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Das Fest hatte um halb fünf mit jenem glücklichen Auftakt begonnen, von dem der gesamte Verlauf solcher Veranstaltungen abzuhängen pflegt. Alle Gäste waren bereit, fröhlich zu sein. Alle fühlten, daß ein in diesen Landstrichen Seltenes und Besonderes geschah.
– Diese Laura Lagosch, sagte der runde, kahlköpfige Baron von Elsenburg im Ton der Garde 1900, diese Laura Lagosch hat es in sich. Nu sehn Se bloß, Herr Benrath, wie das alles arrangiert ist, und wie das klappt! Als ob se alle Tage so viel Leute im Haus hätte. Wenn meine Frau zehn Gäste hat, steht se schon Kopp! Ja, ja, dem einen gibt's der Herrgott im Schlaf – dem andren nie.
Er klemmte sein Monokel ein:
– Donnerwetter, wer is denn die Kastanienbraune da drüben? Heiliger Kiesewetter, das is ja die Maud Satulin. Wunderbar! Sehn Se bloß die Schultern. Fabelhafte Frau! Wissen Se Bescheid? Ach Sie wissen nich? Na, dann hören Se: Bei dem ollen Onkel Ferdinand, wo sie eigentlich zuständig ist, auf Schloß Bendenburg nämlich, wollte sie nich bleiben. Das war ihr zu doof. Sie setzt sich auf den Zug, fährt nach Berlin und schreibt, daß se nich wiederkommt. Nach 'nem halben Jahr kommt Licht in die Affäre: Wissen Se, was Julia Bachmann is? Julia Bachmann, Berlin W, Lennestraße 43, Modellhüte? Das is die Prinzessin Satulin mit 'ner ollen Russin dahinter. Kennen 143 Sie eine Dame, die nich Julia Bachmann trägt? Drei Jahre Julia Bachmann – und sie kann ihr Geld in die Schweiz tun – un in Zürich weitermachen, wenn's in Berlin ganz mies wird! Der Onkel Ferdinand wollte sie mit dem jüngsten Bierstädt verheiraten, wissen Se, mit dem berühmten Schmetterlingssammler. Wissen Se, was se gesagt haben soll? Lieber skalpiert im Erbbegräbnis, soll se gesagt haben, als mit dem klapprichten Mottenonkel im Bett! Fesch, was? Sieht ihr ähnlich. Hat mir mächtig imponiert. So is se nu mal. Und das tollste: Keiner weiß, wer . . . Sie verstehen mich? Denn selber hat se ja nischt. Is ja alles in Grundstücken festgelegt!
Michael Solduan ging vorüber und verneigte sich leicht.
– Kennen Se den? fragte Elsenburg lauernd.
– Den kennt doch jeder.
– Der war mal deutscher Offizier. Heut is er Polacke.
– Herr von Elsenburg: Was würden Sie denn gemacht haben, wenn . . .
– Wenn . . . wenn . . .!
– Na ja, wenn . . .
– Und Sie?
– Ich hätte im Interesse Deutschlands ganz genau das gleiche getan.
– Wenn Se's so ansehen, zugegeben . . .
– Sehen Sie es denn anders an?
– Nein . . . nein . . . ich meinte nur . . . 144
– Na also . . .
Michael kam wieder zurück . . .
– Suchen Sie jemand? fragte ich, um ihn einen Augenblick lang festzuhalten.
– Ja, ich suche Blanche, die wie vom Erdboden verschwunden ist. Ich sah sie vorhin mit Poppritz stehen, es scheint fast, sie ist gar nicht im Haus . . . Guten Tag, Herr von Elsenburg. Sie haben mich ohne Uniform wohl gar nicht wiedererkannt? Wie geht es Ihnen denn? Ich hatte eben die Freude, Ihre Frau zu begrüßen . . .
– O danke, Graf Solduan, es geht mir, wie es einem deutschen Kraut- und Rübenbaron eben halt in Ostdeutschland geht. Sie wissen ja wohl noch, wie es bei uns aussieht.
– Ja, ich weiß sehr wohl, wie es bei uns Deutschen aussieht: diesseits und jenseits der Grenze, mit und ohne Naturalisation . . .
– Ich beglückwünsche Sie zu diesem Wort! sagte Elsenburg, und streckte die viel zu kleine, runde Hand aus. Aber Michael sah diese Hand nicht. Er machte eine kurze Verbeugung und fragte im Tone äußerster Verbindlichkeit:
– Würden Sie, falls Ihnen Baronesse von Berry begegnet, so liebenswürdig sein und ihr sagen, daß ich ein Telegramm für sie am Telephon abgenommen habe und es ihr gerne mitteilen möchte – und wollen Sie mich bitte für den Augenblick entschuldigen . . . Die 145 Fürstin Kaatzenstein sucht Sie übrigens, Henry. Sie sitzt mit dem Grafen Rumpler am Kamin der Halle.
– Sie kennen die Fürstin? fragte Elsenburg, innerlich noch ganz mit Solduans Auftreten beschäftigt und wütend über seine eigene Dummheit . . .
– Ja. Ich habe sie neulich bei Friedrich von Schönfeld kennengelernt, und wir haben uns angefreundet. Gestern habe ich mit Solduan und Blanche von Berry bei ihr Tee getrunken, und ich muß sagen, daß ich lange keinen so bezaubernden Nachmittag verbracht habe.
– So, mit Solduan waren Sie bei ihr, machte Elsenburg. Sehn Se mal an, mit Solduan . . . Was Se nich sagen . . . So, so . . . Das wird einige meiner Bekannten sehr interessieren . . . Bleibt denn Solduan lange hier?
– Das weiß ich nicht. Ich glaube aber kaum. Jedenfalls hat er sich mit mir in vierzehn Tagen in Paris verabredet.
– Ach, Sie wohnen ja drüben, nicht wahr?
– Ja.
– Eigentlich möcht' ich ja auch für mein Leben gern wieder mal 'rüber . . .
– Na warum fahren Sie denn nicht?
– Sie haben leicht reden! Wohnen Sie mal hier im Osten . . .
– Aber Herr von Elsenburg! Sie sehen ja weiße Mäuse! Ich weiß, daß man hier schwieriger ist als bei uns im Westen, aber so wie Sie es mir dahinstellen wollen . . . 146
– Ich wiederhole Ihnen: Sie haben leicht reden. Seien Sie mal nur vier Wochen Herr von Elsenburg auf Groß-Macherode! Und dann sagen Sie mal, daß Sie zu Ihrem Vergnügen nach Paris fahren!
– Sie kennen Paris gut?
Ein Strahlen glücklicher Erinnerung ging über das volle, etwas glänzende Gesicht:
– Im Schlaf noch find' ich mich zurecht! Mein Vetter Berlinghoff war von zwölf bis vierzehn Attaché an der Botschaft. Na wissen Se, was wir beide anjegeben haben! Der kannte nu so die Schliche, wissen Se . . . So das Besondere! . . . Ja, das waren noch Zeiten . . . Januar vierzehn hab' ich mich dann verheiratet, en halbes Jahr ehe der Schlamassel losging . . .
Anton schob sich durch die Umherstehenden heran:
– Augustenburg telephoniert, Herr Benrath.
– Meine Frau?
– Jawohl, Herr Benrath.
– Sind Sie denn verheiratet? fragte ganz verdutzt Elsenburg.
– Ja natürlich. Mit der Schauspielerin Yvonne Pavart, die Sie sicher dem Namen nach kennen.
– Donnerwetter, sagte Elsenburg gedehnt und unsicher, mit Yvonne Pavart . . . Selbstredend kenne ich sie! Und kommt sie denn noch hierher?
– Ja, ich hoffe. Es scheint doch so, da sie eben anläutet, rief ich im Gehen . . . 147
Anton bahnte mir den Weg bis zu Eugos Arbeitszimmer. Er war der einzige von der Dienerschaft, der mit im Spiele war.
– Zwanzigmal so schön wie auf dem Theater, sagte er leise. Ich kann gar nicht abwarten, bis es losgeht.
Eine kleine Gruppe von Männern, die sich im Herrenzimmer niedergelassen hatte, wollte aufbrechen. Ich erreichte durch mein Bitten, daß sie blieben und Zeugen des zärtlichen Gespräches wurden . . .
– Meine Frau, sagte ich, hatte Bedenken, zu kommen, weil sie kein großes Abendkleid bei sich hat. Ihre Schrankkoffer sind nämlich schon von Warschau nach Danzig geschickt worden . . . Aber ich nehme an, sie wird auch im kleinen Abendkleid willkommen sein . . .
– Bestelle deiner verehrten Frau, sagte Friedrich von Schönfeld, daß sie uns in jeder Toilette, die sie für gut hält, willkommen ist, und daß das Fest erst beginnt, wenn sie erscheint. Vorderhand sind wir noch beim Vorspiel.
– Willst du ihr das nicht selbst sagen? Sie wird entzückt sein!
– Donnerwetter, ja! Das ist eine feine Idee! Aber wird denn mein Französisch ausreichen?
– Na, nu mach schon, rief der neugierige Meyenburg, der nur Madeira trank, sonst wird die Verbindung mit der Gnädigen unterbrochen . . . 148
– Hallo – hallo! C'est Madame Benrath? Ah, bonjour, Madame! C'est Friedrich Schönfeld qui parle. Je suis heureux, vous venez ce soir. Venez, Madame, venez vite! C'est tres chic! Nous attendons avec plaisir! Si vous venez, c'est la fête. Maintenant, ce n'est par encore fête, c'est le . . . Mensch, wie heißt Vorspiel? Wie? . . . Ah oui, c'est la prélude, parce que vous n'êtes pas ici. Je veux déjà réserver un valse, Madame, n'est-ce-pas? Comment? Deux valses! Oh, Madame, vous êtes trop aimable. Au revoir, Madame. Au revoir!
Bleßner, der frühere Seeoffizier, nahm ihm den Hörer aus der Hand:
– Pardon, Madame, hier Bolko von Bleßner, früher Oberleutnant auf S. M. »Oktopus«. Melde mich gehorsamst zur Stelle, heißt, lege mich der Gnädigsten zu Füßen. Frankreich mir von vielen Seereisen wohl bekannt. Land, Wein und Frauen tipptopp, Politik mies, um ehrlich zu bleiben. (Versteht se wohl nich, was, Herr Benrath?) Comment? Hallo . . . Hallo . . . Nischt mehr, Verbindung abgerissen. Mich laust der Affe, wenn sie nicht ganz deutlich »reizend« gesagt hat . . . »Sie sind reizend«, hat se gesagt . . . Is das möglich, Herr Benrath?
– Quassel doch nich! rief Meyenburg. Schmeiß dich nich an!
– Ja, das ist schon möglich, Herr von Bleßner. So ein paar Worte Deutsch hat sie sich gemerkt. Vielleicht 149 war ihr Ihre Stimme sympathisch. Meine Frau ist sehr musikalisch und gibt viel auf das Timbre der Stimmen.
– Na, sagte Meyenburg, da dürften meine Chancen gering sein!
– Weiß ich nicht mal, Herr von Meyenburg . . . Ihre Stimme ist zwar sehr rauh und nicht eben biegsam – – aber sie hat so einen gewissen Unterton . . .
– Was für 'nen Unterton? fragte Meyenburg in fast ängstlicher Hastigkeit . . .
– Na eben so einen Unterton, der Damen wie meiner Frau manchmal gefällt. Mehr kann ich nicht gut sagen . . .
