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Meilenweit gleich lag die Landschaft da, vorwiegend Wiesen, dazwischen verstreutes Gebüsch, gelegentlich rasch wieder untergehender Wald, ernstlich unterbrochen nur durch Seen, deren einer sich blind an dem anderen fortsetzte, so nah bei einander, daß längst ein einziger großer Wasserzug aus ihnen geworden wäre, hätte ein Unternehmen, das den Schiffsverkehr besorgte, es nicht hintangehalten, um seine Einnahmen zu vergrößern.
Von den Landzungen nicht weit entfernt, lagen einander zwei Häuser gegenüber. Ein leicht geschrägter Weg, den dicker, gelber Kies bedeckte, überbrückte den Abstand, der wohl ein halbes Hundert Meter ausmachte.
Nicht allein der Ton, hier licht, dort dunkel, unterschied sie. Das eine, niedrig hingebückt und von einem unauffällig alten Dache eingedeckt, schütteten hohe weißbüschelige Akazien zu, so daß es nur von unten sichtbar blieb und die seltenen, sparsam die Fenster erweiternden Balkone hinter den grünen Vorhängen verschwanden. Um das neue, hell getünchte und auf einen weiten Platz gesetzte, liefen ununterbrochen die Balkone; kühn sprang mit einem eigenen Stockwerk das rote Dach heraus; als wollten sie es einhüllen, liefen die Ziegel noch an dem 120 nächsten Geschoß herunter, und nach der dem alten Hause zugekehrten Seite brach ein Rundturm aus und eine Fahnenstange leuchtete von seiner Höhe mit ihrem tiefen und geölten Schwarz, weithin sichtbar, jenseits des Bachs sowohl, der den Park auf der einen Seite abschloß, wie von der Landstraße, die auf der anderen verlief, zum Dorf hinausführte und geschlängelt bis zur nächsten Stadt fuhr.
Die beiden Häuser schloß ein Park ein von einem hohen Alter und einer großen Pracht. Tannen füllten ihn zum größten Teil und überwuchsen die Wege auf eine Weise, daß sie nur gebückt betreten werden konnten. Schwermütig am Abend, wirkten sie am Morgen eher befeuernd durch ihre Haltung, und dieser Eindruck hinterblieb den meisten, die unruhig am Morgen unter ihnen zu einer Lebensauffrischung hinschritten: sie rochen den reichen und starken Duft der Nadeln und genossen ein Heilmittel von Bedeutung.
Von den Häusern liefen rund geschwungen zwei große Wiesen zu dem Bach. Dicht, daß sie ohne Schaden betreten werden konnten, wuchs das Gras, und den ganzen Tag bis in die Nacht hinein lagen zahllose Menschen auf Liegestühle hingefaltet. Während der Mahlzeiten waren sie leer und standen, mit der Hinterlassenschaft von Tüchern und anderen wärmenden Stücken, nebeneinander, so wie sie verlassen worden waren, und wer dort gesessen hatte, ja, welche Art von Unterhaltung auf ihnen gepflogen worden war, ließ sich erraten.
Um die Mittagsstunde ging eines Tages eine junge Frau mit einer kleinen gefüllten Kindergießkanne durch 121 den Park. Sie schritt den Kiesweg hinauf, aber als sie bis zur Höhe der Weide kam und den silberschäftigen Stamm erkannte, lenkte sie auf die Wiese über, hielt vor einem frisch gegrabenen Loch und blickte unbeschäftigt in die Landschaft, welche sich weithin dehnte. Das Anwesen war auf einem Hügel angelegt, eine Terrasse mit einem steinernen Geländer grenzte es seitlich ab, und wenn der Blick auch von dort noch weiter drang, bis über den Bahnhof hinaus, ja hinüber bis zu den jenseitigen Seen, so war doch auch von hier der Umblick beinahe unbegrenzt, bis an die Kreislinie eines das Unendliche streifenden Horizonts. Von der Sonne geblendet, wendete sie sich zurück und erblickte nun, mühsam eine gefüllte Gießkanne schleppend, ihren kleinen Sohn, der hoch aufatmend und mit einem herzhaft leuchtenden Gesicht ihr folgte und nun das Wasser in die Erde schüttete. Sie hielt es ebenso, und als in dem Loch das Wasser ein wenig stieg, wendeten sie sich um und gingen den Weg zurück, Ivo mit seiner leichteren Kanne voran, indessen sie, eine Blume nach der anderen raffend, mehrmals sich versäumte. Am Brunnen angekommen, füllten sie die Gefäße neu, kehrten um und schritten abermals der aufgegrabenen Stelle zu, Ivo wieder zunächst voraus, aber als das Kännchen ihn belastete, überholt von seiner Mutter, die geduldig in ganz der gleichen Weise den Weg noch ungezählte Male hin und wider ging. Sooft sie vorüberkamen, drangen aus dem alten Hause die Stimmen der Speisenden, und als der erste Gast sich von dem Mahl erhob und in den Garten trat, brach sie auf ihrem Wege ab und ging, ausweichend, ihren 122 Jungen an der Hand, zu einem kleinen ebenerdigen Pavillon, worin sie wohnte, dicht bei dem Brunnen und auch der Landstraße nicht sehr weit. Im Begriff, die Türe zuzudrücken, sah sie einen jungen Menschen mit wilden, fahrigen Bewegungen herübergrüßen, sie lächelte noch und schloß die Tür.
Mit langen Sätzen sprang dieser junge Mann, welcher erst im Alter von siebenzehn Jahren stand und noch zur Schule ging, jetzt zu ihr hinunter. Auf einer Seite des Pavillons, wo ein Fenster offen geblieben war und ein gelber Vorhang das Innere verdeckte, rief er Ivos Namen, und als im Fenster zwar der Gerufene erschien, sie selbst aber zwar von innen lächelte, doch keineswegs an das Fenster trat, wurde Straynski, so nannte er sich, ungeduldig. Nachdem er wiederholt zuvor damit gedroht hatte, schwang er sich auf das Fensterbrett, schwang sich allerdings nicht von dort weiter in das Zimmer, sondern blieb, wie an einem Pferde schon im Niedergleiten hängen bleibend, sitzen und erregte dadurch zum mindesten äußerlich das Mißfallen von Frau Ballarino, welche ihn ernstlich ermahnte, sie zu verlassen. Auf die Vergeblichkeit ihres Ersuchens, schloß sie das Fenster, obwohl sie seine Finger, die er erst im letzten Augenblick aus dem Spalt zog, fast verletzte, und vor dem geschlossenen brach seine Ungeduld so heftig aus, daß er, nur wenige Meter vor dem Hause hin und her springend, wiederholt und ungezogen ihren Namen rief, »Frau Ballarino« rief mit einer wenig schönen Stimme, aber statt sie herauszulocken, trieb er sie tiefer mit dem Rufe in die Stuben. Ivo, der durch 123 das Fenster hindurch Gesichter mit ihm schnitt, wurde zurückbefohlen und schlafen gelegt, und als er sich auch dann noch nicht entfernte, legte sie sich selbst, sich von der Hitze zu erholen, nieder.
Zuvor hatte sie ein Buch eines unbekannten Verfassers gewählt, das ihr von einem Gast geliehen worden war. Über dem Lesen vergaß sie den jungen Mann; als sie sich nach einer Weile ein wenig wendete, dachte sie an ihn wieder, und seine Ungezogenheit und sein Mangel an Bekümmertheit verführten sie. Während der Einstellung auf ihn, ereignete es sich, daß ihr Herz unter der linken Brust hervortrat und ihre rechte Hand eroberte, wo es zuckend stehenblieb. Es ging mit einem unsäglichen Schmerze vor sich, mit einer wahnsinnigen, zugleich ihm und zugleich keinem bestimmten geltenden, aber dennoch so starken Sehnsucht, daß sich die freigewordene Stelle in der Brust sofort mit einem dumpfen Gefühle wiederauffüllte. Plötzlich aber sah sie ihren Mann mit seinem entschlossensten Gesicht, das nur beklommen zurückzurufen war, floh vor ihm, oder wollte es doch tun, stolperte im Laufe über ein furchtbares Geschehnis, bei dem er seine Hand nach ihr ausstreckte, und, wenn sie auch nicht erschlug, so doch bis zur Ohnmacht geschüttelt hatte. In dem Umriß einer zunächst nicht von ihr erkannten Landschaft erschien eine Häuserflucht, die sich später als die Straße der südamerikanischen Stadt darstellte, in der sie gewohnt hatten. Unterschiedliche Male war hier vor ihren Augen ein Leichenzug durch die belebtesten Straßen gezogen, ohne daß jemand ihn beachtet hatte, an einem heißen Tage starben viele Einwohner 124 der ungesunden Stadt, mit den Hinausgeschafften ging ohne Aufhebens auch wohl eine Nichtverstorbene mit. Die Fliegen schwirrten unaufhörlich an die Fenster, mit einem dünnen, und stießen sie mit dem Rücken an, mit einem plumpen Schlag. Die Scheiben waren trübe, daß die kleinen in dem Glase aufgelaufenen Kugeln leuchteten. Ein dünnes blaues Kleid über dem nackten Leib, weil sie unter den qualmend durch die Stadt brechenden und die Menschen umbringenden Schwefelschwaden litt, hatte sie, gelähmt durch die Hitze, wie es ihre Art war, stundenlang unbeweglich in der Stube dagesessen, als sie auf ein seltsames Geräusch, das sie mehrmals überhört hatte, in die nächste Stube trat und hier unter dem Patronate ihres Mannes eine Frau sich auf der Ottomane räkelnd fand. In der ersten Erregung stürzte sie auf die Nebenbuhlerin zu und riß unter ihrem Rücken ein blaues Kissen hervor, das sie von ihrer Mutter als Geschenk bekommen hatte, und dessen Mißbrauch sie nicht duldete. Das Kissen in der Hand, war sie zu der Tür zurückgetreten und wollte sich in das Inlett hinein verkriechen; von ihrem Manne angeschrieen, kratzte sie leise mit dem Nagel gegen das Tuch, es wurde unerträglich heiß in dem mit Daunen vollgepackten Kissen, um einen Ausweg zu finden, biß sie in das Zeug; als ihr Mann nach dem Kissen packte und bald das Kissen, bald sie selbst zu fassen suchte, entglitt sie im Ringen, er schlug hinterher, und der Pavillon wurde jetzt von ihren Schreien zerrissen, während sie gleich einem betäubt nach allen Seiten ausschlagenden Tier mit ihrem Leibe bewußtlos auf- und niederfuhr. 125 Ein Mädchen, das Kaffeegeschirr in der Hand, das von dem alten Hause in das neue hinüberging, wurde von den Gästen aufgehalten, ihr Vater wurde gerufen, und erst seine ärztliche Kunst brachte sie in Ordnung, indem er die Vergangenheit wieder auslöschte.
Am Abend hatte sie sich erholt und ging wieder in dem Park spazieren, Straynski neben sich. Er wurde anhaltender Wiederholungen seiner scherzhaften Reden nicht müde. Sie achtete nicht einmal auf seine Unarten und bemühte sich nur, in den gleichen Schritt zu kommen. Er hatte einen beschleunigten und spitzen Gang, der ein wenig überhing, es war gut, sich zu verlieren und den Gang eines anderen Menschen anzunehmen. Mehr von sich hingerissen als von ihr, hatte er mit einer an ihm nicht auffälligen, schlecht erzogenen Vertraulichkeit ihren Oberarm erfaßt, und von dem Wagnis erregt, wehrte sie ihm nicht, ja litt noch größere Vertraulichkeiten, obwohl es sie bestürzte und zugleich erregte, daß sie solche Dinge als Frau zuwege brachte.
Der Weg hatte sie zu einem Ende des Parks geführt, wo dicht nebeneinander eine Anzahl Turngeräte angeordnet stand, die in den Morgenstunden viel benutzt wurden. Jetzt waren sie verlassen und gänzlich von einem feinen und nackten Tau bezogen, in den sie sich lehnte, auch als die Feuchtigkeit ihr durch das Kleid drang, zugleich ihm zuhörend und über ihn hinaushorchend. Ihr Verhalten war ihm zu Kopf gestiegen, er äußerte Selbstgefälligkeiten, und beklommen hielt ihr Herz bei diesen Worten still, die sie zwischendurch in ihrer Unbegreiflichkeit erkannte. 126
Nicht lange danach, so fiel die Nacht vom Himmel und zog dem Park zu. Die große, zwischen den Häusern in der Luft schwebende weiße Lampe erlosch langsam, als wollte sie ein wenig den Bitten der wachen Gäste nachgeben. In der dunklen, aber dann vom Himmel her beklarten Landschaft wurde die Spazierende ihres Zustands inne, die unbegreiflichen Schauer sprangen von ihr ab, gleichmäßig und leicht schritt sie auf ihre Wohnung zu, und Straynski war zwar ihr Begleiter noch, der ihren Arm hielt, aber in einer grenzenlosen, den Kundigen warnenden Weise hielt sie die Augen offen und ging dabei unversehens ihm verloren, so daß sie nach dem Abschied nicht mehr wußte, wer es war, der mit großen Sprüngen in das Haus zurücksetzte.
Die Gäste waren noch vor den Häusern auf, die Geschlechter vielfach durcheinander, sich suchend und mit einem unterdrückten Lachen verratend, wie in einem erlaubten Taumel einer nach dem anderen strebte. Die Nacht war warm, viele gingen auf und ab, andere saßen auf den Bänken, die Frauen in den gegenwärtig üblichen dicken Flauschmänteln mit hochgeschlagenem Kragen, die den Hals vergrößerten, die Fäuste in den aufgenähten und so doppelt aufgetragenen Taschen, die Enden des Mantels, als seien es Tiere, in breitem Zuge am Boden fahren lassend. Jede Dritte rauchte. Leise pfiffen die Vögel, in nächtlicher Liebesgeilheit riefen sie nach den verwandten Schwärmen, aus den Bäumen, aufklagend und beunruhigend, schrie ein Käuzchen in die Nacht, die unterdrückten Rufe der Mädchen, die das Geschirr besorgten, drangen aus den Kellern, eine leise und 127 ansteckende Schwärmerei breitete sich aus, fliegend durch die Nacht; und durch die süße, frühlingshafte, honigvolle, dufteten klebrig naßgetaut die Büsche.
Der Abend war noch ohne Nachlaß warm, die Menschen noch nicht müde, als in der Tür des alten Hauses, an dem Arme ihres Sohnes und durch das Klingen ihres Schlüsselbundes eingeläutet, Frau Gollerup erschien. Von den jungen Mädchen umringt, die sie in vielen Wendungen fragten, ob sie sich müde gearbeitet habe, bequemte sie sich nur zu knappen Antworten, und ihre Hand, welche wagerecht die Luft durchschnitt, bezeigte, daß es ihr weniger darauf ankam, umsorgt zu werden, als die schwirrenden Stimmen zu beschwichtigen. Ein Herr, nach dem ausfließenden Honig der Nacht begierig, mochte sich noch nicht niederlegen und erhielt den Schlüssel für die Heimkehr, die übrigen zogen schurrend und kichernd in die Häuser, mit dem ausgesprochenen Wunsch nach einer guten Nacht. Plötzlich schläfrig, weil sie schlafen gehen mußten, verteidigten sie nicht den Mund gegen ein Gähnen, das sie plötzlich überfiel, und gingen langsam in das Haus, wer in das neue gehörte, dorthin, und wem dieses zustand, in das andere. Frau Gollerup schloß dahinter zu, zuerst das neue, und, nachdem sie die letzten dort hineingetrieben, auch das alte. Ehe sie selbst sich aber einschloß, schritt sie in Begleitung ihres Sohnes durch den Park. Er tätschelte ihre Hand und verschränkte ihre Finger. Es wurde nichts gesprochen, nur einmal, mit den Augen ausspähend, fragte sie, ob nicht im Busche etwas fliege. Er erklärte die Erscheinung für eine Katze, und nach einem Umgang durch den Park 128 brachte er sie in das alte Haus, dessen Tür nun zufiel und von ihr abgeschlossen wurde. In einem Zimmer, das der Unterhaltung diente, brannte noch Licht, so stieg sie mit ihrer starken, schon ausladenden Figur auf einen Stuhl, um einen Gashahn nach dem anderen an der Krone auszudrehen, schritt einige Stufen auf der Treppe hoch, weil zwei Stimmen von dort hörbar wurden, und als die Schwätzer auseinandergestoben waren, dachte sie auch an sich und begab sich zum Ende selbst zu Bett. Ehe er sein über dem Badehaus gelegenes Zimmer aufsuchte, ging Gollerup auf eine Wiese und packte sich auf einen Stuhl. In den Zimmern wurden die Jalousien herabgelassen, die Lichter wurden angeknipst und wieder ausgemacht, und aus dem alten Hause blakten die Kerzen Friedfertigkeit heraus. Mit einem verbissenen Gesicht verwünschte er die Einquartierung und stieg mürrisch auf seine Kammer. In das Dunkel blickend, in das mitten eine Tanne stieg und alles andere zur Seite drängte, kleidete er sich aus, den Vorhang offen haltend, um die Nachtluft im Schlafe steigen und fallen zu fühlen. Bevor er sich niederlegte, trat er an das Fenster, und eher beruhigt als betroffen, hörte er von der Brücke laut auf dem Holze und später fest auf dem Kies Schritte, die er rasch als die seines Vaters erkannte.
Die Gäste waren am Morgen um Fräulein Zierich zusammengeschwirrt, die ihnen die Post zuteilte. Die Arme vorgeschoben und den Kopf zwischen die Köpfe 129 der Vorderleute gesteckt, erstickten sie fast das Fräulein, welches nur ein kleiner Tisch mit seinem natürlichen Abstand vor ihrem Ansturm schützte. Durch die Langsamkeit des Austeilens erregt, riß jeder Gast, der eine Aufschrift entziffert hatte, die Sendung dem Mädchen aus den Händen, und weder er noch die übrigen achteten des Widerspruchs.
Nachdem die Gäste sich mit den reichlichen Wohltaten entfernt hatten, zeichnete das Fräulein die Strafgelder auf und belastete einen jeden mit der Auslage. Wie immer stimmte zum Schlusse die Rechnung nicht, und das Weniger ging auf ihren Lohn.
Sie war noch nicht mit dem Rechnen fertig, als aus der Küche, den Wirtschaftsräumen, von den Treppen die Mädchen kamen und um Briefe nachfragten oder, als gingen sie zufällig vorüber, mit einer flüchtigen Hand in das Fach hineingriffen. Der Fund wurde gegenseitig vorgewiesen, und als einige ihn unter der Schürze verbargen und davonliefen, setzte ihnen die Neugier der anderen nach und hielt sie von einer Unterschlagung der Freude ab.
In der Anstalt war als erstes Wirtschaftsfräulein ein Fräulein Tuch beschäftigt. Diese kam in einer großen Wirtschaftsschürze vorüber, durch welche sie so gänzlich, von vorn wie hinten, eingeschlossen war, daß ihre lange Figur einem ausgerollten Teppich glich. So rasch, daß sie kaum den von Fräulein Zierich ihr hingehaltenen Brief erkannte und vor allem ihr nicht abnahm, fuhr sie jetzt aus dem neuen Haus herüber und stürmte, um einen Ankömmling zu melden, zu Frau Gollerup hinein. 130
Dem Gast, der sich Dr. Prätorius nannte, wurde ein enges Zimmer zugewiesen, und zugleich angeboten, es nach einer Woche gegen ein geräumigeres zu vertauschen. Mit ihrer Anweisung versehen, flog das Fräulein in das Haus zurück, ihre Botschaft stand in dem sprechenden Gesicht, und schon von drüben und immer noch im Laufe rief sie der Jungfer zu, sie möge den Brief für sie verwahren.
Eine kurze Weile später erschien bei Fräulein Zierich mit der Absicht, eine Rechnung zu begleichen, eine Dame, die eine völlige Elegantin war. Das Fräulein wollte die Angelegenheit nach der üblichen Art behandeln und die Rechnung zur Quittungsleistung in das Bureau geben, als von der Dame schüchtern Anstände erhoben wurden. Sie Frau Gollerup mitzuteilen, wagte Fräulein Zierich auf keinen Fall, der wiederholte Wunsch der Dame stieß vielmehr beharrlich auf ihren Widerstand, doch unter dem Eindruck der bestürmenden Blicke aus den ausdrucksvollen Augen der Dame ging sie schließlich, wenn es möglich war, um die Hälfte schmaler, in das Bureau, und ihr Zögern wurde durch den Bescheid, den sie zurückbrachte, gerechtfertigt. Frau Hiller, so war der Name der Dame, richtete ihren kleinen, etwas zusammengedrückten Kopf hoch auf, das zarte, von einer ponyartigen Frisur verkürzte Gesicht saß auf einmal steil auf dem zarten und gebrechlichen, aber schönen und gelblichen Hals, die beiden tief honigbraunen Augen, immer brennend, brannten tiefer, mit möglichst wenig Schüchternheit verlangte sie, gemeldet zu werden, und auch drinnen bei Frau Gollerup bewahrte sie die gleiche, selbstbewußte 131 Weise der Darstellung, und sogar der bis zur Nasemitte zurückgenommene Schleier blieb nicht unbenutzt für dieses Auftreten. Überflüssig, zu betonen, daß ihr Wesen in jeder Weise höflich blieb, ihr Vortrag unverkennbar nachsichtig war, was sie neben anderem noch durch ein Zusammendrücken ihrer sonst sehr hellen und sehr klaren Stimme kundtat. Mittendrin und noch vor Beendigung der Zwiesprache ging jedoch eine Verwandlung mit ihr vor, sie fühlte etwas Unbestimmbares, obwohl Erhebliches, nicht mehr in Ordnung; wenn sie nicht vor Aufregung den Sinn für Wirklichkeit verloren hatte, war sie angeschrieen worden, und draußen angekommen, fühlte sie eine Beschämung ohne Maß, eine Erniedrigung des Gewissens und Gefühls, die sie nicht länger in ihrer Würde bestehen ließen. Schwindelig wandte sie sich ab und ließ sich, auf der Wiese angelangt, auf einen Stuhl; als wüßte sie nicht, wo vorn, wo hinten sei, nahm sie quer auf ihm Platz, die Seide, in die sie sich gekleidet hatte, nicht im mindesten zurechtstreichend; mit den Händen in den Sitz des Stuhls fassend und die Leinwand zerpressend, blickte sie verdunkelt und voll unausgesetzter Gedanken an Doktor Gollerup in die verletzte Welt. Sie verstand nicht, war es ihr Auftreten oder das Frau Gollerups, aber eines, sicher, war abscheulich gewesen. Seit einer Woche hatte Doktor Gollerup nicht mehr mit ihr gesprochen, hatte seit einigen Tagen, wenn er ihr begegnete, sie übersehen, aber wenn sie sich ehrlich prüfte, war sie an Frau Gollerup nur herangetreten, weil wirklich in der Rechnung zwei Posten falsch zusammengezogen waren. Dennoch kämpfte sie, zitterte 132 und legte schließlich sich zurück, die Hände vor den Augen, die auf einmal die Lust, noch länger in die Welt zu blicken, aufgegeben hatten.
