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Zu gleicher Zeit aber, der Öffentlichkeit noch unbekannt, lebte wirklich jemand – und obendrein eine Frau – das wunderreichste, sonderlichste Leben voll Abenteuerlichkeit und eigentümlicher Schaffenskraft. Das war AMALIE DIETRICH, die jene fernen, noch fremden Erdteile allein durchreiste, die wirklich zwischen den Menschenfressern hauste, nicht auf der Suche nach Gold, sondern nach «unbekannten Pflanzen, Tieren, Gebräuchen» dieses unerforschten Erdstrichs.
Die Lebensgeschichte dieser einzigartigen Frau wurde durch ihre Tochter, Charitas Bischoff, der Nachwelt erhalten. Sie zeigt uns den seltensten Menschentyp, der vielleicht aufzuspüren ist in der bürgerlichen Welt. Den seltenen Menschen, der den Weg in die Weite blindlings hindurchfindet durch die spießbürgerliche Enge und wieder hinaus. Den Weg, den jeder im geheimen sucht, aber dessen Tor auf keiner Landkarte zu finden ist.
Amalie ist die Tochter armer Handwerkerleute in Thüringen. Sie ist eines Tages, ihr selbst zum Wunder, die Frau eines gelehrten Mannes, des Naturforschers Wilhelm Dietrich. Amalie hat nicht nur Liebe, sondern ungeheuren Respekt vor diesem «gebildeten» Mann, der selbst ungeheuer stolz auf sich ist. Schon ein Onkel von ihm, Gottlieb Dietrich, ist ein berühmter Naturforscher gewesen, nach dem sogar Pflanzen ihren Namen erhielten.
Amalie wird ihres Gatten Schülerin, seine Helferin im Sammeln von Pflanzen und Insekten, im Zusammenstellen von Herbarien. Sie ist überglücklich, wenn der gelehrte Mann ihre Findigkeit, ihre leichte Hand, ihre Unermüdlichkeit gnädig rühmt. Sie muß ihm von früh bis spät dienende Gehilfin sein. Den Hausstand führt Amalies Mutter. Die wackeren Eltern haben ihr kleines Haus verkauft, um bei der Tochter sein zu können, die sie braucht. Eigentlich ist es Dietrich, der sie braucht, der sie alle braucht und ihr Erspartes obendrein, nicht aus Verschwendung, sondern aus Leidenschaft zu seinem Beruf. Dieser Dietrich ist eine Gestalt, wie erfunden von Molière und zu Ende geführt von Balzac.
An der Seite dieses Egoisten führt «Malchen» eines der wunderlichsten Eheleben, die wohl je gelebt worden sind. Sie ist genötigt, ihr Kind, das der gelehrte Vater als Störung empfindet, doppelt unzufrieden, weil es nicht einmal ein Sohn ist, der etwa später behilflich im Beruf hätte sein können, irgendwo bei Fremden unterzubringen, wenn möglich kostenlos, sobald sie mit dem Gatten auf botanische Exkursionen auszieht oder als Verkäuferin der gesammelten Pflanzen durch die Länder ziehen muß.
Auf den ersten dieser Wanderungen trägt sie das schwere Frachtgut auf den Rücken geschnallt. Als der Körper dagegen streikt, werden «Wagen und Hund» angeschafft. Amalie zieht zusammen mit dem Hund die Fuhre. An steilen Stellen «hilft Dietrich durch Schieben ein wenig nach». Muß man rasten, braucht Dietrich als «gebildeter Herr» natürlich ein Bett, Malchen nimmt mit Streu fürlieb und ist immer zufrieden. – Und schließlich findet es Dietrich noch «praktischer», wenn Malchen diese Wanderfahrten ohne ihn unternimmt. Als ihm Strand- und Meerespflanzen fehlen, macht er Amalie den Vorschlag, eine Reise ans Meer zu unternehmen, nach Holland. Amalie fühlt sich in diesem Jahr kraftlos. Sie versucht Einwände. Aber es fehlen Algen und Seetang, «Hektor hilft ja ziehen».
