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Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen, im Überschwänglichen zu suchen, sondern, wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.
Johann Wolfgang von Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre Motto – Goethe: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. In Verbindung mit Konrad Burdach hrsg. von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin o.J. Bd. 40: Schriften zur Naturwissenschaft. 2.S. 140/141.
Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen. Zwar wird es in seiner abgeschlossenen Gestalt Lehre sein, solche Abgeschlossenheit ihm zu leihen aber liegt nicht in der Gewalt des bloßen Denkens. Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation. So ist sie denn auch more geometrico nicht zu beschwören. Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar. Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung. Und dies besagt nichts anderes, als daß ihnen eine Esoterik eignet, die abzulegen sie nicht vermögen, die zu verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rühmen sie richten würde. Die Alternative der philosophischen Form, welche durch die Begriffe von der Lehre und von dem esoterischen Essay gestellt wird, ist's, die der Systembegriff des XIX. Jahrhunderts ignoriert. Soweit er die Philosophie bestimmt, droht diese einem Synkretismus sich zu bequemen, der die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen. Aber ihr angelernter Universalismus bleibt weit entfernt, die didaktische Autorität der Lehre zu erreichen. Will die Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so ist der Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System, Gewicht beizulegen. Diese Übung hat sich allen Epochen, denen die unumschreibliche Wesenheit des Wahren vor Augen stand, in einer Propädeutik aufgenötigt, die man mit dem scholastischen Terminus des Traktats darum ansprechen darf, weil er jenen wenn auch latenten Hinweis auf die Gegenstände der Theologie enthält, ohne welche der Wahrheit nicht gedacht werden kann. Traktate mögen lehrhaft zwar in ihrem Ton sein; ihrer innersten Haltung nach bleibt die Bündigkeit einer Unterweisung ihnen versagt, welche wie die Lehre aus eigener Autorität sich zu behaupten vermöchte. Nicht weniger entraten sie der Zwangsmittel des mathematischen Beweises. In ihrer kanonischen Form wird als einziges Bestandstück einer mehr fast erziehlichen als lehrenden Intention das autoritäre Zitat sich einfinden. Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode. Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik. Wie bei der Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei's der Wahrheit lehren. Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht es aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen läßt. Mosaik und Traktat gehören ihrer höchsten abendländischen Ausbildung nach dem Mittelalter an; was ihren Vergleich ermöglicht, ist echte Verwandtschaft.
Die Schwierigkeit, welche solcher Darstellung innewohnt, beweist nur, daß sie eine eigenbürtige prosaische Form ist. Während der Redende in Stimme und Mienenspiel die einzelnen Sätze, auch wo sie an sich selber nicht standzuhalten vermöchten, stützt und sie zu einem oft schwankenden und vagen Gedankengange zusammenfügt, als entwerfe er eine groß andeutende Zeichnung in einem einzigen Zuge, ist es der Schrift eigen, mit jedem Satze von neuem einzuhalten und anzuheben. Die kontemplative Darstellung hat dem mehr als jede andere zu folgen. Für sie ist es kein Ziel mitzureißen und zu begeistern. Nur wo sie in Stationen der Betrachtung den Leser einzuhalten nötigt, ist sie ihrer sicher. Je größer ihr Gegenstand, desto abgesetzter diese Betrachtung. Ihre prosaische Nüchternheit bleibt diesseits des gebietenden Lehrwortes die einzige philosophischer Forschung geziemende Schreibweise. – Gegenstand dieser Forschung sind die Ideen. Wenn Darstellung als eigentliche Methode des philosophischen Traktates sich behaupten will, so muß sie Darstellung der Ideen sein. Die Wahrheit, vergegenwärtigt im Reigen der dargestellten Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich. Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein – und sei es transzendental – innegehabt werden muß. Ihm bleibt der Besitzcharakter. Diesem Besitztum ist Darstellung sekundär. Es existiert nicht bereits als ein Sich-Darstellendes. Gerade dies aber gilt von der Wahrheit. Methode, für die Erkenntnis ein Weg, den Gegenstand des Innehabens – und sei's durch die Erzeugung im Bewußtsein – zu gewinnen, ist für die Wahrheit Darstellung ihrer selbst und daher als Form mit ihr gegeben. Diese Form eignet nicht einem Zusammenhang im Bewußtsein, wie die Methodik der Erkenntnis es tut, sondern einem Sein. Immer wieder wird als eine der tiefsten Intentionen der Philosophie in ihrem Ursprung, der Platonischen Ideenlehre, sich der Satz erweisen, daß der Gegenstand der Erkenntnis sich nicht deckt mit der Wahrheit. Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit. Die Erkenntnis richtet sich auf das Einzelne, auf dessen Einheit aber nicht unmittelbar. Die Einheit der Erkenntnis – wenn anders sie bestünde – wäre vielmehr ein nur vermittelt, nämlich auf Grund der Einzelerkenntnisse und gewissermaßen durch deren Ausgleich, herstellbarer Zusammenhang, während im Wesen der Wahrheit die Einheit durchaus unvermittelt und direkte Bestimmung ist. Dieser Bestimmung als einer direkten ist es eigentümlich, nicht erfragt werden zu können. Wäre nämlich die integrale Einheit im Wesen der Wahrheit erfragbar, so müßte die Frage lauten, inwiefern auf sie die Antwort selbst schon gegeben sei in jeder denkbaren Antwort, mit der Wahrheit Fragen entspräche. Und wieder müßte vor der Antwort auf diese Frage die gleiche sich wiederholen, dergestalt, daß die Einheit der Wahrheit jeder Fragestellung entginge. Als Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller Frage. Während der Begriff aus der Spontaneität des Verstandes hervorgeht, sind die Ideen der Betrachtung gegeben. Die Ideen sind ein Vorgegebenes. So definiert die Sonderung der Wahrheit von dem Zusammenhange des Erkennens die Idee als Sein. Das ist die Tragweite der Ideenlehre für den Wahrheitsbegriff. Als Sein gewinnen Wahrheit und Idee jene höchste metaphysische Bedeutung, die das Platonische System ihnen nachdrücklich zuspricht.