Frau Gollerup von ihrer Seite ließ durch Fräulein Zierich ununterbochen die Mädchen wegen des Verbrauchs der Wirtschaftsvorräte zur Verantwortung zusammenrufen. Es ging mit keiner friedlich ab, und als die hübscheste, die Gazelle wegen ihres Wuchses genannt, aus dem Bureau herauskam, fuchtelte ihr die Wut zu den Fäusten, und schrie sie der Jungfer zu, sie kündige den Dienst. Wie gut, dachte die Jungfer, wenn man hübsch und wenn man jung war und nicht zu warten brauchte, bis einem der Dienst von der Herrschaft aufgekündigt wurde, und ängstlich sah sie nach der Tür, ob sie etwa selbst zur Rechenschaft befohlen wurde.
Währenddessen standen die Damen in dem Badehaus und warteten. Die Zellen waren sämtlich besetzt, und nur in langen Abständen verschwand auf ein Klingelzeichen ein Mädchen in eine Zelle, deren Nummer in dem Zeichenapparat erschien, noch in der Tür, durch die von einzelnen ein Blick versucht wurde, von den Wartenden bestürmt, die dem Bad Entstiegene oberflächlich zu bedienen, damit die Zelle rascher frei werde. Der Aufenthalt in dem von Wasserdampf erhitzten Gang erhitzte, aber wer mit beschleunigtem Atem in den Waschraum flüchtete, fand auch dort die Wände feucht von dem Niederschlag des Wassers, und die Verzweiflung nahm allenthalben zu. Zuweilen zeigte Doktor Gollerup aus der Tür des Sprechzimmers seinen Kopf, worauf sich eine Dame aus der Schar löste und zu ihm 133 hineinging, auf ihren Empfang hin von den Zurückgebliebenen genau beobachtet. Nach der Abfertigung auch der letzten kam Doktor Gollerup heraus, nannte den Tag sehr böse und bat, es sich nicht verdrießen zu lassen; indem er versicherte, daß schließlich jede zu ihrem Recht komme, war er bereits schon mit seinem Vorrat an erfinderischen Wendungen fertig und verschwand, den gelben Kittel halb im Arm, um seine auswärts wohnenden Kranken zu besuchen. Bald darauf erschien eine Dame von bürgerlicher Abkunft, die nach dem Stande ihres geschiedenen Mannes sich Baronin nennen ließ, und äußerte ihre Empörung über sein Verschwinden. Nach seiner Vorschrift besuchte sie ihn täglich, und da er sie aus dem Park hätte rufen lassen können, belegte sie sein Verhalten mit einem lauten Tadel, dem alle beipflichteten, wenn auch nicht durchweg mit ehrlichen Gesichtern und nicht mit derselben lauten, ein wenig unangenehmen Heftigkeit, in der wohl der Grund oder die Folge der Trennung von ihrem Mann zu suchen war.
Die Bewegung war noch nicht gewichen, als, die Augen zu Boden und ganz sichtlich davon befangen, an dem üppigen Schwarme von Frauen vorüber zu müssen, ein junger Mann, etwa an dreißig Jahre, aus einer Zelle trat und sich bemühte, ungesehen zu entkommen. Auf abseitigen Wegen durch den Park gehend, bestürmte er sich, indem er frühere Gedanken verfolgte, und nachdem er sich langsam etwas abgekühlt und eine einsame 134 Stelle hinter einem Mandelbaum gefunden hatte, ließ er sich auf einen Stuhl und schlug ein wärmendes Tuch von allen Seiten um sich mit einer gemächlichen Bewegung, die das Gefühl der Geborgenheit verriet. Von einer plötzlichen Heiterkeit befallen, malte er sich aus, wie einem Gehetzten dagegen müßte zumute sein, und indem er sich behaglich dehnte, dachte er, daß die Nähe des Bahnhofs, der freilich nur einer Nebenlinie diente, ausreichte, einen solchen zu erschüttern. Indem er sich lebhaft in den Verfolgten hineindachte, aber eben nur als ein Zuschauer, glaubte er die Pfiffe eines Zuges zu hören, das Zischen, das Klappen der Türen, die Tritte des Verfolgers. Mit zusammengezogenem Rund der Augen starrte er auf den Eingang, Schritte knirschten und verloren sich, Sicherheit und Unsicherheit wechselten, und unter seiner ungemessenen Heiterkeit lag der Verfolgte in den Qualen einer unnachsichtigen Stunde, bis es plötzlich in dem Grase aufrauschte und ein Mädchen ihn zu Tisch rief. Lebhaft betrat er das Haus und, da er nach Gesellschaft kein Verlangen trug, sondern der Einsamkeit ergeben war, ließ er sich an einer Stelle der Tafel, wo ihn eine Lücke von den anderen trennte, einen Platz anweisen. Oben saß Doktor Gollerup und grüßte mit der Hand, daneben, mit vergehendem Blond und etwas üppig, saß eine Dame, die ihn unterhielt. Der Lärm bei Tisch war angenehm, er aß und trank, und als er sich erhob, strahlte er von Zufriedenheit, und ein Gefühl, das zugleich von angenehmer Sättigung, von Vorsommerluft und unverhoffter Ruhe kam, deckte ihm die Haut zu und tat ihm gut. 135
Er betrat sein Zimmer und ging die wenigen Schritte auf und ab, welche diese Stube ihm an Freiheit gab. War es die Enge des Raumes oder seine in leichten Umschlägen sich gefallende Natur, er wurde plötzlich erregt, ihm graute vor dem Maß des Raumes, den er im vorhinein kannte, vom Kopf des Bettes bis zu den aufgerollten Ecken seines Teppichs. Gelangweilt las er einen Anschlag an der Tür, die Durchsicht erst, als er fertig gelesen hatte, merkend. Vor Wut über diese Augenkrankheit, denn mit diesem Irrsinn hatte er sich schon zehnmal an diesem Tag beschäftigt, setzte er den Anschlag unter den Reißnägeln heraus und pfefferte den zusammengeballten in die Ecke. Er wußte schon, eine die Kranken beirrende Kritik der Kurvorschriften war untersagt, bei dem Verlangen nach einem Mädchen mußte man einmal, nach einem Kellner einmal mehr klingeln, nach einer sonst benötigten Person, wer weiß wie oft, und nur die ungezählten Male waren nicht vermerkt, mit denen man Gott leibhaftig zu sich hereinläutete. Aber es war entsetzend, zu denken, daß man nur einen weißen Knopf niederzudrücken hatte, damit ein Mensch kam, und haßte man die Menschen, so blieb nichts anderes übrig, als diesen weißen Knopf zerstören, um ihn nicht in seiner schwachen Stunde zu berühren.
Nicht viel später, so erschien zu einem Besuch Doktor Gollerup aus dem Zimmer. Noch ehe er niedersitzen konnte, beklagte sich Prätorius über die Stube und erklärte, ein anderer mit weniger starken Nerven würde in dieser Kammer, wo die Wände ihn zusammenschnürten, über Nacht bestimmt den Verstand verlieren. Dieser Raum, 136 wenn überhaupt das Wort darauf passe, sei gut für ein vertrocknetes und weggeworfenes Stück Brot. »Da haben Sie es,« sagte Prätorius, »Sie wissen, ich bin Jurist, und spreche gern recht deutlich«, aber er käme sich gar nicht beschädigt vor, obwohl ein anderer die beruflichen Erlebnisse, die er gehabt, nicht mit heilem Gemüte überstanden hätte, denn es gäbe schon Patrone auf der Welt, von denen man sich als durchschnittlich anständiger Bürger keine genügende Vorstellung mache. Er sei erst von seinem Zorn geheilt worden, als ihm das Wort Blutsauger eingefallen sei, das habe durch sein wundervolles Bild allen Groll und den ganzen Schmerz bei ihm gestillt. Sei er nicht glücklich? Was könne ihm das Leben wohl antun, wo ihm nur das eine Wort einzufallen brauche, um alle Unbill fortzufächeln? Ohne diese beneidenswerte Verfassung des Gemütes und vielleicht auch ohne eine natürliche Wohlhabenheit und Begüterung von Hause wäre er wohl nicht so gesund diesem Ansturm entronnen, denn wenn die Vorgesetzten, auf die man als Untergebener vertraut, um nach außen das Gesicht zu wahren, selbst auf einen losschlugen, so genügte bloße Tapferkeit nicht mehr, Standhaftigkeit sei not, und das sei mehr.
Prätorius ließ beide Hände verschränkt vor sich hängen und sagte: »So, nun habe ich Ihnen viel erzählt, und nun reden Sie dafür und weisen mir ein Zimmer an, in dem man atmen kann; Sie sehen, ich habe recht viel durchgemacht.«
Gollerup sagte sehr kurz und trocken, er dürfe nicht so viel allein sein, und verordnete ihm Bekanntschaften, 137 »am besten, wenn Sie Frauen gern haben, einer Frau, das strengt nicht an, und wenn sie hübsch ist, so wird man doch, beinahe ohne es zu merken, von ihr beschäftigt.« Zu jung, setzte er noch hinzu, dürfte sie nicht sein, da werde gleich vom Gemütlichen zu viel verlangt; wenn er ihn etwa mit der Baronin dürfe bekannt machen, die könne er ausnehmend auch gerade von dieser Seite rühmen. Prätorius sprach sein Mißfallen über sie und die Befürchtung aus, bei näherer Bekanntschaft, denn oberflächlich glaubte er sie zu kennen, die Dame wenig angenehm zu behandeln; was aber die Gefahr, die ihm von jungen Damen drohe, anlangte, so leugnete er sie vollends, denn seine glückliche Natur gebe sich nie ganz hin. Da Doktor Gollerup indessen wieder auf die Baronin zurückkam, so versicherte sich Prätorius zunächst, daß es die etwas aufgetragene Person mit blondem Haar sei, das sich soeben grau zu färben anfing. So viel Grau wollte Gollerup nicht bemerkt haben, aber Prätorius blieb dabei, daß es wenigstens die Dame war, die bei Tisch neben Doktor Gollerup gesessen hatte. Das gab wieder Gollerup zu, fand es aber nochmals, offenbar in einer Voreingenommenheit berührt, vollkommen gleichgültig, ob ihr Haar wirklich etwas grau geworden sei. In jedem Fall also, obwohl er ihre völlige Unverwelktheit behauptete, wollte er sie ihm zur Gesellschaft überlassen, aber Prätorius, dessen Stimmung wieder umschlug, meinte, sie werde da einem rechten überlassen, und wenn auch offensichtlich gegen sich, begann er grob zu werden. Gollerup aber machte keinen Unterschied, und die Grobheit gegen sich schien 138 ihm sogar noch schimpflicher als gegen andere. Er kam ihm also auf die gleiche Weise, und diese Unnachsichtigkeit wirkte beruhigend auf Prätorius, er bequemte sich zu Liebenswürdigkeiten, und um die Pracht der Anlage zu bestaunen, lehnte er sich höflich zum Fenster hinaus und rühmte den frischen Putz der Häuser. Gollerup gab sich als den Urheber aus, er steige im Winter auf die Leiter und tusche dann als Maler. Von hier war es Prätorius leicht, zu weiteren Belobigungen überzugehen, aber Gollerup kam auf seinen früheren Vorschlag zurück und, als wenn Prätorius um den Weg verlegen sei, machte er ihm klar, die Hauptsache sei, ihnen Honig um den Mund zu schmieren.
Honig, dachte hinterher Prätorius, ersichtlich ängstlich, woher sollte er den nehmen? Er hatte schon so viel davon verschwendet, daß ihn die Imker für ihn gesperrt hatten, oder übertrieb er, wie ihm nachher einfiel? Glaubten nur die Männer zu viel erlebt zu haben, die in Wirklichkeit nach wenigen Erlebnissen verlangten?
Als er nach vielen Besuchen, und nachdem er dem Abendtisch vorgesessen, sein Tagewerk vollendet hatte, ging Doktor Gollerup, obwohl er solchen Begegnungen gern auswich, was bei dem großen, ihnen untertanen Hauswesen nicht schwer anging, zu seiner Frau, die nach ihm geschickt hatte. Bei seinem Eintritt saß sie vor einem altmodischen Sekretär, dessen bogenförmige Verschlußklappe zurückgeschnurrt war, und hatte vor sich 139 Rechnungen liegen, in deren Durchsicht auch sein Erscheinen sie nicht hemmte. Sie nahm nur mit einer halben Wendung des Kopfes von ihm Kenntnis, und auch ein leichter Schlag auf ihren Rücken und ein Kuß auf die ein wenig gelockerte Wange veranlaßten sie nicht, über diesen Armenempfang hinauszugehen. Gollerup, den dieser Anfang einschüchterte, wurde dadurch verhindert, den frischen Wind von Gegenwart auszupacken, den er immer bei sich hatte, und sein Schlauch von Unbekümmertheit blieb fest verschlossen. Doch sah er ein, daß ihre Zurückhaltung ihm recht geschah und alles andere als unverdient kam. Denn er hatte allen Anlaß, gute Lebenssitten vorzuführen, was eine vernachlässigte Frau auf eine sonderbare Weise tröstete, auch wenn sie scheinbar gar nicht darauf einging. Er nahm also ein Rechnungsbuch, das frei herumlag, in die Hand, blätterte nach rechts und links und legte es dann über eine Frage nach ihrer Gesundheit fort, die er damit als wichtiger kennzeichnete. Sie gab ihre Antwort obenhin, wie es ihre Art geworden war, und er fand sich abermals auf das Buch verwiesen, in dem er nun eifrig las, die Lippen zusammengekniffen, mit dem Finger immer oben an der Ecke der Seite, als ob er es nicht aushielte, bis er sie wenden konnte. Als er eine Eintragung bemerkte, nach der Frau Hiller fortgegangen war, fuhr er mit einer Frage auf. Frau Gollerup jedoch dachte, sie wolle nicht für gar so dumm genommen werden, und gab keine Antwort. Erst auf seine wiederholte und tieferstaunte Frage wendete sie sich zu ihm und sah ihn, um in keinem Fall zu wenig zu tun, so 140 zweideutig an, daß ihm nicht wohl darunter wurde. Er strich am Hinterkopf, an einer Stelle, wo es blond geblieben war, sein Haar zurecht, rieb die Hand am Schenkel und fragte, bemüht, von seiner Frage abzukommen, aus welchem Grunde sie nach ihm geschickt habe. Aber ehe sie auf die Sache selbst kamen, ereignete sich, bloß durch ein Nebenwort hervorgerufen, ein sehr beträchtlicher Zwischenfall. Seine Frage lautete nicht ganz so, wie sie bisher wiedergegeben wurde, er fragte vielmehr mit einer saloppen Wendung der Rede, weshalb sie also nach ihm geschickt hätte, und dieses Also, die Ungeduld, die darin lag, und der Anspruch, der daraus wuchs, verdrossen sie ungemein. Es durchtrotzte sie auf einmal mit scharfem Widerspruch, hieß dieses Wörtchen doch nichts anderes, als daß sie, um ihn zu sehen, einen besonderen Grund angeben müsse, den Sonntagmittag ausgenommen, wo sie neben ihm der Tafel vorsaß, statt wie sonst das Regiment in der Küche zu führen; an den übrigen Tagen speiste immer eine andere mit ihm, eine Weile diese, eine zweite jene, alles Damen, mit denen er sich auf eine sorgfältig überlegte Weise abgab, so daß, nahm man alles klar und scharf, aus ihm ein Gegenstand der Anziehung wurde, den sie ihren Gästen darbot. Während er weiter eitel und verlegen das Haar an jener hoffnungsvollen Stelle streichelte, kam er mit einem Mal ihr so beschränkt vor, daß sie nachdachte, ob er überhaupt begriff, daß in ihrem Geschäft seine Person ein eingesetzter Posten geworden war, und geringschätzig fuhr ihr Blick an seiner Figur hinab und auf, um den Gegenstand der 141 Anziehung zu finden, der für andere offenbar vorhanden war. Diese Beurteilung bedrückte sie schließlich selbst, und so reichte sie ihm aus ihrer Lade einen Brief, bei dem er zunächst über die fremdländische Marke staunte, als er die Handschrift erkannte, aber sich noch ärger verwunderte, daß die Nachricht von dieser Seite kam. Sie hatte den Brief bereits mit einem Federmesser aufgeschnitten, Gollerup zog ihn mit breiten Nägeln aus dem Schlitz und las ihn, während der Bogen in seinen Fingern knitterte. Schon bei den ersten Zeilen brach der Bramarbas aus ihm, er warf eine Unverschämtheit nach der anderen hinter dem Menschen her, und sein Gesicht prallte sich ganz rot, so daß seine Frau, da er ziemlich stark war, die Farbe bereits auf einen Kollaps hin prüfte. Die Erregung schien jedoch gerade auf dem höchsten Punkte angelangt, und so ließ sie ihn gewähren, da das Abschwellen sich von selbst einstellen mußte. Er schrie, daß er dem Kerl sein Haus verbiete, wälzte Ausdrücke hervor wie Hundsfott und feiner Bruder, und setzte noch einen Lüderjahn daran, ohne einen neuen Blick seiner Frau zu beachten, der anfragte, ob es nach seiner Ansicht eine schlimme Sache, ein Lüderjahn zu heißen. Immerhin mäßigte ihn die Anstrahlung aus ihrem dunklen Grunde, und da in der Aufregung der Männer immer sehr viel Willkür liegt, so begnügte er sich mit der Wiederholung, daß er den Besuch auf keinen Fall gestatte. So, nachdem dieses einmal unnachsichtig feststand, konnte die ganze Angelegenheit für erledigt gelten, und er wischte sich darum den Schweiß mit einem Tuche und wandte überhaupt seine Fürsorge 142 wieder seinem persönlichen Befinden zu. Er hatte sich um den Atem geredet und stöhnte, er sei abgepustet wie ein ausgemachtes Licht. Seine Frau lobte, daß er wieder an sich dächte, und hob hervor, wie schädlich solche Aufregungen seien, aber ihr Ton hatte nicht den reinen selbstverständlichen Klang, den er von ihren besten Zeiten kannte. Er blieb darum forschend stehen, wo er gerade stand, so dicht an ihrem Stuhl, daß sie ihre Kniee zurücknehmen mußte, vor seinem Blick aber wich sie nicht zurück, sondern fing ihn auf. Nach einer unbewegten Weile wurde der Marsch wieder von ihm aufgenommen; ohne über den merkwürdigen Tonfall klar zu werden, durchpflügte er das Zimmer, bis er sich zum Ausgang kehrte. Beim Abschied fiel ihm ein, der Schreiber könne sich auf seiner südamerikanischen Pflanzung gelangweilt und den Brief aus dem Bedürfnisse verfaßt haben, eine Rolle in dem Leben anderer, die ihn schließlich etwas angingen, zu spielen, eine Irreführung mithin enthalten, er meldete den Einfall seiner Frau, beglückt, daß er einmal bei ihr, vor der er dauernd sich beschränkt erschien, einen Gedanken hatte, aber sie äußerte sich nicht zu seinem Einfall und suchte ihn mehr für ihre Abrechnungen zu gewinnen, um die er, wie alle Menschen, die nichts Sonderliches von einem Abschluß zu erwarten haben, sich weniger tapfer als vielmehr feig herumschlich; in seiner Aufregung fand er einen Vorwand, dessen Brauchbarkeit sie zugab. Sie wechselten noch einige Worte über die neu angekommenen Gäste, und Prätorius, der ebenfalls erwähnt wurde, erhielt von Doktor Gollerup, allerdings wiederum unter dem Ausdruck eines Zweifels 143 von seiten seiner Frau, die Bemerkung, daß er ganz gesund und nur leichthin überanstrengt sei.
Als er, endlich draußen, Fräulein Tuch erblickte, an der noch vom Lauf die ganze Kleidung in Bewegung war, fielen von ihm die Zimmerluft und der ganze Hauch von strengem Leben ab. Er rief sie an und drohte ihr, man werde sie eines Tages mit gebrochenen Beinen bringen, und indem er ihr gleich mit seinen Worten die Bandagen umtat, fühlte er sich wieder von Grund aus munter und von neuem in seiner Luft. Sie stutzte über seine Freundlichkeit, von der er in letzter Zeit nicht viel an sie verschwendet hatte, gab noch über die Abreise von Frau Hiller auf Befragen Auskunft und ging dann, als sei sie angehalten worden, beträchtlich langsamer in das Haus. Anders als die anderen Mägde, hatte sie eine Kammer für sich allein, und sie nützte sie, indem sie sich jetzt an das Fenster stellte und ohne Blick in die wogende und zwischen hell und dunkel eingeteilte Nacht hinausstarrte, in der die Menschen noch mit ihren Schritten und Wünschen musizierten. Der Brief, den sie im Laufe des Tages abgehoben hatte, rief sie zu ihrer Mutter, die erkrankt war, aber sie blieb bei ihrer Arbeit, bei der sie sich unentbehrlich vorkam, und ohne Bedenken über den Entschluß legte sie sich nieder, erst in den Träumen ein betäubtes Gewissen entladend.
