sie sich stets etwas boshaft bestrebt, in jedem Kummer, jeder Enttäuschung ihres Lebens jene Spur von Komik zu entdecken, die auch das Unglück birgt, der die Majestät des Unglücks nie ganz entgeht. Die Heiterkeit der Heiligen, die uns durch eine vertrauliche, schlichte Art beruhigt, ist sicherlich nicht weniger tief als ihre Traurigkeit, aber wir halten sie gern für naiv, weil sie nichts Gesuchtes, keine Anstrengung erkennen läßt, ebensowenig jenes schmerzliche Insichgehn, das Molières Ironie in dem Augenblick schrill werden läßt, wo die Beobachtung der Lächerlichkeiten der Mitmenschen sich mit der eigenen inneren Erfahrung verknüpft. »Oh, meine Tochter!« rief der Abbé Chevance aus, »ein einziges Lächeln erleichtert manchmal, gibt den Frieden wieder, die Seele atmet auf … Hüten Sie sich, wie die Hochmütigen, diese armen Menschen, sich im voraus auf das Maß der großen Gefahren einzustellen, die vielleicht nicht kommen werden … Es gibt keine großen Gefahren. Groß ist nur unser Dünkel.«
»Sieh mal an,« sagte sie laut und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, »auch ich hatte zuviel Vertrauen! Man gleitet nicht ewig durch die Maschen des Netzes; die Hauptsache ist, daß man versteht, sich sanft loszumachen, ohne etwas zu zerreißen. Das ist mir stets geglückt … Man muß sich nur Zeit nehmen, sich nicht aufregen … Offenbar wird durch diese Heirat alles verwickelter werden – eine Weile jedenfalls. Darauf hätte ich gefaßt sein müssen. Wie dumm bin ich! Nun, Frau de Montanel wird mich wohl ein halbes oder ein ganzes Jahr dulden? Aber der Vater ist so eifersüchtig auf seine Freiheit, so argwöhnisch und empfindlich! Ich muß ihm noch die Illusion lassen, daß er mich nicht verliert, ihm aus den Händen gleiten wie ein Aal, ohne daß er es merkt … Wohin sollte ich gehn? Das Kloster flößt mir Angst ein; ist das wohl eine Versuchung des Teufels? Im Ganzen liegt mir nichts daran, allzu sichtlich beschützt zu werden. Ich habe keine Neigung zum Festungskrieg; es wäre mir nicht unlieb, im freien Felde zu kämpfen, etwas zu plündern, in meinen Mantel gewickelt im Biwak zu schlafen, wie Gott es fügt … Ist das auch eine Versuchung? Alles in allem könnte ich nach Afrika oder nach China gehn! Es gibt ja Missionen, gerade für arme Mädchen wie mich, die die Vorsehung nur zu einfachen Diensten brauchen kann, die täglich von neuem anfangen – das Haus des Missionars auskehren, den Gemüsegarten jäten, den Katechismus abhören und Negerkinder schneuzen … Aber das ist's: würde ich die Kraft dazu haben? … Selbstredend habe ich sie nicht. Es ist zwecklos, darauf zu bestehn.«
Sie machte eine Gebärde, als verscheuche sie einen sinnlosen Traum, wiese ihn für allemal von sich. Nicht als ob sie sich über die seltsamen Nervenanfälle, deren Geheimnis sie hatte durchblicken lassen, so viel Gedanken gemacht hätte, wie man vielleicht glauben könnte, denn sie hatten sie stets mehr gedemütigt als erschreckt. Tatsächlich fürchtete sie fortan nur den Skandal und die Neugier der Ärzte. So weit sie zurückging, Jahr für Jahr, sie entsann sich nicht, daß sie sich jemals gegen irgend etwas aufgelehnt hätte, ohne irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen; sie war sicher, daß sie nun einmal so war, daß der Widerstand sie zerbrochen hätte, daß ein unerwartetes Ereignis, so peinlich es erscheinen mag, sich durch Sanftmut und List auf ein günstiges Maß beschränken läßt –, das Maß einer schlichten, behenden Weisheit. »Mir scheint,« so vertraute sie einmal dem Abbé Chevance an, »daß man sich wie ein Erwachsener benehmen, sein Plätzchen in der Welt ausfüllen und berechtigte Interessen wahrnehmen und doch wesentliche Dinge des Lebens, Freude, Schmerz und Tod, nur mit Kinderaugen ansehn kann.« Und fürwahr, auch diesmal trug eine Art Neugier, so frisch und neu wie die der Kinder, schließlich den Sieg über die erste Regung des Ekels davon, und sie versuchte, sich als Zuschauerin ihres eigenen Abenteuers zu denken. »Der arme Russe«, sagte sie, »ist zum mindesten auch verrückt, denn nächstens wird er mich bitten, Wasser in Wein zu verwandeln oder Tote aufzuerwecken. Was liegt daran, ob er redet oder nicht! Ein Nervenkranker mehr zählt in der Familie nicht mit. Und wenn man Vater glauben soll, sind wir alle nervenkrank, das ist Schicksal.«
Sie bemühte sich zu lachen, dann erstickte sie dies Lachen in ihren gefalteten Händen und blickte hartnäckig, stumpfsinnig über den Kamm der Böschung hin, gerade über das rötliche Gras weg auf den regungslosen Wipfel einer Eibe und fernab, über die äußerste Spitze des schwarzen Baumes auf den leuchtenden Dachfirst und den zarten, durchsichtigen Rauch. Ein Eimer klirrte am Brunnen, eine Tür wurde zugeschlagen, der Ruf einer jungen, hellen Stimme schwebte einen Augenblick im lichten Himmel. Und plötzlich, in einer Seelenregung, die so jäh, so unerwartet war, daß sie ohnmächtig zu werden glaubte, ward das einst so geliebte Haus ihr fremd, fast feindselig. Es war, als hätte sie sich zum erstenmal von ihm losgerissen, als entrönne sie dem geheimnisvollen Zauber der allzuvertrauten Dinge, die vom steten Ansehn abgenutzt und unverdächtig sind und so schließlich jede Wachsamkeit ermüden und sicher verraten. Lange bevor sie einem so neuen Eindruck einen Namen geben konnte, fühlte sie an der Anspannung ihres Wesens die Stärke der Bande, die soeben zerrissen waren. Es war wie die plötzliche Offenbarung der Unwürdigkeit eines Freundes, die Lüge, die nicht auf frischer Tat ertappt, sondern nur von der übernatürlichen Hellsichtigkeit der Liebe erkannt wird, Augen, die sich abwenden, eine Hand, die sich entzieht, der Schatten eines Antlitzes … Einst, in den schönen Ferien von einst, wenn sie durch Arromanches gekommen war und von der letzten Anhöhe herab die breiten, schrägen Flächen der Schieferdächer zwischen den grünen Domen der Linden erblickte, sah sie im Geiste schon die schwarz-weißen Fliesen des Vestibüls, die Steintreppe, den geblümten Baumwollstoff ihres Zimmers – atmete den frischen, etwas eigenen Geruch der Flure mit den stets halbgeschlossenen Läden, ergriff von fern Besitz von dem ganzen Hause, gleichwie die bloße Gebärde einer geliebten Hand dem Liebenden schon die Gewißheit der Gegenwart, diese Gegenwart selbst, ein Besitz ist. Heute blickt sie mißtrauisch auf den dünnen Rauchwirbel, der sich ins Blaue verliert, das unmerkliche Zeichen der belebten Wohnung, die Wohnung, die ihr noch ein Obdach ist, aber nie mehr ein Zufluchtsort sein wird, in der andere kommen und gehn, die zu verstehn sie aufgehört hat, die untereinander ihre dunkeln Zwecke verfolgen. Zweifellos liebt sie diese Menschen noch, aber ihr Mitleid wird sie nicht mehr bei der ersten Regung finden; sie wird ihnen fortan nur mit Vorsicht nahen; sie fürchtet ihre Fallstricke. Weniger mit Gewissensbissen als mit einer Art herzzerreißender Neugier gewahrt sie nach und nach, daß sie ihren Vater schon seit langem unbewußt kritisch beurteilt hat, daß die tiefe Wurzel des halb kindlichen, halb mütterlichen Gefühls, das so verzweifelt, so zärtlich ist, gerade bis zu dem allzu schmerzhaften Punkte der Seele hinabreicht, wo der Keim der Verachtung schläft, den die Flamme reiner Menschenliebe völlig läutert. Die Stimme, die sie vernommen hat, die abwechselnd schlaffe und harte Stimme eines armen Menschen, tönt ihr noch immer in den Ohren wie ein schreckliches Geständnis. Beim bloßen Anblick des Daches zwischen den Bäumen glaubt sie sie von neuem zu hören. Gott! Warum dieser Schrecken, dieser Ekel? Kannte sie ihn doch in seiner kindlichen Schwäche, mit seinem seichten Ehrgeiz, seiner Nachträglichkeit und naiven Selbstsucht, seiner Angst vor dem Tode. Doch sie hatte ihn niemals gefürchtet. Mitleid oder Verachtung, was lag daran? Genug, wenn sie ihn liebte. Sie dachte nur daran, ihm zu dienen, allen zu dienen, besonders den Enterbtesten, deren Nichtigkeit und Hohlheit sie in ihrer untrüglichen Zärtlichkeit wohl gefühlt hatte. »Arme Sünder, wie leer sie sind!