Meyenburg machte ein so dummes Gesicht, daß Friedrich, der meinen Blick abgefangen hatte, laut auflachte . . . Heinrich Mottau, in der Form immer sehr verbindlich, wenn er nur wenig getrunken hatte, trat an meine Seite:
– Sagen Sie, Herr Benrath, wie lange sind Sie eigentlich verheiratet? Ich hielt Sie für einen Junggesellen – und ich glaubte immer, Friedrich Schönfeld habe mir so etwas Ähnliches noch vor wenigen Wochen gesagt, als wir uns auf einem Jagdessen trafen.
– Da haben Sie sicher eine Verwechslung gemacht . . . Ich bin seit vier Jahren verheiratet.
– Aber man hat ja leider Ihre Frau Gemahlin nie zu Gesicht bekommen . . . 150
– Meine Frau hat sehr wenig Zeit. Und wenn wir zusammen reisen, gehen wir immer in südliche und heiße Länder.
– Ihre Frau Gemahlin ist Südländerin? fragte Bleßner.
– Ja. Sie stammt aus Korsika.
– Donnerwetter, aus Korsika! Die Leute von dort sollen ja sehr feurig sein . . .
– Das kann man wohl behaupten, Herr von Bleßner. Sie werden sie ja übrigens um halb neun Uhr sehen. Sie ist nicht sehr groß, ganz schwarz und sehr lebhaft.
– Wissen Sie – tout entre nous – so was kann man hier unter diesen blonden Madonnen gebrauchen . . . Ich war immer für Schwarz . . . Sie offenbar auch?
– Immer!
– Prosit, Herr Benrath! Und legen Sie bitte ein gutes Wort für mich ein . . .
– Das tue ich niemals, Herr von Bleßner. Das ist Ihre eigene Aufgabe. Die Sympathien und Antipathien meiner Frau interessieren mich gar nicht . . .
Meyenburg sperrte den Mund auf, wollte etwas sagen, sagte aber nichts, sondern zog es vor, einen neuen Madeira zu trinken.
– Ist hier Herr Benrath? tönte eine ziemlich helle Stimme vom Billardzimmer her – und gleich darauf wurde im Türrahmen der Graf Carlo Sennewitz sichtbar, ein schlanker, blonder, hübscher Junge in einer straff geschnittenen Uniform. 151
– Ja, der bin ich.
– Ach, verehrter Herr Benrath, verzeihen Sie, daß ich mich so herandränge – aber ich höre ja eben von Elsenburg, daß Sie mit der bezauberndsten aller französischen Schauspielerinnen verheiratet sind, mit der von mir vergötterten Yvonne Pavart, die ich im letzten Sommer viermal auf ihrer Schweizer Tournee gesehen habe . . . Ist das wahr, oder ist das ein Witz?
– Das ist ebenso wahr, wie daß Sie sie gesehen und bewundert haben . . .
– Na, dann kann ich nur sagen, daß heute ein guter Stern über mir leuchtet! Wer mir das gesagt hätte, daß ich heute das Glück haben würde, Yvonne Pavart kennen zu lernen! Sagen Sie: wird sich denn Ihre über alle Begriffe reizende Frau um so einen kleinen Kavallerieleutnant bekümmern? Wird man es denn wagen dürfen, sie um einen Tanz zu bitten? Wird man Sie um Ihre gütige Vermittlung angehen dürfen?
– Gibt es ja gar nicht! rief Bleßner. Selbst ist der Mann! Freie Bahn dem Tüchtigen! hat der olle Bethmann gesagt, der uns den Krieg hat verlieren lassen . . . Versuchen Sie mal, mir Konkurrenz zu machen!
– Ich nehme den hingeworfenen Handschuh auf, sagte Sennewitz mit einer etwas gezierten Verbeugung. Ich setze Jugend gegen Routine . . .
– Fein gegeben! rief Friedrich.
– Sind Sie immer ein solcher Meister des Wortes? fragte ich. 152
– Das sind Sie doch, Herr Benrath! Ich kenne alle Ihre Bücher – und am liebsten sind mir die Sonette . . .
– So . . . Sie kennen meine Bücher . . .
– Finden Sie das so merkwürdig?
– Eigentlich – nein!
– Ich danke Ihnen für diese charmante Antwort.
Und er zog mich, meinen Ellbogen leise streifend, gegen die Fensternische . . .
– Habe ich das nicht gut gemacht? fragte er. Sie können sich doch natürlich denken, daß ich im Bilde bin – als Freund Adalberts von Elten . . . Das wird ja ein schöner Zauber werden . . . Es ist natürlich eine längst ausgemachte Sache, daß Ihre Frau so viel als möglich mit mir tanzen wird . . . Vor allem die Tangos und die Englischen Walzer.
Laura Lagosch betrat das Zimmer. Sie trug ein wundervolles Kleid: weiße, weiche Glanzseide mit Silberlamé. Sie hatte ihren großen Brillantschmuck angelegt.
– Na? fragte sie – wie sieht es denn hier aus? Henry, die Fürstin verlangt nach Ihnen . . . Kommen Sie, ich will Sie zu ihr führen . . .
– Haben Sie Blanche und Poppritz gesehen? fragte sie erregt, als wir in das leere Billardzimmer traten. Auch nicht? Unfaßlich! Da stimmt etwas nicht . . .
Sie hatte den Satz noch nicht beendet, als Eugo Lagosch vom gelben Salon her in das Billardzimmer kam. 153
– Ist euch Poppritz begegnet? stieß er hastig hervor.
– Nein. Was ist? bettelte Laura.
– Nichts. Blanche ist nicht wohl. Gehe sofort zu ihr ins Zimmer hinauf.
– Mein Gott – ich wollte eben die Polonaise ausrufen lassen . . . Nun kommt so etwas . . .
– Lasse ruhig zur Polonaise ausrufen. Da du sie mit Henry gehen solltest, ist es ohne Belang, wenn du sie nicht mitgehst. Henry verzichtet sicherlich gerne darauf. Die Fürstin ebenfalls. Ich werde mich mit ihr unterhalten. Später wird mir Henry diese Aufgabe abnehmen. Wer von euch Poppritz sieht, soll ihn unauffällig in meinem Arbeitszimmer festhalten und viermal auf die Schelle links von meinem Schreibtisch drücken. Der Diener weiß Bescheid. Die Polonaise wird nicht bis ins Arbeitszimmer geführt. Gisela wird sie mit Alexander Renken angehen. Ich habe sie unterrichtet. Ruhe, verstanden? In einer halben Stunde ist alles in Ordnung.
Er lächelte l,aura zu, um sie zu ermutigen, und ging gegen die Musik. Laura verschwand durch das Arbeitszimmer Eugos. Ich blieb allein im gelben Salon, der an das Musikzimmer angrenzte, während sich in der Halle die Polonaise sammelte. Als eben die ersten Takte ertönten und sich – wie ich an dem Knarren der Treppen hören konnte – der Zug offenbar zunächst in die oberen Stockwerke begab, trat Herr von Schwennemann zu mir. 154
– Sie machen den Polonaisenzauber auch nicht gerne mit? fragte er.
– Nein. Das sind so Backfischscherze.
– Können aber manchmal ganz nett sein . . .
– Wenn man dazu aufgelegt ist.
– Stimmt. Wie alles, übrigens. Sagen Sie mal, Herr Benrath, warum haben wir eigentlich niemals das Vergnügen, Sie mit Arbeiten in unserer Zeitung vertreten zu sehen?
– Wie soll sich denn mein Name in einer Zeitung wie der Ihren ausnehmen, Herr von Schwennemann? Solange die Bewertung rein geistiger Leistungen in Deutschland nach Parteigesichtspunkten erfolgt, kann ein Mensch meiner Haltung sich in einem radikal rechtsgerichteten Blatt nicht sehen lassen. Ihr Blatt wäre kompromittiert, und ich noch zehnmal mehr. Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen erst wieder lernen, vor dem Geist den gebührenden Respekt zu bekommen – dann wird sich der Geist nicht zu scheuen brauchen, auch bei Ihrer Partei zu Gast zu sein. Vorläufig geht das noch nicht. Konservativ: ja. Reaktionär: nein!
Wir waren im Sprechen bis in Eugos Arbeitszimmer gelangt. Die Musik spielte eine Polonaise mit viel Banjounterlegung . . .
– Reizende Musik, sagte Schwennemann. Mal was anderes als die ewige Faustpolonaise von Spohr . . .
– Allerdings . . . 155
– Also Sie würden, fuhr Schwennemann langsam fort, während er eine Zigarette anzündete, also Sie würden es ablehnen, wenn ich Sie bäte, um schweres Geld, versteht sich, eine objektive Artikelserie über die deutsch-französische Politik seit Stresemanns Tod zu schreiben?
– Ich würde bedauern, es aus den erwähnten Gründen ablehnen zu müssen. Geben Sie gewisse Bonzen auf, von deren Gnaden Sie ja Gott sei Dank nicht abhängen: und es läßt sich über den Fall reden . . .
– Ich danke Ihnen für die offene und ehrliche Antwort, Herr Benrath. Qui vivra verra . . .
– Stört man? fragte Poppritz, dessen Eintreten wir gar nicht bemerkt hatten.
– Mitnichten, sagte Schwennemann. Nur müssen Sie mich entschuldigen. Ich habe der Fürstin noch nicht meine Honneurs machen können – und es ist jetzt der geeignete Augenblick dazu.
Er ging, ohne Poppritz auch nur eines Blickes zu würdigen. Poppritz reichte mir sein Zigarettenetui, das mit aufgelötetem Wappen verziert war. Ich nahm eine Lucky Strike. Er gab mir Feuer, zündete sich selbst eine Zigarette an, warf das Streichholz auf den Teppich, trat es mit dem Fuß aus und steckte beide Hände in die Hosentaschen. Dann sah er mich an. So wie ein Kumpan den Kumpan ansieht, ein Zuhälter den Zuhälter, ein Gauner den Gauner. Sein straffes Gesicht, rassig in jeder Fiber, unverhüllt brutal im Ausdruck, stand 156 ganz in dem meinen. Frech, verboten vertraut, unverschämt wissend. Ich begegnete ruhig, unbeteiligt, dem Blick der etwas gekniffenen, lauernden, stahlblauen Augen.
– Na? sagte er endlich.
– Na? erwiderte ich.
Er lachte.
– Schießen könnt' ich mich, Henry Benrath auf einem Lämmerhupf auf Kobolnow! Was es nicht alles gibt!
– Was wissen Sie von Henry Benrath?
– Alles, mein Verehrtester. Alles! Machen wir bloß kein Kukelores! Sie werden doch von einer Nummer wie mir nicht erwarten, ich sei so ungebildet wie diese Dickwurz-, Gersten- und Kiefernbarone hier, in deren Gesellschaft Sie sich aber offenbar recht wohl fühlen? Glauben Sie denn, ich hätte Ihren »Segen der Dummheit« nicht gelesen, und ich kennte nicht den seltensten aller Privatdrucke, ich meine die unverschämteste aller politischen Satiren, welche sich betitelt: »A. A. Zimmer 16 C3 oder Burggrafendämmerung«? Gesund gelacht hab ich mich an diesen Büchern, wenn es mir so dreckig ging, daß ich nicht einmal mehr wußte, wo ich am nächsten Tag noch einen Juden hineinlegen könne . . .
– Und was tun Sie denn hier auf diesem Lämmerhupf?
– Das würde ich mich – vom Standpunkt des reinen Vergnügens aus, allerdings auch fragen müssen. Aber man kann ja schließlich noch andere Gründe haben, 157 auf ein Fest zu gehen. Zum Beispiel, um eine einzige Person eine einzige Minute lang zu treffen und ihr einen einzigen Satz ins Ohr zu flüstern . . .
– Das kann man.
– Und das gedenke ich heute noch zu tun, nachdem all mein Reden bis jetzt vergebens war und es um das Ganze geht.