Hierfür ist vor allem das »Symposion« dokumentarisch. Insbesondere enthält es zwei in diesem Zusammenhang entscheidende Aussagen. Es entwickelt die Wahrheit – das Reich der Ideen – als den Wesensgehalt der Schönheit. Es erklärt die Wahrheit für schön. Einsicht in die Platonische Auffassung vom Verhältnis der Wahrheit zur Schönheit ist nicht nur ein oberstes Anliegen jedes kunstphilosophischen Versuchs, sondern für die Bestimmung des Wahrheitsbegriffes selbst unersetzlich. Eine systemlogische Auffassung, welche in diesen Sätzen nur den altehrwürdigen Entwurf eines Panegyrikus auf die Philosophie sähe, würde damit sich unweigerlich vom Gedankenkreis der Ideenlehre scheiden. Dieser stellt vielleicht nirgends deutlicher als in den gedachten Behauptungen die Seinsweise der Ideen ins Licht. Von ihnen bedarf zunächst die zweite einer einschränkenden Erläuterung. Wenn die Wahrheit schön genannt wird, so ist dies im Zusammenhange des »Symposions« zu begreifen, das die Stufenfolgen der erotischen Begehrungen beschreibt. Eros – so muß verstanden werden – wird seinem ursprünglichen Bestreben nicht untreu, wenn er sein Sehnen auf die Wahrheit richtet; denn auch die Wahrheit ist schön. Sie ist es nicht sowohl an sich als für den Eros. Waltet doch das gleiche Verhältnis im menschlichen Lieben: der Mensch ist schön für den Liebenden, an sich ist er es nicht; und zwar deswegen, weil sein Leib in einer höheren Ordnung als der des Schönen sich darstellt. So auch die Wahrheit: schön ist sie nicht sowohl an sich als für den der sie sucht. Haftet ein Hauch von Relativität dem an, so ist nicht im entferntesten darum die Schönheit, die der Wahrheit eignen soll, ein metaphorisches Epitheton geworden. Das Wesen der Wahrheit als des sich darstellenden Ideenreiches verbürgt vielmehr, daß niemals die Rede von der Schönheit des Wahren beeinträchtigt werden kann. In der Wahrheit ist jenes darstellende Moment das Refugium der Schönheit überhaupt. So lange nämlich bleibt das Schöne scheinhaft, antastbar, als es sich frank und frei als solches einbekennt. Sein Scheinen, das verführt, solange es nichts will als scheinen, zieht die Verfolgung des Verstandes nach und läßt seine Unschuld einzig da erkennen, wo es an den Altar der Wahrheit flüchtet. Dieser Flucht folgt Eros, nicht Verfolger, sondern als Liebender; dergestalt, daß die Schönheit um ihres Scheines willen immer beide flieht: den Verständigen aus Furcht und aus Angst den Liebenden. Und nur dieser kann es bezeugen, daß Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird. Ob Wahrheit dem Schönen gerecht zu werden vermag? diese Frage ist die innerste im »Symposion«. Platon beantwortet sie, indem er der Wahrheit es zuweist, dem Schönen das Sein zu verbürgen. In diesem Sinne also entwickelt er die Wahrheit als den Gehalt des Schönen. Nicht aber tritt er zutage in der Enthüllung, vielmehr erweist er sich in einem Vorgang, den man gleichnisweise bezeichnen dürfte als das Aufflammen der in den Kreis der Ideen eintretenden Hülle, als eine Verbrennung des Werkes, in welcher seine Form zum Höhepunkt ihrer Leuchtkraft kommt. Diese Beziehung zwischen Wahrheit und Schönheit, die deutlicher als alles andere zeigt, wie unterschieden Wahrheit von dem Gegenstande der Erkenntnis, den man ihr gleichzusetzen sich gewöhnt hat, ist, enthält den Schlüssel des einfachen und dennoch unbeliebten Tatbestandes, der da in der Aktualität auch solcher philosophischer Systeme liegt, deren Erkenntnisgehalt längst die Beziehung zur Wissenschaft eingebüßt hat. Die großen Philosophien stellen die Welt in der Ordnung der Ideen dar. Der Fall ist die Regel, daß die begrifflichen Umrisse, in welchen das geschah, längst brüchig geworden sind. Nichtsdestoweniger behaupten diese Systeme als Entwurf einer Weltbeschreibung wie Platon mit der Ideenlehre, Leibniz mit der Monadologie, Hegel mit der Dialektik