Frau Gollerup aber bat ihren Sohn zu sich ins Zimmer und ließ ihn von jener kleinen, etwas fernen Stadt erzählen, wo er seinen Studien seit einem Jahrzehnte oblag, und von wo er nur für einige Feiertage trotz des nahen Abschlusses seiner Prüfung nach Haus 144 gekommen war. Er berichtete von einem Hilfsarzt, der seinen ersten selbständigen Eingriff als Chirurg zu machen hatte und dabei das kranke mit dem gesunden Bein verwechselte. Es gab noch andere kräftige Geschichten der Art, und er schien überhaupt nur in das Leben getreten, um solch eines Berichtes würdige Handlungen zu vollbringen. Frau Gollerup hörte angelegentlich zu und lachte einmal sogar laut, doch sah ihr Gesicht dabei unverändert und ohne jegliche Spur von Heiterkeit darin. Sie verabschiedete ihren Sohn ohne den gewohnten Umgang durch den Park, schloß alle Türen ab, löschte alle Flammen aus und ging ruhig, mit den vollen Schritten einer Frau von Jahren, die Treppe zu ihrer Kammer hinauf, die des Sommers unter Dach lag. Sie schlief hier Wand an Wand mit ihren Mägden, hörte eines nebenan sich wälzen und war ohne Teilnahme dafür. Als sie die Haken in die Laden tat, störte sie der Rost, der an den Haken splitterte und schmolz. Beim Ausziehen, das nicht wie sonst wohl sie körperlich befreite, sang sie leise vor sich, zunächst gestaltlos, dann den Ton ausgebend und behorchend, und als der Gesang zu einer vollen Ordnung kam, sah sie mit einem sanft an Verwegenheit grenzenden Blicke aus dem Fenster. Sie fuhr morgen, wie ausnahmslos an diesem Tage der Woche, in die Stadt und bildete dort ihre Stimme unter der Leitung einer Sängerin von Ruf. Als sie sich niederlegte, drückte sie den Mund in das Kissenteil und bewegte lautlos ihre Lippen. Aber so still es war, sie hörte den Gesang, und nach einer kurzen Weile hörte ihn der ganze Saal, in der Tür neben einer Saalloge erschien ihr Mann, eine 145 Frau an seiner Seite; schmerzhaft verzog sie das Gesicht, und ihre Aufregung war so groß, daß sie keinen Schlaf fand und bis in die letzten Ausläufer der Nacht sich die wohlbekannten Mittel ihr versagten, mit denen sonst der Schlaf aus seinen unergründlichen Tiefen von sehnsüchtigen Menschen gerufen wird.
Frau Ballarino saß unter einem Mandelbaum und spielte mit ihrem Sohn. Das eine Bein war ein wenig von dem anderen fortgezogen, so daß sich eine Grube in ihrem Rocke bildete, in die Ivo seine Steine tat. Als er jetzt einen neuen Stein hineinwarf, war mit einem Male der Sack in dem Kleid verschwunden. Vergeblich brach er ihre Hände auf, verzweifelt lief er um das Bein, die Steine waren fortgeschwommen und die Grube mit. Mit einem Male klirrten die Steine wieder an, und langsam stiegen sie aus dem Schoße, der sich verbreiterte.
Das Wunder wurde aufgeklärt, aber Ivo reizte das Spiel unvermindert; verschwand die Grube, so verschwand sie wirklich, und erschien sie, war er von neuem erfreut und überrascht. Ihre Ungeduld brach es schließlich ab, und er mußte sich zwischen ihre Beine stellen; wie einem kleinem Mädchen flocht sie ihm Zöpfe aus den Locken. Bei seinem krausen Haar und dem ewigen Auf-dem-Sprung-sein fortzulaufen, bedurfte es Geduld von ihrer Seite, doch als er einsah, daß ihm Geduld am ehesten hülfe, stellte er sich voll Frömmigkeit vor sie auf. 146
Doktor Prätorius hatte die Flechtarbeit bemerkt, und angezogen von dem Vorgang, kam er näher. Ein zages Wort des Beifalls für den verflochtenen Zustand, das sie, weil sehr leise gesprochen, nicht verstand, erschreckte sie; er hatte einen leichten Schritt angenommen, und sie war hier, in der Sicherheit des Eigentums, nicht mehr gewöhnt, auf jeden Schritt zu achten. Während sie seine übergroße Gestalt und seine wenig aufrechte Haltung betrachtete, fiel es ihr ein, wie seltsam es auf einen Mann wirken mochte, daß sie den Haarwuchs ihres Sohnes auf Art der Mädchen ordnete, und aus Verlegenheit, und weil auch ihr Sohn die Arme hochhob, um die geflochtenen Haare zu verdecken, lachte sie vor sich hin und bog das Gesicht herab. Er mißdeutete aus Empfindlichkeit ihr Lachen, das auf unsagbare Weise seinen Stolz verriet, zog den Hut und erklärte, daß er nicht gern zur Last falle, und ehe sie ihn halten konnte, bog er, langsam den Weg zurückverfolgend, in eine Allee, die ihn ihrem Auge rasch entzog. Er prüfte, was in seinem Auftreten das Mißgeschick verschuldet hatte, ob vielleicht die Hose nicht in Ordnung war, und über die Schulter blickend, zog er den Rückenteil des Rockes zur Seite, ohne daß er feststellte, wie er von hinten aussah, und ohne daß der Sachverhalt sich klärte. Der Kragen beengte seinen Hals, die Haut war von dem zupfigen Rande wund gescheuert, aber plötzlich, während er die Erinnerung an die Frau beschwor und ein wenig entgeistert wurde, nahm er den Hals zurück und ließ sich von einem Geräusch erregen, das sich hinter einer Baumgruppe erhoben hatte. Er bemerkte einen 147 Mann von so niedrigen Maßen der unteren Teile, daß er nicht anders als in der Kniebeuge hängen konnte. Nach einer Weile erhob sich der Mann, erwies sich als von mittlerem Wuchse, fiel aber unter dem beobachtenden Blick wieder in seine gekrümmte Stellung. Er schien krank, und ärgerlich, daß in diesem Haus, wo man ausruhen wollte, von einem solchen Menschen irrlichteriert wurde, beschloß Prätorius, es Gollerup zu melden.
Inzwischen hatte sich, über das angerichtete Unglück betrübt, Frau Ballarino aufgemacht und Ivo in eine gestrickte rote Leine mit kleinen Glocken eingeschirrt, in der er munter forttrabte, sie durch den Park ziehend. Aber obwohl sie keinen Teil des Parkes ausließen, führte die Fahrt nicht zu dem Gesuchten.
Prätorius entging nicht jeder Begegnung. Hinter einem Gebüsche stieß er auf eine Dame, die nicht sehr groß, aber sein gewachsen war und auf dem äußersten Rand ihrer Fußspitzen zu gehen schien. Ihr Gesicht war blaß, die Haut war zart, und bei so zarter Haut vermutete er eine schöne Stimme. Als sie ihm einen fliegenden Blick durch die Luft zusandte und dazu die Lippen bewegte, wäre er bereit gewesen, sein Erlebnis von vorhin zu vergessen und sich ihr zu nähern. Allein sie hing am Arme einer Pflegerin, und als nach zehn Schritten jedes Geräusch von ihr vergangen war, verklang langsam auch ihr Bild.
Am nächsten Tage fand ihn Frau Ballarino. Er kam versunken durch den Park, und Ivo, mit einem kleinen Strauße Blumen ausgerüstet, lief ihm nach. Als 148 er hinter sich etwas traben hörte, blieb er stehen, doch mußte die Mutter erst Ivo rufen und befeuern, daß er die bunte Sendung abgab. Sie gedachte selbst hinzuzutreten, um den Umstand zu erklären, als er es überflüssig machte und sich zu ihr bemühte. Ängstlich, da sie der Falten in seinem Gesichte inne wurde, sah sie ihn an, und schon in diesem Augenblick war sie sanft und von innen nicht mehr leicht.
Nach unzulänglichen Wendungen, wie sie ein erstes Gespräch einleiten, schwenkten sie zusammen ab und gingen, von Ivo wie von einem kleinen Tier umsprungen, durch den Park. Sie unterließen, sich Tatsachen mitzuteilen, die der gemeinen Teilnahme geläufig sind, es wurde weder von der Bedienung in den Häusern gesprochen, noch von der Bekömmlichkeit des Aufenthaltes, ja selbst nicht des Witterungswechsels durch den umschlagenden Mond Erwähnung getan. In der Tat hatten am Himmel die Wolken die Herrschaft eingenommen, die Erde schien unmittelbar hinter den Bäumen aufzuhören, und das unerhört schnell jagende Licht hinterließ die Vorstellung von einer Insel, flüchtig durch die Horizonte. Die Witterung erregte ihn, und diese Erregung teilte sich ihr mit. Sie vergrößernd, sprach er, ohne Einzelheiten anzugeben, von einem häßlichen Erlebnis, auf das seine Unruhe zurückführe, und als sie ängstlich wurde, setzte er hinzu, es seien noch nicht die schwärzesten Reiter, die ihn verfolgt hätten, und sie dürfe ihn beglückwünschen, daß er gerettet sei.
Immerhin verstand sie von seinen Worten wenig, und nur seine Stimme fiel ihr auf. Sie kam tief 149 aus ihm heraus und klang bei einem gelegentlichen Aufsteigen in die Höhe silbern. Daß sie leise war, machte sie noch mehr besonders, denn bei seinem hohen Wuchs und seinem keineswegs schwächlichen Aussehen war eine größere Stärke zu erwarten.
Er verwies sie auf einen Vogelruf, der jetzt von allen Seiten einsetzte. Die Vögel fuhren über die Bäume, als schössen sie mit den Wolken aus der den Stürmen überlassenen Landschaft. Sie bekannte, daß sie Vögel nicht singen hören könne, wich aber verlegen der Begründung aus, um die sie angegangen wurde. Dann schritten sie weiter durch den Park, und er unternahm es dabei, sie menschlich unterzubringen. Sie ansehend, gestand er, daß er manches über sie erfahren möchte. Allein wie es oft bei dieser Frage geschieht, er wurde gar nicht unterrichtet und ausschließlich angewiesen, alles zu erraten.
Er riet nun, sie sei verheiratet, aber sie wollte das nicht als ein Zeichen von Scharfsinn gelten lassen. Er fuhr in seinen Feststellungen fort und stand sogleich in den Strömen ihres Lebensblutes, als er, doch wieder fragend, sich nach ihrem Ergehen erkundigte, und zwar so ernst, daß nur ein ernstes Bekenntnis als Antwort in Betracht kam. Sie spürte sofort, sie konnte hier nur offen sein, fürchtete, sich damit preiszugeben, spürte sich indessen schon verführt, welche Auskünfte sie immer gab. Er sah unaufrichtig in diesen Kampf zwischen dem Drang nach Wahrheit und dem Wunsch nach Trug; er suchte schon an ihr nach Zügen, die ihm mißfielen, fand aber bei rascher Übersicht gegen seinen Willen nur 150 Bestätigungen für ihr in einer nicht darstellbaren Weise ihm angenehmes Wesen. Er forschte noch eindringlicher an ihr nach unangenehmen Zügen, denn ein immer zu seinen Ungunsten waches Mißtrauen überzeugte ihn, noch bevor sie geantwortet hatte, daß sie mit einem anderen glücklich und für ihn hoffnungslos verloren war, so daß er sie nicht gern untadelig und in einem Schleier von Vollkommenheiten sah. Mit verkniffenem Gesicht sagte er, als sie schwieg, er vermute sie auf das allerbeste und bequemste versorgt, und es klang hindurch, daß sie ihn damit beleidige. Die Worte verdrossen sie, aber da sie jede Berichtigung auf eine ungerade Bahn führen mußte, so hielt sie mit der Antwort an sich.
Ihr Weg führte an einem stillen Bahnhaus mit einem Läutewerk vorbei. Der Schienenübergang und das Dach der Bahnhofshalle glänzten stumpf herüber. Weiter wandernd, kamen sie zu der Terrasse, von wo sie in die Landschaft blickten. Es hatte sich ein stürmisches Wetter erhoben, wild wurden die Bäume von dem Wind geschüttelt, die aufsteigende Dämmerung hatte die Weite angefüllt, und die Verbindung mit dem Himmel, an dem es apokalyptisch zuging, wurde von dem Dunkel nachgesucht. Abgerissene Fetzen flogen herunter, Wolken durchjagten die graue Reitbahn, und zwischen oben und unten kam es zu einem unnatürlichen Gemenge. Die junge Frau sank in sich zusammen, aber in den Ansturm starrend, bestürmte es ihn selbst. Ihr Schweigen hatte ihr Unglück ihm verraten, und seine Seele fühlte sich beschlagnahmt und wie immer, wenn er sein Schicksal eindeutig werden fühlte, auf der Flucht. 151 Zugleich behielt er sich dennoch die Rückkehr vor, und wenn er sich jetzt unter einer Entschuldigung verabschiedete, so gab er zugleich dem dunklen Gefühl nach, ihre unausgelebte Erregung müsse sie ihm nähern, gerade weil er sie jetzt verließ. Er führte sie erst noch ein Stück des Wegs zurück, und nachdem er lange ihre Augen betrachtet hatte, die er auch in der Finsternis noch von einem gelblichen Grau erfüllt sah, verschwand er. Ihre beiden Augen, so war ihm, standen beim Abschied noch näher beieinander, und er empfand plötzlich, diese Nähe, bei der die Augen fast zusammenwuchsen, sei von jeder Frau zu fordern, die den Anspruch erhob, schön zu sein, und nur weil er die Vielfalt liebte, ging er nicht so weit zu wünschen, daß die starke Krümmung der Brauen, die er zu beobachten Gelegenheit genommen hatte, ebenfalls allgemein werde.
In der Nacht wurde er von ihrem Bilde verfolgt, und schlief voll Unruhe. Unruhig verbrachte auch Frau Ballarino diese Nacht. Sie lief im Traum auf einen Fremden zu, gemeinsam mit ihrer Mutter, mit der zusammen sie sich anstrengte, den Fremden fortzujagen, aber mitten auf der Flucht drehte er sich um und jagte sie. Hinter seinen unsicheren Schritten unterschied sie andere Schritte, die sie verfolgten, junge leichtfüßige eines Siebzehnjährigen, hinter diesen nochmals andere, die raschwendig und aus einer überseeischen Stadt her ihr bekannt waren, die Schritte von allen dreien zusammen 152 jagten hinter ihr, und als sie nach dem Arm des ersten griff, um sich zu ihm zu retten, war ihre Mutter und unmittelbar danach auch der Retter verschwunden, und die beiden anderen Verfolger bedrängten sie gemeinsam.
Sie erinnerte sich am nächsten Morgen nicht des Traumes, aber an einer ungewöhnlichen Zerschlagenheit ihres Körpers merkte sie ihren nächtlichen Hinflug über Abgründe. Sie hielt sich den Tag über in ihrem Häuschen, trübselig und unter Grauen, und als es dunkelte, zündete sie, noch immer traurig, ihre Lampen an, die mit ihrem roten Licht von außen aussahen, als habe sie ihre Seele, die man noch bunt vermutete, lampionartig in den Zimmern aufgehängt, und Prätorius insbesondere folgte dem Zug und Schein, so oft er an dem Hause vorbeitrieb.
Es stürmte weiter. Die Voraussage eines ungewöhnlich freudlosen Sommers nach einem unerhört wilden Frühling schien einzutreffen. Die Wiesen waren verlassen von den Gästen, über dem ganzen Anwesen lag eine leichte Verödung; die zu dem Pfingstfest eingetroffenen Schwärme waren abgezogen, die Sommergäste zögerten mit der Ankunft. Die Tage über schnitzelte ein einförmiger Regen, es verdroß, mit welcher Langsamkeit das Wasser, das seine Stelle in der Atmosphäre wechseln mußte, die Veränderung vornahm. Der Wind schlug in den Nächten um das Haus, als wolle er es in seinen Trichter mahlen, und nur gegen den Morgen zu ließ seine Gewalt ein wenig nach. Prätorius lief in einem Überrock und mit hochgeschlagenem Kragen durch den Park, die Hände in den Seitentaschen. Der Rasen 153 sah nicht anders aus, als habe den Gärtner der Schlag gerührt beim Sprengen und als sei das Wasser stundenlang aus dem Schlauch gelaufen. Durchnäßt ging ein Arbeiter mit einer Harke über den Weg, der von Blättern wie geschuppt war, und die Mädchen, wenn sie von einem Haus in das andere sprangen, liefen was sie konnten mit gesenktem Kopf und sich nachher den Regen von dem Nacken und den Haaren wischend.
Prätorius hatte vor einer Stunde gehört, daß Frau Ballarino die Tochter von Doktor Gollerup war, und ihr Mann ein nach Argentinien eingewanderter Italiener sei. Weiter hatte er nichts über sie erfahren können, aber es beschäftigte ihn unaufhörlich, ob sie zu ihrem Mann zurückkehrte oder ob jemand sie bewog, zu bleiben. Der Regen hatte wieder eingesetzt, und eintönig wie er, gleichgültig wie er, klang, was Prätorius antwortete.
Mit den Tagen verzehrte ihn die Unsicherheit. Er wußte nicht, wie er den Morgen, noch weniger, wie er den Abend verbringen sollte. Jetzt ging ihm auf, was ein schlechter Tag auf dem Land bedeutete, welches Maß von Geduld seine Bewohner haben müssen und wie ihnen Stumpfheit aus Güte verliehen ist. Er versuchte zur Ablenkung an die große Stadt zu denken, aber nichts strömte von ihrer Kraft in ihn, und als er sich gewaltsam das große elektrische Tau über einer Großstadtstraße vorstellte, war es nur ein Bild, das ihn nicht fortriß.
Des Nachts erschien ihm jetzt immer, wie durch Unlauterkeit gerufen, das ausdruckslose Gesicht eines Gläubigers. Seit einer Reihe von Wochen fing jeder Traum mit 154 dieser Erscheinung an, wie Kinder es in der Gewalt haben, den Traum der vorigen Nacht fortzusetzen. Der Mann führte sich mit den verlogenen Verbeugungen ein, die Prätorius von schlechtgearteten Geschäftsleuten kannte, nannte sich Kisch, wenigstens verstand ihn Prätorius so, der gegen einsilbige Namen eine besondere Abneigung hatte. Der Mann schien zu spüren, daß mit dem Namen kein Staat zu machen war, und stellte sich als den Geschäftsführer einer Land- und Industriegesellschaft vor, wobei er grimmassierte und die Frage anschloß, ob Prätorius mit einem Assessor gleichen Namens verwandt sei, durch den er um zwanzigtausend Mark aus seinem Vermögen betrogen worden sei. Prätorius, sich zu erkennen zu geben durchaus nicht scheuend, aber ihn dabei dunkel anstarrend, versetzte, er entsinne sich genau, die runde Summe aus seiner Wohlhabenheit ersetzt zu haben, und er könne von Betrug nicht das mindeste bemerken. Aber so leicht ließ sich der Gläubiger nicht zurückschlagen, er erkundigte sich vielmehr, ob die Vergütung freiwillig geleistet oder auf die Anweisung dienstlicher Vorgesetzter erfolgt sei, und wie er ihn für die Aufregungen und die Unruhe des Eintreibens entschädigen wolle, wegen deren er bisher noch keine Ansprüche erhoben hätte, jetzt aber entschlossen sei, vorzugehen. Vergeblich berief sich Prätorius auf seine gewissenhafte Amtsführung, er wurde befragt, wer das Versehen bei dem grundbuchlichen Geschäft begangen habe, ob etwa ein anderer, und ob er nur irrtümlich in Anspruch genommen worden sei, und seine eigenen dienstlichen Äußerungen wurden angeführt, es wurde 155 ihm keine Rüge, die ihm, und keine Genugtuung, die dem Gläubiger erteilt worden war, bei dieser Erörterung erspart. Erst als alle Stationen des Martyriums durchlaufen waren, spürte er, daß er wach war und nur zum Teil geträumt hatte, und die Rückkehr der Besinnung beglückte ihn wie einen Schiffbrüchigen die Heimkehr. Aller Schmerz trat hinter ihn, er hatte sich nur zu erholen und innen hell zu werden, und in die Kissen eingeschmiegt glaubte er nicht anders, als daß es ganz dicht und undurchlässig sei angefüllt mit Glück, und je mehr dem Morgen zu, um so mehr gingen seine Träume mit seinem letzten Erlebnis statt mit dem vorletzten.
Am nächsten Morgen ging ihre Erscheinung in dem Park auf. Sie hatten beide Regenmäntel angelegt, denn der bestürmte Himmel hatte wohl sein Regenmeer hinter weiße Küsten zurückgenommen, aber die Winde, die von Westen bliesen, mußten den Regen binnen kurzem niederschlagen. Ihrer ansichtig, gingen beide aufeinander zu und fühlten sich enttäuscht. Sie dünkten in der Erinnerung sein Gang und seine Stimme anders; betroffener als sie, fand er an ihrem Haar nicht den unglaubwürdig hellen Ton, der körperlich in ihm gewirkt, und in ihrem Gesichtsschnitt nicht die Zuversicht, die ihn verlockt hatte, vielmehr Zagheit und Erschütterung. Zu anderen Zeiten hätte er sich gefreut, daß sie ihn nicht über ihre beschränkte Schönheit täuschen könne, da er sich weniger in Gefahr glaubte, aber er war wohl sorgloser 156 geworden und gab sich bald der Unterhaltung mit einer Munterkeit hin, die ihn fortriß. Zwar war sie anfänglich sichtlich kühler, was er sich mit seiner jähen Anwandlung bei dem Abschied letzthin erklärte, und wirklich, während sie anfänglich mit einem häufig abgewandtem Gesichte schwieg, lachte sie bald über seine Torheiten, schien also seiner Liebenswürdigkeit nicht gewillt, sich zu entziehen.
Da die Trockenheit anhielt, ließen sie Liegestühle auf die Wiese schaffen, obwohl sie naß war, und es schien, als trieben sie auf einem Bach. Durch Decken gegen die Feuchtigkeit geschützt, fühlten sie die Kälte durch den Schutz mit einem Schauder. Fest in die Tücher eingemummt und die Körper wie an einem Ofen wärmend, begannen sie, sich gemächlich auszufragen, und ihrem Forschen nach der Form, in der er bürgerlich verlief, stand er umständlich und scherzhaft Rede; sie mußte allerdings die Mandeln immer aus dem süßen Teig hervorsuchen, in dem er sie versteckte, und es war ihm anzusehen, daß er sie besonders tief vergrub, weil es ihm Vergnügen schuf, sie mühsam aus dem Teige lesen zu lassen. Bequem, die Augen geschlossen, lag er da und fand es gut, so zu liegen, und nicht weniger, so ausgefragt zu werden.