–So.
– Mit Ihrer gnädigen Erlaubnis.
– Ich habe Ihnen nichts zu erlauben und nichts zu verbieten.
– Das allerdings. Aber Sie werden vermitteln müssen.
– Müssen?
– Jawohl! Sonst gibt es Klamauk. Stunk. Sie sind meine ultimo ratio. Sie sind ein intimer Freund der glücklich ausgezahlten Blanche von Berry. Ich bin auch einmal ihr intimer Freund gewesen. Anders herum. Verstehen Sie? Sie sind ein Weltmann. Sie waren immer auf seiten der Diplomatie gegen die rohe Gewalt und werden es immer sein . . . Stimmt doch?
– Nein. Es gibt Fälle, wo ich ganz und gar auf seiten der Gewalt bin.
– Sieh da. Ich stoße auf unerwartete Widerstände. So muß ich sie also brechen.
– Wie wollen Sie das machen?
– Nur Geduld, hoher Herr, das werde ich Ihnen gleich sagen . . . Es gibt ja auch in Ihrem Leben allerhand Punkte . . . 158
Ich maß ihn von den Schuhen bis zum Haar und vom Haar bis zu den Schuhen:
– Die Zeit, Herr von Poppritz, die ich mit Ihnen zu sprechen geruhe, bemißt sich nach meinem Willen, nicht nach dem Ihren. Haben Sie mich verstanden? Diese Unterredung ist zu Ende. Ohne Widerruf. Wollen Sie sich das gesagt sein lassen . . .
Poppritz wurde feuerrot bis auf die Stirne. Die Stirn wurde feucht. Er wischte sich mit dem Tuch die Feuchte fort und klemmte die Zigarette in den verzogenen Mund.
– Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr von Poppritz, so ist es dieser: Verschwinden Sie sofort durch diese Tür, die in den Flur mündet, ehe man Sie herausschmeißt. Blanche hat gesprochen.
– Ist das wahr?
– Ja. Zu Eugo. Vermutlich auch zu Solduan. Nun ist Laura bei ihr. Gehen Sie, gehen Sie ganz rasch. Wenn Eugo hierherkommt, was jede Minute geschehen kann, ist es zu spät. Gehen Sie noch in dieser Sekunde. Unsere Unterhaltung ist dann nie gewesen. Das verspreche ich Ihnen. Sie haben einen schweren Grippeanfall bekommen.
– So. Einen Grippeanfall, sagte Poppritz, mich ebenfalls von oben bis unten messend. Ich gehe.
Ich trank irgendein noch gefülltes Madeiraglas aus, das auf dem Tisch stand. Als ich eben in den Tanzsaal gehen wollte, wo die ersten Walzerklänge zu wiegen begannen, betrat Eugo den Raum: 159
– Ich denke, Poppritz ist hier?
– Alles erledigt, Baron Lagosch . . . Hören Sie? Das ist die Hupe seines Wagens.
Eugo ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht:
– Er hatte von Blanche gefordert, sie solle ihn heiraten und heute ihre Verlobung mit ihm bekanntgeben. Wenn nicht die Entscheidung bis zum Diner gefallen sei, werde er ihr ein Ultimatum stellen, das sich gewaschen habe . . .
– Er wird ihr keines mehr stellen, seien Sie sicher . . .
– Und das nennt sich Baron Poppritz, sagte Eugo. Und das hatte eine Großmutter, die den Namen Lagosch trug . . . Es ist weit mit der Jugend unseres Standes gekommen!
– Aber Herr von Lagosch! Wie können Sie so verallgemeinern! Was hat ein Fall Poppritz mit Ihrem Stand zu tun?
– Daß nur ein einziger solcher Fall möglich ist! Daß so etwas überhaupt möglich ist!
– Kommen Sie! sagte ich. Schwamm drüber. Wir haben bös geträumt! Da drüben ist ein Fest . . . Und da gehören wir hin . . .
Er nahm meinen Arm, und wir schritten langsam durch das Billardzimmer, den gelben Salon und den Musiksalon bis zur Schwelle des großen Tanzsaales.
– Wissen Sie denn nicht, wo Poppritz ist? schrie uns die Baronin Dorwall entgegen. Er hatte mir diesen 160 ersten Walzer versprochen, aber er ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
– Poppritz hat mich gebeten, ihn bei Ihnen zu entschuldigen. Deshalb komme ich eben gerade in den Tanzsaal. Er hat einen heftigen Grippeanfall bekommen und ist nach Hause gefahren.
– So, so, sagte sie . . . Jedenfalls ein recht plötzlicher Anfall . . .
– Nicht so plötzlich, Baronin, wie Sie glauben, ergänzte Eugo. Er war schon, als er kam, nicht in Ordnung.
– Schade, meinte sie. Und, zu mir gewandt: Sie tanzen nicht?
– Ich bedaure unendlich, Frau Baronin. Ich tanze nicht Walzer.
– Dann muß ich mir jemand anderes suchen . . .
Und sie wogte davon, ein gewaltiges, blau- und rotbeblümtes Etwas mit einem Fächer aus schwarzen Straußenfedern.
– Ach, da sind Sie ja endlich, rief die Fürstin Kaatzenstein mir entgegen, als ich in die Halle trat. Ich habe schon ein paarmal nach Ihnen gefragt, aber man konnte Ihrer nicht habhaft werden.
– Sie werden mir glauben, daß ich wirklich lieber hier mit Ihnen geplaudert hätte als mich um andere Dinge zu kümmern, sagte ich. Aber Sie wissen ja, daß 161 ich Laura versprochen habe, ein bißchen überall zu sein . . .
– Aber jetzt bleiben Sie bei mir! Ich bin diese ewigen Honneurs, die mir hier von Krethi und Plethi gemacht werden, müde . . . Ach Gott, diese verdammte Perücke will doch heute gar nicht sitzen. Wissen Sie, zu Abendgesellschaften setze ich immer eine weiße Perücke auf. Denn ich trage immer nur weiße Abendkleider. Die kastanienbraune Tagesperücke sieht dazu nicht gut aus. Sie sticht so unangenehm ab. Sie ist auch ein bißchen passée . . .
– Warum tragen Sie nicht immer das weiße Haar, das Ihnen so gut steht?
– Wie können Sie mich so etwas fragen? Es macht mich am Tag ja viel zu matronenhaft und unterstreicht viel zu sehr mein Alter. Es ist gräßlich, tagsüber als würdige alte Dame herumzulaufen. Sie mögen mich lieber in der Abendaufmachung?
– Fürstin: Ich mag Sie in jeder Aufmachung. Denn hinter jeder steckt ja der gleiche Mensch.
– Wie Ihnen das so vom Munde geht, lächelte sie, und mir herunter! Sie sind auch einer von denen, die nie um eine Antwort verlegen sind!
– Ich glaube, Durchlaucht, gerade in diesem Punkte sind wir beide sehr ähnlich.
Sie lachte und schlug sich mit dem Fächer auf die Knie:
– Das läßt sich wohl behaupten . . . Und es wird mir ja wohl nicht erspart bleiben, noch allerhand 162 Antworten zu erteilen . . . Es sind da Leute, die mich schon durch ihre bloße Gegenwart reizen. Diese Schwennemanns kann ich nicht leiden. Ich verstehe gar nicht, was Eugo und Laura an ihnen finden. Er ist doch ein gräßlicher Kerl. So ein Schieber in Leitartikeln. Sie mag ja noch hingehen. Aber ihr Getu mit diesem Onkel da in Bayern und seinem Institut für Seelenmassage wächst mir zum Hals heraus! Für alle Weiber, die da Jahr um Jahr ein paar Wochen in diesem Freudenhaus sitzen, ist der ganze Spuk doch nur ein Schwindel! Man sagt Patati und meint Patata – und könnte den Knalleffekt viel billiger haben, wenn man nur etwas mehr Courage hätte! Voilà tout . . . Dann sind da diese Dorwalls! Eine infame Rasse! Sehen Sie sich nur diesen Sohn an! Die Unappetitlichkeit in Person . . . Dieser Mund, diese Hände! Diese Aufgeschwemmtheit im Frack . . . Sie selbst geht ja noch. Sie hat etwas geleistet . . . Aber dieser Mann! Dieser ausgelauchte Kabliau . . . Und dann dieser Gericke mit seiner Sippschaft! Sehen Sie, Henry: an solchen Pastoren geht allmählich die protestantische Kirche zugrunde, an solchem Ungeist!
Der Walzer war zu Ende. Die Paare strömten in die Halle und die anderen Räume zurück. Gisela näherte sich der Fürstin und mir:
– Darf ich Eurer Durchlaucht die Baronesse Gerda von Tuch zur Tenne vorstellen? 163
Ein langes, in hellblauem Crêpe de Chine zerfließendes Gestell klappte in einer übertriebenen Kniebeuge zusammen. Die Fürstin nahm das Lorgnon vor die Augen.
– Henry Benrath, stellte Gisela weiter vor, als sich das Gestell wieder in seine ursprüngliche Lage zurückgefunden hatte.
Ich erhob mich, meinen Sessel freigebend. Aber da die Fürstin keine Geste zum Niederlassen machte, konnte sich Gerda von Tuch auch nicht setzen.
– Ihre Familie stammt aus Westfalen, sagte die Fürstin.
– Jawohl, Durchlaucht.
– Sind Sie aus dem Arnsberger Zweig?
– Nein, Durchlaucht. Aus der Unnaer Linie.
– So. Ich habe einmal einen General von Tuch als Manövereinquartierung gehabt, ich glaube es war im Jahre 96, wenn ich nicht irre.
– Das war mein Großvater.
– So. Und wie kommen Sie hierher in den Osten?
– Ich studiere Musik auf dem Konservatorium in Augustenburg. Klavier.
– Ausgerechnet in Augustenburg? Sie haben doch da unten Köln und Düsseldorf . . .
– Ich studiere bei Wangemann . . .
– Wer ist das?
– Lujo Wangemann, der berühmte Pianist . . .
– Ich kenne keinen berühmten Pianisten dieses Namens. Ist er denn ein guter Lehrer? 164
– Wir schwärmen alle für ihn . . .
– So. Aber das beweist ja noch nichts . . . Und machen Sie viel mit?
– Sehr wenig, Durchlaucht. Ich lebe ganz meiner Musik.
Die Fürstin verzerrte den Mund . . . Dann wandte sie sich zu Gisela und begann mit ihr ein Gespräch über Frauenstudium.
– Ich freue mich so sehr, Sie kennenzulernen, Herr Benrath. Meine Kusine Klara von Kreuth hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie schriftstellert nämlich auch. Sie hat gerade Ullstein einen Rennroman eingereicht – und wird auch nächstens ein paar mondäne Skizzen in »Sport im Bild« bringen.
– So. Ich kenne aber Ihre Kusine nicht.
– Ach, Sie kennen sie nicht? Ich denke doch, Sie haben sie bei van Looses kennengelernt?
– Bei van Looses? In Aachen?
– Ja.
– Möglich, aber ich kann mich wirklich nicht entsinnen. Vielleicht verwechselt sie mich mit meinem Namensvetter Benrat ohne h, mit dem Vogelschriftsteller? Das kommt nämlich öfters einmal vor . . .
– Ach so . . . machte Gerda Tuch verlegen . . . Das könnte allerdings sein. Es muß wohl sogar so sein . . .
– Es war bei mir genau so, sagte die Fürstin, welche die letzten Sätze aufgefangen hatte. Aber diesen Jagdschriftsteller Benrat ohne h kann diese Dame doch 165 nicht mehr gut in Aachen kennen gelernt haben. Da ich mich nämlich für ihn interessiere, habe ich vor kurzem erfahren, daß er schon vor zwanzig Jahren als sechzigjähriger Mann im afrikanischen Busch verschieden ist.