« pflegte der alte Chevance zu sagen. Welche Sünder? Ihre Menschenliebe nannte sie nicht bei Namen, schied keinen einzelnen aus dieser bleichen Herde von Gespenstern aus. Wozu auch? Wenn sie nur gegen Gott fügsam blieb, wenn sie selbst nur jeden Tag klarer wurde, um so viele elende, noch geschlossene Blicke zu öffnen und zu erfreuen, wenn sie nur glühender wurde, um sie in ihren Leichentüchern zu erwärmen, ihre schlafenden Herzen zu erwecken. »Ließe Gott sich sehn,« dachte sie traurig, »sie liebten ihn vielleicht mehr als mich … Aber sie schleppen sich hin und rufen sich umsonst in der Nacht zu, bis einer von uns einen einzigen Abglanz des göttlichen Gestirns auffängt und widerspiegelt …« Nein, nein, gefürchtet hatte sie sie nie; ihre Nachsicht gegen jeden von ihnen war wie die eines Kindes gewesen, ebenso unwillkürlich, frei und rein. Und obwohl der Anblick dieser Menschenleben, die für sie so seltsam, so unnütz und gleichsam überflüssig waren, ihren jungen Verstand empören konnte, war sie bisher ihren geheimen Beweggründen, den Leidenschaften, die sie verzehren, zu fern geblieben; sie fürchtete weder ihr Beispiel noch die Berührung mit ihnen … Woher also kommt diese plötzliche Entfremdung? Wer hat diesen Schrei des Entsetzens ausgestoßen? »Sie wissen nicht viel von der Sünde«, hatte ihr alter Freund manchmal mit traurigem Lächeln geantwortet. »Nein, Sie wissen wirklich nicht viel davon.« Und in seinem Unvermögen, eine jener den Predigern geläufigen erhabenen Metaphern zu finden, hatte er im Tone eines Bauern, der sein Korn gegen Ungeziefer verteidigt, hinzugefügt: »Sehn Sie, die Sünden sind gefräßig und grausam wie Ratten. Und wer sie liebt, ist ebenso grausam wie sie oder wird es auf die Dauer. Die Grausamkeit, meine Tochter …«
Die Grausamkeit! Weiter ging er nicht. Er schloß die Lippen über dem geheimnisvollen Worte. Doch sie lauschte ihm aufmerksam, ohne ihn zu verstehn. Welcher reinen Seele fiele es auch leicht, Grausamkeit und Wahnsinn zu unterscheiden? Sie ist vielmehr versucht, beide zu verwechseln. Wie soll man glauben, daß der Mensch dies furchtbare Brot mit der Hölle teilen kann? Gewiß konnte sie an dem Worte des Priesters nicht zweifeln, noch auch an der schlichten Erfahrung, deren Wohltätigkeit sie so oft empfunden hatte, und doch wagte sie damals nicht weiterzugehn, ihn zu fragen. Es schien ihr, als hätte sie eine so tiefe Enttäuschung ihrer unschuldigen Menschenliebe nicht ertragen können, ohne zu sterben, als sei jenes Laster von allen erdenklichen Lastern das einzige, das sie unwillkürlich hätte hassen müssen. Die Sünde ist grausam, gut! Was soll man von ihren elenden Opfern sagen? Genügt es nicht, daß sie in scheußlichem Irrtum ein so gewappnetes Tier in die Arme schließen und es an ihre zerrissene Brust drücken? Kann man mehr tun als sie beklagen? Der bloße Gedanke an diese widersinnige, klägliche Verirrung ließ ihr Herz vor Mitleid bersten. Wenn sie wüßten! Gewiß war sie nicht so naiv, sich einzubilden, daß es hinreiche, ihr Bewußtsein zu erleuchten, um sie sicher zu bessern, denn ihr zartes Mitgefühl flößte ihr nur Mißtrauen gegen allzu leichte Ratschläge oder Reden ein. Sie hoffte, sie nur durch Sanftmut und Geduld zu gewinnen, wie man ein scheues, verwundetes Tier zähmt. »Meine Tochter,« hatte der Abbé Chevance gesagt, »die heftige Hoffart fragt weder nach Geduld noch nach Sanftmut … Sie ist ein Tropfen Wasser auf glühendes Eisen.« – Dann hatte sie ihn mit ihren friedfertigen Augen herausfordernd angeschaut und geantwortet: »Wo Sanftmut und Geduld nichts ausrichten, genügt die Freude, die Freude Gottes, mit der wir so geizen. Jawohl, wer sie empfängt, ist nur zu sehr versucht, sie zu behalten und ihre Tröstungen auszukosten, wo sie doch nach Kräften aus ihm hervorstrahlen sollte. Nicht wahr? … Nicht wahr? … Sie verstehn? Wie durchsichtig werden die Heiligen! Ich aber bin undurchsichtig, das ist das Schlimme. Bisweilen strahle ich etwas Licht aus, knauserig, armselig. Verlangt Gott denn mehr? Man müßte nur ein Kristall sein, ein reines Wasser. Man müßte Gott hindurchsehn.« So hatte jede Enttäuschung sie bisher in ihrem gebrechlichen Frieden bestärkt. Und fürwahr, aus der Vorstellung dieser Gebrechlichkeit selbst sog sie ihre Stärke; sie wünschte sich keinen der festen Stützpunkte, der logischen Konstruktionen, in die so viele Schwache und Anspruchsvolle ihr Leben einschließen: sie hätte geglaubt, darin ersticken zu müssen wie zwischen Mauern von Erz. Der Verrat einer Freundin, oder, was noch schlimmer ist, die Entdeckung einer gewissen Niedrigkeit war für sie immer nur eine halbe Prüfung gewesen, obwohl sie sich nichts davon anmerken ließ. »Ich bin so leichtsinnig«, gestand sie … »Ich möchte nur ein unfaßbares Staubkörnchen sein, das in Gottes Willen schwebt.«
Heute jedoch, in diesem Augenblick, schien es ihr wie einem Vogel im leeren Raum des Gewitters zu gehn, als hätte sie selbst den Sinn für das Fliegen verloren. Aus welcher Höhe war sie doch herabgestürzt, daß sie sich so schwer auf dem Boden lasten fühlte, den sie mit ihren Händen und Knien umspannte? In ihrem Erstaunen wagte sie nicht aufzustehn, diesen einsamen, unerträglichen Ort zu verlassen. Kaum getraute sie sich, die Augen zu öffnen, ihren Blick auf die weichen und harten Linien der Anhöhen zu heften, denn sie fürchtete, daß diese sich plötzlich über ihr schließen würden. Die von grünen Hecken durchschnittenen Abhänge, die weiße Straße, der gelöste Schatten des winzigen, kaum erkennbaren Souettetales bis zum Kamm der ferneren Höhen, die mit den letzten Büschen des Waldes von Seigneville bekrönt waren, diese ganze friedliche Landschaft schien ihr in dem unbewegten Licht wie verwandelt, – ungeheuer, aufmerksam wie ein Riesentier, das auf seine Beute lauert. Einst hatte sie den gleichen, jähen, aber rasch bezwungenen Schrecken angesichts der ungeheuern Anhäufung der Städte empfunden. Aber diese Landschaft war nicht minder gewaltig, begierig, nach den Wünschen der Menschen gestaltet, von der Sünde geknetet und wieder geknetet, ein Land der Sünde. »Ich war so naiv! Man darf nicht naiv sein!« wiederholte sie sich traurig, ohne ihre allzu neue Angst besser ausdrücken zu können. Und gewiß war ihr Kummer in dieser Minute noch der eines Kindes, obschon das, was sich ihr eben unter diesem Gluthimmel unbewußt offenbart hatte, die Stärke des Menschen war, seine Grausamkeit, die unendlichen Hilfsmittel der List und die Wildheit des Bösen.
Das war vielleicht die einzige Versuchung ihres Lebens, und der unerwartete Schlag ward so schnell geführt, daß sie ihm durchaus nicht ausweichen konnte. In einer Sekunde erkannte sie ihre erschreckende, abgründige Einsamkeit, die Einsamkeit der Gotteskinder. Und sicherlich war sie noch weit entfernt, die abstrakte Kenntnis davon zu haben, falls es überhaupt möglich ist, den meisterlichen Widersinn, das erhabene Trotzbieten dieser kleinen Zahl denkender Tiere zu begreifen, die ja alles in allem der Welt nur die frohe Botschaft von dem vergöttlichten Schmerze bringen! Aber sie fühlte tief in der Seele, ja bis ins Knochenmark, das heilige Verlassensein, die Schwelle und Pforte jeder Heiligkeit. Ihre Überraschung war so groß, daß sie sich auf die Knie erhob und in kindlicher Berechnung die Entfernung bis zu der Straße nach Seigneville maß, wo der Zug nach Avancourt vorbeifährt. Ja, einen Augenblick lang hatte dies unerschrockene junge Mädchen, das so zärtlich gegen jedermann war, den tollen Einfall zu entfliehen, wie sie da war, einerlei wohin, wie eine Diebin. »Ich werde sie nicht mehr sehen,« stammelte sie, »ich will sie nicht mehr sehn, ich kann nicht mehr!« Und doch sah sie mit übernatürlicher Wahrheit jedes dieser Gesichter, die noch am Morgen so eng und so hold mit den andern Bildern ihres Lebens verknüpft waren, daß sie ihr ebensosehr zu gehören schienen wie ihr eigenes Denken. Jetzt erschienen sie ihr in einem erbarmungslosen Lichte, das keine verdächtige Falte verschont, ein heimtückisches Lächeln zur Fratze verwandelt, die weißen Flecke auf der Hornhaut enthüllt. Sie flößten ihr Angst, nicht Mitleid ein. Manches oft gelesene und wiedergelesene Wort, mancher Vers des Buches Hiob, der furchtbare Schrei, den die allgemeine Bosheit dem harten jüdischen Herzen entriß, die verzweifelte Ironie der Psalmen, diese Zeugnisse aus der Tiefe der Zeiten mit ihrem Grabesdunst, die eine Betschwester beim Schnarren des Harmoniums schläfrig lallt, erhielten ihren ewigen Sinn wieder. Sie ließ sich vornüberfallen, drückte ihr Haupt in das dichte Gras und weinte, wie sie niemals geweint hatte.