Sie wurde von dieser Ruhe selbst beruhigt, obwohl wieder in seiner Nähe durch eine Ahnung sie eine Unruhe überfiel. Am Schlusse schlug sie heiter die Decke von sich und stieg auf den Spitzen durch das Gras. Die Feuchtigkeit drang in den von den Fingern aufgenommenen Rock und schien nach zehn Schritten sie 157 völlig einzuhüllen. Während sie sich umwandte, lag Prätorius unverändert, wohl ein wenig zu groß für den kurzen Stuhl, mit einem zufriedenen und behaglichen Zuge im Gesicht, ohne anscheinend ihre Unruhe zu bemerken. Durch ihren Blick seiner Unhöflichkeit belehrt, schüttelte er mit den Decken das Gehabe von sich und trat wohlerzogen auf sie zu. An ihrem Gesicht war mit allen geläufigen Merkmalen schon die Verlegenheit aufgegangen. Sie schien kein Maß zu haben, wuchs und übertrug sich auch auf ihn, so daß sie beide von ihr hingenommen wurden. Eine Vorstellung von einer außerordentlichen Tiefe der Lust lief dabei durch ihn, an Süße genügend, um das Äußerste seiner Vorstellung zu erwecken, und wie er mit einem raschen Einfall des Bewußtseins spürte: war eben bei ihm noch die Eitelkeit gespannt worden, so war nun der Riegel zu seinem Herzen angerührt. Er erstarrte, ja die Vorstellung ließ ihn zittern, und stärker, als ein großes Umwenden ihres Kopfes ihm bewies, daß auch sie ihr ganzes Wesen einsetzte und ihre Beziehung im Begriff war, zu einer Lebenssache zu werden. Rasch stürzte ihm das Blut zu Kopf, er spürte, wie noch einmal sich die Anlage zum Spiel, aus der er sich nie zum letzten Ernst entschloß, in seinem Wesen regte und die Angst, für wahr genommen und festgehalten zu werden, aufbäumte. Aber da seine dauernde Lebensvorsicht ihn nicht vor dem jähen Schlusse seiner Laufbahn, und nicht einmal vor dem schweren Verluste an Vermögen bewahrt hatte, stieß er sie jetzt von sich wie einen Wall vor dem schönsten und grenzenlosesten Genuß, seiner Hingabe an ein 158 Gefühl. Unter Feuerwirbeln von Vorwürfen an seine Vergangenheit und an die gedämpften Gefühle, die sich auch jetzt noch matt in seine Leidenschaft mengen wollten, bemühte er sich um ihren Mantel, um ihren Schirm, um die äußeren Angelegenheiten ihres Wesens, seinen Gedanken keine Zeit lassend, dem Vergnügen seiner Augen und dem Genusse seiner Sinne im Weg zu sein. Aber bald stellte er seine Aufmerksamkeiten ein; von einer plötzlichen Ermattung überwältigt, erstarrten seine Bewegungen, und langsam den Stock hinter sich in dem rauschendem Grase schleifend, ging er, ohne zu sprechen, neben ihr, die auch gedankenlos durch den Park schritt, da sie manchmal die Art hatte, plötzlich leer wie Glas zu werden, dies auch spürte und jetzt damit nicht unzufrieden war.
Ihr Weg brachte sie in die Nähe des Turnplatzes, wo sie ihren Schritt durch ein Gerät gehemmt fanden, welches sich mit dem einen Ende in den Boden bohrte, mit dem anderen aber hoch in die Luft stach. Sie nahmen auf der Wippe Platz, die gerade trocken geworden war, und jeder von ihnen setzte sein Gewicht an, um das ihm zugekehrte Ende des Balkens niederzudrücken und das andere mit dem Partner in die Luft zu schrauben. Als sie sich gegenseitig geschaukelt hatten, setzten sie sich friedlich auf den Scheitel. Mit der fernen Ahnung einer Berührung streiften sich die Arme, und er dachte, welche Kraft dem Augenblick inne sein werde, in dem sie wirklich Arm in Arm ruhten, die kleine Spanne Raum erdrückend. Aber nach einer kurzen Weile wurde der Friede, statt zusammenzuwachsen, jäh 159 zerrissen. Die Erscheinung Doktor Gollerups ging in der Ferne auf, und als sie näher kam mit einer lebhaften Geschwindigkeit, lief seine Tochter auf die Wolke zu, die sein Mantel ausmachte, und winkte dem Verlassenen ein Lebewohl mit ihrem Hut, zur Begleitung nur von ungefähr ein Lächeln beigebend. Allein auf der Wippe schwingend, sah ihr Prätorius nach, voll Staunens über die fremde Lebhaftigkeit der Frauen. Sie war hingefahren, daß alles um sie wie wild herumstob, so schwer sie eben noch erschienen war, und die Blätter und die Kelche, die sie angestoßen, zitterten noch bis zum Morgen von der Bewegung. Er dachte nach: war er hingerissen, wollte er es sein? Wenn es ein Mittel gab, von der Beschäftigung mit sich abzukommen, war es, dieser Person sich völlig auszuliefern. Allein die Vernunft beschlich ihn, ob er im Gefühl bestehen konnte. Er sank tiefer in seine eigenen Abgründe, während er langsam in den Himmel stieg und wieder niederfahrend mit den Füßen auf den Boden stieß. Er wünschte, oh, stünde er doch in einer Wolke, von der sich mitführen zu lassen nur einer sanften und beglückenden Willenlosigkeit bedurfte. Die Lüfte waren befeuert, er jagte auf ihrer Neigung, und nur sein Herz zerkohlten Zweifel in Abraum, Asche, Schutt. Langsam stieg er herab, beirrt machte er sich auf und traurig ging er durch den Park, weite Wege, alle von merkwürdig verschlungener Figur, bis der Abend niederdunkelte und von ferne die Häuser mit steigenden Lichtern aufpunkten machte. Aus einem Seitenweg huschte eine kleine verfettete Gestalt, wie sie in die Ferne schwand, als Losch 160 erkennbar, der auf seinen Antrag aus dem Hause entfernt worden war, aber zurückgefunden hatte und nun hinter dem Buschwerk unverändert Männerchen machte. Er merkte, wie noch ein zweites Wesen aus der Schonung trat, nach dem heftigen Bauschen zu urteilen des anderen Geschlechts, und nicht neugierig, ließ er sich daran genügen; sein Mitleid aber für Losch, der sich von dem Mann seiner Geliebten wegen einer ehelichen Verfehlung verfolgt glaubte, obwohl dieser Mann längst seiner Frau und ihm die Verfehlung verziehen hatte, ließ ohne Aufenthalt nach, denn offenbar pickte Losch schon nach der zweiten. Er wollte eine allgemeine Erkenntnis finden, als er sich des Unwerts solcher Feststellungen bewußt wurde und mit zusammengeschraubtem Sinn auf seine Stube zielte und sich einschloß.
Dort war es still, ja die Stille war so voll, daß es keine Vertiefung für sie gab. Nach einer Weile spürte er sie durch ein leises Geräusch durchregt. Er konnte zunächst die Herkunft nicht ergründen, spürte sie dann aber in einem Tropfen des Wasserhahns. Er drehte den Griff nach rechts und wartete, ob wieder ein Tropfen in das Becken fiel. Das Geräusch verstummte, und sein lauernder Finger, der in die Höhlung packte, faßte im Abschweben den letzten Tropfen. Ein grenzenloses Gefühl von Luft wurde in ihm mächtig: in keiner Verbindung mit dem Wasser der Zuflußrohre, in keiner mit den Abflußrohren, hing dieser Tropfen, eine Nacht über, am Rande seiner Höhlung, unfähig zurück –, unmächtig hinabzutaumeln, und das auf die flache Hand gewischte Päckchen Welt betrachtend, dachte er, wieviel 161 wahnsinniges Schicksal in seiner Hand! Traurig bog er sich zu dem offenen Fenster, die Abendluft berührend, und begann, erschauernd in der Tiefe, sich zu fürchten. Auf ein neues Geräusch drehte er sich um; da es von dem Korridor kam, öffnete er die Tür und sah draußen eine Dame, am Arme einer Pflegerin. Auf seinen Blick antwortete nicht die Gleichgültigkeit, die sonst wohl dem Blick eines Unbekannten antwortet, vielmehr waren Demut, Sehnsucht, Wunsch nach Anrede auf ihn gerichtet, und es bedurfte vollkommener Beherrschung von seiner Seite, daß er sich nicht mit entgegengesetzten Blicken auftrug und zeigte, wie er genug von einem dunklen Meere in sich fühlte. Zusammengesunken sah er die Dame sich entfernen. Nach ihrem Rückzug suchten ihn Träume auf, und er schlief wenig und in Erwartung.
Der Geschäftsgang in der Anstalt war gegenwärtig keineswegs auch nur als ausreichend zu bezeichnen. Obwohl die Häuser sechzig und siebenzig Personen fassen konnten, waren sie nicht einmal mehr von fünfundzwanzig besucht; und nachdem sie schon in dem letzten Jahr der Rückgang überfallen hatte, setzte sich jetzt eine kahle Stelle neben der anderen fest. Man hätte dabei von dem Unternehmen eher angenommen, daß es gedieh, denn es war bequem von zwei Großstädten zu erreichen, deren Einwohnerschaft sich leicht zu einer Eisenbahnfahrt entschloß. Aber die Kaufleute, die das Anwesen abschätzten, wenn sie für kurze Tage ihre Frauen 162 besuchten, hatten das Mißverhältnis längst erkannt, ihre Gesichter wurden lang, verglichen sie die Einkunft und den Ausgang, und diese Mienen der Geringschätzung blieben nicht ohne Eindruck auf die Frauen, die, wenn Frau Gollerup sie schlecht behandelte, was unter gewissen Anfällen geschah, sich damit trösteten, daß eines Tages das Mißergebnis offenbar würde.
Natürlich war die Hoffnung übertrieben, wenn auch unter gewöhnlichen Umständen in die Anstalt, die der Erholung von vorübergehend Erschöpften dienen sollte, nicht so viel Gemütskranke wären aufgenommen worden. Es stand dahin, ob Doktor Gollerup der geeignete Arzt für so erheblich Kranke war, aber da die Nachfrage nach einer Unterkunft für ausgesprochen Irre in einer nicht für Irre bestimmten Anstalt in jedem Falle groß war, so schloß er die Anstalt ohne Besorgnis diesen Kranken auf, und das Unternehmen, in das er sich auf solche Weise einließ, war nur deshalb kurzsichtig, weil eine Zunahme an Irren schließlich notwendig andere Besucher forttrieb. Er versuchte es deshalb zunächst mit solchen Menschen, bei denen der Riß im Wesen nicht sehr offenlag. So fiel in der Tat an Losch, der immer in einem unauffällig dunkelgrauen und gezwirnten Anzug auftrat, höchstens ein gelegentliches Niederducken im Gebüsch auf, das schließlich anderen Absichten entspringen konnte. Er hatte sich einem älteren Fräulein angeschlossen von einer solchen Ausgeburt des Gesichts, daß niemand sich ihr vorstellte und auch keiner ihren Namen merkte. Auch der Anschluß Loschens war nicht aufrichtig und lediglich darauf berechnet, seinen 163 Verfolger auf der Spur zu täuschen, der aus dieser Beziehung auf seine gänzliche Teilnahmlosigkeit nach einer anderen Richtung schließen sollte.
Sehr unauffällig war auch ein Lehrer der Mathematik, der an einer höheren Schule einer kleinen Stadt lange unterrichtet hatte, schon in vorgerückten Jahren stand und bereits den Titel eines Professors trug. Er bewegte sich, wenn es möglich war, noch unscheinbarer, in dem gleichen grünlichen Anzug, mit dem er sich vom Baum und Busch am liebsten nicht unterschied. Allerdings war an ihm gelegentlich ein plötzlich überraschtes Anhalten und Verweilen auf einem Wege zu bemerken, ein Spitzen der Ohren wie auf ein Angerufensein von oben, und das dröhnende Geräusch, mit dem die Erde sich um sich selber wälzte wegen des Widerstands der Luft, wurde offenbar in solchem Augenblick von ihm gehört, ein wahnsinniger Lärm, entsetzliches Toben, Zischen, Pfeifen, Brausen, das kein Maß und keine Grenze hatte. An unzulänglichen Orten brachte er sich in Sicherheit, mit Vorliebe in den Kellerräumen und an anderen in die Erde eingetriebenen Stellen, und er war bereit, den Mörtel der Steine anzunagen, falls die Erhaltung seines Lebens danach verlangte.
Vorübergehend war in der Anstalt auch ein Mann untergebracht, welcher ohne Beruf war, sich eines Vermögensvergehens hatte anklagen lassen müssen und seiner geistigen Verwirrung wegen freigesprochen worden war. Von einer maßgebenden Person hatte er erfahren, daß er bei der Verhandlung auf der den Angeklagten bestimmten Bank, ohne sich zu rühren, starr gelegen 164 hätte, Nerven und Eingeweide gespannt, blauer und gelber Schaum vor dem Munde, und wohl deshalb war er den Gefangenen so bekannt geworden, die sich dauernd von ihm unterhielten und fremde Leute beeinflußten, daß sie geheimnisvolle Aufträge ihm unter scheinbar unauffälligen Wendungen hinterbrachten, selbst die Dienstboten in den Häusern bestachen und Sätze von so offenbarer Nebensächlichkeit, wie, er ziehe jetzt den Rock an, oder er esse wieder, mit einem Nebensinn erfüllten. Das gemeinschaftliche Zeichen zum Losgehen gegen ihn wurde bei dem Kartenspiel gegeben, zu dem sie ihn mit List zu zwingen wußten und bei dem sie in einem bestimmten Augenblick, offensichtlich als ihr Signal, erklärten, er spiele jetzt den Jungen aus, worauf er sich nur durch eine sinnlose Flucht in den Park vor den Verfolgern retten konnte. Dieser höchst bemitleidenswürdige Mann wurde rasch aus der Anstalt entfernt, weil er Sitten angenommen hatte, die sich verboten. Die Augen zum Himmel aufschlagend, trommelte er mit dem Löffel gegen den Teller, sang: Zwei blaue Augen, trallalla, und bellte sich schließlich, nachdem er sich ausgesungen, heiser. Hinterher war er zu keinem Worte zu bewegen und sammelte den Speichel in dem Mund, um ihn im großen auf einmal zu entfernen. Es war besonders Professor Herbst, der dem Aufenthalt des Mannes widersprach, und Gollerup gab nach, als er einmal selbst von ihm beschmutzt wurde.
Im allgemeinen und von diesem abgesehen, hatten alle, und es waren sechs oder sieben Beschränkte aufgenommen worden, eine bescheidene Art, harmlos 165 dahinzuleben, und die Gesunden übertrieben, wenn sie sich kränkend von ihnen sonderten. Der eigene Widerwille voreinander trennte sie noch einmal selbst, und so sah man alle als einsame Trappisten hingehen und mit seltsamem Wesen, denn einige waren den Dichtern nicht unähnlich geworden, in dem Park den anderen selbstverständlich gewordene Dinge anstaunen. Der eine sah hinauf zu einem Baum, als überlegte der Affe in ihm, wie weit er springen könne, der nächste hielt vor einem Beet mit Tulpen, dessen Blüten für ihn breit auseinanderknallten, und die Bewegung, mit der er ein Sandkorn von der Erde las und es fremd betrachtete, verriet, daß er noch einmal die Geschichte der Schöpfung durchlebe. Bei Begegnungen sahen sie krampfhaft fort, und wenn etwa Professor Herbst im Parke Losch bemerkte, so versteckte sich nicht nur Losch vor ihm, sondern Herbst selbst flüchtete in untermauerte Gewölbe.
Für eine Unterhaltung waren die Kranken auf die Tochter Gollerups angewiesen, und obwohl ein Umgang mit ihnen für sie wenig gut war, so war sie dies selbst zu sehr, um ihnen auszuweichen. Nicht selten ging sie wie eine Pflegerin mit einem Kranken, ihn unterhaltend; bemerkte sie einen zweiten hinter einer Hecke lauernd, so verabschiedete sie ihn und der zweite schoß hinzu, und da diese Höflichkeit bekannt wurde, so umkreisten sie heimlich bald auch der dritte und der vierte, die ebenfalls für einige glückliche Minuten neben ihr wollten ausschreiten dürfen. Manchmal stieß auch Ivo zu, und er war besonders oft an der stummen Hand von Herbst zu sehen, bis dieser ihn erschüttert losließ und davonrannte. 166
Wenn er sie mit den Wahnsinnigen zusammen traf, so war Prätorius ungehalten, und um sie zu ängstigen, erzählte er Geschichten von Wahnsinnigen, die an ihren Wärtern sich vergriffen hatten. Ihr graute bei den Geschichten, aber sie fürchtete sich vor den Irren nicht, und obwohl sie ihn durch ihre Teilnahme für diese Armen reizen konnte, so tat sie dergleichen nicht und ließ nicht unklar, daß sie für keinen empfand. Erschien er, so entfernte sie die anderen Gäste, aber sein anspruchsvolles Herz stieß sich daran, daß sie den zwirngrauen und den dunkelgrünen doch in Abständen um sich kreisen ließ. So folterte er und quälte sie, und da sie vertrauter geworden waren, mit einer Nähe des Tons, die sich verbot. Ihre Geständnisse, um ihn zu beruhigen, gingen weiter, als es von ihr zu fordern gewesen wäre, und wenn sie etwa auf ein früheres Gespräch zurückkamen, gab sie leicht wie jemand, der alles für wichtig nimmt, an, wann jede Äußerung gefallen und wo sie gefallen war. Er wollte diese Bereitwilligkeit nicht sehen und zog die wollüstige Qual vor, sich verschmäht zu fühlen, ohne daß er die Kraft fand, sie zu erobern, so oft er es sich, war er allein, auch vorsetzte und so oft er sich in ihrer Gegenwart auch dazu hingerissen fühlte. Aus Verdruß sagte er ihr mehrere Male schreckliche Dinge, hinter denen er den Aufstand seines alten Wesens erkannte und für die er hinterher auf kleinen Zetteln ihre Verzeihung nachsuchte, mit einer auffälligen Kraft zum Wort, die ihrer Güte die Nachsicht leicht machte. 167
Mit dem Hinweis auf die zahlreichen Späher bewog er sie, ihre Spaziergänge später aus dem Park zu verlegen. Öfter gerieten sie nun über den Bahndamm in das Dorf. Hier konnte er fachlicher sein, weil sich dem Städter mehr Gegenstände der Beobachtung als zwischen den Parkbüschen ergaben. Sie sprachen von dem Dorf, und was sie an Tatsachen wußte, zog er ins Größere. Das Dorf war wenig dörflich und mehr eine Ansammlung von anständig gebauten kleinen Landhäusern, von Leuten bewohnt, die Luft und Landschaft verlockt hatten, ihre städtische Wohnung aufzugeben und sich an dem Seeufer anzusiedeln. Schon ältere Herrschaften, drehten sie jeden Pfennig um, und um nicht von dem Hauszins erdrückt zu werden, züchteten sie nach hinten hinaus eine kleine Abteilung Geflügel und mästeten zum Verkauf ein Schwein. Es waren Menschen offenbar, deren Leben ohne Schwung verlaufen war, und in einem gewissen Maße war es traurig, daß mit dem Fehlen jedes großen Zuges und gewiß nur mit den Mitteln einer spießerischen Sparsamkeit ein so behagliches Auskommen zu erreichen war.
Prätorius dachte bei dem Anblick der Häuser, wie teuer etwa eines zu stehen käme und daß für die Summe von zwanzigtausend Mark wohl zwei von ihnen erhältlich gewesen wären. Er fühlte sich wohl, die Häuser waren sauber, die Fenster umstellt mit Blumen, die Kugeln leuchteten in den Vorgärten, es war hübsch, entlang an den Staketen zu gehen, unter den herüber 168 drängenden Büschen und unter dem Blütenmeer, das sich herabschüttete. Mit heruntergerissenen Blättern waren von dem starken Regen der letzten Wochen alle Gärten überdeckt, aber auf den zerzausten Bäumen waren genügend Blüten übriggeblieben, um die ganze Landschaft zu girlanden, und ausnehmend heiter wurde alles durch ein helles Licht, das von oben darüber hinschoß. Von der Wolke eines Apfelbaums aus einer unübersehbaren Reihe gleich hell bewölkter Bäume hingerissen, rief Prätorius froh vor seiner Nachbarin, wie wundervoll der Baum sei, und mit einem Lächeln erwiderte sie, seine Rede klinge, als wenn er nicht den Baum bestimmen könne. Er fragte wirklich nach dem Namen, aber sie hatte ihn bei ihrem letzten Spaziergang angegeben, schon damals voll Staunens über seine Unwissenheit, und wiederholte ihn deshalb nicht, obwohl er sich weder auf den Namen, noch darauf, daß sie ihn genannt hatte, besinnen konnte. Ihr behagte dies, und sie lächelte über seine Vergeßlichkeit wie über die Einfalt seines Eingeständnisses.
Hinter dem Ausgang des Dorfes folgten sie einem sehr gut eingehegten Feldweg, wo, zwischen die Besitztümer wohlhabender Bauern eingezwängt, ein bescheidenes Anwesen mit einem kümmerlichen, kleinen Stall lag, in dem ein schöner, seidiger Ziegenbock an einer Kette zerrte. Sein Unglück schien um so tiefer, als seine zurückfahrende Nase Kühnheit und sein dünnhäutiger und dichtbehängter Körper Leidenschaft verrieten. Das Tier, erklärte die Bäuerin auf Befragen aus dem Stall heraus, war ein Saanenziegenbock, den sie aus der 169 Schweiz bezogen hatte, sie erfuhren, daß er zum Kören angeworben war und im Herbst über hundert Ziegen springen sollte. Prätorius, voll Bedauerns für die offenbare Armut und bemüht, die Hoffnung zu beleben, machte eine Rechnung, wieviel der Sprung der Frau verspräche, aber seine Begleiterin löschte seine Zahlen aus, indem sie ihn auf die Zeit aufmerksam machte, die der Bock gefüttert werden müßte und eine Ziege Milch gegeben hätte. Prätorius enttäuschte es, ein so edles Tier für die Wirtschaft dienen zu sehen, die noch dazu um so viel Kümmerlichkeit ging, und unmutig forderte er, daß sie weitergingen. Aber von dem Tier entzückt, bat seine Begleiterin die Frau, das Tier doch aus dem Stall zu holen, denn es hatte sich in eine Ecke gestellt und stieß auf der Seite gegen eine Wand, und während die Bäuerin mit ihrer starken Hand das Tier im Nacken hielt und den Kopf mit den trüben und gefährlichen Augen nach allen Seiten wandte, streichelte sie sein Haar, fuhr ihm über die Kuppe, die trotz des Behanges mager aus seinem Rücken stand, und gab ihm endlich viele Koseworte.