Gerda von Tuch errötete.
– Na, vermittelte ich, wie dem auch sei: jedenfalls, Baronesse, kennen wir uns nun.
– Ja, lachte sie hysterisch . . .
Die Quadrille begann. Gisela und Gerda wurden von ihren Herren abgeholt.
– Einfältige Pute, fauchte die Fürstin hervor, als die Mädchen verschwunden waren. Ihre Augen funkelten vor Zorn. Sehen Sie, Henry, das sind diese Verlogenheiten, die mich heute noch zur Raserei bringen können! Da sucht sich irgend so ein adliges Frauenzimmer einen Mann zu gattern, fliegt auf allen Bällen des Landes herum – und nennt das Ganze: »ich lebe ganz meiner Musik«. Meiner Musik! Als ob der liebe Gott für solche Zippen eine Musik geschaffen hätte! Es fehlte nur noch, daß sie uns später das »Gebet der Jungfrau« in der Transskription von diesem Lungermann zum Besten gäbe . . . Kommen Sie, Henry, wir wollen in den Tanzsaal gehen. Diese »Lanciers« möchte ich mir doch von der Nähe ansehen. Auch kommt ja gleich danach die Aufführung der Lehrerin mit den Dorfkindern . . .
Sie nahm meinen Arm, und ich führte sie in den Tanzsaal. 166
– Wo ist nachher der Erntetanz? fragte sie Johann, den alten Diener des Schlosses Kobolnow.
– Hier, Durchlaucht, mit der Front gegen den Kamin, damit man sowohl von der Halle als auch vom Musiksaal aus gut sehen kann.
– Schön. Also stellen Sie einmal jetzt schon da drüben hin, gegen die Musikzimmertür, zwei Sessel.
– Es wird sofort geschehen, Durchlaucht . . .
Wir setzten uns, während die Carrés der Quadrille sich formten.
Die jüngste Jugend – vor allem Giselas weibliche und männliche Klassenkameraden – hielten sich von diesem Tanze fern. Sie kannten ihn nicht mehr – und ein kollektiver Reiz wäre ihnen bestimmt nicht mehr zu erschließen gewesen: um so weniger, als sie selbst von dem Wahnbild eines ganz anderen Kollektivs besessen waren. Sie blieben plaudernd in der Halle sitzen – einzelne Paare tanzten eine Art Step auf dem Teppich des Musiksalons. Die Fürstin hatte ihr Lorgnon hochgehoben und verfolgte aufmerksam die Bewegungen der Quadrilletänzer.
– Wo ist denn eigentlich nur Blanche – und wo ist Laura – und wo ist der Graf Solduan?
– Laura ist in den Wirtschaftsräumen, log ich. Blanche und Michael hatten von vornherein die Absicht, erst zum Diner zu erscheinen.
– Eigentlich haben sie ja recht. Was gehen beide im Grunde diese Schattenspiele aus abgeklungenen Zeiten 167 an? Wissen Sie, mein Lieber, wenn ich hier vor mir diese Reihen sich schlingen und lösen und wiederfügen und wiederlösen sehe, wenn ich diese Musik höre, die so alt ist wie ich selbst und noch viel älter: dann hört jedes Gefühl für die Zeit und ihr spezifisches Gewicht auf. Ich kann in meinem Hirn eine kleine Schraube umdrehen, einen kleinen Hebel umstellen: und nichts mehr von heute ist, sondern was ich gerade will: Ballbilder mit ihren verwandelbaren Hintergründen aus allen Jahren meines Erinnerns. Nur ein – allerdings gewaltiger – Unterschied besteht: der Hintergrund dieses Balles hier und dieser Quadrille ist eine Auflösung. Auflösung einer Zeit, Auflösung einer Gesellschaft. Wer es nicht wittert, an dem Drum und Dran, der würde es vielleicht erkennen, wenn man ihm die wirtschaftliche Lage aller dieser Figuranten mit Ziffern belegte. Wem von diesen Tänzern gehört denn noch, was er besitzt? Die Hälfte allen Besitzes ist verpfändet: dem Staat, dem Fiskus, den Steuerbehörden. Oder den Banken. Wann die andere Hälfte darankommt und unter welchen Umständen: das wissen die Götter. Glauben Sie, daß einer der von solchem Schicksal Bedrohten den Mut aufbringt, diese Dinge bei ihrem Namen zu nennen? Niemand. Ich habe öfters einmal versucht, zu sagen, was ich sehe. Ich habe es rasch wieder aufgegeben. Sehen Sie, diese kleine und energische Gisela: die hat die Lage erfaßt! Eugo ist wirklich noch, was man einen sehr vermögenden Mann nennen kann: aber Gisela ist 168 mehr: sie stellt sich ganz auf eine Leistung, die von morgen vielleicht nicht mehr bestehenden Grundlagen unabhängig ist. Sie studiert Medizin – aber diese widerwärtige Gans von Baronesse Tuch widmet sich ausschließlich »ihrer« Musik! Sehen Sie sie sich an – da vor uns manövriert sie mit diesem Leutnant Wermuth oder wie er heißt – wie sie sich ausschließlich ihrer Musik widmet! Eine Stallmagd ist mehr wert: denn die füllt wenigstens den ihr vom Leben angewiesenen Platz aus! – Ach, da tanzen die Woltersthals. Das sind nette Leute. Kennen Sie sie? Nein? Dann werde ich Sie mit ihnen einladen. Ein guter Gedanke. Wissen Sie was, Benrath? Es kommt mir eben die Lust, noch ein kleines Diner zu geben, solang Sie hier sind. Ich will Ihnen einmal ein paar wirklich charmante Menschen aus dem deutschen Osten vorführen. Haben Sie Lust?
– Wie können Sie fragen, Fürstin?
– Also wie wäre es Dienstag abend um acht Uhr?
– Tausend Dank – und zählen Sie auf mich.
– Ich möchte auch Blanche, Gisela, Solduan und – – wissen Sie, wen ich noch möchte? Das erraten Sie nie und nimmer! Ich habe eine heimliche Liebe – und die ist verkörpert in der Person des kleinen Wladimir Rizzoni.
– Dann haben wir dieselbe Liebe, Fürstin.
– Ach, Benrath, es freut mich ungemein, daß Sie auch den großen Wert dieses Jungen erkannt haben. 169 Das ist der vollkommene Edelmann . . . nicht aus seinem gesellschaftlichen Stand, sondern aus seinem Blut heraus. Das ist, was Wildenbruch das edle Blut genannt hat . . . Und dieses Blut wird nicht untergehen. Denn es weiß noch, was es sich selbst schuldig ist.
Die Quadrille, welche bei langen Kettenbildungen angekommen war, hatte einen fast heftigen Rhythmus angenommen. Die Arme schlugen und schlenkerten, die Beine stampften, die Köpfe glühten.
– Da haben Sie die Grazie des Rokoko, sagte die Fürstin.
Die Röcke der rückwärts Schreitenden wehten schon fast bis an unsere Knie.
– Glauben Sie, daß solche Rücksichtslosigkeiten vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Niemals. Es fehlte nur noch, daß sich dieser dicke Papagei da mir im Stolpern auf die Knie setzte. Wer ist denn diese buntgescheckte Person überhaupt?
– Eine Frau Malrisch, die Schwester der Pastorin.
– Und der Hengst, der da mit ihr herumtobt?
– Ein Herr von Meyenburg, Verwalter der Fürstin Ponim.
– Ach so, deshalb . . .
– Wieso deshalb?
– Na, wissen Sie denn nicht? Was sich die Ponim herankommandiert, ist immer von diesem Format. Sie hat recht, Benrath. Sie hat vollkommen recht! Sie ist 170 wenigstens ehrlich. Ich dachte übrigens, sie heute abend hier zu finden.
– Sie ist, soviel ich weiß, bei ihrem kranken Sohn in Oxford.
– Ach ja. Stimmt. Ein netter Bengel, dieser Äxi. Sehr, sehr klug. Sein Steckenpferd sind altgriechische Inschriften.
– Aber mein Gott, warum geht er denn da nach Oxford?
– Das ist wohl nur sehr vorübergehend . . . Mehr die englische Marotte seiner Mutter . . . Bitte sehen Sie sich nur diese Witwe Malrisch an! Könnte man nicht eine Komödie schreiben: Witwe Malrisch? Lediglich um dieses Titels willen?
– Schlußrunde! ertönte das Kommando der Quadrille. Herren rechte Hand, Damen linke Hand!
An der Tür zur Halle erschien Laura Lagosch und überschaute das wogende Durcheinander. Ihr Gesicht war beruhigter. Sie schien zufriedener. Als sie uns gewahrte, kam sie zu uns herüber . . .
– Das ist nett, sagte die Fürstin. Nun bleiben Sie mal bei mir, wenn der Erntefestzauber der Lehrerin steigt. Ich habe mit Benrath schon so viel geschandmault, daß ich endlich an Ketten gelegt werden muß. Das können Sie so schön, liebe Laura. Sie sind so wohlanständig!
– Ja, sagte Laura, wenn ich ein Fest gebe, muß ich das ja wohl sein. Leider! Denn es ist immer viel schöner zu schandmaulen . . . 171
Ich war aufgestanden und hatte Laura meinen Sessel gegeben.
– Sie sollen aber in meiner Nähe bleiben, sagte die Fürstin. Vielleicht gibt es doch noch ein paar Bosheiten zu placieren.
– Ich stelle mich hier neben Sie, an den Türpfosten des Musikzimmers.
Die Quadrille war zu Ende. Ein Tusch wurde geblasen, und der Diener Anton rief aus:
– Es folgt nun unmittelbar die Tanzvorführung Fräulein Äscherischs mit Kindern der Groß-Kobolnower Gemeindeschule. Die dargestellte Szene trägt den Namen: Von der Saat zur Ernte. Die Dichtung und die Musikanordnung sind von Herrn Hauslehrer Studienreferendar Müller. Die Damen und Herren werden gebeten, sich an der Kaminwand des Tanzsaales sowie in den Türen nach Halle und Musiksalon zum Zuschauen zu gruppieren.
Die Kapelle spielte einen kurzen Marsch. Man schob die Stühle für die Damen zurecht, verteilte sich hinter ihnen und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Ich hatte mich zuerst so gestellt, wie ich es der Fürstin gesagt hatte, zog es aber vor, ein wenig nach rückwärts in den Musiksalon zu treten, als ich dort eine Gruppe von Herren aufgepflanzt gewahrte, deren Kommentare zum Tanz der Lehrerin mir vielversprechend zu werden schienen. Es hatten sich nämlich da zusammengefunden Elsenburg, der junge Dorwall, 172 der Leutnant Bormuth, der Leutnant Kleppermann, Referendar von Meisenfels, der Spinnereibesitzer Bentok und der Bankier Wollenkamp. Bormuth, der sich – ich weiß nicht aus welchen Gründen – schon zweimal während des Nachmittags sehr zuvorkommend gegen mich gezeigt hatte, winkte mir mit der Hand.
– Darf ich Ihnen noch einen Platz schaffen, Herr Benrath?
– Vielen Dank! Gerne . . .
– Ich denke mir, man sieht sich das besser auf so'n bißchen Entfernung an, meinen Sie nicht auch?
– Möglich, Herr Bormuth, ich habe ja keine blasse Ahnung, was nun kommt!
– Ach so . . . ich dachte, Sie wären eingeweiht!
– Absolut nicht. Ich habe die Lehrerin nie gesehen.
– Ich auch nicht. Man hat mir nur fabelhafte Schilderungen von ihr gemacht. Sie soll ja eine wahre Brunhilde sein.