Amalie zieht davon. Sie sammelt treulich. Sie spricht mit dem Hund, wenn sie sich bei der Übermüdung zu trösten sucht. Aber sie erkrankt schwer, unterwegs, einsam am Strand. Sie findet sich in einem holländischen Krankenhaus wieder, wo sie wochenlang bleiben muß.
Als sie zurückkehrt, ist Dietrich Hauslehrer in einem Schloß. Ihr Kind wieder bei fremden Leuten. Ihre Briefe aus dem Krankenhaus hatten ihn niemals erreicht. «Bist du nicht tot?» fragte Dietrich, als sie unvermutet zu ihm ins Zimmer tritt.
Sie geht nun allein ihren Weg. Nun beginnt ihre eigene Straße, ihr eigentliches Leben. Zufall auf Zufall springt auf, Unbegreifliches wird Tatsache. Malchen Dietrich aus Thüringen fährt für Cesar Godeffroy aus Hamburg nach Australien, um naturwissenschaftliche Sammlungen zusammenzubringen. Ihre Tochter ist damals vierzehn Jahre. Amalie sorgt dafür, daß sie gut aufgehoben sein, eine gute Weiterbildung genießen wird, während sie sich von ihr trennen muß – für zehn Jahre.
Amalie fährt im Mai 1863 fort, mit dem Segler «La Rochelle». Sie hat eine besondere Kajüte Erster Klasse, es gibt vierhundertfünfzig Zwischendeckpassagiere. Amalie blickt in das Gewühl und denkt an Wagen und Hund. Ihr Gepäck umfaßt:
Rebau: Naturgeschichte
Müller: Pflanzenstaat
Leunis: Pflanzenkunde, 4 Bände
Wildenow: Kräuterkunde
Willkomm: Pflanzenatlas
David Dietrich: Pflanzenlexikon
Williams: Englisches Diktionär
3 englische Lehrbücher
1 Lupe
1 Mikroskop
25 Stück Blasen
6 Insektenkästen
10 Ries Papier
Lumpen zum Verpacken
6 Blechdosen mit Spiritus
20 Pfund Gips
20 Pfund Heede
1 Schachtel Insektennadeln
3 Buch Seidenpapier
5 Buch Packpapier
4 Beutel Hagel
10 Pfund Pulver
1 Schachtel Zündhütchen
2 Kisten Gift
4 Kisten für lebendige Schlangen und Eidechsen
3 Fässer Salz
100 Gläser mit großen Stöpseln
Von Amalie Dietrichs weiterem Weg können nur ihre eigenen Briefe wirklich aussagen. Sie sind an die Tochter gerichtet, an die sie in der Einsamkeit eines anderen Erdteils unaufhörlich denkt:
Liebe Charitas!