sie gab, ihre Geltung. Allen diesen Versuchen ist es nämlich eigen, ihren Sinn auch dann noch festzuhalten, ja sehr oft dann erst potenziert zu entfalten, wenn sie statt auf die empirische Welt bezogen werden auf die der Ideen. Denn als Beschreibung einer Ordnung der Ideen sind diese Gedankenbildungen entsprungen. Je intensiver die Denker das Bild des Wirklichen in ihnen zu entwerfen trachteten, desto reicher mußten sie eine Begriffsordnung ausbilden, die bei dem späteren Interpreten der originären Darstellung der Ideenwelt als der im Grunde gemeinten zugute kommen mußte. Ist Übung im beschreibenden Entwürfe der Ideenwelt, dergestalt, daß die empirische von selber in sie eingeht und in ihr sich löst, die Aufgabe des Philosophen, so gewinnt er die erhobne Mitte zwischen dem Forscher und dem Künstler. Der letztere entwirft ein Bildchen der Ideenwelt und eben darum, weil er es als Gleichnis entwirft, in jeder Gegenwart ein endgültiges. Der Forscher disponiert die Welt zu der Zerstreuung im Bereiche der Idee, indem er sie von innen im Begriffe aufteilt. Ihn verbindet mit dem Philosophen Interesse am Verlöschen bloßer Empirie, dem Künstler die Aufgabe der Darstellung. Allzu nahe hat eine landläufige Anschauung den Philosophen dem Forscher, und dem oft in der minderen Erscheinung, zugeordnet. Nirgends schien in der Aufgabe des Philosophen für Rücksicht auf die Darstellung ein Ort. Der Begriff des philosophischen Stils ist frei von Paradoxie. Er hat seine Postulate. Es sind: die Kunst des Absetzens im Gegensatz zur Kette der Deduktion; die Ausdauer der Abhandlung im Gegensatz zur Geste des Fragments; die Wiederholung der Motive im Gegensatz zum flachen Universalismus; die Fülle der gedrängten Positivität im Gegensatze zu negierender Polemik.
Daß die Wahrheit als Einheit und Einzigkeit sich darstellt, dazu wird ein lückenloser Deduktionszusammenhang der Wissenschaft mitnichten erfordert. Und doch ist gerade diese Lückenlosigkeit die einzige Form, in welcher die Systemlogik auf den Wahrheitsgedanken sich bezieht. Solch systematische Geschlossenheit hat mit der Wahrheit mehr nicht gemein als jede andere Darstellung, die sich in bloßen Erkenntnissen und Erkenntniszusammenhängen ihrer zu vergewissern sucht. Je peinlicher die Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis den Disziplinen nachgeht, desto unverkennbarer stellt deren methodische Inkohärenz sich dar. Mit jedem einzelwissenschaftlichen Bereiche führen neue und unableitbare Voraussetzungen sich ein, in jedem werden die Probleme der ihm vorgelagerten mit derselben Nachdrücklichkeit als gelöst betrachtet, mit der die Unabschließbarkeit ihrer Auflösung in anderem Zusammenhange behauptet wird. cf. Emile Meyerson: De l'explication dans les sciences. 2 Bde. Paris 1921. Passim. Es ist einer der unphilosophischsten Züge jener Wissenschaftstheorie, die nicht von den einzelnen Disziplinen, sondern von vermeintlichen philosophischen Postulaten in ihren Untersuchungen ausgeht, diese Inkohärenz als akzidentiell zu betrachten. Allein es ist diese Diskontinuität der wissenschaftlichen Methode so weit entfernt, ein minderwertiges, vorläufiges Stadium der Erkenntnis zu bestimmen, daß sie vielmehr deren Theorie positiv fördern könnte, wenn nicht die Anmaßung sich dazwischen legte, in einem enzyklopädischen Umfassen der Erkenntnisse der Wahrheit, die sprunglose Einheit bleibt, habhaft zu werden. Nur dort, wo das System in seinem Grundriß von der Verfassung der Ideenwelt selbst inspiriert ist, hat es Geltung. Die großen Gliederungen, welche nicht allein die Systeme, sondern die philosophische Terminologie bestimmen die allgemeinsten: Logik, Ethik und Ästhetik –, haben denn auch nicht als Namen von Fachdisziplinen, sondern als Denkmale einer diskontinuierlichen Struktur der Ideenwelt ihre Bedeutung. – Die Phänomene gehen aber nicht integral in ihrem