Als sie in den Wald kamen, der an diesem Tage sich in aller Kraft zeigte, seine Baumkronen überluden sich nach allen Seiten, und bei jedem Windzug stießen sie sich und wogten ineinander, als werde ihre Verflochtenheit sich nicht mehr auflösen, sangen die Vögel, und besonders einer von ihnen schlug so laut, daß es sie packte, und sie davon reden mußte. Sie fragte also, ob er den Vogel kenne, der soeben so laut gesungen habe, und nannte ihm das Nachtkäuzchen. Als er ihr vorstellte, daß dieses sich doch wohl des Tages kaum bemerkbar 170 machen werde, meinte sie, das läge nur im Wort, in Wirklichkeit schlafe es des Nachts so gut wie jeder Kauz und nähme das Singen nur am Tage auf. Nun verwunderte er sich, daß sie auf Vögel achte, wo sie jüngst versichert hatte, daß sie keinen Vogel singen höre, und schon gerührt durch sein Gedenken, gestand sie stockend, daß es ihr jetzt anders ginge und sie oft unter den Bäumen sitze und auf die Vögel achte.
So waren sie zu dem Ausgang des Gehölzes gekommen, und der See lag vor ihnen. Da es noch früh am Nachmittag war, bestiegen sie ein Boot, welches sie mit den Rudern führte, während er auf dem Boden lag, einen Mantel unter sich und gelegentlich rückwärts mit der Hand das Steuer lenkend. Sie wußte wohl zu rudern, wenn sie aus dem Wasser gehoben wurden, bestrichen die klirrenden Stangen, bis sie untertauchten, mit ihrer Kante scharf die Fläche, er horchte auf das ebenmäßige Geräusch, mit dem sie hinschlürften, oder sah ihr zu, wie sie den Kopf zur Seite hielt und dann, um seinen Blick zu treffen, den Kopf plötzlich zu ihm hindrehte. Wie war das zu begreifen, überlegte er, daß sie eine Frau war, da das alles doch die Bewegungen und Gebärden eines jungen Mädchens waren, gerade wie sie eben auflachte, wie es die Mädchen taten, und als er nach dem Anlaß fragte, es noch wiederholte, unvermittelt, unberechtigt, und ebenso, nun abermals wie ein Mädchen, damit verstummte. Sie hatte bemerkt, daß er sie betrachtete, und fürchtete die Feststellungen seines überlegenen Verstandes, den er manchmal an ihr ausließ, was sie schmerzte, aber was sie hinnahm. Die 171 Ruder in das Boot drückend, daß es von selbst weitertriebe, folgte sie seinen Blicken, die an ihr hinabsahen, und zwang ihn ungestüm, seine Beobachtungen ihr mitzuteilen. Langsam erklärte er, was er an ihr auszusetzen habe. Er fand ihre Figur nicht angenehm. Gekränkt schwieg sie mit auseinandergerissenem Gesicht. Er ließ es jedoch nicht bei dem halben Tadel und sagte Dinge, mochten sie zutreffen oder nicht, die als Einwendungen gegen eine Frau beträchtlich waren, zuerst über ihre Erscheinung, dann über ihren Gang und noch über ferneres und weiteres, alles von ihrem Äußeren, und mit ihrem Wesen nicht einmal beginnend. Seinen Tadel im einzelnen überhörend, beunruhigte es sie, daß unter den vielen Vorwürfen einer ernst gemeint sein könne und vielleicht von den anderen verdeckt werden solle, obwohl sie schon geglaubt hatte, für ihn fehlerlos zu sein, denn er hatte eine Art, alles verkapselt und verschachtelt vorzubringen. Zu ihrem Verdruß füllten sich ihre Augen noch mit Tränen, und er beruhigte sie erst, indem er es als seine Gewohnheit ausgab, immer das seinen Gedanken Entgegengesetzte auszusprechen, so daß er ihr nur Freundlichkeiten gesagt hatte, wenn sie seine Worte in das Gegenteil verkehrte. Sie nahm die Ruderarbeit wieder auf, hingegeben, damit das übrige versänke; aber ununterbrochen dachte es in ihr, wie das beides sich vereinte, so empfindlich für sich selbst zu sein, und so unempfindlich für den anderen. Bei dem gleichen Ton der Schläge und im friedlichen Wirbel des Wassers blieb schließlich keine Gelegenheit zur Bitterkeit und die Stille lief in einer sanften, lösenden Welle mit ihrem Schmerz zusammen. 172
Am Ufer angekommen, kurz, ehe sie den Park erreichten, klärte sie ihn über den Vogel auf, der vorhin gerufen hatte. Sonst, sagte sie sanft, könne er sein Wissen noch vor einem Gaste bloßstellen, doch lag ihr mehr daran, zu zeigen, daß sie ihm nichts nachtrüge. Es war ein Buchfink, und er nahm es ohne sonderliche Aufregung hin, als wenn beides dasselbe sei und er sich nicht hinter das Licht geführt wähnte.
Unter den unwirtlichen Tagen dieses angehenden Sommers zeichnete der Tag sich durch eine sonderbare Wärme aus und der Abend durch eine sonderbare Klarheit. Die Gäste, von denen einige der Witterung wegen beschlossen hatten, abzufahren, wurden nachgiebig und anhänglich an die Landschaft, und bis spät hinein in die Nacht wurde der Park, die von Tau übertriefenden Wiesen ausgenommen, von Lustwandelnden durchschwärmt. Frau Gollerup hob den geregelten Lauf des Tages auf, und die Türen wurden erst nach der Mitternacht geschlossen. Herbst hörte den einfältigen Gang der Sterne und lächelte zu der Musik ihres irren Laufes, dessen Sanftheit die stöhnende Erdachse überschwieg, und ein zugereister Fremder mit einem unglücklichen Gemüt schrieb in der Nacht dem Könige von Preußen, er möge ihn zum Minister machen; er erbiete sich, die Armut auszurotten.
Am nächsten Morgen war eine Tür erbrochen. Mitten in der Nacht hatte sich Losch erhoben, beim Hinaufgehen auf sein Zimmer war ihm ein Brief im Kasten aufgefallen, dessen Aufschrift er zwar nicht erkannt hatte, dessen Schriftzüge aber mit voller Klarheit 173 vor ihm stehengeblieben und von ihm nachträglich entziffert worden waren. Als er hinunterstürzte und den Brief aus dem Kasten nahm, war er wirklich an einen Herrn Lüdicke gerichtet, die Aufschrift ließ zwar den Vornamen fort, aber nur, als stand in dieser Anstalt fest, welcher Herr gemeint war. Offenbar war er bereits in diesem Hause einquartiert, wahrscheinlich war das Haus bloß offen gehalten worden, weil er mit dem Nachtzug eintraf, und nur bedeckt mit einer Mütze, ohne Mantel, nicht einmal mit seinem Gepäck versehen, machte Losch sich auf, durchschlug die Haustür und brach ins Freie.
Die Mädchen hoben die Tür am Morgen aus, und der Vorgang wäre geheim geblieben, hätte das ältere Fräulein, dem er sich angeschlossen hatte, nicht die Teilnahme auf das Vorkommnis gelenkt. Ihr war nicht unbekannt, weshalb sich Losch mit ihr gezeigt hatte, aber schon mehr als eine, der ein Mann nur seine Liebe zu einer anderen gebeichtet, hatte sich deshalb in ihn verliebt. Sie schlug Lärm, und da sie jeden Gast mit Vermutungen überfiel, ersuchten sie die Besitzer, ihren Aufenthalt zu wechseln.
Loschs Verschwinden war die Ursache, daß ein Gespräch nicht auffiel, das Frau Ballarino vor dem Fenster ihres Pavillons in ebenderselben Morgenfrühe führte. Prätorius hatte in der Nacht nicht schlafen können und war, in den Park getrieben, vor ihr Haus gelangt, in dem ein Flügel ihres Fensters offen geblieben war und sie selbst schlaflos in die Luft hinauslehnte. Hatte er auf der Fahrt den Ton gegen sie verfehlt? Er hatte 174 sich des Nachts mit Vorwürfen verfolgt, aber jetzt, wo sie sein Erscheinen ohne Bewegung des Gesichts, ja der Augen hinnahm, als setzte sie eine unabgeschlossene Unterredung fort, spürte er, daß sie ihm vergeben hatte. Er riß ein Blatt von einem Busch und ließ es gegen sie anschweben; es versank, ohne sie zu erreichen. Hierauf nahm sie eine Blüte, violette Georgine, und mit beiden Händen fing er ihren Wurf auf, legte auch sein Gesicht daran, aber als er die Blätter küßte, zog sie das Fenster zu, wenn auch die Hand, die sie gegen ihn führte, vorher an den Mund geführt schien. Es war Nebel in dem Park, die Wege waren verschleiert, doch obwohl er inwendig blind geworden war, ging er sicher, den Kopf erhöht, als wenn er in eine neue Luft hineinhörte, voran.
Seit drei Tagen wurde das Haus von Frau Ballarino nicht verlassen; ihre Beschäftigung war nicht bekannt. Ivo war bei ihr, aber, sehr auffallend bei seinem Wesen, an keinem Fenster des Pavillons zu sehen.
Die zarte Dame wurde durch ihre Pflegerin auf den Vorgang aufmerksam gemacht und versäumte auf keinem Spaziergang den Teil des Parks. Mit vergröberten Zügen kam sie näher; wenn sie die Fenster verhangen sah, beruhigt. Einmal traf sie auf Prätorius, der vorüberstreifte, warf das Gesicht herum und schritt auf raschen Füßen weiter.
Als Professor Herbst sie nach ihr ausfragte, zeigten die Mägde auf den Pavillon. Er stellte sich vor die 175 Tür, begierig auf eine Eingebung, wie er sie sehen könne. Seit ihrem Verschwinden war das Dröhnen in seinen Ohren zum Tosen angewachsen, und der Wahnsinn, wenn er noch nicht ausgebrochen war, stand ihm bevor.
Er wartete noch, das Gesicht zum Haus, als den Weg ein Mann heraufkam und sich nach seinem Anliegen erkundigte. Er erwiderte, er suche jemanden, aber das befriedigte den Mann nicht, der vielmehr fragte, wer gesucht werde. Er nannte nun den verehrten Namen, und der Mann versetzte, er habe keine Aussicht, Frau Ballarino zu begrüßen. Herbst, der inzwischen sich gesammelt hatte, erstaunte, daß der Mann sich so unterrichtet ausgab, und sah ihn schärfer an. Er hatte verlebte Züge, an den Augen war Dunkel und Undurchsichtigkeit festzustellen, die Haut spielte zwischen Braun und Grau, am meisten aber stieß der unregelmäßig breite Mund ab, von dem die untere Lippe, als versagte ihr Schließmuskel, schlaff herabhing. Herbst wich zurück, als der Mann höhnisch lachend sein Gebiß entblößte, das durch eine regelmäßige feste Anlage und einen klaren Schimmer gefährlich aussah, und nun haßte er ihn so stark, daß vor dem leidenschaftlichen Gefühl alle anderen Bedrängnisse abließen und sein Ohr wieder den tiefen Atem des Parks aufnahm. Mit einem offenen Grauen grüßte er und ging.
Nicht viel erfreulicher verliefen die übrigen Erlebnisse Ballarinos, denn dieser war es. Die Ankündigung seines Briefes wahrmachend, war er aus Südamerika eingetroffen, mit dem festen Entschluß, seine Frau 176 zurückzuholen. Über seine Behandlung konnten sich die Eheleute Gollerup nicht einigen. Gollerup glaubte nicht, daß er seine Beziehung zu jener Frau, wegen deren seine Tochter geflüchtet war, aufgegeben hatte. Ein verheirateter Mann, der einmal eine längerwährende Verbindung von unerlaubter Art eingegangen, war nach seiner Erfahrung unverlässiger als jemand, der sich in jedes neue Gesicht verliebte, da gab es immer eine begründete Hoffnung auf eine natürliche Erledigung durch das nächste, während jede Voraussicht in jenem Falle abging. Auch in anderer Beziehung erschien ihm Ballarino nicht verläßlich, seine wirtschaftliche Stellung schien erschüttert, er fürchtete die Ansprüche, die von ihm erhoben wurden, sobald er ihm die Tochter zurückgegeben hatte. Mit Vorsicht erfüllte ihn auch die wieder frische Erinnerung an seine leichte Einwilligung in die Heirat, als seine Tochter in seiner Begleitung den Mann auf einer Reise zu Schiff kennen lernte und er die Nachgiebige rasch in sich verliebt machte. Den zweiten Entschluß wollte er sorgsam fassen, und Gollerup nahm sich vor, keine Vorsicht aus dem Spiel zu lassen, zumal er zu allem übrigen fand, daß der einstmals hübsche Mann sich sehr verändert hatte und jetzt verlebt, ja fast verfallen aussah.
Frau Gollerup für ihre Person dachte nicht so. Daß es unverwindbare Dinge gab, war eine ausgemachte Torheit, und sie mißbilligte, daß man sich den Anschein gab, als sei jedes eheliche Zusammenleben eine ungetrübte Angelegenheit, ein Schauspiel, das nur aufgeführt wurde, um den Anwärtern nicht den Reiz zu nehmen. 177 Ebenso wie die meisten anderen Frauen mit ungünstigen Erfahrungen in der Ehe es getan hätten, setzte sie sich dafür ein, daß ihre Tochter ihre schlechte Ehe fortsetze. Zwar war Buenos Aires, oder wo er künftig wohnte, entfernt, aber das hätte früher überlegt werden sollen, soviel Kenntnis der Lage der Länder auf der Erdkugel hätte ihr Mann, der so rasch gehandelt hatte, haben müssen, und am Ende konnte ihr Schwiegersohn seinen Handel nach Deutschland legen. Wenn sie dennoch sich vor ihm zurückhielt, so war es Geschicklichkeit, nicht Abweisung.
Anna zu fragen, ob sie sich wieder mit ihrem Mann vereinigen wollte, worauf es in erster Linie doch wohl ankam, hatten die Eltern noch nicht Gelegenheit gefunden. Auf ihren Bericht von seinem Eintreffen hatte sie sich zurückgezogen und war, das Haus zu verlassen, nicht zu bewegen gewesen.
Es geschah nicht zum geringsten, weil sie gerade an dem Tage vorher etwas Belangvollstes erlebt hatte. Als wenn sie gewußt hätte, daß es für sie Zeit war, sich ihres Standes im Leben zu versichern, war sie an dem Abende in dem Park erschienen und mehrmals den Weg unter einem Fenster, auf das sie sich gewöhnt hatte zu achten, entlang gegangen. Angezogen von der Bewegung, war er heruntergekommen, und ein Wind, der sich in ihren Rücken setzte, hatte beide leicht gemacht und einer Hecke zugetrieben, wo sie im Schutz des Dunkels zunächst verharrt waren. Hier hätte es Kraft verlangt, einem Worte zu widerstehen, und unfähig zum Widerstand, entwand sie sich jeder Bewegung, so daß er, 178 als er ihren Arm ergriff, schon den zarten, dünnen unter der Berührung beben fühlte. Mit Worten, deren jedes in sie einschlug, fragte er, ob sie um seine Beschaffenheit auch wisse, als wenn dieser Weg unbedingt vor einer Entscheidung betreten werden müßte, und begann, sich nach seiner Erkenntnis darzustellen, wie er bisher unfähig gewesen sei, sich hinzugeben, sich beständig auf die Flucht begeben habe, aber, geläutert von seinem Unglück, begierig geworden sei, sich gänzlich an ein Gefühl, und nun an das Gefühl für sie hinzugeben und zu verlieren. Da sie mit andauernder Regungslosigkeit von ihrer Seite aufgenommen wurden, brach er die Erklärungen ab, nicht mehr zurückgehalten, schwoll sein Gefühl für sie hervor, und stürmisch verlangte er nach ihr. Alles an ihr verführte, und von einem dunklen Begehren erfaßt, forderte er sie schlechtweg.
Er hatte nie den Reiz des Widerstandes und die Scham einer Frau begriffen und war, wenn er ihnen begegnet, bereit gewesen, sein Verlangen aufzugeben, doch hier verlor sich sein Eifer nicht, als sie sich sanft entzog, sondern er beteuerte erregt, daß sie nicht für ihn empfinde, da sie sonst in dieser Stunde sich nicht so kärglich zeigte, und indem er alles, was er zu seinen Gunsten in ihrem Benehmen ausgelegt, nun zu seinen Ungunsten und auch zu dem ihren anrief, hieß er ihr bisheriges Betragen ein ausgelegtes Netz, in das sie ihn gefangen hatte, um sich des Fischzuges zu rühmen. Vergeblich suchte er in ihre Augen einzudringen, die sie schweigsam weit geöffnet hatte, eine Durchleuchtung verhinderte das Dunkel, und es blieb bei seinem Anruf 179 ihrer Kälte, wo nicht Falschheit, den sie stumm ertrug, wenn sie auch, dauernd unter Schauern, den Standort wechselte und aufbrach.
Sie waren von ihrem Haus nicht sehr weit gewesen, und trotz des Dunkels kamen sie jetzt dahin, ehe er es gewahrte. Rasch, ohne die Verheißung eines Wiedersehens, verschwand sie durch die Tür. Als er verlassen war, die undurchdringliche Nacht ohne den Abglanz eines Lichtes um sich, die aufregende Stille in den Senkungen des Windes und das aufregende Rauschen in seinem Anrollen, zuckte ein wahnsinniges, unbefriedigtes Gefühl durch seinen Körper, und als der erwartete Schein an ihrem Fenster ausblieb, schlug er mit einem Sturm der Finger an die Tür und schwang sich, da die Tür nicht geöffnet wurde, durch ein offenes Fenster. Hier, bei einem Orkan von Büschen, unter einem Meere Blüten, verbunden der Nacht und mit dem schwanken Hause zu den Sternen aufziehend, ergab sie sich und sanken sie zusammen. Atem und Windzug wurden eins, die Nachtluft blies sie an, und ihr weiches und helles Haar stürmte gegen sein Gesicht, welches das Glück erschöpfte und die Leidenschaften bleich machten. Die Tiere stellten sich um das Haus im Kreise auf, um fremden Zuzug abzuwehren, die Büsche verpflanzten sich und verwuchsen die Fensteröffnung, daß sie der Atem des Windes nur, die Rahmen fortbiegend, mit seinem kühlen Gefieder knapp erreichte. Angerufen erschien ein Schein des Mondes, um einen Teil der Schönheit seiner Freundin dem Manne aufzudecken, das Lager verbreiterte sich und die Wände wichen, um ihrer Lust das Gefühl der Unendlichkeit zu 180 geben, so daß sie wie in einem Zelte waren; auch die Decke gab nach und ließ sich durchbrechen, und wach gewordene Schmetterlinge stießen schimmernd auf sie ein.
Als ihn nicht mehr viel vom Morgen trennte, durchschritt er den Park. Er fühlte sich verzaubert und schrie seine Lust auf die Dächer, in die Gewitter des Windes, überall, wo die Büsche zurückwuchsen, die Tiere auseinandersprangen und unter einem stiebenden Wirbel von Schmetterlingen der Mond eine Wolke rief, daß sie sich auf ihn lege und ihn beschatte.
Der Schlaf, der ihn auf der Stube befiel, war trüb. Lust und Angst tobten durch sein Herz, durch erschöpfte Viertelstunden schreckten ihn eingegangene Gefahren. Seit Wochen unterschlagene Träume folgten, Ankläger, mit Rötel auf den Karton gezeichnet, traten auf, Gehängte, Vorgesetzte, Wucherer, bekannten, unbekannten Gesichts: wie viele verschiedene Gesichter, verwunderte er sich im Traum, mit verbrecherischem Ausdruck waren ihm geläufig! Aber die Unpersönlichkeit des Zuges dauerte nicht an, das Gesicht seines Gläubigers trat aus dem Vorüberzug hervor mit einem drohenden Ausdruck ohnegleichen. Der Mann kniete auf seine Brust und sendete ihm den Ausfluß seines Atems ins Gesicht, daß er sich umwendete und nach einer erschrockenen Zusage in die Kissen bog.
Erst nach der Ewigkeit vieler Stunden ließ es von ihm und kamen sanftere Träume. Er ging mit Anna spazieren, sie trug einen Apfelbaum in der Hand, bei ihren Schritten tropften die Früchte leise auf den Boden. Sie sah ihn freundlich an und sprach zu ihm: 181 Apfelbaum, das war sein Vorname; er mußte es nachsagen und sie lobte ihn, weil er ihn richtig aussprach. Sie hatten hundert Are Wiesen und trieben an Ziegen hunderttausend Stück darüber, gedrängt, daß ihre Felle dampften, und sie lagen auf dem Rücken dieser Tiere wie auf einem Bett und verschlungen rollten sie nach Gefallen durch die Weite.
Des anderen Morgens, als er erwachte, fühlte er sich auf eine sonderbare Weise schwer. Im ansteigenden Tag wurde seine Sehnsucht strenger, er verlangte sie zu sehen und das Erlebnis fortzuführen und zu vollenden, und erst zum Abend, die allzugestimmten Saiten abzustimmen, suchte er nach Gründen, die einer Trennung etwa recht gaben, und suchte sie vergeblich.
In sein Gemüt, das die Vorstellung der letzten Nacht erhitzte, war noch immer zugleich die Vorstellung seines Gläubigers eingetrieben, die ihn auch früher wohl verfolgt, ja ihn veranlaßt hatte, sich hier zu erholen, aber nun trieb sie sich in ihn mit einem ganz anderen, mit einem entsetzlichen, schraubenartigen Zwang; er konnte sie nicht mehr aus seinem Gehirn herausdrehen; es gab Stunden, wo ihm die Fähigkeit zu denken gänzlich abging. In dem unverantwortlichen Halbschlaf trat der Mann mit Ansprüchen hervor, daß sich die Haut ihm langsam löste und er sich von Wundwasser übergossen glaubte; was der Tag vertreiben sollte, vertrieb nicht einmal die Nacht danach. Wiederholt rief er den Arzt, der beruhigende 182 Mittel gab, aber nicht die beunruhigenden Träume fortfing. Nach einer erschöpfenden Nacht erfuhr er die Ankunft von Annas Mann. Anfangs hielt er dumpf mit balsamierter Seele stand, später fühlte er die ganze nun noch dazu geladene Wirrsal, und nachdem er sich halbstarr in seinem Zimmer aufgehalten hatte, erhob er sich in der Nacht, jeder Winkel empört gegen den Fremden. Anna wurde von ihm begehrt wie nie, der Gläubiger schwand vorübergehend aus den Träumen, er ging Hand in Hand mit der Verlorenen im Park, sie lief und er schritt ihr nach, bis der Gläubiger erschien, ihm winkte, und er Anna ihrem Verfolger preisgab.