– Stimmt, sagte Dorwall.
– Aber dunkel is se? fragte Elsenburg.
– Jawohl, fast schwarz.
Bormuth klemmte das Monokel in das hübsche, sinnliche Gesicht. Er war einen Kopf größer als ich, schmal in der Hüfte, sehr breit über die Brust und die Schenkel, hatte gewaltige, gut gepflegte Hände und ausgezeichnete Beine. Dabei hatte er nicht für einen Heller Rasse. Er war nur ein Träger männlichen 173 Geschlechtes. Nichts sonst. Nicht einmal Offizier. Trotz der brillanten Uniform.
– Wohnt diese Dame hier im Schloß? fragte er mich.
– Nein. Soviel ich weiß, wohnt sie im Dorf drüben . . .
– Ah – das ist ja günstig, meinte er.
– Wieso günstig? fragte Dorwall.
– Abwarten!
– Sie ham wohl Absichten? schmunzelte Elsenburg.
– Abwarten!
– Is se nich Ihre Tischdame?
– Eben deshalb bin ich ja neugierig . . .
– Dämpfen Se runter, dämpfen Se runter! Is nich weit her! sagte Bentok.
– Kennen Sie se denn?
– Vom Sehen, Elsenburg. Als ich's letzte Mal hier war, hat se ooch so 'ne Zicken gemacht. Aber alleene. Un ohne Musike. Wissen Se, meine Herrn, ich laß mich nich gern für nischt und wieder nischt uffregen . . .
– Also sex-appeal hat sie doch? meinte Bormuth.
– Wie alt sind denn die kleinen Mädchen, die da mitmimen? fragte der Leutnant Kleppermann. Sind die schon alt genug zum Kuscheln?
– Ich weiß ja nicht, wie weit Sie runter gehn, Kleppermann, aber über zwölf sind sie bestimmt nicht, sagte Dorwall.
– Schade! Schade! Ja Bormuth, Sie haben's gut! Kein Genre, keine Farbe . . . was kommt und wie's kommt . . . Aber solche wie ich . . . Haben Sie 'ne Ahnung . . . 174
Ein Tusch wurde geblasen. Die Stimmen wurden leiser. Die Hälse reckten sich . . . Am weitgeöffneten Flügel des Musikzimmers begann der Hauslehrer Müller die Ouvertüre, unter deren etwas düsteren Klängen Frieda Äscherisch mit ihren Trabanten von der Halle her in den Tanzsaal marschierte. Sie war mit einer Dora-Duncan-Tunika aus schwarzer Seide bekleidet. Beine und Arme waren nackt, der Brustausschnitt tief, das Haar fiel offen bis zur Schulter. Die sechs Knaben trugen genau den gleichen Anzug in blauem Satin, die sechs Mädchen in rotem.
Kerzengerade stand die Tanzgruppe.
– Donnerwetter, sagte Bormuth an meinem Ohr, das Mädel kann sich sehen lassen! Und wie! Alle Achtung!
Einen Augenblick lang schwieg die Musik. Dann setzte eine dunkle, einfache Melodie ein. Und gleich darauf sang, einstimmig, der Chor zu gleichmäßig ausladenden Schrittbewegungen nach links – dann rückwärts nach rechts in der Diagonale des verfügbaren Raumes:
Senkt das Korn zur Erde!
Betet, daß es werde
Halm und Frucht im Sonnenschein.
Senkt es ein! Senkt es ein!
Möge Gottes Segen,
Wind und Regen
Ihm beschieden sein! 175
Die Strophe wurde nur ein einziges Mal gesungen. Aber die Säbewegung mit knappen, harten Ausfällen der Arme und Beine in vier verschiedenen Abwandlungen dargestellt. Dabei wurden Weizenkörner ausgestreut. Plötzlich löste sich die enggeschlossene Phalanx der Kinder auf, jedes Kind stand einzeln, ein blaues, ein rotes, ein blaues, ein rotes, und die Lehrerin wich aus unbekannten Gründen bis gegen die Tür des Musikzimmers, die langen nackten Arme wie verlangend gegen die zurückgebliebenen Kinder ausstreckend.
Bormuth schaute in den tiefen Rückenausschnitt. Er witterte, schnupperte . . .
– Suchen Sie sich mal den Rücken, flüsterte er mir zu.
Die Musik wechselte abermals. Sie wurde leichter. Die Kinder begannen wie im Traum zu wiegen. Die ferne Führerin sang, mit einer angenehmen Altstimme, fast leise:
Roten Mohn und blauen Stern
Siehst du nah und siehst du fern
Sich in Ähren schmiegen,
Die im sommerlichen Winde,
Leis und linde,
Ihre Fülle wiegen.
Blühe, blühe roter Mohn!
Blühe, blaue Blume!
Blühe Gott zum Ruhme!
Erntemonat naht sich schon! 176
Lange, nachdem die Stimme verklungen war, wiegten noch die Kinderkörper weiter, während die Führerin mit ganz kleinen, schwebenden Schritten wieder ihrer Gruppe zustrebte und schließlich in deren Mitte auf die Knie sank. In diesem Augenblick begann auf dem Flügel ein dunkles Donnerrollen, Blitze sausten aus den obersten Tönen durch die Tastatur nieder, Regen prasselte in entliehenen Debussyschen Septimen und Nonen – Lehrerin und Chor aber, an der Erde hockend, riefen im Sprechgesang:
O Herr, verschone vor Hagel und Brand
Das teure, das reiche, das schwellende Land,
Wir flehn auf gebogenen Knien,
Die Wetter vorüber laß ziehen!
Wir brauchen das Korn, wir brauchen das Brot,
Denn groß ist, Gebieter, im Lande die Not!
Wir wollen sie gerne ertragen,
Wenn bald nach den schrecklichen Tagen
Uns winkt eine bessere, schönere Zeit,
Die uns aus der Schmach und den Fesseln befreit!
Schon beim Sprechen der letzten Zeile schien mir in der Musik ein Motiv anzuklingen, das an das bekannte Reiterlied erinnerte: »Wohlauf, Kameraden . . .« Ich hatte dies kaum überdacht, als die Melodie des Liedes selbst aus den Saiten aufdröhnte und gleichzeitig vierundzwanzig Kinder- und zwei Jungfrauenfüße den 177 Parkettboden zu stampfen begannen. Die Arme aber machten von rechts oben nach links unten die Bewegung der mähenden Sense nach. Der ganze Chor, sich langsam verschiebend und allmählich in Kreisbewegung einlenkend, sang, immer unter den gleichen, sausenden Bewegungen der Arme:
Wohlauf, ihr Knechte, ins Feld, ins Feld,
Und die Sense, die Sichel geschwungen!
Die Ernte ist reif in der preußischen Welt
Und ist wunderbar herrlich gelungen!
Nun holt sie mit Fleiß in die Scheunen ein,
Und ihr Spender soll ewig gepriesen sein!
Wohlauf, ihr Mägde, zum hurtigen Schnitt,
Und reiht euch den Männern zur Seite!
Und mäht mit kräftigen Armen mit
In der wogenden, goldenen Weite!
Wo das Weib mit dem Manne gemeinsam schafft,
Ward noch immer der Wohlstand des Volkes errafft!
Die Musik riß mit dem letzten Ton des Liedes ab – schwieg – die Mähbewegung erstarrte jählings – abermals sank der ganze Chor in die Knie, die ausgestreckten Arme, Handflächen nach außen, hoben sich in die Höhe, die Oberkörper bogen sich nach rückwärts – und aus den Saiten erklang, in ihrem letzten Ton in die Schlußfermate von C-Dur hinaufgeschoben, 178 die Melodie der ersten Zeile aus dem Liede: Nun danket alle Gott.
Der Chor sang nicht mehr. Er verharrte schweigend am Boden. Und schweigend verharrte, wie versteint, die Lehrerin in ihrer Geste.
– Donnerwetter, sagte Elsenburg, während der Beifall einsetzte, zu Bormuth. Donnerwetter! Da is ja allerhand zu tun. Nun bringen Se mal die Mänade durch den kühlen Schnee nach Hause und zeigen Se ihr, was Hors d'oeuvres sind!
Ohne noch ein Wort an uns zu richten, verschwand Bormuth. Die anderen Herren gingen in den Tanzsaal.
Eine Hand legte sich von rückwärts auf meine Schulter.
– Was machen Sie für ein Gesicht? fragte die Stimme Michaels.
Ich wandte mich um:
– Sind Sie denn hier unten? Ich dachte, Sie sind bei Blanche?
– Da es Blanche besser geht, konnte ich es mir nicht verkneifen, diesen Erntetanz anzusehen. Er scheint ja auf Sie nicht gerade die Wirkung ausgeübt zu haben, die ich erwartet hätte.
– Welche Wirkung auf mich hatten Sie denn erwartet?
– Sie können doch so herrlich lachen, Henry. Ich dachte, ich finde Sie fast am Boden liegen. 179
– Dachten Sie das wirklich? Dann würden Sie mich jedenfalls nicht sehr gut kennen. Nein, Michael, es ist mir ganz und gar nicht zum Lachen. Es ist mir eigentlich eher zum Weinen . . . Ich gestehe Ihnen das ein, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen Philister halten.
– Ich muß Ihnen offen sagen, daß ich Sie im Augenblick nicht ganz verstehe.
– Das kann ich mir ganz gut vorstellen. Und ich weiß auch nicht, ob ich Ihnen werde erklären können, warum mich gerade diese Vorführung so sehr bedrückt hat. Ich kann mich halbtot lachen über das vollendet Komische oder das vollendet Groteske. Dieser Erntetanz aber war weder das eine noch das andere. Er war so gespenstisch, daß einem das Gruseln kommen konnte. Er war das peinlichste Allotria, das Halbbildung mit sakrosankten Dingen treiben kann. Sie wissen, wie Laura sich gegen diese Vorführung gesträubt hat. Sie mußte also wohl ahnen, was davon zu erwarten war. Es tut mir leid, daß sie nicht den Mut fand, sie zu verhindern.
– Ja, das hätte sie allerdings tun sollen. Aber sie wollte die Lehrerin nicht verletzen, die sich ja angeboten hatte.
– Warum müssen solche Leute sich anbieten, anstatt abzuwarten, bis man sie auffordert?
– Das ist ja der wunde Punkt, lieber Henry. Obwohl sie in nichts von den Schloßbewohnern abhängen, 180 schmeißen sie sich an. Sie wollen sich beliebt machen – und sie wollen bemerkt werden . . . Falsches Geltungsbedürfnis, gemischt mit Servilität. Henry, glauben Sie mir: wir sind in diesen östlichen Landstrichen so sehr an derartiges gewöhnt, daß es uns gar nicht einmal mehr auffällt.
– Aber eine Schicht, die sich so etwas gefallen läßt, muß doch selbst schon angefressen sein . . . Ein wirkliches Herrentum verbittet sich solche Widerwärtigkeiten und versteht es, sie schonungsvoll abzuwehren.
– Sie haben völlig recht. Aber ich muß noch einmal wiederholen: ich wundere mich, da Sie unsere Kreise doch ziemlich gut kennen, daß Sie ein solcher Fall überhaupt erregt, ja daß er Ihnen überhaupt als das Nichtselbstverständliche erscheint . . . Nach welchem Maßstab messen Sie denn eigentlich noch diese sterbende Welt? Sollten Sie – der unromantischste aller geistigen Deutschen, die ich kenne – gerade da noch einen romantischen Komplex haben, wo man es am allerwenigsten vermutet?