»Welch ein Unglück!« sagte in diesem Augenblick hinter ihr eine klanglose Stimme … »Ich ahnte es schon. Man müßte ein Auge auf alles haben. Unser Vermögen geht dahin, mein Kind …«
Chantal sprang mit einem Satz auf und wischte sich, am ganzen Leibe zitternd, ihre Tränen mit vollen Händen ab.
»Gott! Großmutter, wie hat man dich denn hierher kommen lassen? Wo gehst du hin? Diese Sonnenglut kann dich töten … Franziska …«
»Laß Franziska in Frieden«, fuhr die alte Dame gemessen fort. »Wen nennst du überhaupt Franziska? Mein Sohn stellt mehr Dienstmädchen an, als wir bezahlen können. Ich will nicht, daß diese Närrinnen unser Brot auffressen. Sie essen wie Löwinnen.«
Die beiden schweißtriefenden Hände blieben in den Falten des schwarzen Schals bleich, fast grau. Der Saum ihres langen Rockes war weiß vom Staub, ebenso ihre Zeugschuhe, von denen nur die runden Spitzen hervorsahen. Durch die Spalte des wollenen Kopftuches, das sie trotz der Hitze um ihren Hals gewürgt hatte, blickte ihr schmales Gesicht mit den glühenden, tiefrot gefleckten Wangen, und ein einziges Auge, klar und schneidend wie eine Gräte von Eis.
»Großmutter, ich bitte dich!« stammelte Chantal. »Sei doch vernünftig, laß dich bis zum Hause führen. In welchem Zustande bist du? Wo hast du Franziska gelassen? Was ist denn los?«
»Versuche erst mal wieder, etwas kaltes Blut zu kriegen«, entgegnete die Irre im gleichen Tone. »Störe ich dich etwa? Welch ein Geschrei! Es ist doch kein Anlaß, so loszufauchen! Steht es mir nicht frei, zu gehn und zu kommen? Du siehst dies Gebäude! Im Herbst werden nur noch die Balken übrig sein. Außerdem ist die Schwemme nicht mehr benutzbar, nichts als Schlamm und Frösche. Hätte man auf mich gehört, so hätte man die Kosten für einen Brunnen drangewandt, als in Seigneville Streik war und der Arbeitslohn so gesunken war. Welche Gelegenheit haben wir da verpaßt! Der Besitz der Valettes ist nach zwei Jahren doppelt soviel wert gewesen. Viehtriften, die jedes Frühjahr überschwemmt sind, eine Schwemme, die die Kühe aufschwellt und mehr Wasser macht als Milch! … Aber spiele nur die Gleichgültige. Man hat dies Jahr nichts als Ärzte, Apotheker, Krankenwärter erlebt, lauter Leute, die klüger sein wollen als selbst der Pfarrer und der Notar, um die Familien zu ruinieren.«
Sie sprach sehr schnell, mit zunehmender Überstürzung und mechanischer Stimme, die ihre letzte Kraft erschöpfte. Offenbar hielt sie sich nur mit Mühe aufrecht. Fräulein Chantal, die schüchtern eine Hand hinter ihre Schultern geschoben hatte, sah ihre alten Beine unter dem schwarzen Rock zittern.
»Das hast du mir schon gesagt, hundertmal hast du es gesagt. Sei verständig. Nur darfst du bei solchem Wetter nicht im Freien bleiben. Wir wollen ganz sacht bis zum Hause gehn; dann wirst du dich ein, zwei Minuten im Schatten hinlegen, bis ich Franziska rufe …«
»Das Haus, dein Haus? Die Steine werden mir auf den Kopf fallen. Lieber setze ich mich an den Rand des Teiches unter die Kastanien. Dann will ich allein zurückkehren. Das Gehn bekommt mir vortrefflich, mein Kind! Die Anstrengung reinigt das Blut.«
»Die Kastanie? Welche Kastanie? Es gibt keine Kastanie mehr.«
Sie stieß vor Zorn leicht auf, stützte sich mit ihrer ganzen Schwere auf das junge Mädchen.
»Ich bin nie so lebendig gewesen. Ich fühle mich wohl; die Sonne sticht … Wir werden Grummet haben, viel Grummet! Und was machtest du denn da, mein Kind, auf dem Bauche liegend? Die Erde gefällt dir wohl? Du wirst schon hineinkommen, wir alle werden hineinkommen … Ein Stück Erde für sich, das für unsern Vorteil arbeitet, für eine richtige Frau, eine Hausfrau, das spricht, das ist schön zu halten, das ist mehr wert als ein Mann. Wie oft hab' ich mich da hingestreckt, wo du bist … Nein, weiter weg, da, wo man das große Stück der Loupe sieht und die beiden Wiesengründe. Die Erde ist soviel wert wie ein Federbett: man klebt daran.«
»Richtig!« bat Chantal. »Folge mir wenigstens bis zum Parkrande. Wir wollen zusammen durch die Wiese gehn, nur durch die Wiese, ich schwöre es dir! Dann kannst du tun, was du willst.«
»Taratata! Das Lied kenne ich … Glaubst du vielleicht, ich könnte in meinem Alter allein durch die Felder gehn? Ich bin verrückt, mein Liebchen, verrückt zum Einsperren. Also in diesem Augenblick rede ich mit dir, und ich sehe auch eine große blaue Fliege, ja blau! … Sag mir doch noch, Liebchen, weißt du, wie sie mich in der Küche nennen, die großen Burschen, die schönen Männer? … Das Kamel. Na? Ich beobachte alles, höre leider alles; ich bin nie sicher, verstehst du? Nie. Ich bin nicht mal meines Sohnes sicher: er macht Winkelzüge und Quersprünge wie ein junges Brabanter Pferd. Man soll niemandem auf der Welt trauen, nicht mal den Toten. Oh, ich habe Erfahrung! Unser schlimmster Verdruß kommt von ihnen. Sie sind boshaft, arg boshaft!«
»Großmutter!« rief das arme Mädchen, »erschrecke mich nicht! Sei verständig! Verstehst du mich? Doch, doch, du verstehst sehr gut, wenn du willst; ich weiß es … Großmutter, du bist nicht boshaft, du bist unglücklich; ich kann nichts dafür. Ich möchte dich so gern lieben.«
»Unglücklich? Ich unglücklich! Glaube doch das nicht, mein Kind. Es tut mir leid, dich zu enttäuschen; ich bin weniger unglücklich als du; ich habe ausgedauert! Weißt du auch nur, was ausdauern ist? Du gabst dich mit Singsang ab. Entsinnst du dich, eines Tages wollte ich, daß du die Kochtöpfe putztest; das war eine Prinzipienfrage, doch du brachst dir die Fingernägel ab. Und wer spricht heute mit dir und steht fest auf seinen zwei Beinen? Du aber bist elender und schwächer, als ich dich je sah.«
Sie hielt inne, schüttelte ihren engen Kopf heftig und nickte mit verächtlicher Miene.
»Aber, Großmutter, wofür hältst du mich denn, wofür willst du mich halten?« flehte Chantal, so bleich wie ihre Halskrause. »Hast du denn nicht genug von diesem schrecklichen Spiel? Denn es ist ein Spiel, ein scheußliches Spiel, das ist sicher. Sieh mich an. Sieh mir gerade ins Gesicht … Oh, Großmutter, liebe Großmutter, versuche mich nicht.«
Sie machte Miene, sich auf die Knie zu werfen, aber diese Demütigung erschien ihr auf der Stelle so nutzlos, kindlich, fast albern, daß sie sich mit einem Satz aufrichtete und die leeren Wiesen, den Horizont, das flüssige Feuer des Himmels mit einem flehenden Blick anschaute. Zum zweiten Male kam ihr der Gedanke, das Weite zu suchen, um jeden Preis zu entfliehen, wild drauflos, wie ein Verurteilter seinem Schicksal entflieht. Aber schon hatte sie nicht mehr die Kraft dazu. Sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte, fühlte, daß eine neue Anstrengung ihr das Herz zu brechen drohte. Da versuchte sie naiv, unwillkürlich, wie in einer Reflexbewegung, die Stirn zu bieten, um den scheußlichen Traum, der kaum Gestalt annahm, wenn möglich noch zu verscheuchen, ehe er sich im Mittagslicht unheimlich verwirklichte.
»Mit mir sprichst du, mit mir, Chantal. Nicht mit meiner Mutter, du weißt es wohl. Doch, du weißt es! … Oh! Großmutter, du hast diese Komödie Vater vorgespielt, Franziska, vielen andern, aber nie mir. Nein, niemals! Du hast es nie gewagt. Ich verbiete dir … Ich will nichts wissen, ich habe nicht den Mut, etwas zu hören … wenigstens heute nicht … Siehst du denn nicht zur Genüge, daß ich unglücklich bin? Ich konnte schon nicht mehr, und da überfällst du mich noch, gibst mir den letzten Stoß. Jawohl, es ist, als fielest du mir in den Rücken. Gott, was hast du denn gegen mich, gegen alle? Was habe ich getan?«
»Bist du verrückt?« fragte die alte Dame trocken. »Soll ich meinen Ohren trauen, mein Kind? Eine Szene von dir! Ich habe mir freilich eingebildet, du lägest im Sterben oder seiest schon tot, was weiß ich? Aber was kann ich dafür? Suchen wir uns denn unsere Träume aus? Seitdem du ins Haus kamst, wird nur noch von Ärzten, Medizinen und Umschlägen gesprochen. Brr! … Wie soll ich da nicht von Sterben, Todeskampf, Beerdigung träumen, puh! … Du suchst Streit mit mir, mein Kind … Ich werde dir nicht den Spaß machen, in die Falle zu gehn. Die Falle ist grob, das darf ich dir wohl sagen. Lieber räume ich das Feld.«
Sie versuchte, einen Schritt zurückzuweichen, winkte, richtete sich schamrot wieder auf, bemühte sich ungeschickt, ihrer Enkelin das immer noch zunehmende Schlottern ihrer Knie zu verbergen. Chantal schloß die Augen.