Die Tage wurden bleich, nur viertelstundenweise konnten die Träume weiden. Er hätte vielleicht handeln, jemanden beseitigen, einer Frau in ihrem Kummer, wo nicht Entschlusse beistehen sollen, aber dazu hätte Kraft gehört, und Kraft besaß er nicht mehr, seit sie ein anderer aus ihm sog.
Er kam übernächtig in den Park, schattenhaft. Auch der Park war grau, er wollte, abgestoßen von der Dürre, den Wald aufsuchen, als er aufgehalten wurde und die zarte Dame auf ihn zutrat. Seit dem Zusammentreffen auf dem Korridor vor seiner Stube war sie ihm nicht begegnet. Sie war allein. Sie trug ein schwarzes Kleid, ihm fiel auf, wie weit es um sie floß. Das leidende Gesicht hatte seinen feingebürtigen Ton, nur war es wesenloser, wie mit einem Schein von Kalk. Der Aufblick aus ihren Augen rief nach ihm. Die Augen schienen bezogen wie mit Glasur, ihre Lippen regten sich nicht, versuchten aber aus der Tiefe etwas auszuschöpfen. 183 Unter Suchen löste sich ein ungefüger Laut. Zunächst bestürzt, hoffte er, nach den ersten Beängstigungen werde es leicht von ihren Lippen quellen, aber dem dunklen Anfang folgte nichts, mit einem furchtbaren Blick in sich hinein fiel sie zusammen, und erst die Pflegerin, die aus dem Gebüsch hervortrat, rief die Entfernte zu sich.
Gollerups Bericht, er holte ihn noch desselben Tages ein, ging ihm sehr nah. Die Stimme der Dame war danach einige Jahre zuvor erkrankt; die Rauheit zu verbergen, hatte sie sich geschworen, vor ihrer Heilung nicht zu sprechen, aber was ursprünglich ein freier Wille, wurde eines Tages Zwang: sie wollte sprechen und konnte nicht mehr sprechen. Ihr Mann, der ihre Stimme mehr geliebt hatte als ihrer Vorzüge einen, starb; von einer Pflegerin begleitet, zog sie in abgelegene Orte, hier zum ersten Male unter Menschen. Wenn sie ihn verfolgt hatte, denn anders war es nicht zu nennen, und es wurde von der Pflegerin auch zugegeben, so war es, weil sie auf den Vorstoß die Hoffnung gegründet hatte, ihre Stimme wiederzugewinnen. Prätorius fühlte das Wort, das ihm zugedacht gewesen war, und wollte sich auf dem Lobe wiegen, aber das Mitleid, das auf ihn niederstürzte, schwemmte alles mit sich fort.
Am nächsten Tage war der Eindruck bereits vergangen, denn noch als er zu Bette lag, wurde er von einem anderen Vorfall hingenommen. Ihm fiel in einem Blatt der Zeitung eine Anzeige auf, die im festen Rahmen vierundzwanzigfach die eine Zahl 50 000 wiederholte. Nichts verriet den Sinn. Prätorius las die benachbarten Ankündigungen: ein Lehrknabe wurde gesucht, von einem 184 alternden Mann wurde ein junges Mädchen verlangt, Geld von einem Grundstücksspekulanten für eine späte Hypothek angeboten: aber alles vernebelte, nichts erklärte den Zusammenhang. Benommen ließ er sich die frühere und eine später erschienene Nummer bringen, sie enthielten die gleichen Anzeigen, in nicht bescheidenerer Schrift, und brachte das ältere Blatt hinter der Zahl eine außerordentliche Menge Ausrufungs-, so das neue eine Menge Fragezeichen, und Prätorius wurde erregter, obwohl er wußte, daß zuweilen mehrere unverständliche Anzeigen die Spannung des Lesers auf eine zukünftige lenken sollten. Denn die Bezüglichkeit auf ihn war offenbar, seit er die Anzeige des Grundstücksspekulanten in der letzten Nummer gefunden hatte, schärfer gefaßt, eindringlicher und mit einem erpresserischen Tone, der schon befahl.
Die kleinen Ereignisse des Tages ließen ihn den Vorfall zunächst vergessen, und es erregte die aufschwingende Seele bald die Gefahr mehr, die ihm von dem Manne Anna Gollerups drohte, wenn er auch möglichst rasch seine Gedanken wieder abkehrte, weil ihn diese Gefahr womöglich noch größer dünkte als die andere. Mit dem herannahenden Abend stieß die Zahl wieder auf ihn nieder. In den letzten Tagen war Herbst in einer deutlich gegen sonst unterschiedenen Weise aufgeregt gewesen. Auf einem Spaziergang nun fand Prätorius ihn offenbar verändert, ja offenbar befreit. Sie kannten sich nur von Ansehen, aber jetzt machte Herbst ganz auffällig bei ihm Halt und berichtete von einem aus China gemeldeten Erdbeben von außerordentlichem Umfang. Ganze Städte, von anderen Städten ganze Teile, sollten 185 eingestürzt, an Menschen eine ungeheuer große Menge umgekommen sein, die Zeitungen machten sich für die Nachricht stark, wenn sie die Mitteilung auch nicht verbürgt brachten; und wirklich war die rotierende Kraft der Erde ruhiger geworden, da ihr nach diesem Eiterausbruch leichter geworden war. Prätorius hatte von China, wie die meisten Europäer, unzulängliche Vorstellungen; er stellte sich jede Stadt lediglich als ein ameisenartiges Gewimmel vor, dennoch war er mächtig von diesem Vorgang ergriffen und, als wenn zehn- oder hunderttausend Menschen unterscheidbar vorzustellen wären, fragte er, in welcher Zahl die Menschen zugrunde gegangen seien. Aber ehe Herbst ihm antwortete, war ihm die Zahl bekannt: es war die gleiche, die ihn betäubte.
Mit dem bedürftigen Eifer eines Kranken suchte er in der Nacht die Vorstellung von sich abzulenken. Er sagte sich eindringlich, sie sei falsch, wie oft wurden später Meldungen berichtigt. Mochte selbst sein Gläubiger wissen, wo er sich befand, er konnte keine neue Forderung an ihn stellen, weil er keine Forderung besaß. Dennoch schlug er sich im Traum mit ihm herum. Die Arznei, Anna in seine Träume einzuziehen, nahm sein Blut nicht an. Es gelang ihm nur, sie am Kleid zu fassen, aber es war weniger erfüllt als leer.
Die Unruhe der Nacht auszutoben, kleidete er sich an, es war die dritte Stunde des Morgens, und stieg in den Park. Da die Türen geschlossen waren, öffnete er in einem eben gelegenen Zimmer, vor dem weder Kleid noch Schuhwerk stand, die Tür und dann das Fenster und stieg hinaus. Ihm hatte vor einer Nacht 186 im Freien stets gegraut, nun wehte ihm eine kühle, dunkle, feuchte Luft entgegen, die Kleider bezogen sich mit Tau, ein jeder Schritt schlug von der Wand des Hauses ab und knirschte so tief im Kies, als verrückte das Sandlager sich unter dem Fuß um Meter. In dem vertrauten Park waren Stellen, die er nicht erkannte, den Vogel, den Anna ihm beschrieben hatte, hörte er jedoch singen, und bei tiefer Windstille lief ein Knarren und Zerren im Gebüsch, das durch seine unerkennbare Ursache ihn ängstigte. Jemand schien vor ihm zu gehen, derselbe oder ein zweiter schien stehenzubleiben und weiter zu gehen, daß er feststand und horchte. Während es andauernd dunkler wurde, floh das rötliche Licht eines Tulpenbeetes auf, hinter ihm her prudelten Weidenbuschblätter, und zu seiner Seite bewegten sich, obwohl kein Hauch die Luft bewegte, die dunkelgrünen Zweige einer Tanne. Er horchte, und durch alle Geschosse regten sich die Blätter einer Buche, die von oben terrassierte. Ihm graute, er suchte auf sein Zimmer zu entkommen, aber auch im Schlaf überfielen ihn hunderttausend Chinesen, deren jeder in einem Beutel auf der Brust eine kleine Nummer geborgen trug. Er schnitt sie ab, und es waren hohe Nummern und Nummern von einer großen Klarheit, die ihm zufielen.
Durch eine sachliche Ausnutzung des Tages wollte er am Morgen die Gespenster austreiben. Er bat sich die ihm durch Wochen nicht vorgelegte Rechnung aus, 187 die er auf jeden Pfennig, weil es das Blut beruhigte, durchzurechnen dachte. Als er die versprochene von der Jungfer holen kam, war sie nicht fertig. Die Ungeduld trieb ihn in das Bureau, aber auch hier waren die bekannten Gewohnheiten aufgegeben, Frau Gollerup war nicht zugegen, statt ihrer saß, die Hände in den Taschen, mit einem frechen, aufdringlichen Gesicht, ein Mann auf einem Stuhl, erkenntlich nach der Beschreibung an der Farbe seiner Haut, die zwischen Braun und Grau spielte. Prätorius war ungemein betroffen, sein Zustand verschlimmerte sich, so sachlich das Zusammentreffen auch verlief, weil Ballarino, er war es, einfach nach seinem Verlangen fragte und Prätorius auf die ruhige Frage nicht anders konnte als ruhig antworten. Die Rechnung lag zufällig auf dem Tisch, und vor Verlegenheit sah Prätorius auf den Betrag am Schluß, als wenn es das wichtigste sei, was er augenblicklich kennte. Als er dort fünfhundert Mark fand und dahinter nach einem Komma zwei weitere Nullen, die anzeigten, daß seine Schuld auch nicht um einen Pfennig über den Betrag hinausging, schritt er, er glaubte, geschoben, da er nicht mehr von Fleisch und Blut war, Nebel vor sich, aus dem Zimmer. Für seine Augen stand das Portal am Hause nicht in der Mitte, die Treppen hatten keine Stufen, eine schräge, glatte Bahn führte hinauf, und ein Mädchen, das ihm entgegenkam, hatte ihr Geschlecht abgetan und erschien als ein Beamter mit einer Mappe und einem unbekannten Auftrag.
In einer völligen Verwirrung fuhr er am Abend ab. Die Jungfer forderte, weil sie vergessen, eine Auslage 188 anzusetzen, die Rechnung von ihm zurück, aber der veränderte Betrag beruhigte ihn nicht, sondern der frühere regte ihn durch seine Zufälligkeit vielmehr nun noch gefährlicher auf. Er fuhr nicht ab ohne Ziel; er wollte das erpresserische Andringen von sich abwälzen; ohne Sachen, aus Furcht, er könne durch den Aufenthalt des Packens in seinem Entschlusse wankend werden, brach er auf.
Er begab sich zum Abschied noch einmal vor Annas Haus, aber als er davor stand, wußte er vor Verwirrung nicht, was ihn davor getrieben hatte, und völlig verwirrt ging er zum Bahnhof. Er stieg in Hamburg aus, und da sein Vorhaben eine ihm in den letzten Tagen abhanden gekommene feste Gesundheit verlangte, nahm er zuvörderst in der Pension eines besseren Stadtteils Wohnung. Die nächsten Tage verbrachte er in Bazaren, wo er sich vollkommen von neuem auszustatten hatte. Er wählte mit einer auffälligen Ruhe von allen die modischsten Stücke, aus keinem anderen Grunde, als wegen des Widersinnes in seiner Lage. Ausgezeichnet gekleidet, ging er am Nachmittag durch die belebten Straßen, und mit einer spürbaren Schärfe war sein Blick auf gewisse Personen gerichtet, die, in seine Sehweite geraten, sofort in die Seitengasse verschwanden.
Nach einer Woche führte er sein Vorhaben aus. Die Gasse eines schlechten Viertels, und unter ihren nicht zahlreichen Häusern das, in welchem Herr Wilhelm C. F. Kisch wohnte, suchte er um die Dämmerstunde eines etwas dunklen Tages auf. Langsam, als wenn er jeden Schritt überlegte, schritt er die Treppen zu der Wohnung 189 empor, nachdem er sich von der Anwesenheit des Besitzers überzeugt hatte. Er klingelte, und als sich der Mann, wie er es erwartete, versteckte und nicht den Mut fand, die Tür zu öffnen, zog er einen Dietrich, den er für diesen Fall mitgenommen hatte. Es war weniger schwierig, ihn zu bedienen, als er gedacht hatte, und ohne sonderliche Kunst schnappte das Schloß zurück und öffnete sich die Tür. Vor dem Wohnzimmer hielt er noch einmal an, klopfte höflich an die Tür, und als er nicht zum Eintritt eingeladen wurde, tat er es auf eigene Verantwortung, aber unter peinlicher Beobachtung der gesellschaftlichen Formen. Er streifte die Sohlen an dem Läufer, setzte, um nicht zu stören, die Füße mit den Spitzen auf; Hut und Mantel hatte er schon vorher an einem Haken abgehängt. Es hätte sich jetzt gebührt, daß er aufgefordert wurde, Platz zu nehmen, da sich eine ganze Kolonne von Sitzgelegenheiten bot. Aber man hatte weder die Gutherzigkeit noch die Höflichkeit, ihn einzuladen, so daß er selbst sich mit einem: wenn es erlaubt sei, niederließ, sofort sein Anliegen auspackte, und zwar unter großer Höflichkeit, allerdings bei ungemeiner Geschäftlichkeit. Er habe das Inserat gelesen, begann er, einer längeren Verfolgung vorzubeugen, sei er entschlossen, dreißigtausend Mark zu opfern, die zusammen mit den gezahlten zwanzigtausend den verlangten Betrag ergäben, er sei sofort bereit, sie auszuhändigen, aber er bedinge, daß Kisch eine Erklärung unterzeichne, nach der er auf jeden denkbaren Anspruch, den gegenwärtigen oder einen künftigen, den umfassendsten Verzicht leiste. Prätorius hatte den Kopf gesenkt, seine 190 Worte, die schließlich dröhnend geworden waren, gingen ihm wie Dampf unter der Nase ab. Er wollte sofort den Betrag übergeben, er hatte seine Brieftasche bereits gefaßt und zweifelte nicht, daß das rückhaltlose Anerbieten auch die äußerste Verstocktheit nachgiebig machen müsse, aber sein Irrtum war vollkommen. Nichts geschah, kein Verzicht wurde, mündlich so wenig wie schriftlich, angeboten, und Prätorius nahm deshalb an, daß nunmehr alles, was billig sei, von ihm geschehen sei. Ein Drittel seines Vermögens, rief er noch einmal aus, und versuchte seinen Gegner im letzten Augenblick zum Einlenken zu bewegen, habe er geopfert, wenigstens für den Rest müsse er vorsorgen, und da hier sogar der letzte Anstand fehle, werde er ihn ohne Rücksicht und mit einer äußersten Sorgsamkeit, um weiteren Erpressungen vorzubeugen, umbringen. Er wartete nochmals und, als es wieder erfolglos war, zog er das Messer. Der Griff war so wild, daß es, nicht aufzuhalten, zunächst in die Polster schnitt; aber da Kisch keine Schwierigkeiten machte, war sein Geist nach wenigen Minuten bereits erledigt. Wider Erwarten verschwand die Seele des Mannes nicht, sie flatterte durch die Stube, als suchte sie menschlich unterzukommen, und trotz seiner Ausflüchte wurde Prätorius gezwungen, Wilhelm C. F. Kisch zu werden. Seit einem Jahr war diese Veränderung eingetreten, wohl weil die Morde überhandnahmen, daß nämlich der Ermordete in dem Mörder fortbestand, aber, wie häufig, war es in diesem Falle keine Strafe. Prätorius fand sich, als es sich als unvermeidlich erwies, rasch in die Aufgabe, und als die Abspannung und 191 das Grauen der ersten Stunden nachgelassen hatten, schloß er ruhig die Wohnung, in der er den Toten liegen ließ, schloß sie mit einem Schlüssel und ging als C. F. Kisch auf die Straße.
In seiner Pension bat er zu vermerken, daß er seinen Namen geändert habe, was allerdings befremdete. Am Abend, als er durch eine belebte Straße schritt, wies ein Schutzmann, der den Wagenverkehr von einem kleinen Perron aus lenkte, mit seinem Stab auf ihn. Er erschrak und ging zu der nächsten Agentur einer wenig bekannten Schiffahrtsgesellschaft, auf deren am nächsten Tage fälligen Dampfer er einen Platz nach New York belegte.
Ein Herr an Bord, der seinen Namen las, sprach ihn an und zog sich erst zurück, als er an den aufgerissenen Augen die Verwechselung erkannte. Er verharrte auf der ganzen Fahrt in dumpfer Schwermut, die sich auch nicht legte, als auf dem Atlantischen Ozean ein starker Orkan die übrigen Weltfahrer in einen Aufruhr brachte.
Unter dem Namen Wilhelm C. F. Kisch nahm er in der Stadt New York gegenüber dem Polizeipräsidium Wohnung. Er lag Stunden hindurch im Fenster und nahm es als ein Zeichen von Tapferkeit, daß er nicht wich, als der Polizeipräsident in Person sein Amt verließ. Einmal lächelte der Präsident hinauf, und Prätorius fand den Mut, zurückzugrüßen und mit der Hand dabei auf sich zu deuten. Ja, er gab es zu, er war der Mörder.
Nach zwei Monaten einer vergeblichen Bereitschaft verließ er die Stadt. Er hatte gehört, daß in diesem Lande Mörder auf einem elektrischen Stuhl hingerichtet 192 wurden und die elektrische Zuleitung nicht immer ordnungsmäßig wirke. In unsäglicher Angst und darauf gefaßt, nicht mehr zu entkommen, belegte er einen Platz auf einem Dampfer, der England als Ziel hatte, und obwohl das Schiff erst am dritten Tage abfuhr, begab er sich ohne Aufenthalt in seine Kabine.
Nach den unbeschreiblichen New Yorker Tagen fand er nicht den Mut, sich in London gegenüber dem Polizeiamt einzumieten. Er zog in eine Straße, die in einem Winkel zu einer Polizeiwache lag, aber einen Monat später verließ er London, denn von selbst griff die Polizei nicht zu, er hatte keine Hoffnung, daß sie ihr Verhalten bei einem längeren Aufenthalt änderte, und er hielt sich im Augenblick nicht für verpflichtet, sich selbst dem Richter anzugeben.
Dafür gelang sein Plan in Paris, wenigstens beinahe. Auf der Straße eines nördlichen Vororts war ein Auflauf entstanden, und da er sich einmischte, wurde er mit einer Anzahl anderer verhaftet, aber man behielt ihn nur, bis seine Persönlichkeit festgestellt war, und hierfür leisteten seine Papiere eine ausgezeichnete Hilfe, obwohl er sie verriet und sich erbot, Wilhelm C. F. Kisch zu heißen, und von seinen Lippen zu lesen war, daß er ein Verbrechen zu gestehen hatte. Er schwieg schließlich, weil etwas, das er in seinem Grunde noch nicht erkannte und das seine Leuchtkraft nach New York zu schicken nicht die Macht gehabt, hier seine Wellen zu ihm sandte und ihn zurückrief.
Aber der Kampf war noch nicht beendet, er wurde schwerer, denn er ging nach Deutschland und nach 193 Berlin. Noch immer war er des Willens, falls er hingerichtet werden sollte, sich der Strafe nicht zu entziehen, wenn er auch, weil das zu viel verlangt war, nicht selber das Verbrechen angab. Aber um in keiner Weise auszuweichen, wenn man ihn suchte, wählte er gegenüber dem Mittelpunkt der Polizei, wo stündlich das Tor in ganzen Rotten Mannschaften ausspie, seine Wohnung, obwohl hier der Polizei ein in Hamburg begangenes Verbrechen geläufiger war, als der Polizei von New York und London. Die Wohnung lag in einem von niederem Gesindel bewohnten Haus, und die Entbehrungen, die sein geschwächter Körper auf sich nahm, waren größer als seine Entbehrungen in den anderen Städten. Er litt unter seinen Schlafgenossen und litt unsäglich unter der Verunreinigung durch Tiere, aber er hielt mehrere Wochen hindurch aus: hinter jedem Angriff eines Tieres jetzt zum ersten Male Anna spürend, die ihre Hand auf die wunde Stelle legte und sie heilte.
Prätorius nahm es hin, daß er von den Gästen sich mit seinem Morgenimbiß unterschied. Nach der Vertilgung einer, er gab es zu, nicht nachzurechnenden, doch außerordentlich reichen Zahl von Broten lagen immer auf seinem Teller noch mehrere butterbestrichene Semmeln, einige von beiden Seiten gebackene und honigüberzogene Brötchen und in einem Becher und um den Becher drei große, ungeschälte Eier: zur Beruhigung schien er seinen 194 ganzen Imbiß, ehe er ihn einnahm, zubereitet vor Augen sehen zu müssen. In Wirklichkeit war er satt und zwang sich fortzufahren nur durch eine Hartnäckigkeit, mit der er allein in den letzten Wochen nicht weniger als dreißig Pfund an seinem Gewicht zugenommen hatte. Seine Figur glich jetzt durchaus derjenigen von Kisch, sein Gesicht war fett wie seines, die Nase, die an Veränderungen des Gesichtes nicht teilzunehmen pflegt, war nach den Seiten aufgequollen, den Bart hatte er abgenommen, die Brauen waren ihm von selber ausgegangen, und mit spitzen Fingern pflegte er nachzuhelfen und ein Haar um das andere aus dem Bogen zu entfernen; denn, hatte Kisch sie bis zum Ende auch bewahrt, so erregte er den Eindruck eines runden Schädels, wie ihn Kisch gehabt hatte, auf diese Art gewiß wahrscheinlicher.
Aber wer nach seinen Mahlzeiten ihn beurteilte, beurteilte ihn schlecht. Sein Leben lief in dem schwermütigen Zweifel ab, ob er sich der Behörde ergeben sollte, ob sich verstecken. Jene unbeirrte Entschlossenheit, sich auszuliefern, wie er sie in New York und noch in London und Paris besessen, hatte er verloren. Er schwankte. Zwar lagen mit einer genauen Darstellung des Vorgangs auf seinem Tisch zwei sorgfältig ausgearbeitete Eingaben, vollkommen fertig bis auf die Hülle, aber es gehörte mehr Entschlossenheit dazu, sie abzusenden, als sie abzufassen.