Wir setzten uns auf das Wandsofa. Ich selbst mochte nicht sprechen. Michael fuhr fort:
– Sehen Sie, Henry: Vielleicht verstehen Sie jetzt noch den ganz gewichtigen persönlichen Grund, der mich nicht eine Sekunde zögern ließ, mein polnisches Erbe anzutreten und alle – aber auch wirklich alle – Folgen dieses Schrittes auf mich zu nehmen. Ich wollte, ich mußte hier heraus! Ich wollte gewiß nicht fort 181 von den paar reizenden Menschen, die ich hier kannte. Aber ich wollte fort aus dieser ganzen Atmosphäre, in der ein unabhängiger Geist erstickt. Vielleicht kann man diese Atmosphäre ertragen, wenn einem hier Grund und Boden gehört, mit dem man verwachsen ist. Erde verpflichtet. An diesem Satze lasse ich nicht rütteln. Erde verpflichtet auch zu manchen Opfern. Zu geistigem Stillstand aber und zu seelischer Verdumpfung verpflichtet sie bestimmt nicht. Was sollte mich hier festgehalten haben? Was stand gegen was in dem Augenblick als die Erbschaft Stasyn an mich fiel? Ein Hintrotteln in einem gewohnten, nicht einmal sonderlich geliebten Geleise gegen eine zu vollbringende Leistung und gegen einen Kampf für wirkliche Werte. Die äußere Einsamkeit dort oben in Polen schreckt mich ganz gewiß nicht. Im Gegenteil. Sie zieht mich an und fördert mich. Wen ich gerne sehen will, den kann ich mir ja einladen. Und wen ich nicht um mich haben möchte, den sehe ich Gott sei Dank nicht mehr. Hier bin ich – durch meinen Namen – ein besitzloser Feudaler unter besitzenden Feudalen. Dort oben bin ich der Mensch, der ich sein will und kann. Ich habe unendlich viel mehr Lasten und Verantwortungen, aber ich habe auch ganz anderen Spielraum und ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten. Außerdem kann ich wirklich vielen Menschen Gutes tun und ein Rückhalt sein. Ich nenne mich Pole und bin deutsch. Hier nenne ich mich Deutscher und bin – 182 preußisch. Denn so ist im Grunde heute noch die Formel, auch wenn sich die Weitsichtigeren gegen diese Formel wehren! Sie sind in der Minderheit und also ohne Macht. Diese Formel aber ist zugleich auch das Schicksal der adligen Oberschicht, das Sie sich hier vollziehen sehen. Ich selbst glaube an Deutschland. An das aber, was man die besonderen preußischen Werte zu nennen pflegt, glaube ich nur noch insofern, als diese Werte sich den völlig veränderten Zeiten anpassen und in den obergeordneten deutschen Inhalten aufgehen. Der Kampf mag lange währen, es mag große Rückschläge geben: aber wenn er einen Sinn haben soll, kann er nur so entschieden werden, wie ich es andeutete. Vorrechte, die verbraucht sind, können keine Vorrechte mehr bleiben in dem ungeheuren Umwandlungsprozeß, in den wir eingetreten sind. Immer wird gelten, daß noblesse oblige. Wenn sich diesen Satz die Söhne des Adels merken, werden sie fähig sein, sich eine neue Position zu erobern, indem sie sich zu Dienern der kommenden Dinge machen. Das habe ich hundertmal meinen Standesgenossen gesagt, das werde ich so lange sagen, als ich sprechen kann.
Kämpfen Sie denn, Henry, in geistigem Bereich nicht in einer ganz ähnlichen Stellung wie ich? Sie nennen sich Deutscher – und sind doch, Ihrer ganzen Struktur nach, schon völlig europäisch! Viel europäischer, als Sie selbst es vielleicht fühlen können! 183 Bei Ihnen, wie bei mir, umschließt ein größerer Seins-Ring den kleineren. Und bei uns beiden muß dieser kleinere da sein, damit sich der größere formen kann.
– Ich sollte fast der Lehrerin Abbitte tun, sagte ich. Ohne ihren Tanz hätten wir dieses Gespräch nicht geführt.
– Vielleicht jetzt nicht, Henry. Aber bestimmt ein anderes Mal. Denn Menschen wie Sie und ich kommen um eine solche Aussprache nicht herum. Und ich hoffe, wir werden sie noch oft aufnehmen und fortsetzen an langen Winterabenden auf Schloß Stasyn.
Wir standen auf und gingen auch in den Tanzsaal hinüber, um das Nachspiel des Erntetanzes zu sehen.
Man hatte der Lehrerin einen Bademantel und einen Pelz über den Körper gelegt und ihr Sekt gereicht. Die Kinder waren sogleich in die stark geheizten Duschräume des Erdgeschosses geführt worden, wo sich die beiden Gemeindeschwestern ihrer annahmen. Fräulein Äscherisch wurde, nachdem sie ein wenig verschnauft hatte, der Fürstin vorgestellt.
– Es ist ja fabelhaft, sagte diese, wie Sie die dummen Dorfkinder gedrillt haben! Das klappte ja wie auf dem Kasernenhof! Sie müssen sich doch furchtbar mit dieser Sache abgequält haben?
– Eure Durchlaucht sind zu gütig, stotterte die Lehrerin.
– O nein, Fräulein Äscherisch, ich bin gar nicht gütig, ich sage nur, was ich mir so denke . . . 184
– Ja, Mühe hat es natürlich gemacht . . . Aber was macht schließlich nicht Mühe, wenn es etwas Rechtes sein soll!
– Sagen Sie, fuhr die Fürstin fort, Sie sind wohl Schülerin dieser bolschewistischen Tänzerin, von der man heute so viel redet . . . na, wie heißt sie doch . . . ich meine diese Person mit den Männerschenkeln . . . ach ja, ich meine diese Mary Wigwam?
– Ja, fiel sofort Laura ein, Fräulein Äscherisch ist Schülerin von Mary Wigman, aber doch nur in bedingtem Maß. Sie hat ihre eigenen Ideen.
– Ja. Das schien mir auch so. Meinen Sie nicht auch, Henry?
– Aber das war doch deutlich zu erkennen, sagte ich.
Die Fürstin wandte sich zur Gräfin Woltersthal, welche sich einen Weg zu ihr gebahnt hatte. In diesem Augenblick trat Bormuth heran.
– Darf ich bitten, Frau Baronin, wandte er sich an Laura, mich meiner Tischdame vorzustellen?
Es geschah.
– Darf ich Ihnen meine Bewunderung zu Füßen legen, mein gnädiges Fräulein? Das war ja fabelhaft interessant, es war einfach imposant! Wir werden ja Gelegenheit haben, über Ihre Kunst heute abend noch zu plaudern. Ich möchte jetzt nur – da ich gehört habe, daß Sie nicht hier im Schlosse wohnen – um den außerordentlichen Vorzug bitten, Sie nach Hause fahren zu dürfen, sofern Sie mit meiner kleinen 185 Limousine vorlieb nehmen wollen . . . Sie müssen sich noch umziehen – ich werde auf Sie warten, und Sie dann wieder hierherbringen.
– Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Bormuth, sagte Laura. Ich wollte gerade meinen Chauffeur Dominik bitten, Fräulein Äscherisch nach Hause zu fahren: da er aber heute wirklich sehr belastet ist, nehme ich Ihr Anerbieten gerne an. Sie tun mir sogar insofern einen ganz besonderen Dienst, als Dominik sehr bald Frau Benrath in Augustenburg abholeu muß.
Frieda Äscherisch strahlte. Sie begriff noch nicht recht . . . Diesen Bormuth hatte ihr eine gütige Fügung als Tischherrn gegeben? Diesen Prachtkerl? Diesen Hundertprozentigen? Jeder ihrer Blicke verriet, was sie dachte . . .
– Ich darf also meinen Wagen holen? fragte Bormuth.
– Aber gerne, sagte sie. Ich will mittlerweile noch Schuhe und Strümpfe antun . . .
Beide gingen.
– Ach, liebe Laura, sagte die Fürstin, während sie sich erhob, die Saatkörner, welche die Kinder vorhin ausgeworfen haben, müssen hier fortgekehrt werden, man kann sich ja das Genick brechen . . . Wo ist denn diese Wigwam hingeraten? . . . So . . . Ich wollte ihr nämlich gerne noch sagen, sie soll sich doch einmal die Karsávina ansehen . . . oder überhaupt: ein 186 altmodisches Ballett . . . Sind Sie denn nicht auch der Ansicht, Benrath, daß einem die Wahl zwischen Alt und Neu da wirklich nicht schwer fällt?
– Mich können Sie mit der Wigman jagen! sagte ich. Man soll mich ruhig für einen Banausen halten: ich mag sie eben nicht – und damit basta.
– Ich mag sie auch nicht, aber wenn ich an die Pawlowa denke, könnte ich weinen . . . sagte die Fürstin wie zu sich selbst – – und sie hatte plötzlich in ihren kurzsichtigen Augen denselben rührenden und verlorenen Ausdruck, der mich schon bei meiner ersten Begegnung mit ihr auf Schloß Schönfeld so sehr ergriffen hatte.
Ich ging in die Halle zurück, gegen die Treppe, um in das erste Stockwerk hinaufzusteigen und dort nach Blanche zu schauen, wurde aber an meiner Absicht durch den Pastor Gericke verhindert, der mir, gefolgt von Elsenburg, den Dorwalls und dem Grafen Sennewitz, den Weg vertrat:
– Was höre ich soeben, Herr Benrath! rief Gericke. Ihre Frau Gemahlin ist Französin und Schauspielerin zugleich?
– Ja, Herr Gericke. Aber schließlich muß man ja immer Beruf plus Nation sein . . .
– Hahahaha, meckerte Elsenburg. Herr Pastor, da können Se noch was für Ihre Predigten lernen . . . 187
– Ich bin immer bereit zu lernen, Herr Baron, und Sie wissen, daß denen, die Gott lieben . . .
– ooch manchmal das Butterbrot uff die geschmierte Seite fällt, quetschte der junge Dorwall zwischen den rauchgegilbten Zähnen hervor, mit denen er eine halbgekaute Zigarre festhielt, indessen er mit beiden Händen in den Hosentaschen herumfummelte.
– Halte deinen Mund, sagte scharf die Baronin Dorwall. Man hat dich um keine Kommentare gebeten.
Der gerügte Sohn nahm von der Rüge keine weitere Notiz:
– Ich habe ergänzt und nicht kommentiert. Wenn alles so einfach wäre, wie es der Pastor Gericke sagt, dann wäre das Leben ja eine herrliche Angelegenheit.
– Na, Herr von Dorwall: das Ihre dürfte doch wirklich nicht allzusehr belastet sein?
– Meinen Sie? Es fragt sich nur, was man unter Lasten versteht.
– Stimmt! bestätigte ich.
– Sehn Se, Herr Pastor? . . . Ei, da ist ja die kleine Walter . . . Kommt mir sehr gelegen . . . Entschuldigen Se mal 'nen Augenblick . . .
– Es ist wohl seit dem Kriege das erstemal, daß eine Französin den Boden unserer Gemeinde betritt? sagte Gericke zu Elsenburg.
– Erstens, lieber Pastor, stimmt das nich. Un zweitens is Frau Benrath durch ihre Heirat Deutsche. 188 Wollen Se das doch mal nich vergessen . . . Denn ich sehe, wo Se schon wieder hinaus wollen . . . Die erste richtige Französin, die nach dem Kriege hier war, ist die Prinzessin d'Arçailles gewesen, die Kusine des Grafen Rumpler . . .
– Ach ja! Ich habe sie nie gesehen. Sie ist katholisch. Es wurde mir nur berichtet, daß sie sehr regelmäßig nach Augustenburg zur Beichte fuhr. Und zwar zum Bischof selbst.