»Großmutter,« sagte sie mit verzweifelter Stimme, »schweige doch! Ich darf nichts von dem wissen, was du sagen willst; das sind Geschichten aus vergangener Zeit. Ja, sie quälen dich, ich weiß es … Sie regen sich in deinem armen Herzen. Glaubst du, sie regten sich weniger darin, wenn ich sie erfahren habe? Wenigstens heute nicht, Großmutter, nicht gleich!«
Sie drückte die Finger hart auf ihre Augenlider. Denn unbewußt fürchtete sie weniger die erwarteten drohenden Geständnisse, einerlei welcher Art, als den winzigen schwarzen Schattenriß im Mittelpunkte der feindlichen Landschaft wie im Mittelpunkt ihrer eignen Versuchung, den hinfälligen, geheimnisvollen Körper, an dem sie das schlichte und doch tragische Geheimnis, das seit so vielen Jahren versunken war, aber nun plötzlich an die Oberfläche der Finsternisse tauchte, zu fassen und zu fühlen glaubte – jener Art von elastischem Moos ähnlich, das jeden mit dem Erdbohrer aus der Tiefe gehobenen Kiesel bedeckt.
» Luise,« fuhr die Irre mit einer Art von Emphase fort, »ich hasse die Faxen; ich gehe stracks aufs Ziel; ich bin in Geschäften stets ehrlich gewesen wie ein Mann. Habe ich dir unrecht getan, meine Tochter, ja oder nein?«
Sie hustete wie ehedem am Ende endlosen Schacherns, wenn der Pächter, durch Zahlen und groben Apfelwein verblödet, die Feder besiegt in die Tinte taucht und sie am Ellbogen abwischt.
»Und doch müßtest du es wissen; es kommt nicht nur darauf an, stillzuschweigen. Ich lese es in deinem Kopfe. Oh! du wirst mir nie etwas verbergen, füge dich darein … Mich hat man niemals getäuscht. Die großen Worte machen mir keinen Eindruck; ich gehe stracks auf die Sache. Ich treibe in die Enge, wie man sagt. Umsonst erfindest du Heimlichkeiten auf Heimlichkeiten, senkst die Lider, hältst den Mund, das ist mir einerlei. So oft es mir gefällt, brauche ich nur die Tür zu öffnen, um bei dir einzutreten, mein Schätzchen, und durch deine kleinen Geheimnisse spazieren zu gehn. Du gleichst den Leuten, die sich doppelt einschließen und ihr Fenster offenlassen. Im Grunde hältst du mich für eine böse Frau, nicht wahr? Was flüsterst du jetzt vor dich hin?«
»Großmutter, arme Großmutter«, wiederholte Chantal am Ende ihrer Kräfte. »Arme Großmutter!«
Und sie preßte die Finger noch fester auf ihre Augen, als brächte die Nacht, die sie derart in sich schuf, sie der teuern Toten noch näher, denn diese scharfe Stimme zog ja ihre schlichten, tränenbenetzten Geheimnisse eins nach dem andern aus dem Dunkel, wie eine Hand im Suchen nach einer verlorenen Melodie über das Klavier hingleitet.
»Arm, sagst du? Wieso arm? Hab' ich dir je deine Armut vorgeworfen, mein Herzchen? Wir sind keine Lords, aber wir heiraten gern Mädchen ohne Mitgift … Das ist nicht schlimm, man hat Arbeit genug … Tatata, bin ich ein Kannibale, ein Drache? Ich will nicht mal von deiner traurigen Gesundheit reden. Mein Sohn ist ein Windbeutel, ein Tropf, er hat nur, was er verdient hat. Wir bestreiten die nötigen Kosten … Das heißt, wir haben sie seinerzeit bestritten … Kurz, wir bestreiten sie … Oh, das Luder! Siehst du, ich habe meinen Kopf beisammen. Eine alte Frau nimmt es mit dem Teufel auf. Selbst ein Gespenst würde mir nicht Angst machen. Bah, bah, warum es verhehlen? Die … die Beerdigung hat uns zweihundert Taler gekostet, und irrsinnig oder nicht, Kleine, vor dir werde ich es nicht abstreiten.«
Weder Zorn noch selbst Ekel hatten Fräulein Chantals Finger gelöst, und tatsächlich empfand sie in diesem Augenblick keins von beiden. Es war ihr vielmehr, als entstünde plötzlich eine tiefe Stille in ihrem Herzen, – aber so verschieden von der, die den großen Seelenkämpfen vorangeht, – eine Stille anderer Art, die sie noch nicht kannte. Jedes Wort drang bis zu ihren Ohren, unverändert, vollständig, sie erfaßte seinen Sinn, und doch nahm sie es mit stumpfer Gleichgültigkeit auf, oder was noch schlimmer ist, mit dem Gefühl enttäuschter Erwartung. Das Wesen, dessen Bild hinter ihren geschlossenen Lidern stehn blieb, so lächerlich klein und schwarz vor dem Ungeheuern Horizont, unter diesem Gluthimmel, – war das ihre Großmutter oder irgendein Insekt? Es wäre ihr leicht erschienen, diese meckernde Stimme mit einem Tritt ihres Absatzes zu zertreten, diese klägliche Gestalt mit dem Handrücken auszulöschen wie einen Kohlenstrich, ein ausschweifendes Wort auf dem unerbittlichen Lichtschirm des Firmaments … Aber sie wünschte nichts. Sie empfand nur eine dumpfe Neugier, deren Gefährlichkeit sie in ihrem dämmernden Bewußtsein dunkel erkannte, denn selbst der Haß umschließt ein schwaches Menschenherz nicht mit zwei so eisigen Armen. Selbst die Leiche des Hasses ist wärmer.
Nein, weder Zorn noch Ekel ließen ihre Arme sinken, ihre Augen sich öffnen. Sie gehorchte nur dem Gesetz der Natur, ihrem Stolze. Sie bot die Stirn. Vielleicht schon seit einer Stunde, jedenfalls zu lange, befand sie sich, man weiß nicht warum, auf diesem öden Felde, durch unfaßbare Phantome gedemütigt, von vertrauten, feindlich gewordenen Bildern genarrt, im Flammennetz einer Landschaft gefangen wie eine Mücke inmitten eines strahlenden Gespinstes … Sie bot die Stirn.
Die alte Dame hatte sich nicht um Zollbreite gerührt. Sie stand noch immer auf dem gleichen Fleck, neben ihr ihr kleiner Schatten wie ein mißgestalteter, aber treuer Zwerg. Und wiewohl ihre Züge nach wie vor den Ablauf ihrer Gedanken verrieten, öffnete und schloß sie den Mund, ohne einen Laut hervorzubringen.
Fräulein de Clergeries einzige List ist just die eines Chevance: niederschmetternde Einfalt. Wenn der Schwächling oder der Betrüger stets komplizierter ist als das Problem, das er lösen will, wenn er in dem Glauben, den Gegner einzukreisen, sich stets um die eigene Person dreht, so stürzt der heldische Wille sich mitten in die Gefahr und benutzt sie, wie man die eroberten Geschütze umdreht und sie in den Rücken des besiegten Feindes wendet. Sie trat plötzlich auf Frau de Clergerie zu, legte ihre Hände auf deren Schultern, nahm den schrecklichen, leeren, von Schatten durchkreuzten Blick in den ihren auf und sprach:
»Ich fürchte mich nicht, Großmutter. Ich fürchte mich nicht vor dir. Warum solltest du dich vor mir fürchten? Umsonst wirst du mir Leid antun, du wirst mich nicht in Verzweiflung bringen, selbst heute nicht, zu dieser Stunde, denn ich werde stets die Kraft finden, dir zu verzeihen. Oh! du bist nicht so unsinnig wie du scheinen willst, nicht wahr, und auch nicht so böse. Irgendwas, ich weiß nicht was, lastet zu schwer in dir, in deiner armen Seele, nicht wahr? Etwas erstickt dich, du kannst es nicht mehr für dich behalten – aber niemand ist so barmherzig, es zu nehmen, niemand scheint dich zu verstehn … Und doch bringst du es mir gerade in einem Augenblick meines Lebens, wo ich kaum Mut genug für mich allein habe, willst dich an ein unglückliches treibendes Schifflein anhängen. Wo kommen wir beide hin?«
Die alte Dame hatte sich anfangs furchtbar erregt, ohne zu antworten. Dann gruben sich die tausend Runzeln ihrer Wangen tiefer, und ihr unentwirrbares Netz schien sich mit den beiden tiefen Falten am Munde zu vereinigen, indes ein unbestimmter Schimmer in der Tiefe ihres schlafenden Blickes zu flirren begann. Und fast sofort flogen ihre beiden dürren Hände wie Kugeln los, so schnell, daß Fräulein Chantal rasch den Kopf abwenden mußte, um den Schlag nicht mitten ins Gesicht zu erhalten. Zugleich straffte sich der alte hohle und leichte Körper in einer ungeheuern Anstrengung.