Die Beängstigungen und, durch die Zunahme an Gewicht, auch die Beschwerden seines Leibes machten ihn matt. Er war oft vollkommen schwermütig, und seine 195 Aufgabe, in die Person von Kisch hineinzuwachsen, vermehrte diese Schwermut. Hier zeigte sein Benehmen einen deutlichen Niedergang des Willens, wenn nicht Verstands. Hatte er wochenlang sich als Kisch behauptet, so führte er an anderen Tagen sein Leben in der alten Form, warf sich aber danach Laschheit für sie vor, obwohl er wohl hätte erwägen dürfen, daß bei wirklich vertauschten Seelen das Nachlassen des Willens nicht auf sein Wesen, sondern auf das von Kisch zurückführte. Immerhin machte er sich wieder an anderen Tagen mit Ernst an seine Aufgabe, nahm frühere, von ihm als Richter getane abfällige Äußerungen über Kaufleute zurück, die Form, in die er den Widerruf zu fassen hatte, genau erwägend; ja vom Standpunkt des erwerbenden Bürgers beargwöhnte er die Tätigkeit der Gerichte, schalt die Richter und warf ihnen Weltfremdheit vor, Langsamkeit und Unverständnis.
Lustwandelnd durch den Park bemängelte er auch die Erfindungsarmut des Besitzers. Er wußte nicht, daß es der gleiche war, es schien ihm nur, als sei ihm ein solcher Park bekannt, es sah, so dünkte ihn, einer wie der andere aus, immer waren zwei Häuser darin vorhanden, der gleiche wohlerprobte Abstand unterschied sie, daneben gab es rundgeschwungene Wiesen, und einen Pavillon, der seitwärts aus dem Busch herauswuchs.
Es war noch immer Sommer, aber nie erschien ihm ein Sommer so lang wie dieser. Die Blätter waren gelb, aber noch immer zu einem Teile grün. Die Blumen hatten ihre Farben, aber auch sie erschienen veraltet und des Blühens überdrüssig, und wenn er auf die Bäume 196 starrte, so sagten sie ihm nichts. Auf einem Spaziergang traf er einen Mann, der Brote in das Haus brachte. Er führte einen kleinen Handwagen, den er mit einem Finger zog; der Finger stak in der Schleife einer Schnur, die er an der Deichsel angebracht. Prätorius dachte lange, wie gut hatte es ein Mann, der seinen Wagen leicht voranbrachte.
Ein anderes Mal traf er in dem Park auf eine fremde Dame, welche auf einen nicht vorhandenen Begleiter einsprach. Um den Mund stand ihr ein Lächeln, ihre Augen waren tief verschleiert, in ihren lautlosen Worten schien Zärtlichkeit, wenn nicht Güte aufgespeichert. Als sie ihn bemerkte, kehrte sie sich von ihrem eingebildeten Begleiter ab und wendete sich ihm zu, zärtlicher den Blick, jedoch verschüchtert. Ihm genügte dieses offenbare Gefallen an seiner Person, zu einer näheren Bekanntschaft fehlte ihm der Sinn, langsam schritt er voran, und traurig, die Hand ihm nachstreckend, als wollte sie ihn streicheln, entsetzt, welches Elend, ja nicht zu fassende Grauen ihn nach dem Bericht der Leute geschlagen hatte, blieb sie lange mit tief in seinen Rücken eingepreßten Blicken stehen, bis er in eine Querallee verschwand und sein Elend dem ihrigen entzog.
Eines anderen Tages, als ihn Mutlosigkeit und Schwermut gleicherweise niederdrückten, trat er auf einen Mann zu, der vor kurzem in die Anstalt eingeliefert war. Er war der Leiter einer Strafanstalt gewesen und hatte sein Amt zugunsten des friedlichen Lebens in diesem Hause aufgegeben, da er unter Anfällen des Gemütes litt und sich der Roheit gegen frühere Schützlinge 197 bezichtigte. Der Leiter einer Strafanstalt – man brauchte nicht sehr viel Welterfahrung zu haben, um zu wissen, daß er aus den Kreisen der höheren Polizeibeamten stammte. Wenige Schritte hinter ihm stand ein Mörder, und Prätorius wies die beschwingte Gelegenheit nicht von sich. Nachdem er anfangs leise das entsetzliche Wort gesagt, wiederholte er es lauter, und als der Beamte Mord! hörte, drehte er sich um und prüfte den Verbrecher. Prätorius' Wille zum rückhaltslosen Bericht des Tatbestandes wurde unter diesem Blick nicht schwächer, aber bald überzog ein abwesender Ausdruck das Gesicht des anderen, er nahm die Hand zur Mütze, winkte ab und schritt davon.
Die Mutlosigkeit, die wiederholt Prätorius in letzter Zeit befallen hatte, schlug unter dem Eindruck dieses Vorfalls um, offenbar legte die Polizei auf seine Verhaftung keinen Wert, und vielleicht konnte er sogar die nähere Bekanntschaft des Mannes machen und am Ende durch seine Vermittlung eine Anstellung als Polizist erhalten, was ihn am meisten vor jedem Angriff schützte.
Prätorius hatte noch nicht Gelegenheit genommen, sich mit der Jungfer zu unterhalten, doch als eines Tages der Arzt ihm besonders gut getan hatte, fragte er sie, ob es zutreffe, was ihm berichtet worden sei, daß nämlich Doktor Gollerup aus einer Familie von Ärzten stamme und insbesondere sein Vater ein Arzt gewesen sei. Die Jungfer, die ihn seltsam ansah, versicherte die Wahrheit, und er bemerkte, ein so gesetztes Auftreten bei einem Mann von dreißig Jahren könne auch kaum anders als ererbt erklärt werden. Doktor Gollerup gefiel ihm so, daß 198 er bereit war, ihm den Mord mit allen Einzelheiten zu berichten, und als Gollerup eines Abends mit seiner Mutter durch den Park ging, trat er wirklich auf ihn zu, sprach hinter einem Handrücken unklar einige Worte von einem Morde und verschwand, ehe Gollerup zu ihm herangetreten war, auf einem Seitenweg. Frau Gollerup erschreckte der Vorfall in einer ihrer früheren Ruhe nicht gemäßen Weise, sie faßte den Arm ihres Sohnes und forderte von ihm die sofortige Entfernung dieses Gastes, dem sie seit langem nicht geneigt war, zumal sie ihm bestimmt verdächtigte, an der Veränderung des Wesens ihrer Tochter schuld zu sein, und auch durch den Hinweis auf den großen Beitrag, den sein Pfleger jeden Monat sandte, konnte ihr Sohn, zunächst wenigstens, sie nicht beschwichtigen.
Auf geschlungenen Wegen durch den Park gehend, kamen sie schließlich an eine Brücke, wo Losch hinter einer Mauer sich versteckt hatte. Er wohnte seit langem wieder in dem Hause, verschwand aber zum Abend immer und ließ sich erst durch die Beteuerung, daß am Tage kein bedrohlicher Mann im Haus Quartier genommen, für die Nacht hereinlocken. Schon bei seiner Rückkehr hatte er sich nur mit der größten Vorsicht dem Anwesen genähert, zunächst um ein halbes Dutzend Häuser entfernt gewohnt und, immer ein Haus nach dem anderen zurücklassend, schließlich das Anwesen, bis zum letzten Augenblick es abblickend und Botschaften aussendend, betreten. Nun nahm ihn Frau Gollerup an die Hand, und zusammengerollt, als nähme sie eine Raupe von einem Blatte, folgte er. 199
Während sie ihn am Arme hielt und sie weiterschritten, bemerkte sie plötzlich im Grase auffällig viele weiße Blüten. Nach einer durchwehten Nacht lag um diese Zeit wohl um den Busch ein lichter Kreis, aber in der letzten stillen konnte der Aronsstab seine festen Ohren nicht verloren haben. Nähertretend fand sie keine einzige Blüte mehr am Busch, dafür eines Messers haarscharf an die Keime angesetzten Schnitte, die die Blüten glatt getrennt hatten. Doktor Gollerup, der nach weiteren Spuren suchte, fand unweit dem Gebüsch ein Blatt Papier, auf dem in vielfachen Profilen und mit einem regelmäßigen Schnitt hinter der Muschel das Ohr eines Menschen aufgezeichnet und der freie Raum von mathematischen Berechnungen bedeckt war. Frau Gollerup jammerte, daß der Aronsstab verblutet war, und unter Klagen über die Bitternis von ihren Gästen, hängte sie sich, nachdem sie Losch ins Haus geschickt hatte, an ihren Sohn, schließlich nicht des Wortes mächtig. Er erkannte sie nicht wieder, wenn auch ihr Zusammenbruch ihn nicht verwunderte, da er Anlaß dazu genug sah. Über ihre Einnahmen hatten sie nicht zu klagen. Dem verkleinerten Betriebe kamen die beträchtlichen Summen zu gut, welche die wenigen Insassen für den Vorzug der offenen Anstalt zahlten; war erst das neue Haus verkauft, so mochte das alte noch einen Nutzen bringen. Aber das Schicksal war mit ihr in anderer Weise streng, und er sah ihr traurig zu, wie sie jetzt eine Blüte von dem Boden hob. Er berichtete, um sie abzulenken, von seinem Vater, der von der Baronin von Fritsch, wie er hörte, sich getrennt hätte. Aber sie 200 unterbrach ihn, und glaubte er sie nicht unterrichtet, so war sie es um so vollständiger. Nicht nur die Blätter von der Blüte abstreifend, sondern noch den langen und vollen Griffel mit seiner gelben Fülle in der Hand zerquetschend, sagte sie mit einer schönen und tiefen Stimme, daß sein Vater zugleich einer anderen Dame, die früher ebenfalls hier zu Gast gewesen, nahe stünde, Frau Hiller, deren er sich entsinnen werde, einer jungen und, wenn die anderen recht hätten, auch einer hübschen Frau; wenn sie selbst es nicht im mindesten fände, so habe sie gewiß nicht die Ruhe, es zu beurteilen. Nun so mochte er es, erwiderte er heftig, faßte sie fester am Arme und suchte sie von dem Gespräch wie von dem Busche abzubringen. Sie blieb jedoch bei den Sorgen und fing von Anna an zu reden, bis sie schließlich auf der Terrasse standen, wo die Lichter aus den Häusern des Dorfes herausfuhren, Sterne von unten. Eingelehnt in das Dunkel sahen sie auf die Figur der Lichter, ein Windwirbel in den Bäumen ließ sie unsicher werden, und erst sein tiefer Nachlaß gab den Lichtern wieder Zuversicht. Er fragte sie, warum sie nicht zum Unterricht gefahren sei, und mit abgewandter Stimme versicherte sie, daß sie in der nächsten Woche die Übungen wieder aufnehme; um sich gefaßt zu zeigen, forschte sie, ob sie nicht besser die kostbaren Büsche einhegten. Er glaubte, es genüge, Herbst das Messer abzunehmen, schon damit er sich nicht selbst die Ohren abschnitte, und zufrieden mit seinem Vorschlag gab sie einen Kuß auf seine Wange, nannte ihn zärtlich ihren einzigen Sohn und ging allein, ihn zurückzubleiben bittend, in das Haus. 201
Bei dem Rückweg traf sie auf die zarte Dame, welche, unablässig durch den Park strebend, sich niederbückte, um neben sich eine unsichtbare Hand zu küssen. Frau Gollerup ging auf sie zu, und ihr wärmend die Hände streichend, sagte sie, es sei kalt geworden. Mit einem Blick aus ausgeräumten Augen nickte die andere und verschwand.
Die unruhig eingeführte Nacht verlief unruhig weiter. Frau Gollerup hatte noch nicht lange das Haus geschlossen, als ein wiederholter Schuß im Garten die Bewohner aufschreckte. Beklemmungen hatten den Leiter der Strafanstalt aus dem Haus gejagt, Angst und Grausamkeit, als er die merkwürdig aufgerichteten Blüten sah, auf die Blumen schießen lassen. Der Knall des Schusses hatte Prätorius im Freien erreicht. Weil ihm plötzlich in der Nacht irgendwie die Vorstellung gekommen war, daß dieser Park der Schauplatz einer Leidenschaft von ihm gewesen sei, war er aufgebrochen und hatte zu jedem Weg hinaus, von dem Schein der Nacht begünstigt, Spuren zur Unterstützung der Erinnerung gesucht. Auf eine Bank inmitten eines Weges niedersinkend, heftig fröstelnd, hatte er den Irrtum erkannt und über den Grund der Verwechselung zu grübeln angefangen, als alle Menschen auf den Knall zusammengelaufen waren. Er schlug sich zu ihnen, und nicht wenig erschrocken, fand er nach der Aufklärung des Vorfalls auf sein Zimmer. Dort fragte er sich, warum der Schuß abgegeben worden sei, und die Nacht hindurch quälte ihn die Vorstellung, daß er den Mörder habe niederknallen sollen. 202
Einige Wochen später kehrte Anna in das Haus zurück. Sie las in dem Pavillon, den man ihr wieder überlassen hatte, von einem Reisekorb auf einem ganz und gar mit Leim beschmierten Zettel den Namen eines Ortes, über dessen Lage sie von ihrem Bruder eine Auskunft forderte. Er erkundigte sich, ob der Name ernstlich ihr entschwunden sei, obwohl sie eben von dort käme, und unter seinem angespannten Blick gab sie die Kenntnis zu. Nicht anders erging es, als er sich unterrichten wollte, ob er nach Ivo schicken solle. Zunächst erklärte sie zu wissen, wer Ivo sei, ihr Bruder nämlich, und wies sogar seine Ermahnung, daß sie nach seiner Ansicht die wahre Beziehung vergessen habe, mit ziemlicher Entschiedenheit zurück. Als er jedoch von einer nur mit Umständen von ihrem Sohn überstandenen Krankheit zu berichten anfing, begann ihre Seele zwar zuzuhören, flog aber rasch wieder auf, und nachdem sie noch eben sich gehärmt hatte, bat sie schließlich um eine Abkürzung des Berichts.
Frau Gollerup fand sich rascher in den Zustand ihrer Tochter. Wesentlich auf ihr Betreiben war Anna, da es trotz der gegenseitigen Beziehungen die Freundlichkeit mißbrauchen hieß, sie länger in der fremden Anstalt zu lassen, in das Haus zurückgekehrt. Sie glaubte auch an die Heilbarkeit des Zustandes, doch erschienen ihr nur Geduld und Zeit als hinlängliche Heilmittel.
Durch Wochen sahen sich Anna und Prätorius nicht. Anna verließ das Haus nicht, aus Furcht, ihrem Manne 203 zu begegnen. Der Versicherung ihres Bruders, seine Abreise sei schon vor Monaten erfolgt, glaubte sie besser nicht zu trauen. Es mochte sein, daß er, nachdem er ihre Widersetzlichkeit erkannt hatte, so tat, als sei er abgereist. Aber nach seinen wochenlangen Bemühungen und den erbitterten Kämpfen zwischen ihnen, bei denen er unversteckt mit Entführung und Gewalt gedroht hatte, fürchtete sie, daß er immerhin, mochte er auch zum Scheine abgereist sein, ihr auflauere und sie hinter einem Busche überfallen könne. Sie verharrte in dieser Meinung auch vor ihrer Mutter, als diese sie auf das rasch vergehende, noch einmal ungemein schöne herbstliche Wetter wies und sie zu gemeinsamen Spaziergängen aufforderte. Sie mußte viel allein sein und viel an einen Menschen denken und vertrug nicht einen anderen.
Die Mägde stellten sich auf, als sie zum ersten Male den Park betrat. Aber sie wurden nicht bemerkt, wie sehr sie sich auch wandten; Anna sah alles grau, und die Luft perlte für sie von Grieß.
Nach hundert Schritten setzte sie sich auf eine Bank, mit den Augen jeden Strauch abblickend, ob nicht ein Schütze auf der Lauer läge. Ein einfacher Spaziergänger, der vorüber kam und den Hut zog, wartete vergeblich auf ihren Dank; sie erschrak bloß.
Wie die Vögel anfingen zu singen, hielt sie die Hand gegen die Ohren und ihr Gesicht entstellte sich.
Als mit einem aufmerksamen Blick für ihre Erscheinung der Spaziergänger abermals den Weg durchschnitt, senkte sie den Kopf, und die wiederholte Störung der Einsamkeit vertrieb sie. Sie flüchtete in das Haus, wo 204 sie am Boden kauerte und ihre eigene schmal gewordene Hand faßte. Wie oft war diese in einer Nacht von einer anderen Hand gedrückt worden, und sie drückte sie nun selbst mit ihrer zweiten.
Hinterher sah sie ängstlich zum Fenster. Der Tag verging und das Gestirn mit seinem Licht hing bloß noch wie zerfetzt vor dem Haus und in den Büschen. Sie lugte aus, ob ihr Mann aus einem Busch hervorsprang, sah aber sehnsüchtig aus danach, ob sich nicht etwa der andere einfand, den sie zu ihrer Hand herbeiwünschte. Ich sollte ihn rufen, dachte sie, und schlug recht demütig ihre Stimme in den Vorhang. Allein, wer ihr entgegenfuhr, das war ihr Mann. So wie er damals gekommen war, kam er wieder, sie verriegelte im letzten Augenblick das Fenster, das aber von außen aufgestoßen wurde und durch welches er der Fliehenden in das hinterste Zimmer nachsetzte. Mit einem Messer wurden hier ihre gefaßten Hände, die ihren und die des geliebten Mannes, die einander hielten, zerschnitten, bis sie hinsanken. Er sah dem üppig zu und verschwand dann durch die Tür. Hingeworfen auf das Bett, mischten sich für sie von männlichen Gesichtern drei, das ihres Mannes, das Gesicht von Prätorius und jenes des Spaziergängers, in einer fürchterlichen Weise. Von dem einen lieh sie das Ohr, von dem zweiten die Stirn, und das Ganze wurde eine Mißform, die sie beklemmte.
Eines Morgens machte sie die Bekanntschaft des Spaziergängers. Auf einem Stuhl, der seinen Augen sie verbarg, saß sie hinter einem Busch, als er vorüberkam und sie so nahe streifte, daß selbst die mindeste 205 Höflichkeit eine Entschuldigung anzubringen zwang. Er begnügte sich nicht damit, sondern fing ein Gespräch an, in dessen Falten sie sich verwickelte. Er sprach viel mit einer angeregten Stimme; ihm war, wie wenn er Wochen hindurch durch lauter Wolken und Dampf gewandert wäre und nun plötzlich auf ein Brachfeld trat, das sonnenbeschienen und von Gras und Kräutern bestanden war, liebliche Blumen massenhaft darunter. Es war ernstlich kühl, er spürte es nicht, die Winde, fast schon stürmisch, verrauschten an seinem Ohr, hinausgehend über die Zurückhaltung, zu der eine erste Bekanntschaft nötigt, verschwendete er sich ganz, denn auf eine ungewöhnliche Weise war ihr Gesicht ihm angenehm, und, als wenn er sich einfach offenbaren könne, erwog er, ohne daß sie überhaupt schon nennenswert geredet hätte, ob er nicht den Mord ihr anvertrauen könne. Sie war undeutlich gütig und bezaubernd und wirklich hörte sie mit einem Gefühl von Schwäche zu, das die Männer über jedes andere entzückt, gab sich völlig seinen Worten hin und ließ sich gänzlich davon fortführen. Wenn auch nicht wohlgestaltet, gestand sie doch, daß ihm auch zuzusehen, nicht nur ihm zuzuhören reizte, und müde von seinen Worten schloß sie die Augen und beschwor zugleich und betrog zugleich eine Erinnerung.
Trotz seines kurzen Bestandes hatte das Gespräch bereits zu seiner stärksten Entflammung durch ihre matte Duldung geführt, als es von Gollerup unterbrochen wurde, der Prätorius zuwinkte. Obwohl er deutlich sich verabschiedete, blieb sie, ohne ihn zu entlassen, ohne ihn zu halten, entschlummert mit dem Lächeln der 206 Verliebten sitzen, bis sie auffuhr und aus Furcht vor einem Überfall in das Haus zurückkehrte.
Am Abend ging Prätorius durch den Garten; mit dem Anschein eines neuen Herzens in der Brust. Nach unruhigen Umgängen hielt er auf der Terrasse und horchte in den Wind. Warf sich ein Gefühl von früher dem heutigen entgegen? In die wildbewegte Schlucht starrend, aus der es sich unbestimmt entgegenhob, spürte er, wie ein altes Dunkel ihn von innen anfüllte. Er ging in einer unklaren Spannung des Gemüts zurück und blieb den Abend über einer merkwürdigen, faßbaren und wieder nicht zu fassenden Erinnerung zugewandt. Obwohl es in der Nacht schon kalt war, riß er in der dritten Stunde des Morgens das Fenster auf und suchte, alles Alte vergessend, einen Lichtschein in dem Haus. Ein kleines Lämpchen leuchtete von einem Fenster, er bezog den Schein auf sich und tappte nach ihm mit der Hand.
Unten wurden des Beamten schwere, umgetriebene Tritte hörbar, so daß er sich zurückbog, denn, wenn er auch verdiente, ausgeliefert zu werden, in dieser Stunde lag ihm plötzlich an einer Frist.
Es gelang ihm in den nächsten beiden Tagen nicht, Anna zu sehen. Erst den dritten fand er sie auf der Wiese, gleich einem Tuche auf einem Liegestuhle ausgebreitet. Eine übermäßige Spannung ließ ihn ohne Vorteil auftreten, so daß ihm seine Rede abgestanden vorkam. Auf Anna lag eine Abseitigkeit. Mit einer glanzartigen Ruhe ließ sie die Hand zur Seite fallen, als hielte sie sie tief in Wassern, und ihre Augen standen auf 207 den Himmel zu, eine durch ein steinernes Grau von erschütterndem Gewicht zerteilte Landschaft. Der wilde Zug der Winde fuhr furchtbar und roh um sie, aber beunruhigte sie nicht. Sie fuhr dahin unter dem Aufruhr der Bäume, die sich vor den Sprüngen und Rissen der Stürme krümmten. Durch alles hindurch war ihr Auftreten freundlich und ihre Zuwendung zu ihm gütig; wenn es möglich war, noch sanfter läutete ihre Stimme, und milder, als er sie milde bei einer Frau gesehen, war ihre Beugung vom Rücken bis zum Bein. Doch wie ihre Vergangenheit mit ihrem trüben Ausgang sich plötzlich klarer vor ihr abrollte, wurde sie unruhig, es malten sich Verwirrung, Unglück, Verlust auf ihr Gesicht, ihre Hand, als ob sie einen Mantel suchte, griff nach vorn, die Schauder seiner plötzlichen Umnachtung und Entfernung überfielen sie, und bleich und ganz durchmattet erhob sie sich, erst wieder auf ihn gelenkt, als sie ihn groß mit einem merkwürdig überraschenden Gesicht neben sich stehen und sie betrachten fand. Aber da sie die Drangsal nicht ertrug, ging sie weiter auf ihr Haus, und erwachend entnahm sie nur dunkel seinem Blick zum Abschied, er war nicht glücklich. Aber glücklich war sie selbst nicht, und sein Unglück sollte sie nicht treffen.