Deinen lieben Brief, worin Du mir das Weihnachtsfest so ausführlich beschreibst, habe ich erhalten. Du schreibst mir darin auch sehr viel von Deiner Sehnsucht. Glaubst Du etwa, ich sehne mich nicht auch? Aber, – laß uns einander nicht weich machen. Du neigst so sehr dazu. Hast Du das von mir? Vielleicht. – Es ist aber nicht gut, wenn man so viel in seinen Gefühlen herumwühlt. Während Du sie mir aussprichst, bohrst Du Dich wieder frisch in den Schmerz, den Du vielleicht schon etwas überwunden hattest, und machst ihn nun noch einmal durch. Es gibt Schmerz genug, dem wir auf keine Weise aus dem Wege gehen können; ich meine deshalb, wo wir ihn uns ersparen können, müssen wir das tun. – Ich muß für meine Aufgaben Mut, Freudigkeit und innere Ruhe haben. Mit einem schweren, bedrückten Herzen geht keine Arbeit flott vonstatten, weder bei Dir noch bei mir! Ich sage mir aus eigner Erfahrung: Stimmungen und Gefühle wechseln täglich in uns. Welche lange Zeit vergeht, ehe wir die Briefe voneinander in den Händen haben, da ist es möglich, daß Du, während ich hier über Deine traurige Stimmung weine, wieder sehr vergnügt durch Wald und Wiese streifst. Schreib mir mit jedem Schiff einen, wenn auch noch so kurzen Brief, dann aber mache es wie mit dem Weihnachtsbrief, gib mir ein Bild aus Deinem Leben. Ich meine nicht: schreib ein Tagebuch, das liebe ich gar nicht, denn nicht jeden Tag passiert etwas, das des Aufschreibens wert ist. Schreib aber, wenn Dir wirklich etwas begegnet, was sich von dem täglichen Leben abhebt. Das schreib gerade wie Du Zeit und Ruhe hast, und dann schick's, wann Du willst. Laß es uns mal so versuchen. Ich will Dir auch in dieser Weise schreiben. Es kann auch bei mir vorkommen, daß ich Dir mal lange Zeit nicht ausführlich schreiben kann, eine kurze Nachricht sollst Du aber möglichst oft haben ...
Von Gladstone zog ich nach Rockhampton, hier ist wieder viel mehr für mich zu tun, und ich glaube, daß ich hier nicht so bald wieder wegkomme. – Du sagst, Du sorgst Dich um mich, Du hast gehört, daß die Papuas Menschenfresser sind. Du fragst, ob ich noch gar nichts mit ihnen zu tun hatte? Bei Brisbane habe ich nicht viel von ihnen gesehen, manchmal habe ich mich aber sehr amüsiert über sie. Die Regierung hat angeordnet, die Papuas dürfen nicht unbekleidet in die Stadt gehen, da ist es denn sehr drollig, wenn sich der eine einen alten Zylinder, der andere einen Strumpf und ein dritter das Gestell einer Krinoline anzieht. – Die Hitze hier ist unerträglich, dadurch aber eine Üppigkeit der Vegetation, daß mir buchstäblich alles über den Kopf wächst. O, Du kannst Dir keine Vorstellung machen, wie hier alles wächst und treibt. Das eine verdrängt das andere. Unter Riesenbäumen wachsen Farren, unter denen ich ganz verschwinde, und mir wird manchmal ganz angst, wenn ich mich zwischen üppigen Schlingpflanzen, Farren und Gesträuch hindurcharbeiten muß. Große Orchideen hängen an fast unsichtbaren Fäden von den Bäumen herunter, sie sind so wunderbar geformt, sie haben so schöne Farben, und sie sehen mich so geheimnisvoll an, daß meine Hand sie nur mit einer gewissen Scheu pflückt, als seien es lebende Wesen, die mir Vorwürfe machen, daß ich ihr ruhiges Dasein störe ...
Die Unbequemlichkeiten, die mir die Hitze und die Moskitos bereiten, vergesse ich leicht über dem unendlichen Glücksgefühl, das mich beseelt, wenn ich auf Schritt und Tritt Schätze heben kann, die vor mir keiner geholt hat. Ich habe keine Angst, daß ich die Erwartungen, die Godeffroys in mich setzen, täuschen könnte. Wenn ich so ungehemmt das weite Gebiet durchwandere, dann meine ich, kein König kann sich so frei und glücklich fühlen wie ich, mir ist dann zumute, als hätte mir Godeffroy den ganzen großen Erdteil zum Geschenk gemacht. Auf allen Gebieten Neues, Unbekanntes! Und alle diese Naturwunder, ob es nun unscheinbare Moose, Nacktschnecken, Spinnen und Tausendfüße oder Gerätschaften, Schädel und Skelette der Eingeborenen sind, alle, alle dienen dazu, mich mit der alten Heimat zu verknüpfen. Unsichtbare Fäden ziehen dadurch hinüber und herüber; von mir zu all den Gelehrten, die die Sachen bearbeiten, von ihnen wird mir Anerkennung. Glaube nicht, daß ich unempfindlich oder gleichgültig dagegen bin; ich habe in den Jahren meiner Demütigung schwer gelitten, wie dankbar empfinde ich jetzt den Gegensatz! Mir fehlen die Worte, Dir den Reichtum zu schildern, der mir auf jedem Gebiet entgegentritt. Wie oft wünsche ich Dich an meine Seite, damit Du meine Freude, mein Entzücken teilen könntest.