»Laß mich gehn, Chantal«, flehte die Irre. »Laß mich gehn! Ich erkenne dich, mein Liebchen. Was sollte ich dir geben? Ich habe gar nichts zu geben, das ist das Unglück. Nichts zu geben, nichts mehr, mein Schätzchen … Man kann nicht wissen, was es ist.«
In ihrer Erregung hatte sie ihren langen, gestrickten Schal abgewickelt und hielt ihn mit einer Hand in Kniehöhe; das Ende schleifte im Grase zu ihren Füßen. Niemand hätte sagen können, in welcher Tiefe ihres Bewußtseins das schlichte und klare Wort aufgeleuchtet hatte, noch welches der eigentliche Sinn des Gefühls war, das soeben ihr leeres Antlitz verklärt hatte, das wie von innen her durch die verzehrende Leidenschaft des Alters, ein unfruchtbares Sehnen, erschöpft war. Wie soviele andere Überlebende in einer ganz neuen Welt, die ihnen so unbekannt ist wie der Sirius oder Orion, während sie durch ein mörderisches Mitleid, die Mitschuldige ihrer zwecklosen Lügen, langsam aus der Welt der Lebenden ausgestoßen werden, wartete sie, wer weiß seit wieviel Tagen, Jahren, Jahrhunderten, auf das befreiende, lebendige Wort. Offenbar hatte sein Ton, sein Laut sie schon ins Herz getroffen, lange bevor ihre klägliche Aufmerksamkeit, die nur noch langsam in Bewegung geriet, den Sinn zu erfassen gesucht hätte. Doch sie hatte darin alsbald jene Art von Wahrheit erkannt, die ihrem Stolz einst unerträglich gewesen war, und sie tastete danach, um sie zu erfassen, ihren kostbaren Inhalt herauszudrücken, der für ihre Knochen notwendig geworden war.
Eine Zeitlang spähte Fräulein de Clergerie in dies Gesicht, das sich ihr entgegen hob, das sich ganz ihrem Blick zuwandte, ihm verfallen war. Just die Heftigkeit ihrer Verwirrung gab ihr die Selbsttäuschung völliger innerer Ruhe, eines tiefen, übernatürlichen Friedens. Das Abenteuer des Morgens verlor nach und nach seinen Sinn, wie ein Wort, das man im Traum gehört hat und das der Geist am Morgen in der Tiefe des Gedächtnisses wiederfindet, leblos und farblos, wie einen toten Vogel. Der Gedanke, daß das winzige Wesen, das sich mit ihr in der Glut und dem Licht eines Sonnentages verlor und kaum wirklich war, einst die Feindin ihrer Mutter, ihre Nebenbuhlerin gewesen sei, schien ihr ausschweifend. Einen Augenblick vorher war sie der doppelten Ohrfeige ohne Zorn ausgewichen, wie man eine summende Mücke, einen Grashalm abwehrt. Jetzt hätte sie ihre Backe dargeboten, hätte gewünscht, den Schlag ins Gesicht zu erhalten. Dann wollte sie in das nun fremd gewordene Haus zurückkehren, das da unten hinter den Bäumen lag, und zu allen sagen, »Schlagt mich auch, ich verdiene es, ich habe nie zu euch gehört; ich tat so, als gehörte ich euch an, aus Unwissenheit oder Feigheit, ihr habt mir nichts zu geben, ich besitze nichts, was euch frommt – welch törichter Traum von mir, irgendwas auszutauschen! Ich kann euch weder lieben noch hassen. Doch ihr könnt mich wenigstens totschlagen. Befreit mich von euch allen!«
»Schau mich nicht so an«, sagte die alte Dame, und ihre scharfe Stimme erhielt in der Stille eine ungemeine Klarheit. »Du machst eine Miene wie eine Märtyrerin, ich verabscheue solche Faxen, mein armes Kind. Offenbar … offenbar …«
Sie trat mit ein paar kleinen schlotternden Schritten auf Chantal zu, als hinderte sie etwas am Gehn.
»Offenbar, siehst du, seien wir gerecht«, fuhr sie fort, während Fräulein Chantal ihren schwachen Atem auf ihrer Brust fühlte. »Es war unrecht von mir, diesen Sonntag … Ja, da mußte man die Tür schließen. Deine Mutter hat alles gehört. Übrigens tat ich es absichtlich. Man hat seine boshaften Augenblicke, wo einem die Wut im Munde zusammenläuft. Es ist einem, als ob sie bis ins Herz flösse … Ich bin nicht schlechter als andere; ich hätte das Thermometer am liebsten zum Fenster hinausgeworfen … Achtunddreißig fünf, neununddreißig fünf, welch ewiges Lied, welch ein Kopfzerbrechen! Und dein Vater quittegelb, mit seiner Leber, seinen Nieren, was weiß ich!«
Sie kam noch näher und hob ihren wieder getrübten Blick zu ihrer Enkelin.
»Glaubst du, sie hat soviel geweint? Bist du sicher? Ich lauschte mit einem Ohr, wenn ich meine Betttücher zusammenlegte. Ich hielt stets die Ohren gespannt. Sie schluchzte laut. Aber ich war im zweiten Stock, in der Wäschekammer, das muß ich sagen. Ihr Fenster stand weit offen; der Schall dringt hinauf … Na? Was denkst du? Und dann, wenn man so alt ist … denkt man sich was aus, erfindet. Übrigens ist die Ärmste zehn Tage darauf gestorben. Was hätte es ihr geholfen, wenn ich schweige?«
Der Schal glitt ganz zu Boden, und das komische, schmerzvolle Gesicht erschien in dem unbarmherzigen Licht wie die Drohung der Nacht selbst. Da hörte Fräulein de Clergeries Herz auf zu schlagen. Doch selbst in diesem Moment weigerte sich das tapfere Mädchen, das stets klar in sich sah, den Boden zu verlieren, lehnte sich auf gegen die finsteren Träume, die sie einen nach dem andern aus der Tiefe ihres Bewußtseins aufsteigen fühlte wie Schlammblasen. Die Angst mit ihrem augenlosen Gesicht erregte jede Fiber in ihr, und doch bezwang sie ihren Mut nicht, besiegte nicht mal jene Spur boshaften Stolzes, welche die Blüte ihrer jungen Weisheit ist. »Soll ich vor meiner Großmutter davonlaufen?« fragte sie sich. »Ich bin lächerlich. Sie liebte Mutter nicht. Was weiter! Wußte ich das denn nicht? Was habe ich Neues entdeckt? Ich war töricht, bis hierher zu gehn, zu diesen vier alten Mauern. Ich bin noch törichter, hier zu bleiben. Ich habe heute morgen nichts als Torheiten begangen!« Doch das war nur eine Stimme, die sich im Sturme verlor.
Denn es gelang ihr noch nicht, ihre Augen von dem feindlichen Kopfe zu lösen, den die ganze Kraft des Lichts überfiel, dem sie selbst jenen geheimen unstofflichen Schatten nahm, in den das Alter die Menschen hüllt. Die Leidenschaften, die seine Züge geformt hatten, überlebten sich darin versteinert, jenen glatten Schädeln vergleichbar, die uns plötzlich die unheimliche Innenseite eines seit Jahrhunderten zerstörten Gesichts verraten. Wie auf einem Grabstein konnte sie in diesen Erhöhungen und Furchen die ganze Geschichte ihrer Rasse, die harte Prägung ihrer Sippe in dem formlosen Wachs der Zeit lesen. Vom Onkel Anton stammte die doppelte Furche der Stirn, das verkniffene, grinsende Lachen, mit dem er einen verschwenderischen Pächter, eine schwangere Magd, einen Wilddieb begrüßte. Die herausfordernde Biegung des Kinns, die beiden schweren, zu niedrigen Kinnladen stammten von dem Urgroßvater Ferdinand, der mit hundert Jahren gestorben war und eine bretonische Kuh auf seinem Kopfe zum Jahrmarkt von Saint-Guénolé« trug. Da war die strenge Stirn der de Clergeries, der schwere Nacken des Vaters, sein fliehender Augenbogen, der dem Blick des Männchens etwas Krankes, Verdächtiges gibt … Da war noch … Gott! wie leicht ist diese stets so junge, kindliche Spur, die auf jeder Wange in einem unmerklichen Grübchen endet, das sich nur durch einen beweglichen, lebendigen Schatten abzeichnet und durch Schmerz oder Freude, eine plötzliche Seelenregung, abwechselnd gehöhlt und geglättet wird!
Blitzhaft sieht sie ihr eignes Bild wieder, eine schlechte kleine Photographie, die sie in ihr Gebetbuch gesteckt hat, weil sie die Spur der Lippen tragen soll, die ihre Mutter so oft darauf gedrückt hat. »Deine Mutter vergötterte diese Grübchen«, erklärte Herr de Clergerie feierlich. »War sie doch auf den Einfall gekommen, den Meister Bourdelle eines Abends zu bitten, deine Backen abzuformen …« Ihre Backen!
» Ich habe nichts«, pflegte der Abbé« Chevance zu sagen. » Dreißig Jahre habe ich gebraucht, um zu erkennen, daß ich nichts habe, gar nichts. Was im Menschen lastet, ist der Traum …«
Es geschah kein Zeichen am Himmel, kein Wunder. Der dünne Rauch stieg noch immer zwischen den Bäumen auf und verflog fast sofort in den Äther. Das trockne Gras knisterte leicht, ein Steinchen rollte von der Mauerspitze herab bis zum Teich, der kümmerliche Schmetterling ließ sich noch einmal auf die gelbe Spitze eines Holunders nieder.
»Großmutter,« sagte Fräulein de Clergerie nach langem Schweigen, »wir beide müssen dorthin zurückkehren. Es muß in Gott geschehn.«
Sie hob den Schal auf, und um ihn nicht zu tragen, schlang sie ihn um ihre Hüften über die Seidenbluse. »Habe keine Angst«, sagte sie weiter. »Ich bin jetzt stark genug, dich zu tragen. Ich möchte, du wärest schwer, viel schwerer, so schwer wie alle Sünden der Welt. Denn siehst du, Großmutter, ich habe soeben etwas entdeckt, was ich längst wußte: Bah! wir entgehn einander ebensowenig, wie wir Gott entgehn. Wir haben nur eins gemeinsam, die Sünde.«
Sie näherte ihren Mund der schweißtriefenden Stirn und drückte plötzlich die Lippen darauf. Der nachgiebige Kopf sank weich zurück, gab sich mit geschlossenen Lidern hin. Schon trug Chantal die klägliche Beute eng an ihre Brust geschmiegt davon. Die grausame Sonne verbrannte ihr Nacken und Hände, sog die Luft aus ihren Lungen, raubte ihr selbst das Denken. Doch sie fühlte es: keine Sonne der Welt konnte fortan ihre Freude versiegen lassen.