In ihrer Behausung fiel sie über einen Stuhl, wie über einen Menschen, und bedachte, was das sei und was das solle. In der Nacht schwamm sie auf dem Wasser, aber da es zu entgegengesetzten Ufern ging, kam sie nicht voran. Jemand schien am Ufer auf sie zu warten; doch sah sie hin, verschwand er. Sie vergaß den Traum, aber mehrere Tage hielt, sie verwirrend, unklar 208 die Schwermut vor, tiefer verwirrte sie, daß ihr der Umgang von ihrer Mutter verboten wurde, und es war ihr Bruder, der sich vor ihre Mutter stellte und zu warten bat, ob Unzuträglichkeiten sich ergaben.
Ihre Begegnungen hörten auch nicht auf, da sie sich beide suchten. Sparsamer freilich mußten sie mit den Zusammenkünften sein, aber da auch Prätorius von Gollerup verwarnt wurde, verlegten sie sie aus dem Park. Wie sehr sie für ihn fühlte, bewies die Entschlossenheit, mit der sie sich auf diese Wege wagte. Denn das Grauen, überfallen zu werden, verließ sie nicht, und er allein hätte gegen ihren Mann keine Sicherheit geboten. Kamen sie zusammen, dann war es stets das gleiche: er fühlte einen neuen Feuerregen, der immer wilder auf ihn niederschoß, und sie zerriß sich zwischen einem neuen Gefühl und einem alten, das von ihm noch immer fast vergessen wurde.
An einem Wochentage nach der eingekommenen Ernte wurde ein allgemeines Fest im Dorf gefeiert. Schon am frühen Morgen hatten sich vor dem Haus ein Dromedar und ein Affe eingestellt, die von ihren Besitzern an Stricken geführt und zu Kunststücken angehalten wurden. Als die mehr von dem Affen als dem Kamel bestrittene Vorstellung beendet war, rückten sonderbare Musikanten an, Bläser, die sich dem Haus zu in einem Viereck aufstellten und finsterere Mienen machten, als es der Sinn der Musik vertrug. Vierschrötig und von 209 vorgerücktem Alter wickelte der eine Bläser sich in sein Instrument wie in ein Tuch, während die anderen drei, verschlungene Röhren vor dem Mund, fortwährend mit den Fingern auf den gelben Klappen zuckten, als wenn es sie an den Gliedern juckte. Obwohl erst im Anfang der zwanzig stehend, schienen diese drei schon vollberechtigte Glieder der Gesellschaft, ja, den Alten nur aus Gutmütigkeit zu dulden, und als ein Ton ihm nicht gelang, sah man zwei von ihnen Blicke wechseln, die wenig Güte für seine Zukunft hatten. Die Musik im ganzen wurde in einem hellen Schmetterton veranstaltet, bis die tiefsten Bässe aus der Finsternis gerufen wurden und ein Donner durch das Haus jagte, der blechen und erzen die Gäste und die Mägde rief. Auch Anna und Prätorius, die schon länger von ihren Zimmern aus dem Wesen zugehört, wurden hinzugetrieben, und die allgemeine Teilnahme wie der winkende Lohn befeuerten die Bläser, daß, wie dem Ansturm ihres Getöses die Gräser nicht widerstanden, so auch in den Mörtelritzen hinter dem Putz des Hauses bald ein leichtes schreckhaftes Springen auftrat.
Nach dem Abzug der Musikanten blieb eine leichte, dem frühen Morgen fremde, fiebrige Stimmung bei den Gästen. Anna insbesondere fühlte einen nicht gekannten Zustand, und ihr Kind einer Magd vertrauend, trieb sie sich ins Dorf. Dort waren auf einem weiten Plane Buden zu den verschiedensten Zwecken aufgebaut, neben verdienstlichem Kram bot man einen süßen Honigkuchen an; leichte Bilder mit gedichteten Grüßen oder ein Traumbuch waren käuflich, und auch ein 210 Briefsteller war mit vielem anderen zu haben. Anna wurde von einer Bude, in der man einen kleinen Reifen von Holz auf einen der vielen auf dem Tische angeordneten Gegenstände werfen mußte, zum Verweilen angehalten. Der Wurf hatte in der Weise zu geschehen, daß der Reifen den Gegenstand völlig einzuschließen und sich platt auf die Tischplatte zu senken hatte. Aber ihr Glück war nicht das gleiche, sie verlor wie sie gewann, und nach einer Stunde stand sie vorwiegend als Zuschauerin vor der Bude und setzte selten, so andauernd auch die Lockung des Besitzers sie dazu aufreizte, und da er die verschiedensten Worte des Anfeuerns kannte und ihr Trotz ihm beistand, begann sie schließlich wiederum zu spielen und öffnete wohl schon zum fünften Male, um Geld zu wechseln, ihre Tasche, als sie von Prätorius unterstützt wurde, der sie eine Weile schon von einem sich langsam drehenden Karussell beobachtet hatte, wo er, zwar nicht auf einem der geschweiften Rosse reitend, aber aufrecht auf der Plattform stehend, die Schulter und eine Hand an eine Stange stützend, wiederholt vorüberflog. Sie fand es seltsam, daß er, mit seiner aufgeschwollenen Figur, sich noch mit solchen Kinderstücken abgab und überhaupt die Ruhe hatte, sich von einem Pferde im schnellen Fluge drehen zu lassen. Aber im Grunde war diese Flucht in einem Kreise etwas, was wunderbar zu seiner früheren Verfassung stimmte. Er lieh ihr ein Geldstück, und dann ein zweites, und durch diesen sich von selbst ergießenden Strom häufte sich bald Gegenstand auf Gegenstand vor ihr, alles durcheinander, gipserne Figuren, vernickelte Stücke für 211 den Haushalt und viele andere Geräte, da sich ihre Geschicklichkeit gesteigert hatte. Aber auch das Aufsehen über ihren Gewinn befriedigte sie nicht, sie setzte sich in den Kopf, einen ganzen Satz von Gläsern zu gewinnen, der besonders unvorteilhaft von dem Besitzer aufgestellt war, es gelang zum Teil, aber da es vollständig gelingen sollte, mußte Prätorius zum Verschwender werden. Obwohl die Menge schon lange den Gaffer machte, und der Mittag am Himmel stieg, hatte sie sich nach zwei Stunden von dem Stande nicht entfernt.
Die Kunde ihres Benehmens drang zu ihrem Bruder, der sich aufmachte, aber seiner ansichtig, verschwand sie, und Prätorius verschwand zugleich. Rasch durch die Menge schlüpfend, fielen sie in eine Seitengasse, die sich auf das Feld verlor. Auf dem Felde verfolgten sie zunächst einen Rain, bis Gebüsch aufging und rasch darauf ein tiefer Wald. Darin verbargen sie sich, und als er ihr zuredete, den Weg nach Haus zu wählen, ging sie nicht darauf ein, obwohl sie hungerte, vielmehr saß sie nieder. Der Boden war rings gefüttert, sie rieb den Körper wie an Plüsch, mit wachen Ohren auf einen Verfolger horchend, zuweilen mit einem klaren Blick seine Stärke als Verteidiger schätzend. Müde saß sie noch, als ein Wind sich hob, so daß sie ihre Kleider, die er bewegte, ordnete. Prätorius, der ihre Bewegung sah, nahm ihre Hand, blies, da sie kalt war, gegen sie wie gegen einen Handschuh, der aufzublasen war, und als er ihren Nacken mit dem Finger streifte, rollte sich ein ganzes Heer von bisher unsichtbaren kleinen weißen Haaren an der bestrichenen Stelle auf und schmerzte in 212 den Wurzeln. In einer untertänig machenden Weise verwandelte er sie damit. Eine Unruhe trat bei ihr auf, die ein ungewöhnliches Begebnis vom nächsten Augenblick erwartete. Halb niedersitzend, die Füße hochgestellt, mit den Händen die Gräser zwischen ihnen reibend, saß er in Wolken da und hob sich dann, wie himmelwärts gezogen, langsam auf, mit einem unsicheren Munde dazu sagend, daß er sie liebe. Aber kaum hatte er seine Worte selbst verstanden, so schlug er nach ihnen wie nach Fliegen, und mit derselben Zunge erklärte er erschüttert plötzlich sich für verhindert und für gebunden durch eine ältere Pflicht, mit einem Ruck an eine Begebenheit erinnert, die er zwar auf ihr wirkliches Vorkommen nicht bestimmen konnte, die aber mit vielen Lichtern vor ihm aufging und ihm wie vorgekommen vorkam.
Sie hatte ihm nicht weiter zugehört, sondern sich nach den ersten Worten aus einer unbestimmten Furcht erhoben und begonnen, durch den Wald zu laufen. Der Wald bot sehr viel Raum, und so ging sie erst durch einen, aber dann durch viele Gänge. Einmal blieb sie stehen, weil sich sein nachfolgender Schritt verloren hatte, ohne den sie sich verlassen vorkam, und horchte, wo er sei, der verdrossen, daß sie bei seinen Worten aufgebrochen, hinter ihr zurückgeblieben war. Das Untergehölz war hoch, Farren und Kraut behinderten den Ausschritt, und sie kam sich in der großen Geilheit eingepreßt und untergegangen vor. Trotz der vorgerückten Zeit im Jahr war es noch warm, die Baumwipfel drückten gegen den Horizont, die Zweige an den Bäumen hingen tief herunter, die laue Luft von der 213 Mitte bewegte sich nicht und stand. Wie sie ihn endlich nachkommen hörte, hielt sie an, das Dickicht zu ihren Füßen wurde immer grüner, immer farbiger schlug das Herz, und am Ende fiel ihre Stimme aus ihr hervor. Die Kelchblätter einer Blume umspannend, sang oder sagte sie vor sich, daß es sie anfliege, wenn sie ihn sehe, und eine leichte Befangenheit sie schwach mache bei seinem Wort. Sie hatte sich nicht umgewandt, und er konnte den halben Ton nicht gehört haben, immerhin war das Wort gesprochen, wenn auch nur in die laue Samenluft einer Blume, und wenn er so fühlte wie sie, so hatte er gehört, denn er war kalt, wenn er es nicht auf die fernste Ferne hörte, und noch einmal fühlte sie es süß, so zu erliegen. Doch, während die Lider ganz in die Stirn zurückgingen, spürte sie zugleich ein doppelt glückliches Gefühl, daß sie so reich war und dem Gefühl nicht nachzugeben brauchte, da sie, von einem seligen, wenn auch durch seinen Ausgang schwer- und unseligen, älteren besessen, schon genug Benommen und Erfaßtheit hatte. Es wurde ihr inmitten freilich vor den Augen schwarz, es verdüsterte sie die alte Leidenschaft, und ernst rupfte sie eine Blume, verblies sie und verwarf sie. Dann wurde ihr Gesicht indessen lichter, denn es genügte, davon voll zu sein und ein neues Gefühl um seinetwillen zu bescheiden. Als sie jetzt sich nach dem Manne umsah und dann leicht dahinschritt, wie wenn ein Geständnis aus diesem Grunde nichts bedeute, erschrak sie, denn von der Erinnerung nun auch dorthin gelenkt, fürchtete sie schon wieder ihren Mann und erzitterte bei dem Geräusch. 214
Als er sie in dem immer mehr verdüsterten Walde einholte und sie gefangennehmen wollte, sah er in ihren Augen, daß sie ihn leiden mochte, und in ihrer Haltung, daß sie es nicht durfte. Empfand sie nicht gleich ihm? Und da auch seine Behinderung ahnungsvoll von ihr erkannt wurde, so sahen sie sich mit einem großen Blicke des Begreifens an, sie überglänzt, hingegen er verdüstert, und nach einer wankenden Minute Ewigkeit und Entschließung, gingen sie beide gebannt des Wegs. Die Bäume wuchsen, das Untergehölz wurde dichter, so daß sie mit den Armen wie in einem Getreidefeld das Kraut und Laub abdrängen mußten, das sie umwucherte. Der Abend, so sehr sie sich des Weges annahmen, sank immer tiefer; als die Lichtung auftauchte, spannten sich die letzten und verlöschenden Strahlen der Sonne an den Himmel. Sie wurden getrieben, aber um von sich loszukommen, setzten sie die letzte Kraft in ihre Muskeln; als sie am Wasser anlangten, war es schwarz, er löste ein Boot und ruderte über den See. Trotz der versuchenden Schwermut der Fahrt ließen sie nur das Schweigen zwischen sich atmen. Der See war blasig, da sich ein Wind erhoben hatte, und schäumte, der Luftzug rillte um die Ohren und schnitt mit seinen Schnüren in den Hals, aber nach einer kleinen Weile überquerten sie den See und stießen an das Ufer. Hinten im Zug des Wegs sahen sie die Lichter ihres Hauses, Menschen tauchten auf wie nachgesandte ausgeschwärmte Boten, Pechfackeln schwefelten in ihrer Hand. Mitten auf dem Wege mußten sie an einer Schranke halten, die vor den Eisenbahnschienen 215 niederging. Anna tat die Hände auf den Kamm, bei dem Vorüberdonnern des Zuges von der Welt, die vorüberrauschte und vorüberschluchzte, zurückgepreßt in die Luft. Mit einem tiefen Aufschrei wollte sie die hinten verblinkenden Puffer fassen und dem Wagen nach sich über die Schienen schleifen lassen. Aber langsam gingen auf beiden Seiten die Schranken hoch, und während sie noch wie ein aufgeklapptes Messer in der Luft standen, schritten beide, ein wenig ängstlich, über die Schienen weg. Jenseits erwartete sie Doktor Gollerup, ihr Vater. Er war am Abend zuvor in dem Hause eingetroffen, gleichmäßig freundlich von seiner Frau, zurückhaltend von seinem Sohn empfangen. Das Verschwinden seiner Tochter und das des Gastes gaben ihm Gelegenheit, sich sogleich an den Ereignissen des Hauses zu beteiligen, und als habe er sich ihnen nie entzogen, nahm er sie an der Schranke in Empfang und führte sie, ohne sie auszuschelten, ohne sich einzuführen, stumm in das Haus.
Seine erste Maßregel schloß jedes fernere Zusammentreffen aus. Ihr wurde dieser, ihm jener Bezirk des Parkes angewiesen, ihren Spaziergängen wurden verschiedene Stunden des Tags bestimmt, und gelegentlich wurden sie auf den Spaziergängen beobachtet. Anna blieb dabei, ihren Mann, der zurückgefahren war, zu hassen und ihrem früheren Geliebten aus der Entfernung anzuhangen; seinen Aufenthalt auszuforschen oder ihm nachzufahren und sich ihm verbinden, wäre falsch 216 gewesen, da sie selbst nicht am gesündesten war und ihm in seinem Zustand schaden konnte; ein neuerliches Erlebnis erblaßte durchaus für sie. Aber ihre Augen, ging sie durch den Park spazieren, brannten häufig von einer Leidenschaft, und sie zog nicht selten ihre Schultern nach vorn, um ihren Taumel nicht offenbar zu machen. Hatte sie ihren Knaben bei sich, was ihr nur ab und an gestattet wurde, so sagte sie, sie habe ihm einen Vater schenken wollen, aber er sei krank geworden. Mit ihren Angehörigen, auch mit ihrer Mutter, sprach sie nicht; überhaupt lebte sie vorwiegend für sich allein.
In Prätorius hatte nach seinem letzten Anfall die Liebe zu der einst von ihm verlassenen und nicht mehr aufzufindenden Frau eine sonnenblumenhafte Größe angenommen, gegen die sehr bald das neue Erlebnis abblaßte. Es war, als wenn die Blätter, als wenn die Körner dieser Blume aus seiner Brust herauswuchsen. Wo er auch ansetzte, immerfort führten seine Gedanken zu dieser Frau, als wenn die Kammern zwischen den Gedanken plötzlich eingestürzt und alle Gedanken zueinanderschossen. Sein Gefühl der Verantwortung für sein Verbrechen löste sich, er liebte bloß noch, ohne Rückhalt und ohne Grenze. Er stand nicht mehr allein, sondern immerfort, wohin er ging, stieß er an ein Ende von ihrem Kleid oder an ein Stück von ihrem Haar. Alle Menschen sollten den Schrecken des Alleinseins von sich ausrotten und in ihrem überdrängenden Gefühl dem anderen zustürzen, und unter Schwüren ging er durch den Park oder lag auf seinem Zimmer, je länger, desto tiefer von dieser verändernden und besänftigenden 217 Gewalt betroffen. Ging sie jetzt spazieren? Fuhr sie auf einem Schiff? Besuchte sie ihren Vater? Er erschlug jeden, mit dem sie sprach, und er liebte die Nacht, weil sie darin schlief und anderen kein Zeichen ihres Lebens geben konnte.
Sich zu ergießen, schrieb er an sie Briefe, aber Doktor Gollerup mußte sie verwahren, weil er ihren Aufenthalt noch nicht ermittelt hatte, ja selbst den Namen trotz allen Besinnens sich nicht im Stande fühlte, mit Sicherheit zu nennen. Anna war der Vorname, aber jede zweite hatte diesen gleichen.
Als Gollerup aus den Briefen klar wurde, daß seine Tochter nicht bedroht war, ließ er an Strenge nach, und es war zu beobachten, wie die beiden sich bei Begegnungen fast auf eine förmliche Art begrüßten, wehmütig und mit dem Ausdruck einer bedauerten Verhinderung. Schließlich wurden sie sich fremder, und es war nicht sicher, ob sie nach längerer Zeit ihn überhaupt noch als den Partner des letzten Erlebnisses im Wald erkannte.
. . Es waren Jahre vergangen, als das Landesgesundheitsamt durch mehrere Selbstmorde aufmerksam auf die Anstalt wurde. In einem Anfall des Wahns hatte sich die zarte Dame mit einer verderblichen Essenz vergiftet. Bald darauf erschoß sich der frühere Leiter der Strafanstalt unter Hinterlassung von Aufzeichnungen, welche die Anstalt belasteten. Der Aufsichtsbehörde erschien nach ihren Ermittelungen Doktor Gollerups Persönlichkeit nicht zum Vorstand der Anstalt sehr geeignet, insbesondere da er wiederholt verschwand und seinem 218 noch jungen Sohn die Leitung überließ. Dennoch wurde die Familie vor einem Zusammenbruch behütet: unter der Bedingung, daß ein anderer Arzt die Leitung übernahm, gestattete man die Umwandlung in eine reine Anstalt für gemütlich Kranke. Es gelang sogar, das Grundstück zu verkaufen, und dadurch wirtschaftlich gestützt, schwang sich die Anstalt unter der Leitung eines neuen Arztes, der Doktor Gollerups Sohn die Assistenz gestattete, dank ihren natürlichen Bedingungen sehr empor, so daß sie noch gegenwärtig, etliche Jahre später, viel genannt wird.
Doktor Gollerup und seine Frau zogen nach einer großen Stadt und begannen, das Leben von alt gewordenen Leuten zu führen. Doktor Gollerup selbst tat, was viele in diesem Alter unternehmen, er versuchte weiter, wie bisher zu leben, und erhielt sich zu diesem Zwecke jung, während er seinem Alter entsprechend hätte alt sein sollen. Für ihn kam das alles nur in einer Hinsicht in Betracht, zu der die Großstadt Gelegenheiten gab. Da er indessen nicht als Arzt den Damen mehr entgegentrat, konnte er von Erfolgen, wenn er ehrlich war, nicht recht mehr reden, und was er als Erfolge nahm, war in Anbetracht der Opfer, die er brachte, im ganzen dürftig und fatal.
Frau Gollerup wurde für ihren Part verbittert und rührte sich, so schlecht es ihr bekam, oft für Monate nicht aus dem Haus. Ein schmerzhaftes Leiden, das sie anfiel und dessen Pflege sie beschäftigte, machte die Zurückgezogenheit ihr leichter. Allerdings kam es an manchen Tagen über sie, so daß sie in ihren Stuben 219 gewalttätig gegen Sachen wurde, wenn sie auch vor Besuchern auftrat, als hätte ihre Seele eine immer gleiche, unberührte Fläche. An manchen Tagen war übrigens das Meer auch vor Besuchern so unbeherrscht, daß sich Zwischenfälle nicht vermieden und sich die Zahl zerstreuender Gäste rasch verlief.
Mann und Frau sprachen miteinander nur die unumgänglichsten Worte, wie sie die Tafel und die Gemeinschaft mit sich bringt. Selten waren es Sätze, und von ihrer Seite war es jedenfalls selten mehr als eine herausgeschleuderte, bezeichnende, knappe Wendung. Als sie schwer erkrankte und Gollerup Anstalten zu einer Rede traf, zog sie die Hände vor die Ohren; es gab keinen Vorwand, sie zu beschwichtigen.
Durch Jahre waren sie in jedem Monat zweimal in die Anstalt gefahren, um die Tochter zu besuchen. Niemals in diesen Jahren hatten sie die Fahrt gemeinsam unternommen. Als in dem Alter von zweiunddreißig Jahren unter den Nachteilen einer entzündlichen Erkrankung ihre Tochter starb, und sie zusammen in dem gleichen Abteil fuhren, führte es auf einen von beiden vergeblich hintertriebenen Zufall zurück.
Übrigens erwog Prätorius, als er von dem Begräbnis der Dame hörte, mit der er, wie ihn dünkte, einige Male spazieren gegangen war, ob er seiner Teilnahme irgendwelchen Ausdruck geben dürfe. Nach längerer Prüfung des Gewissens sah er davon ab, weil sein Gemüt einer Frau gehörte, die, wie er fürchtete, seine Teilnahme mißdeuten könnte. Als man ihren Sarg hinaustrug, stand er am Fenster und dachte über die 220 Schicksale nach, die von Menschen erlebt werden, und während er dem letzten Abgang zusah, schlug ihm in seltsamer Weise sein mattes Herz. Er verstand nicht, was es sollte, und wollte gar nicht begreifen, warum er, sonst keineswegs empfindsamer Art, in diesem Falle plötzlich Tränen hatte.