Wir wollen doch alles Große und Schöne, was uns geboten wird, recht dankbar aufnehmen, dann bleibt uns gar nicht soviel Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen.
Für heute sei herzlich gegrüßt von
Deiner glücklichen Mutter.
Frau Amalie Dietrich.
Wir haben das Vergnügen, Ihnen den richtigen Empfang von fünfzehn Kisten per «Susanne» zu bestätigen. Die Sachen sind sämtlich sehr gut konserviert, und es sind viele schöne, interessante und neue Arten von Tieren und Pflanzen in der Sendung.
Säugetiere: Känguruhs wollen Sie in Zukunft nicht mehr in Spiritus, sondern nur in trockenen Skeletten oder in Bälgen senden.
Vögel: Wir bemerkten unter den Vögeln, die sehr gut präpariert sind, mit Vergnügen mehrere Exemplare von zwei Myapodien-Arten.
Fische: Unter den früher von Ihnen gesandten Fischen befindet sich ein ganz neuer. Die Beschreibung desselben erfolgt in Wien. Wir werden Ihnen mit nächstem Schiff den Namen und die Zeichnung schicken.
Insekten: Was an Insekten vorhanden war, zeigte sich als recht gut konserviert, und fanden sich darunter mehrere sehr gute und interessante Arten, so z. B. der große, weiße Maikäfer wie der schwarze Laufkäfer.
Seeigel wollen Sie nie getrocknet, sondern nur in Spiritus konserviert senden.
Wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit auch auf Geräte und Waffen der Eingeborenen. Sammeln Sie davon, was Sie können. Schicken Sie wenn möglich auch eine Kanoe. Teilen Sie uns die Namen der betreffenden Waffen und Geräte mit, und wenn Sie beobachten können, wie die Sachen angefertigt werden, so teilen Sie uns Ihre Wahrnehmungen mit. – Versäumen Sie ja nicht, über die Lebensweise der dort vorkommenden seltenen Tiere Ihre Beobachtungen zu machen und sie uns mitzuteilen, wir werden dieselben im Vorwort unseres nächsten Katalogs drucken lassen.
Wir grüßen Sie aufs freundlichste.
–
Liebe Charitas!