»Großmutter,« murmelte sie keuchend und Atem schöpfend, »es scheint, daß ich dich trage, aber du trägst mich … Laß mich nicht mehr los!«
Ihr Blick war trunken von Ermüdung und Sonne und voll stiller Herausforderung.
. . . . . . .
»Laß doch meine Zwiebeln!« schrie die Köchin wütend. »Du bist zu nichts zu brauchen … Geh schlafen, – jawohl! – Geh schlafen! Was für ein Haus!«
»Das ist nicht wahr!« sagte Franziska und wischte sich mit dem Unterarm ihre roten Augen. »Ich kann keine Zwiebeln schälen, ohne zu weinen. Kann ich dafür?«
»Lüg doch nicht, Schafsgesicht! Du heultest. Ich hörte es aus dem Waschhause. Du tust mir leid: ich sollte dir ein paar herunterhauen.«
»Das wäre kein Schade. Ich möchte tot sein, Frau Ferdinande. Wenn ich sterbe, will ich eingeäschert werden – verbrannt, jawohl, die Knochen auch, alles. Ich habe was aufgeschrieben, man wird es unter der Marmorplatte meiner Kommode finden. Ich habe sogar Lust, es Ihnen zu geben, von wegen Herrn Fjodor, der überall umherschnüffelt.«
»Behalt es nur, du kleine Pute; ich mische mich nicht in solche Sachen … Die Romane haben dir den Kopf verdreht. Mach's wie ich; lies nie einen. In deinen Jahren denkt man schon genug an die Männer; da braucht man sich das Blut nicht noch durch Einbildungen heiß machen zu lassen. Aber du hast so wenig Widerstandskraft wie ein Kind und steckst voller Laster mit deinen Augen wie geschmolzenes Blei. Graue Augen! Das ist nichts Menschliches.«
»Laster? Sagen Sie lieber Unglück. Mir ist kein Glück bestimmt; ich habe nicht mal eine Glückslinie in der Hand. Ich bin ein Unglücksrabe. Und Herrn Fjodor den Laufpaß geben, da muß ich lachen! Ein Mann wie der, schmeichelnd und verschlagen wie ein Weib und so wild wie ein Kater!«
»Wild! Taratata! Wilde Männer, so was sieht man im Film. Das ist ungefähr so wie deine Einäscherung, deine Glückslinie und so weiter: Einbildungen. Eine gute Suppe morgens um sechs Uhr, Chinin vor der Mahlzeit, und einen Kräutertee abends vor dem Zubettgehn, um die Wallungen niederzuschlagen, – das ist der Rat einer Hausmutter. Ich weiß im voraus, du wirst nicht mehr Wesens darum machen als um deinen Milchzahn. Aber so ist die Welt: Die Erfahrung ist eine Erfindung alter Leute, die die Jugend in Zorn bringt, ohne irgendwem zu nutzen. Es ist noch ein Glück, daß du mir nicht ins Gesicht lachst.«
»Ich habe keine Lust zu lachen, nein.«
»Lache trotzdem. Es gibt nichts besseres gegen den Gefühlsdusel. Sonst wirst du zu spät lachen, und Gott weiß, wohin das Zuspätlachen führt, wenn man Liebesgram im Herzen hat! Gradenwegs zum Brunnen, um sich kopfüber hineinzuwerfen.«
»Warum nicht?«
»Schweig doch still, schlechtes Ding! Wenn du diese Dummheit Tag und Nacht im Kopfe wälzt, begehst du sie schließlich. Ich habe Gerissenere als dich gesehn, die der Selbstmord gepackt hat, die fixe Idee, wie man's nennt; wie die Fliegen sind sie draufgegangen. Weder du noch ich stammen aus einem feinen Haus. Man muß ein offnes Wort mit dir reden. Na also, die vornehmen Leute bringen sich seltner um als wir. Das ist Tatsache. Sie stöhnen Ach und Oh! haben Grillen und Nervenanfälle, aber dabei bleibt es. Das genügt, um die Dienstboten auf die Beine zu bringen und Spezialisten vom Schlage des Professors La Pérouse zu bereichern, der unsern Herrn wie einen Esel treibt. Ein kleiner Grasaff hat nicht das Zeug dazu, sich Melancholien zu leisten wie ein Millionär, verstehst du?«
»Nicht das Zeug? Da irren Sie, Frau Ferdinande. Halten Sie von mir, was Sie wollen; ich bin vielleicht nicht so beschränkt, wie ich aussehe. Ich drücke mich schlecht aus, jawohl, aber etwas mehr oder weniger, die Liebe läßt alle Menschen faseln. Übrigens wird in den Büchern nichts Gutes von ihr gesagt – nur Spott. Die Liebe ist hart, sehn Sie; sie hat kein Herz. Sie könnte sogar über alles lachen wie ein Totenkopf. Ich habe keine Sorgfalt mehr für mich, keine Gefallsucht; ein neues Kleid ekelt mich an. Man möchte doch nicht wegen seines Kleides geliebt werden! Zu Anfang ja, gewiß; da zeigt man gern einen Mantel, noch weniger, einen Hut, ein Stück Band, einen hübschen kleinen Schuh mit neuer Schnalle. Und Sie lachen, ringen die Hände, reden dummes Zeug. Man glaubt, die Liebe sei reich und freundlich. Das hat sie nötig, um uns zu verführen; sie umgarnt uns mit Sanftmut und schönen Faxen. In Wahrheit aber, Frau Ferdinande, sobald der Fisch angebissen hat, lebwohl Sanftmut! Da zeigt sich die Liebe, wie sie ist, bloß wie die Hand, splitternackt.« Vor Überraschung hatte die Köchin ihre dicken Arme auf den Tisch fallen lassen, und als das arme Mädchen schwieg, zuckte sie die Achseln, wie ein Mensch, der beim Baden friert.
»Du machst mir Angst, Franziska«, sagte sie. »Ich glaube, du bist verrückt. Es geht ein Zug von Verrücktheit durch dies verteufelte Haus, ganz gewiß! Das Schlimmste ist, man kann nicht an dir zweifeln; man muß dich für ehrlich halten. Das ist mir in die Beine gefahren.«
Sie schnaufte geräuschvoll, wischte sich die Augen, in denen unter den Tränen schon die wilde, weibliche Neugier glänzte, die stärker ist als jedes Mitleid.
»Ich werde dich herausreißen, Kleine. Ich werde nicht zulassen, daß dich ein dreckiger Russe auffrißt, ein wahrer Teufel. Was hat er dir nur in den Kopf setzen können, – du Windbeutel, die mir noch im letzten Sommer den Zucker und die Schokolade mauste und von früh bis spät sang? In drei Teufels Namen, du bist nicht verlassen, du hast Freunde, man sollte es der Polizei anzeigen. Sei aufrichtig, gelt! Ich wette, er droht dir, der Blutsauger!«
»Mir drohen! Wagen Sie das nicht noch einmal zu sagen, Sie dicke Kugel, Sie Heuchlerin. Er hat nie einem Menschen gedroht. Er ist unglücklich, das ist alles. So unglücklich, daß man es nicht denken kann, daß sich einem das Herz und der Magen umdreht, daß einem schwindlig wird, jawohl! … Wenn er gähnt, ist er wie ein König, ein Gott. Er erklärt, das sei so in seinem Lande unter einem weißen Himmel, mit weißer Erde, kleinen Birken und Hütten, gefrorenen Seen, einer großen roten Sonne und Wölfen … Dann spricht er vom Tode, so sanft und freundlich, und gesteht, daß er mich nicht liebt, daß er mich nicht lieben kann. Armer Kerl!«
»Du Schaf! Dreifaches Schaf! Sein Land! Wie sie das sagt! Und unglücklich! So sieht er aus. Er spielt bis zwei Uhr morgens Karten, kleidet sich wie ein Prinz, raucht vergoldete Zigaretten, die nach Pfeffer und Lavendel duften! Unglücklich! Rede mir noch von deinem Vater, du Gans, der sich beim Glasblasen die Brust krank gemacht hat, um euch alle sechs nach dem Tod deiner Mutter großzuziehen. Ist das zu denken, einen hergelaufenen Russen auf den Knien anzubeten, wo du ihn vor zehn Minuten noch verschlagen, wild und Gott weiß was gescholten hast!«