– Ja, sagte Elsenburg. Wegen der Sprache . . .
– Also Ihre Frau Gemahlin ist tatsächlich Schauspielerin? wiederholte Gericke.
– Sie ist genau so tatsächlich Schauspielerin wie Sie Pastor in Kobolnow sind.
– Und spielt sie mehr ernste Sachen?
– Ganz im Gegenteil. Das kann sie natürlich auch. Aber ihre ganz besondere Stärke sind die leichten, sprühenden, eleganten Rollen der Gesellschaftskomödie oder ausgesprochene Kokottentypen oder auch Molièresche Frauengestalten.
– So. Also eine Rolle wie die Johanna von Shaw würde sie nicht spielen?
– Nein. Da sei Gott vor.
– Haben Sie denn noch keine Abbildungen von Yvonne Pavart gesehen? fragte Carlo Sennewitz.
– Ich muß schon sagen: nein.
– Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Josefine Baker im Augenausdruck . . . 189
– So, so, sagte Gericke. Mit dieser Negerin, die nackt tanzt?
– Ja.
– Und Ihre Frau Gemahlin kommt heute abend noch hierher?
– Ja. In fünfviertel Stunden wird sie hier sein . . . Aber sie reist schon heute nacht wieder nach Danzig weiter, von wo aus sie mit ihrer Truppe nach Schweden und Finnland geht.
– Und Sie fahren nicht mit?
– Nein. Was sollte ich bei diesen Aufführungen tun?
– Bravo, schrie Elsenburg. Bravo! Sehen Sie, meine Herren, das ist es doch gerade, was ich immer sage: dieses ewige Zusammenhocken ist der Tod der Ehe . . .
– Aber Herr Baron, wie können Sie so etwas behaupten, rief im sächsischen Akzent die Pastorin, welche schon eine geraume Weile der Unterhaltung gefolgt war. Je länger man zusammenlebt, desto schöner wird's doch! Also wenn Sie so lange getrennt von Ihrer Frau leben – wer betreut Sie denn da mittlerweile, Herr Benrath?
– Wie meinen Sie das: betreut?
– Na, ich meine, wer für Sie sorgt . . .
– Ach so . . . Aber ich habe doch meine Wohnung, ich habe doch meine Leute . . .
– So, die machen das . . . Aber dann sind Sie doch in Abwesenheit Ihrer Frau immer auf diese Fremden angewiesen! 190
– Allerdings. Aber die kennen meine Gewohnheiten sehr gut . . .
– Mein Gott! Männe, Männe, wenn du so'n Leben führen solltest! Wenn ich dir nicht alle deine Pfeifen stopfte und die belegten Brote schmierte und die Hemden zurechtlegte, wenn du Dienst hast oder über Land mußt! – Aber wie ist es denn nu, wenn Ihre Frau zu Hause ist?
– Dann ist es genau so, wie wenn sie nicht da ist. Denn – ich muß es Ihnen sagen – wir wohnen nicht zusammen.
– Ja sind Sie denn geschieden?
– Aber Gott bewahre! Wir haben nur getrennte Wohnungen.
– Na, das kann man aber doch keine Ehe mehr nennen, so wie sie unser lieber Gott gewollt hat . . .
– Woher wissen Sie so genau, wie der liebe Gott die Ehe gewollt hat, Frau Gericke? . . .
– Rühren wir nicht im Scherze an diese Fragen, sagte Gericke . . .
– Ja, wann sehen Sie sich da überhaupt mit Ihrer Frau, und wie oft?
Sennewitz sah mich an. Er stand hinter einem Sessel, auf dem sich Frau von Elsenburg niedergelassen hatte.
– Wann ich mit meiner Frau zusammen bin und wie oft? fuhr ich fort . . . Ja, mein Gott . . . ein besonderes Programm haben wir ja nicht gerade und 191 von Daten (Montag–Mittwoch, Dienstag–Freitag) oder von Zahlen sind wir auch ziemlich unabhängig . . . Was soll ich Ihnen sagen? Wir sind zusammen, so oft wir Lust haben . . . und solange wir Lust haben . . .
– Aber Sie haben doch gar keine gemeinsame Wohnung! rief die Pastorin . . .
– Wir haben doch auch in unseren getrennten Wohnungen schließlich noch ein Bett! Und Sie haben doch vielleicht schon davon gehört, daß in den Pariser Betten nicht nur Raum für zwei, sondern eigentlich schon für drei ist!
Elsenburg strahlte und trank seiner blassen, lächelnden Frau zu . . . Gericke nahm seine Frau am Arm . . .
– Komm, Johanna, sagte er, wir müssen noch ein paar Herrschaften begrüßen . . . und verließ unsere Gruppe.
– Du sollst soeben gesagt haben, wandte sich Frau von Elsenburg an ihren Mann, daß das ewige Zusammenhocken der Tod der Ehe ist?
– Habe ich auch gesagt, mein Herzchen.
– Also dann darf ich, um diese große Gefahr von der unseren abzuwenden, Anfang März nach Taormina fahren?
– Aber natürlich darfst du!
– Das danke ich Ihnen, Herr Benrath, lächelte sie etwas traurig. 192
– Na, was heißt denn das? Bin ich denn jemals ein Tyrann gewesen? Sind wir denn nicht alle Jahre ein paarmal getrennt?
– Stimmt!
– Na also!
– Wieso: na also? Getrennt waren wir allerdings: aber du bist gereist und ich bin bei den Kindern geblieben.
– Findest du das so unnatürlich?
– Nein – nur, à la longue, etwas einseitig!
Der junge Dorwall war wieder zu uns gekommen. Seine Mutter, welche während der ganzen vorausgegangenen Unterhaltung keine Silbe von sich gegeben, sondern mich mit einer fast genialen Unverschämtheit bis in die kleinste meiner Gesten beobachtet hatte, sagte zu ihrem Sohn:
– Mach mal den zweiten Westenknopf zu . . . Hast du denn schon wieder eine neue Zigarre?
– Es wäre eine Sünde, den Marken, die es hier gibt, nicht die Ehre anzutun . . .
– Selbst auf Kosten der eigenen Gesundheit, ergänzte die Baronin Dorwall. Und dann, offenbar eine Ablenkung des Gespräches aus den von ihr gewünschten Bahnen fürchtend, wandte sie sich fast heftig mir zu:
– Sagen Sie einmal, Herr Benrath, was sind Sie eigentlich: Schriftsteller oder der Impresario Ihrer Frau? 193
– Erlauben Sie mir eine Gegenfrage, Frau Baronin: Pflegen Sie von sich aus auf andere Leute zu schließen?
– Was soll das heißen?
– Ich gebe auf meine Art und Weise zurück, was Sie vom Zaun gebrochen haben.
– Sie scheinen sehr empfindlich zu sein?
– Im allgemeinen: nein! Nur in allem, was Stilgefühl angeht.
Der junge Dorwall schmunzelte:
– Sagen Sie, Herr Benrath, Ihre Frau Gemahlin verdient wohl klotzig? Filmt se ooch?
– Auf beide Fragen die Antwort: ja!
– Aber in Hollywood war sie noch nicht? Denn in Hollywood weiß ich Bescheid. Der Name Yvonne Pavart ist mir da noch nicht untergekommen.
– Meine Frau filmt unter dem Namen Maud Vernon.
– Donnerschlag! schrie der junge Dorwall und wischte sich die immer feuchten Lippen mit dem Batisttuch seiner Fracktasche . . . Maud Vernon! Ein Star, der aufgeht. Und wann kommt sie hierher?
– Um halb neun.
– Warum filmt denn Ihre Frau unter einem anderen Namen? fragte die Mutter Dorwall.
– Sie möchte keine Verwechslungen zwischen zwei ganz verschiedenen Begabungen. Sie ist eine hervorragende Künstlerin des gesprochenen Wortes. Und dieses hat in Frankreich noch eine ganz andere Geltung 194 als bei uns. Es kommt ihr auf Yvonne Pavart an, nicht auf Maud Vernon!
– Ich glaube, mir würde es in den heutigen Zeiten eher auf Maud Vernon ankommen, sagte die Dorwall.
– Das kann ich durchaus verstehen, Baronin.
– Ich gehe viel lieber in den Film als ins Theater.
– Das tun ja viele. Aber über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Vielleicht unterhalten Sie sich einmal mit meiner Frau über diese sehr interessante Frage.
– Spricht Ihre Frau deutsch?
– Sehr schlecht.
– Schade. Dann werde ich nicht viel mit ihr reden können. Denn mein Französisch ist mehr als mangelhaft . . . Ich dachte mir, Sie schreiben die Filme für Ihre Frau.
– Ich schreibe niemals Filme.
– Was schreiben Sie denn?
– Bücher, die von höchstens zehntausend Menschen gelesen werden.
– Und davon können Sie leben, so wie Sie leben?
– Nein. Ich lebe vom Essen und Trinken und von jeglichem Wort, das aus dem Munde gescheiter Leute geht. Im übrigen von dem mir zufallenden Anteil der Zuckerfabriken Benrath und Cie. in Köln und Liverpool.
– Ja, arbeiten Sie denn auch im Büro?
– Arbeiten Ihr Mann und Ihr Sohn in Ihren Molkereien? 195
– Mein Gott, wenn sie das doch täten! Aber lieber nicht! Sie kosten mich weniger Geld, wenn sie nur die Nutznießer sind. Aber für einen Mann wie Sie finde ich es schade, daß er seine Arbeitskraft nicht in den Dienst eines so großen Unternehmens stellt.
– Ich danke Ihnen verbindlichst für diese Anerkennung, wie überhaupt für das weitgehende Interesse, das Sie an meiner bescheidenen Person nehmen . . .
– Sie werden sich doch keine Schwachheiten einbilden?
– O nein. Ganz und gar nicht! Ich pflege nur von denen Notiz zu nehmen, die ich an meiner Umgebung gewahre . . .
Sennewitz kniff mich in die Hand. Elsenburg hob sein Madeiraglas:
– Pro . . .
Er verschluckte sich und hustete.
– Pro . . .
Die Dorwall schlug ihm mit dem Fächer auf den runden Rücken:
– Na, so bringen Sie schon Ihr freches Prosit heraus!
– Prosit, verehrte Baronin! Prosit, Herr Benrath!
– Haben Sie eine Minute für uns beide Zeit, sagte, die Gesprächspause benutzend, Referendar von Meisenfels, und machte mich mit dem Leutnant von Scheer bekannt.
–- Aber gerne. Womit kann ich denn dienen? 196
– Entschuldigen Sie tausendmal, wenn wir Sie mit Lappalien belästigen. Aber wir wüßten nicht, wer uns besser Auskunft geben sollte als Sie. Wir sprachen gerade mit der Baronesse Tuch über Herrenmoden. Es fiel uns auf, daß Sie zum Frack eine ziemlich schmale und gerade Binde tragen – und keine Papillonschleife. Wir möchten wissen, ob das das Neueste ist . . .
– Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Man trägt, was einem steht und gefällt.
– Gut. Aber was ist denn nun in diesem Winter in der grand monde vorgeschrieben?
– Ihr seid wohl von einer Kuh gebissen, warf Sennewitz ein. Erstens ist niemals etwas »vorgeschrieben« gewesen, und zweitens gibt es auf dem ganzen Erdball keine »grand monde« mehr. So etwas gibt es nur noch in schlechten Romanen und der Phantasie von alten Jungfern, deren Geburtsschein auf 1870 lautet.
– Sei doch nicht so grob, Carlo, sagte Scheer. Es dreht sich um eine Wette. Ich habe gesagt: Papillon is nich mehr. Eugen Meisenfels sagt: Erst recht noch! Ich will mein Pfund verdienen.