In welche Aufregung hat mich Dein letzter Brief versetzt! Ich habe weder Platz noch Zeit Dir jetzt zu schreiben, aber ich bin so erregt, daß ich Dir doch in aller Eile einiges sagen muß. Du bist krank gewesen! – Der Gedanke, Dich verlieren zu können, läßt mich nicht los! Ein Zittern überfiel mich, als ich das las. Ich bin Dir furchtbar böse! Was hast Du für alberne, schlechte Gedanken, daß Du meinst, Du hättest leichter entbehrt werden können als die Pastorentochter! Du hast doch gar nicht an mich gedacht! Ich habe in der weiten Welt niemanden als Dich, und meine Hoffnung ist doch, daß mich Gott gesund erhält, damit ich in ein paar Jahren heimreisen kann. Welchen Sinn hätte meine Heimkehr, wenn ich nicht dann mit Dir zusammen sein könnte! Endlich, endlich gibt's dann keine Trennung mehr für uns! Bis dahin bist Du wohl leicht so weit, daß Du auch verdienen kannst, und ich habe inzwischen so viel gespart, daß wir bei bescheidenen Ansprüchen miteinander leben können. Aber, – das sage Dir doch, ohne Kampf kein Sieg! Selbst dann wird das Leben weiter ein Kämpfen und Ringen sein. Was für matte Ansichten Du hast! – Es wäre Dir ganz recht gewesen, wenn Du gestorben wärest, so meinst Du! Ja, das glaube ich! Mir wär's auch manchmal bequemer gewesen! Dazu sind wir nicht da, daß wir, wenn wir leiden, gleich die Flinte ins Korn werfen. Du mußt leben wollen! Du mußt Dich fragen: kann ich eine Aufgabe erfüllen? Habe ich vielleicht Gaben und Kräfte in mir, die entfaltet werden müssen, damit sie anderen zugute kommen? – Wenn Du die Krankheit überwunden hast, so werde kampf- und leidenswillig! Schiele nicht nach der Efeulaube! Mein liebes Kind, die kommt noch lange nicht! Sollte Dir wirklich kein Pfund gegeben sein, womit Du zu wuchern hast? Blicke nicht rückwärts! Vielleicht ist Eisenach nur eine Station auf Deinem Lebenswege, die nur dazu da war, Dich vorwärts zu bringen. Vorwärts! Aufwärts! ...
Frau Amalie Dietrich!
Durch beifolgendes Diplom hat der entomologische Verein in Stettin Sie zu seinem ordentlichen Mitglied ernannt!
Wir teilen Ihnen ferner mit, daß Ihre Sammlung «australische Hölzer» auf der Gartenbau-Ausstellung die goldene Medaille erhalten hat.
Die Zeitungen sagten: «Diese aus fünfzig Blöcken in halber Stammesdicke bestehende Sammlung ist in ihrer Art ein Unikum und wurde von der seit Jahren den Nordosten Australiens bereisenden, unerschrockenen Frau Amalie Dietrich zusammengebracht. Es dürfte das erste Mal sein, daß australische Hölzer in solcher Vollständigkeit in Deutschland zur Ausstellung gelangen. Die Bestimmung ist durch Herrn Hofrat Professor Schenk in Leipzig absolviert. Es sind sehr interessante Sachen dabei. Diese Sammlung ist mit dem ersten Preise gekrönt worden.»
Der Geist, der aus Ihren Briefen spricht, macht uns viel Freude, und wir machen uns ein Vergnügen daraus, Ihnen zu wiederholen, daß wir mit allen Ihren Einrichtungen sowie mit Ihrer Tätigkeit sehr zufrieden sind, und daß wir Ihnen nach wie vor von Herzen gern das größte Vertrauen schenken. Es ist uns lieb, daß Sie zwei Gehilfen angestellt haben. Wir wissen, wie sparsam und praktisch Sie alles einrichten. Wenden Sie sich nur an Herrn Heußler, er hat Anweisung, Sie stets mit dem nötigen Geld zu versehen. – Wir betonen hiermit nochmals ausdrücklich, daß das Unternehmen, die Leitung desselben, jede Anordnung, auch die Kasse, einzig und allein in Ihren Händen zu bleiben hat.
Ihren ferneren Bemühungen besten Erfolg wünschend, grüßen wir Sie freundlichst.
Liebe Charitas!
Beim Lesen Deines letzten Briefes ging mir so mancherlei durch den Kopf. Was wird Dir alles geboten! Du setzt Dich hin und packst ein. Wenn ich erst wieder in Europa bin, will ich nachholen, was mir fehlt. Wie verschieden sind unsere Lebenswege! Ich bin jetzt gerade ganz in der Einsamkeit ...