»Frau Ferdinande, es tut mir leid, daß ich Sie gekränkt habe. Verzeihen Sie mir, ich habe Nerven. Nur seien Sie nicht ungerecht, nicht wahr! Anfangs war ich es auch. Ich möchte es Ihnen erklären, aber es ist zu schwierig; mir fehlen die Worte … Übrigens bin ich nicht so sehr zu bedauern, wie Sie meinen. Ich bin vielmehr gar nicht zu bedauern. Er liebt mich nicht, gut. Ich kann ihm deswegen nicht grollen, er ist zu unglücklich. Ich muß mit ihm unglücklich sein, seinetwegen. Ich bin jetzt seinesgleichen, sehn Sie, das hat er gesagt. Auf das übrige pfeife ich. Ich will nicht, daß man sich meinetwegen bemüht; ich werde sterben wie eine Fliege. Natürlich scheint Ihnen das düster, traurig; es überläuft Sie kalt, wenn Sie mich anhören. Aber gerade die Kälte gibt mir Ruhe, ich bin müde. Auch der Abend ist traurig, Frau Ferdinande. Trotzdem, wenn die Sonne einem die Schultern versengt und die Augen aus dem Kopfe getrieben hat, ist man froh, wenn man die Ferne dunkeln und die großen Nachtfalter fliegen sieht.«
»Die Ferne dunkeln und die großen Nachtfalter fliegen: ich glaube ihn zu hören! Sie sagt seine Lektion Wort für Wort her, die Harmlose. Und er wird sie ruhig bis an den Rand des Flusses führen mit seinen schönen hohlen Redensarten wie ein Dudelsack. Das will er ja gerade, du einfältiges Ding! Jawohl, er will deine Spargroschen. Lüge nicht: er hat dir mehr als tausend Franken gestohlen.«
»Und was weiter? Sie sollen noch viel mehr sehn, Frau Ferdinande. Ich werde ein Testament machen; er soll alles haben.«
»Gut, gut, dabei soll es bleiben … Nur wirst du wissen, mein Schatz, daß ich hier eine Arbeit habe … Ich bin keine Rentnerin. Du kannst dich anderswo aufhängen, mein Wort darauf; ich werde dich nicht mehr lange dulden. Bezahlt der Herr dich etwa, damit du den ganzen langen Tag flennst oder Schauergeschichten im Ton eines Firmelkindes auftischst, das den lieben Gott ohne Beichte haben will? Ich werde dich durch den Herrn an die Luft setzen lassen, jawohl, wie ich hier rede, verstehst du? Und zu deinem eignen Besten. Eine Mutter würde es bei dir nicht anders machen. Sind wir erst wieder in Paris, so wird sich ja zeigen, ob der Russe dir noch nachläuft; darüber bin ich beruhigt. Und zwar auf der Stelle muß ich mit ihm reden, von wegen des Fasses mit Olivenöl … Ich werde ihm ein Wörtchen sagen, das mir schon längst auf den Lippen brennt. Wenn du ihn nicht rufen willst, werde ich es ihm durch Franz sagen lassen.«
»Franz ist auf dem Pachthof; er flickt den Waschkessel aus. Glauben Sie etwa, das hinderte mich, Herrn Fjodor zu rufen? Welche Bosheit! Sie werden sehn, was für ein Mann er ist, Frau Ferdinande. Er wird Sie wie einen Handschuh umkrempeln, der hübsche Kerl.«
»Gut, gut, rede nur immer weiter!« entgegnete die Köchin beleidigt. »Und sag ihm, er soll das Faß auf der Schiebkarre des Gärtners herbringen wie jedermann, statt den Herkules zu spielen. Das letzte Faß Portwein hat er mir fast auf die Füße geschmissen – hundert Liter!«
Sie griff mit Würde zu ihrem Messer. Als Tochter eines Schmiedes und Gastwirtes im Avretal, der jeden Sonntag ein Tanzfest für die Jugend veranstaltete, glaubte sie keine geringe Erfahrung in Herzenssachen zu haben. Da sie jedoch von klein auf an den normännischen Frohsinn gewöhnt war, der weder den Dienstboten noch selbst den Nachbarn eine Ausschweifung verhehlt, wenn sie nur mit erblicher Weisheit nach dem Maßstab der Geldmittel und Freiheiten eines jeden ehrlich berechnet ist, begann sie die Luft dieses allzu verschlossenen Hauses erstickend zu finden. War es doch so ganz anders als die Schlösser, in denen sie gedient hatte. Offenbar ward es von den jagdfreudigen Landjunkern und dicken Dorfpfarrern gemieden und nur von geschwätzigen Ärzten, ausgezehrten Priestern, altersschwachen Geschichtsschreibern und verdächtigen Journalisten aufgesucht. Es war sittenstreng bis zur Schwermut, aber innerlich, das spürte sie wohl, von vielen Lastern und Launen durchwühlt. Vor allem verachtete sie die schwächliche Gesundheit des Hausherrn, seine Medizinen, die lächerlichen Abneigungen seines Magens und noch andere Narrheiten, die sie für weibisch und eines Mannes unwürdig erklärte. In ihrer Jugend hatte sie durch den Zufall einer Aushilfsstellung die schon sterbende Frau de Clergerie kennengelernt, und so hatte sie eine Art hingebenden Mitleids, die nicht ohne Zartgefühl und Hellsichtigkeit war, unbewußt und unmerklich auf Fräulein Chantal übertragen. Die Zuneigung seiner Tochter zu dieser dicken Gevatterin ärgerte Herrn de Clergerie, denn ihm waren fette Menschen ein Greuel. »Sie schwitzt,« pflegte er zu sagen, »ich kann sie nicht ohne Übelkeit ansehn.« Doch er sollte nie erfahren, daß das geheimnisvolle junge Mädchen in der tragischen Einsamkeit, in der es die höchste Anstrengung seines Lebens machen, sein Leben selbst hergeben sollte, nirgends etwas Hilfe und Ruhe fand, außer in der groben Fürsorge der Köchin. »Sie ist nicht sehr fein,« antwortete Fräulein Chantal, »nicht mal sehr fromm, und sie erzählt mir erstaunliche Geschichten, die mit dem ganzen Salz ihrer Küche gewürzt sind. Trotzdem habe ich sie gern, weil sie nicht lügt.« In der Tat war sie unter so vielen verschiedenen Leuten zweifellos die einzige, die nicht von der Lüge angesteckt war.
»Ich ließ Sie doch bitten, den Schubkarren zu benutzen, Herr Fjodor. Die Tür des Waschhauses ist so niedrig! Gewiß haben Sie noch den Türsturz eingestoßen.«
»Was schadet das?« sagte er, das Fäßchen an den gewöhnlichen Platz legend, und blickte Frau Ferdinande mit ruhiger, trauriger Miene an. »Jawohl, was schadet das? Ich habe von niemandem Auftrag; ich wollte Ihnen nur einen Gefallen tun, einen Dienst leisten. Im übrigen habe ich wohl das Recht, nach Gutdünken zu verfahren, wie es mir einfällt, auch wenn dabei ein Stück Eichenholz eine Schramme kriegen sollte. Frauen verstehn dergleichen nicht; man hat manchmal das Bedürfnis, seine Muskeln zu erproben.«
»Sie müssen ja stets recht haben«, entgegnete die Köchin brummig. Er fühlte in ihrem Tone deutlich ein Zittern der Ungeduld und der Neugier, einen Verdruß, der ihm gefiel. »Welch ein Wortschwall bei der geringsten Bemerkung!«
»So sind wir nun mal«, sagte er. »Wir sind schwatzhaft. Und doch bin ich imstande, wie ein Franzose zu reden, sogar noch roher. Sie denken viel Schlechtes, Frau Ferdinande, vielzuviel Schlechtes … Man darf nicht … Man soll sein Herz ausschütten … Auch ich will Ihnen ein Wort über Fräulein Franziska sagen.«
»Sie haben vielleicht an den Türen gelauscht; tun Sie sich keinen Zwang an«, bemerkte die dicke Köchin enttäuscht und wütend. »Ich lache darüber. Ich habe genug von Ihren Faxen, das ist das rechte Wort. Eine Familienmutter braucht Ihnen nicht zu verhehlen, was sie denkt. Sie gehören nicht in ein ernstes Haus, Herr Fjodor, in ein Haus von ehrbaren Leuten. Es gibt hier wohl Dummheit, ich behaupte nicht das Gegenteil, aber keine Schlechtigkeit. Sie sind schlecht. Ich kenne Franziska. Sie haben sie absichtlich verrückt gemacht, aus Bosheit, Sie sind boshaft wie ein Affe. Sie wird sich schließlich umbringen, und Sie sind ihr Mörder … Man hat Leute guillotiniert, die weniger schuldig sind als Sie.«
Sie war auf einen Zornesausbruch gefaßt oder auch auf ein lautes Gelächter, eine Herausforderung. Der Russe hörte sie schweigend und unbeweglich an; er war totenbleich. Sie schwieg.