– Das werden Sie nicht verdienen, Herr von Scheer. Beides geht.
– Na – aber wen würden Sie denn für wirklich gut angezogen erklären?
– Wer das Gegenteil von allem trägt, was Filmschauspieler vorführen. Also, heute wie je: den Unauffälligen. 197
– Ja, sagte Meisenfels, mit dieser Formel fällt die Wette hin . . . Was tragen aber denn die Leute in Moskau bei offiziellen Empfängen und Veranstaltungen?
– Welche Leute?
– Na . . . Stalin oder Radek oder Lunatscharsky?
– Wollen Sie nicht mal telegraphisch anfragen? sagte Schwennemann, der zu uns getreten war. – A propos: Moskau: Kennen Sie eigentlich Prominente aus Moskau, Herr Benrath? Politiker? Wirtschaftsführer?
– Einige, erwiderte ich.
– Sie kennen Bolschewiken? fragte die Dorwall. Das wird ja immer heiterer. Hier ist jemand, hier, auf Schloß Kobolnow, der zu Bolschewiken Beziehungen hat, rief sie laut in die Runde. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Ein paar Leute fluteten an unsere Gruppe an.
– Wen kennen Sie denn? fragte Schwennemann.
– Sechs oder sieben, über die ich hier nicht spreche. Wir sind auf einem Balle, meine Herren. Geben wir dem Balle, was des Balles ist, und lassen wir die Probleme beiseite.
Der Graf Solduan legte mir die Hand auf den Rücken und flüsterte mir ins Ohr:
– Blanche wünscht Sie ein paar Minuten in ihrem Zimmer, ehe Sie nach Augustenburg fahren . . .
– Ich komme sofort. 198
Wir gingen beide. Als ich auf der Treppe war, hörte ich deutlich, wie die Dorwall sagte:
– Eine dolle Nummer . . . Wo haben die Lagoschs den eigentlich aufgegabelt?
Sennewitz rannte mir nach:
– Eine Sekunde: Darf ich um dreiviertel acht mit nach Augustenburg fahren?
– Aber natürlich! Gehen Sie in mein Arbeitszimmer, und erwarten Sie mich dort. Ich komme gleich.
– Ich leiste Ihnen Gesellschaft, wenn Sie wollen, sagte Michael zu Sennewitz.
Blanches Zimmer, an das Boudoir Lauras anstoßend und an der westlichen Vorderfront des Hauses gelegen, wob in einem matten, aprikosenfarbenen Licht, als ich eintrat. Sie selbst saß in einem Lehnstuhl und häkelte die dunkelblaue Krawatte zu Ende. Sie stand auf, ging mir entgegen und legte mir, ohne ein Wort zu sagen, die Arme um den Hals.
– Nicht weinen, Blanche, sagte ich, ihr dunkles Haar streichelnd . . . nicht weinen . . . Es ist ja alles vorbei . . . Und wird nie wiederkommen . . .
Sie hob ihr müdes Gesicht zu mir auf. Ihre großen, weichen, maulwurfgrauen Augen standen in Tränen:
– Wie soll ich Ihnen danken, Henry? Ja, wie soll ich?
– Indem Sie nie mehr einen solchen Blödsinn aussprechen . . . 199
Sie nahm plötzlich meinen Kopf in ihre Hände und küßte mich:
– Ich darf Sie mit in mein neues Leben nehmen? Ja? Und Sie werden viel und lange bei mir sein?
– In welches neue Leben? lächelte ich.
– Henry, sollten Sie es wirklich nicht schon wissen?
– Ich glaube, Blanche, ich weiß es!
– Ich werde Sie noch brauchen, Henry. Sehr brauchen, bis morgen abend.
– Haben Sie schon mit Laura gesprochen?
– Nein.
– Haben Sie ihr wenigstens Andeutungen gemacht?
– Ja. Aber sie versteht sie nicht. Wenigstens tut sie so, als ob sie sie nicht verstehen wolle.
– Sie wehrt sich innerlich gegen eine Erkenntnis, die sie meiner Ansicht nach schon längst hat.
– Das wäre ja ein Glück. Aber ich bin nicht sicher, Henry, ob Sie richtig sehen.
– Aber wie, liebste Blanche, denken Sie sich denn die schließliche Lösung?
– Wenn ich das wüßte, wäre mir ein großer Stein vom Herzen. Sofern mir nicht die Umstände zu Hilfe kommen, weiß ich nicht, wie das alles ohne einen éclat abgehen soll.
– Ich kann Sie nicht von einer Schuld freisprechen, Blanche . . .
– Was sagen Sie da?
– Ja, haben Sie denn nicht gewußt, als Sie 200 hierherkamen, daß Sie . . . ich will sagen, waren Sie denn nicht mit Michael schon einig?
– Aber woher denn! Am Donnerstag kam Michael aus Warschau an. Überlegen Sie doch: wir hatten einen Tag, ein paar Stunden an einem Tag, um in Ruhe alles Für und Wider zu erwägen. Und wir haben uns eigentlich erst heute früh entschlossen, die Form der Ehe auf uns zu nehmen . . . Wirklich entschlossen! Natürlich bestand ein sehr, sehr unbestimmter Plan –
– Blanche: Für wen sind Sie hierhergekommen? Für wen ist Michael gekommen?
– Ich bin gekommen für Michael und Laura. Michael ist gekommen für Blanche und Laura. Was sich hier entwickelt hat, war in seiner Endentscheidung nicht vorauszusehen. Im übrigen: Was hat denn Laura zu verlieren?
– Zwei Träume. Das ist viel. Selbst wenn man dafür eine sehr schöne Wirklichkeit eintauscht.
– Nein, Henry. Die Wirklichkeit, welche Laura eintauscht, ist mehr wert, als die – Phantasien, die sie verliert. Henry: Bleiben wir beide doch ganz ehrlich: Da sagt eine Frau sich glücklich, weil ein charmanter junger Mensch bei ihr »Zuflucht« findet: und sie gäbe, ich weiß nicht was dafür, wenn er sie – ja, sagen wir es doch offen heraus – vergewaltigte! Da entdeckt eine Frau plötzlich völlig rätselhafte lesbische Neigungen in sich, lullt sich ein in eine Liebe, die sie gar nicht fähig ist zu leben: und weiß doch, im Grunde 201 ihres Herzens, ganz genau, daß sie sich mit einem mehr als unzulänglichen Ersatz begnügt, vor allem aber auch: mit einem recht ungefährlichen. Wissen Sie immer noch nicht, wie feige die Frauen sind, wenn es sich darum handelt, für ihre Neigungen die Verantwortung auf sich zu nehmen? Nein, Lieber. Ich habe mir keine Unaufrichtigkeiten vorzuwerfen. Und ich scheue keinerlei Offenheiten, welche die Luft bereinigen und einen Lebenszustand schaffen, der für alle Teile ein großer Gewinn ist.
Vor dem Ablauf dieses Festes konnte ich nicht sprechen. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Jedenfalls: Wenn ich Sie brauchte: wären Sie für mich da?
– Ist diese Frage nötig?
– Nein. Eigentlich nicht. Sie haben recht. Laura sagte mir, daß Schwennemanns die ganze Gesellschaft für morgen zum Lunch und Schlittenfahren auf ihr Landhaus in Kempelsdorf eingeladen haben. Vor sechs kommen dann die Leute hierher nicht zurück, sofern überhaupt noch viele kommen. Meistens schließen diese Bälle mit einem einfachen Abendessen aus den Resten am folgenden Tag . . . Dann wird noch ein bißchen getanzt – und dann verlaufen sich peu à peu die letzten Gäste. Ich möchte, daß morgen abend, nach Tisch, die neue Lage für die Beteiligten geklärt sei. In aller Stille. Ohne jede Ankündigung an die Gäste, denen ja Eugo sicher mit Wonne das große Ereignis mitteilen würde. Aber was gehen mich diese Gäste an? Was geht mich 202 im Grunde dieser ganze Ball an? Und welche Gültigkeit hat das Forum, das diese Leute bilden?
Ich muß Ihnen jetzt noch etwas ganz anderes sagen, das Sie bestimmt nicht ahnen. Auch hier wird Ihnen eine Aufgabe erwachsen, sofern nicht die Umstände rascher in Wirksamkeit treten. Sie haben gehört, daß sich Gisela Alexander von Renken als Tischherrn ausgesucht hat. Sie wissen vielleicht noch nicht, daß Alexander, der ein sehr wertvoller und sehr tüchtiger Mensch ist, zum 1. April als Assistent an die Universitätsfrauenklinik nach München berufen wurde, wo Gisela ihr Studium beginnt. Sie sehen die Zusammenhänge? Laura wird aus allen Wolken fallen, wenn ihr ein Licht aufgeht. Aber sie wird sich mit den Tatsachen abfinden müssen. Die Jugend von heute fällt andere Entscheidungen als unsere Eltern es taten. Der blaue Dunst ist fort. Und Rückversicherungsverträge haben keine Bedeutung mehr.
– Ich verstehe noch nicht ganz, Blanche. Wie denkt sich denn Gisela ihr Leben?
– Sie wird ihr Studium beenden und sich zu gemeinsamer Arbeit mit Renken zusammentun. So oder so . . . Wenn die Neigung vorhält, werden sie sich wohl heiraten. Löst sich alles in Kameradschaft auf – was hindert sie, als Kameraden gemeinsame Sache zu machen? Etwa ein großes Krankenhaus zu schaffen, oder ein wissenschaftliches Institut?
– Und jetzt? 203
– Sie lieben sich!
– Seit wann?
– Seit einem Jahr . . .
– Na und?
– Aber Henry! Fragt man danach? Fragt ein Mann wie Sie noch danach?
– Nein.
– Das meine ich auch! Das Wie entscheidet. Nicht das Was! Ich glaube, daß für dieses Wie sowohl Gisela als auch Alexander genügend Garantien geben . . .
– Und Laura?
– Vorläufig ahnungslos. Sie hat ihre eigenen Pläne mit Gisela . . . Michael! . . . Aber sprechen wir lieber nicht davon. So wundervoll sie ist: im Grunde kommt sie doch nicht über die Normen und Möglichkeiten von Kobolnow hinaus. Und Folgerungen, die darüber hinausgehen, hat sie ja auch in ihrem intimsten Leben nie gezogen. Aber das kommt vielleicht noch. Sie ist noch sehr jung. Junge Mütter lernen manchmal – in der heutigen Zeit – von ihren klügeren Töchtern.
– Wieviel Uhr ist es, Blanche.?
– Genau 7 Uhr 40. Sie haben also noch fünf Minuten Zeit. Sagen Sie mir rasch: Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Sie sehen, daß es ein anderes ist als das, in dem ich heute nachmittag erschien, ehe der Skandal mit Poppritz begann . . . Ich wollte dieses Unglückskleid nicht mehr an mir sehen . . . und nahm dieses . . . Ist 204 es zu gewagt? Ist es »trop garçon«? Unterstreicht es zu sehr meine Schlankheit?
– Es ist »très garçon«, es unterstreicht sehr Ihre Schlankheit, es ist sehr streng, sehr edel, und außergewöhnlich schön. Es ist kein Kleid für Kobolnow . . .
– Nein. Aber es ist auch auf andere Sicht gemacht worden.
– Auf welche Sicht, Blanche?
– Ich kann Ihnen kein erschöpfendes Wort nennen. Sagen wir: auf die Sicht eines Lebens, das keine falschen Hemmungen kennt und vor allem – keinen Selbstbetrug.
Sie hielt mir beide Hände hin.
– Nein, Blanche. Nun mache ich, was Sie vorhin getan haben . . .
Und sie gab mir ihr zartes, nun endlich lächelndes Gesicht. 205