Nach zehn Jahren kehrt Amalie Dietrich zurück. Sie ist nun eine Leuchte der Wissenschaft geworden. Mutter und Tochter sollen sich endlich wiedersehen. Charitas geht an Bord des Schiffes, das die Mutter zurückgebracht:
«Da saß am andern Ende der kleinen Kajüte eine alte Frau mit gekrümmtem Rücken. Ihr pergamentartiges, verwittertes Gesicht war von tausend Falten und Fältchen durchfurcht und wurde von dünnen, weißen Scheiteln umrahmt. Ein dürftiges Röckchen und eine dunkle Kattunjacke umschlossen die alternde Gestalt. An den Füßen trug sie alte, graue Segeltuchschuhe, die vielfach Löcher zeigten.»
Zwei Fremde stehen einander gegenüber. Sie werden allmählich vertrauter. Die Mutter macht Zukunftspläne. Endlich wird man für immer vereint sein.
Charitas wundert sich, daß die Mutter nicht den Brief erhielt, in dem sie ihr schrieb, daß sie Braut ist. Sie wird Pfarrfrau werden.
Amalie ist ganz verwirrt. Sie erinnert sich, daß sie der Tochter doch auch etwas mitgebracht hat «von drüben», wie diese es sich immer gewünscht hatte. Es sind zwei lebende Adler ...
Diese Geschichte wurde das Lieblingsbuch Hunderttausender in kapitalistischer Zeit. Zugegeben, Charitas, das Kind einer verweinten Kindheit, ist die echte Tochter ihrer Mutter, sie schilderte mit Größe. Trotzdem macht es nachdenklich, daß die Leser jene vielen sind, die sich, wäre Amalie Dietrich etwa ihre eigene «Tante Malchen» gewesen, vermutlich über die Tante in Australien viele sonntägliche Familienwitzelei geleistet hätten. Ein Zwiespalt, der nur äußerlich komisch ist.
Alle Wünsche und Triebe suchten unbewußt schon wieder herüberzufinden über die spießbürgerliche Mauer, die sich Stein für Stein verdichtete. Zu ihnen gehört das Interesse für die fremden Tiere der anderen fernen, unbekannten, noch geheimnisvollen Erdteile.
Was die Menagerie dem Volk gewesen, wurde nun der zoologische Garten dem Vollbürgertum. Da war endlich ein lebendiges Museum. Man lernte zu, aber man amüsierte sich dabei. Man beobachtete die Geschöpfe unbekannter Weltzonen, denn auch die Völkerausstellungen wurden in die «zivilisierte Welt» eingeführt und begannen eine große Anziehungskraft auszuüben. Ein bunter Ausschnitt der Unbegrenztheit, das Exotische war einbezogen in die bürgerliche Zerstreuungslust.
Ihr Vermittler war Karl Hagenbeck. Ein Mann, der nichts mit Karl Mays Gestalten zu tun hatte, weder mit dem Lasso jagte noch mit Pfeil und Bogen hantierte, auch niemanden skalpierte, aber vom echten hanseatischen Kaufmannsstamm war, ein hartnäckiger, unermüdlich schaffender, rechtlicher Sohn Hamburgs. Er hat uns seine Erlebnisse und Erfahrungen selbst überliefert in seiner Lebensgeschichte: «Von Tieren und Menschen», bei der von Anfang an zu beachten ist, daß sie nicht «Menschen und Tiere» heißt, wie es doch der Schulmeister verlangen würde bei dem Aufsatz jedes anzulernenden Staatsbürgerchens.
Die Erlebnisse Hagenbecks vermitteln viel Menschliches. Von jeder Art Tier. Die Übersicht über die Dompteure, die Löwenbändiger, Elefantenmeisterer, Tigerdresseure, als deren vorwiegende Eigenschaften man wohl Mut, Weltwanderlust, Jägertrieb und vielleicht auch ein wenig Grausamkeit voraussetzen sollte, ergibt, daß alle im Grund ihren Beruf nur ausübten, um durch ihn ein friedlicher wohlhabender Spießbürger werden zu können. Wen kein Unglück im Beruf getroffen, der wurde früh Rentner.