»Ist's möglich«, sagte er plötzlich mit seiner singenden Stimme. »Sehn Sie diese Brust, Frau Ferdinande.« Er riß heftig sein Seidenhemd auf und zeigte seine nackte, glatte Haut, die von fünf tiefen Narben gezeichnet war. »Sehn Sie die Spur der Kugeln? Ich bin in Wrosky vor der Schulmauer erschossen worden, wie ich hier vor Ihnen stehe; die fünf Gewehrläufe waren ein paar Schritte vor mir; ich konnte sie fast mit der Hand fassen, und der Schnee war rot von Blut. Sie hatten mit den Schulbänken und der schwarzen Tafel ein Feuer angezündet; darin verbrannten sie unsere Sachen, unsere Papiere, unsere armseligen Hosen, die mit Hanf und einem spitzen Stöckchen geflickt waren, unsere Stiefel … Ich sah den schmutzigen Rauch gen Himmel steigen. Welcher Mensch hat wohl sein Ende aus größerer Nähe gesehn, von Angesicht zu Angesicht? Wohlan, bei dieser Erinnerung, die mir heiliger ist als irgendein Weib, selbst meine Mutter (er bekreuzte seine Lippen): ich habe nichts Böses tun wollen; ich habe einfältig, töricht gehandelt … Ich hätte gewünscht, daß das Mädchen meine Freundin, meine Kameradin würde. Worin liegt mein Verbrechen? Früher war sie schlicht und ländlich frisch; sie roch nach Heu. Ich hätte sie gern geküßt wie ein Brüderchen. Sehn Sie sie heute an. Was kann ich dafür? Sie hat ihr Wesen verleugnet, ist der alten Lüge verfallen. Wer hat sich geändert, sie oder ich?«
»Oh, Sie reden gut! Sie sind verschlagen. Ich kenne Ihre Schliche … Gestehn Sie doch nur, daß Sie seit Wochen hinter der Kleinen her waren und flüsterten … Sie war wie ein Vogel, völlig geduckt und gelähmt; sie wäre in die hohle Hand gegangen. Und dann haben Sie ihr beigebracht, auf Russisch zu fluchen, zu rauchen, Äther zu trinken … Gemeinheiten.«
»Sollte ich sie zum besten haben, sie anschnauzen? Ich will es Ihnen nicht verhehlen, Frau Ferdinande,« (der Ausdruck seines Blickes wurde plötzlich so unbestimmt, daß die Köchin vor Überraschung und Ekel aufstöhnte) »Sie scheinen durchaus nicht zu wissen, was Unglück ist. Das Mädchen weiß es. Denn über einen Toten, einen verlorenen Prozeß weinen, auf Christus fluchen, Gott lästern ist nicht Unglück. Das Unglück ist still und heimlich wie ein König auf dem Thron, stumm wie ein Leichentuch. Die Verzweiflung gibt uns die gleiche Macht, wie Gott sie hat.«
»Und was haben Sie so einer Göhre erzählt, Sie Aufschneider?«
»Frau Ferdinande«, entgegnete der Russe mit demütigem, harmlosem Lachen, »geben Sie Ihren Irrtum auf: ein Weib versteht leicht, was Unglück ist. Jawohl, in jedem weiblichen Wesen gibt es gleichsam eine Quelle der Schwermut. So sucht man das Wasser unter der Erde. Sehn Sie mal, Fräulein Franziska hat es mit einem Schlag ausgeschöpft; sie war eine ärmliche kleine Quelle. Heute kann sie weiter nichts als weinen, sich berauschen, meine Briefe aufmachen oder aus meinem Glase trinken, sobald ich mich umdrehe, um eine Zigarette anzuzünden. Das sind Kindereien.«
»Und wenn sie sich umbringt, werden Sie das auch Kinderei nennen, Sie Heuchler?«
»Genug!« sagte der Chauffeur feierlich. »Ich verdiene ehrlich mein Brot, tue meinen Dienst. Ich leide nicht, daß Sie mich beschimpfen. Außerdem gebe ich es auf, von Ihnen verstanden zu werden, Frau Ferdinande. Gewiß habe ich viele Tollkühnheiten begangen, die Ihnen unglaublich dünken mögen. Die größte von allen war wahrscheinlich die, daß ich eines Tages in dies Haus gekommen bin.«
»Was? Welches Haus?«
Fjodor erbleichte und verschränkte nervös die Hände. »Sie wissen, was das bedeutet, Frau Ferdinande. Wenigstens auf diesem Punkte sehn Sie klar. Die Lüge ist hier lebendiger als anderswo; sie streut ihren Samen überall aus; sie würde schließlich die Steine anfressen. Die alte Dame ist aus ihr geboren, das steht fest. Sie ist wie ein Pilz, der in der Dämmerung zwischen den Wurzeln eines Baumes aufgeschossen ist … Bemerken Sie, daß sie vermutlich kein Verbrechen begangen hat, aber ihre Seele ist bei ihrem Schlüsselbund, die geizige Mutter! Und was ihn betrifft, wer hat ihn je wie einen Mann lachen sehn? Ihn mit seinem Bettlerbart, seinen weichen Händen, der grauen Haut seines Nackens, seinem Atem? Hören Sie an, Frau Ferdinande, entschuldigen Sie: ich halte ihn seit langem für tot.«
»Wie entsetzlich!«
»Er hat noch Freunde, intime Freunde, so sagt man ja wohl auf französisch. Bei Gott! In Paris hab' ich anfangs über sie gelacht. Hier verabscheue ich sie. Der Bischof Espelette ist wie irgendeine Lehrerin am Mädcheninstitut in Ostrow. Seine Seele muß eine kleine Flöte sein. Wie schmeichelt er mit den Händen, dem Blick, wie wünscht er zu gefallen! Er spielt mit dem Arzt La Pérouse, mit dem Journalisten, dem Juden, mit allen … Sie spielen miteinander wie traurige Kinder in der Asche an einem Wintertag. Sie wissen offenbar nicht, was sie wollen. Jeder wünscht sich einen Rang, eine Stellung, Ruhm, Gold; aber sobald er die Stellung hat, ist sie, glaube ich, zu groß für ihn, und er wünscht wieder herabzusteigen. Jawohl, Frau Ferdinande, hier hat niemand Mut, weder zum Guten, noch zum Bösen. Selbst der Teufel würde sich hier zeigen wie eine Staubschicht auf einer Wand.«
Seine langen Augen glänzten vor Vergnügen; er zündete sich eine Zigarette an.
»Übrigens haben wir jetzt wohl genug geredet, Frau Ferdinande. Was hat das für einen Zweck? Ich muß meinen Behälter füllen. Ich habe vor sieben Uhr noch 100 Kilometer Fahrt.«
»Warten Sie einen Augenblick«, bat die Köchin fast demütig. »Sehn Sie, ich habe bei Herrschaften gedient, die nicht soviel waren wie diese, was Manieren, Erziehung, Vermögen und so weiter betrifft. Und doch, auf Ehre, ich habe mich nie so unbehaglich gefühlt. Des Nachts träume ich, muß mein Licht wieder anstecken, kriege sogar das Zittern. Das ist mir seit dem Tode meiner dritten Tochter nicht mehr passiert … Na ja, die alte Dame ist, was sie ist; einverstanden. Trotzdem höre ich es nicht gern, wenn man sie in ihrer Gegenwart ein Kamel nennt, ohne leiser zu sprechen. Ich tue, als hörte ich es nicht, möchte mich in ein Loch verkriechen … Sie versteht es wohl, ich möchte darauf schwören, aber sie ist nicht sicher; sonst spränge sie ihnen ins Gesicht, das alte Ekel. Und dann ist unserm Herrn die Jugend zuwider, das ist bekannt. Seine Frau ist vor Kummer gestorben. Tatsächlich, er schließt sein Herz zu. Von Franziska will ich nicht weiter reden, noch mich sonst in Ihre Angelegenheiten mischen, Herr Fjodor, aber Sie gehören nicht hierher. Nein, glauben Sie mir, die Luft hier ist für Sie nicht gut.«
»Ei was!« sagte der Russe mit sanfter Stimme. »Es ist zu spät, Frau Ferdinande. Ich muß das Ende dieses Abenteuers sehn, das wissen Sie. Vielleicht sind die Leute hier nicht schlimmer als anderswo, nur mittelmäßig, lächerlich und gemein … Aber die Luft, die sie atmen, reichte hin, um sie schwärzer als Teufel zu machen. Auch ich habe meinen Sinn verloren; ich bin wie ein Wort einer vergessenen Sprache. Ach, Frau Ferdinande, das Geheimnis dieses Hauses ist nicht das Böse, nein, sondern die Gnade. Unsre verdammten Seelen trinken sie wie Wasser, aber sie schmeckt ihnen nicht, obwohl sie das Feuer ist, das uns alle ewig verbrennen wird … Was soll ich sagen? Jeder von uns rührt sich und zappelt vergebens; wir sind in die Maschen eines Netzes verstrickt, das uns alle miteinander dahin schleppt, wohin wir nicht wollen. Entschuldigen Sie, daß ich mit Ihnen so unsinnig rede … Ich komme Ihnen vor wie ein Verrückter, der faselt; Sie halten mich für betrunken …«
»Das nicht. So verschmitzt Sie auch sind, Sie sind doch nicht klüger als ein Mädchen aus dem Avretal. Ich folge Ihren Gedanken seit einer Weile, Herr Fjodor, ich verliere sie nicht aus den Augen, wie eine Schleie in der Wassertiefe. Bah, Sie können noch lange reden, ich lese das in Ihren Augen … Ein gewöhnlicher Mensch, wenn der was zu sagen hat, dann leuchten seine Augen. Die Ihren werden matt. Da kann man sich nicht täuschen.«
»Auch ich,« stieß der Chauffeur mit fast krampfhafter Ungeduld hervor, »auch ich kenne Ihre Gedanken. Was liegt an Franziska, gelt? Wir lachen beide über das Mädchen. Vor fast zwei Wochen – ich könnte die Stunde genau angeben – glaubten Sie, Sie könnten mich auf frischer Tat ertappen … Jawohl, an dem Tage, wo die alte Dame verloren war. Der Herr brummte, schüttelte den Kopf; er war nie kleiner und schäbiger. Er roch nach einer Ratte. Welche Glut! Der Kitt rann an den Scheiben herunter … Sie haben kein Recht, rot zu werden, Frau Ferdinande.«
»Und warum soll ich rot werden, Sie Unverschämter?«
Sofort verloren die Augen des Russen jeden Glanz.
»Weil Sie mich für den Liebhaber des gnädigen Fräuleins halten«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, aber so deutlich, daß die Worte in Ferdinandes Ohren schallten, als hätte er sie hineingeschrien »Sie sahen mich an jenem Tage aus dem Schlafzimmer kommen. Ich erkannte Ihren Rock am Ende des Flurs im Dunkeln, obwohl die Läden geschlossen waren.«
Die dicke Frau machte zweifellos eine verzweifelte Anstrengung, um nicht zu antworten. Fjodor schwieg schon seit langem, und doch schien sie ihm noch zuzuhören, die beiden dicken Unterarme auf den Tisch gestemmt, das Gesicht vorgeneigt und so aufmerksam, daß selbst die Grobheit ihrer Züge dadurch geadelt ward.
»Schämen Sie sich nicht?« fuhr er fort. »Der böse Traum ist in Ihnen, in uns, in unserm Gewissen. Das gnädige Fräulein ist zu rein. Sie kommt und geht, atmet und lebt im Licht, fern von uns; sie strahlt unbewußt, reißt unsere schwarzen Seelen aus dem Dunkel, und die alten grausamen Sünden beginnen sich zu regen, gähnen und recken sich, zeigen ihre gelben Krallen … Morgen, übermorgen, wer weiß, eines Nachts, noch heute Nacht, werden sie ganz erwachen. Ich hab' es schon vorher gesagt, Frau Ferdinande: dies Haus ist gemein, erbärmlich. Und doch werden Sie Wunderdinge darin erleben. Da sinkt es in Staub.«