Aus den Berichten des großen Tierkenners, Käufers und Verkäufers wird auch kund, daß die meisten dieser «wilden» Tiere eigentlich «Gewohnheitsmenschen» sind. Eine kleine Anekdote von vielen zum Beispiel:
Sechzehn große Strauße hatten bei einem Transport kurz vor dem Bahnhof in straußenartiger Geschwindigkeit das Weite gesucht. Sie schienen verloren. Der Herdenführer versprach ruhig, «die Strauße wieder zurückzuholen». Er trieb zuerst die Ziegenherde zusammen, die zu der ganzen Tierkarawane gehörte, die verfrachtet werden sollte und die gemeinsam mit den Straußen den Marsch aus der Freiheit gemacht hatte. Zwei Araber mußten sich auf Dromedare setzen. Diese sowie die Ziegenherde folgten nun den Straußen geschwind nach. «Als der Zug den Flüchtlingen nahe kam, reckten diese ihre Hälse, schlugen wie vor Freuden mit den Flügeln und tanzten in weitem Bogen um die Ziegenherde und die Dromedare herum. Ein ganz grotesker Anblick. Und als ob nun alles wieder in Ordnung sei, setzte sich die ganze Karawane in Marsch nach dem Bahnhof. Die Strauße gingen so ruhig zwischen den Ziegen und Dromedaren, als ob sie von einer unsichtbaren Macht festgehalten würden. Des Rätsels Lösung ist sehr einfach. Auf der ganzen zweiundvierzigtägigen Reise von Kassala bis Suakin hatte man die Strauße ungefesselt zwischen der Ziegenherde und den Dromedaren transportiert. Der Führer hatte ganz richtig kalkuliert, daß die Strauße in die gewohnte Marschordnung sich ohne Widerstreben wieder fügen würden.»
Die «Ära des Tierhandels», die damals so lukrativ war, gehört zur «Ära der Zivilisation». Gandhi, der Inder, nennt jene Zeit «das schwarze Zeitalter, das Zeitalter der Finsternisse». Eine Seite bei Hagenbeck erzählt:
«Zweimal erlebte ich es, daß gefleckte Hyänen, die bis zu diesem Augenblick durchaus wohl waren und sich normal verhielten, plötzlich mit lautem Geschrei, ich möchte sagen, über sich selbst herfielen und sich ganze Stücke aus dem eigenen Körper herausrissen. Dieser grauenhafte Vorgang ereignete sich so schnell und unerwartet, daß es unmöglich war, helfend einzugreifen. Beide Tiere hatten sich so entsetzliche Wunden beigebracht, daß sie unrettbar einem schnellen Tode verfielen. Vor einigen Jahren brachte sich ein großer Jaguar an der Tatze des linken Hinterlaufes derartige Wunden bei, daß er trotz sorgfältiger Pflege vier Monate lang ans Krankenlager gefesselt und erst nach sechs Monaten wieder geheilt war. Männliche Löwen haben solche unerklärlichen Selbstverstümmelungen nie vorgenommen, dagegen erlebte ich zweimal Ähnliches mit Löwinnen, die sich ihren Schwanz geradezu abkauten und abfraßen, so weit sie nur heranreichen konnten. Beide Tiere mußten wegen ungeheuren Blutverlustes und großer Schwäche getötet werden. Ein Königstiger, der sich ebenfalls über seinen eigenen Schwanz hergemacht hatte, fraß diesen nur zur Hälfte auf und konnte noch mit vieler Mühe geheilt werden. Es ist mir trotz sorgfältigster Beobachtung nicht geglückt, die Ursache für diese entsetzlichen Vorgänge zu finden. Alle Tiere, von denen ich hier spreche, waren bis zum Augenblick des Ereignisses durchaus wohl gewesen, hatten niemals die Nahrungsaufnahme verweigert noch sonst irgendwelche Anzeichen einer Erkrankung gegeben.»