rohen empirischen Bestände, dem der Schein sich beimischt, sondern in ihren Elementen allein, gerettet, in das Reich der Ideen ein. Ihrer falschen Einheit entäußern sie sich, um aufgeteilt an der echten der Wahrheit teilzuhaben. In dieser ihrer Aufteilung unterstehen die Phänomene den Begriffen. Die sind es, welche an den Dingen die Lösung in die Elemente vollziehen. Die Unterscheidung in Begriffen ist über jedweden Verdacht zerstörerischer Spitzfindigkeit erhaben nur dort, wo sie auf jene Bergung der Phänomene in den Ideen, das Platonische τάφαινόμενα σώξειν es abgesehen hat. Durch ihre Vermittlerrolle leihen die Begriffe den Phänomenen Anteil am Sein der Ideen. Und eben diese Vermittlerrolle macht sie tauglich zu der anderen, gleich ursprünglichen Aufgabe der Philosophie, zur Darstellung der Ideen. Indem die Rettung der Phänomene vermittels der Ideen sich vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie. Denn nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in einer Zuordnung dinglicher Elemente im Begriff stellen die Ideen sich dar. Und zwar tun sie es als deren Konfiguration.
Der Stab von Begriffen, welcher dem Darstellen einer Idee dient, vergegenwärtigt sie als Konfiguration von jenen. Denn in Ideen sind die Phänomene nicht einverleibt. Sie sind in ihnen nicht enthalten. Vielmehr sind die Ideen deren objektive virtuelle Anordnung, sind deren objektive Interpretation. Wenn sie die Phänomene weder durch Einverleibung in sich enthalten, noch sich in Funktionen, in das Gesetz der Phänomene, in die ›Hypothesis‹ verflüchtigen, so entsteht die Frage, in welcher Art und Weise sie denn die Phänomene erreichen. Und zu erwidern ist darauf: in deren Repräsentation. Als solche gehört die Idee einem grundsätzlich anderen Bereiche an als das von ihr Erfaßte. Es kann also nicht als Kriterium ihres Bestandes aufgefaßt werden, ob sie das Erfaßte wie der Gattungsbegriff die Arten unter sich begreift. Denn das ist die Aufgabe der Idee nicht. Ein Vergleich mag deren Bedeutung darstellen. Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen. Während die Phänomene durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeit, ihre Differenzen Umfang und Inhalt der sie umfassenden Begriffe bestimmen, ist zu den Ideen insofern ihr Verhältnis das umgekehrte, als die Idee als objektive Interpretation der Phänomene – vielmehr ihrer Elemente – erst deren Zusammengehörigkeit zueinander bestimmt. Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. Und zwar liegen jene Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffes ist, in den Extremen am genauesten zutage. Als Gestaltung des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben. Daher ist es falsch, die allgemeinsten Verweisungen der Sprache als Begriffe zu verstehen, anstatt sie als Ideen zu erkennen. Das Allgemeine als ein Durchschnittliches darlegen zu wollen, ist verkehrt. Das Allgemeine ist die Idee. Das Empirische dagegen wird um so tiefer durchdrungen, je genauer es als ein Extremes eingesehen werden kann. Vom Extremen geht der Begriff aus. Wie die Mutter aus voller Kraft sichtlich erst da zu leben beginnt, wo der Kreis ihrer Kinder aus dem Gefühl ihrer Nähe sich um sie schließt, so treten die Ideen ins Leben erst, wo die Extreme sich um sie versammeln. Die Ideen – im Sprachgebrauche Goethes: Ideale – sind die faustischen Mütter. Sie bleiben dunkel, wo die Phänomene sich zu ihnen nicht bekennen und um sie scharen. Die Einsammlung der Phänomene ist die Sache der Begriffe und die Zerteilung, die sich kraft des unterscheidenden Verstandes in ihnen vollzieht, ist um so bedeutungsvoller, als in einem und demselben Vollzuge sie ein Doppeltes vollendet: die Rettung der Phänomene und die Darstellung der Ideen.
Die Ideen sind in der Welt der Phänomene nicht gegeben. Es entsteht also die Frage, welcher Art ihre oben berührte Gegebenheit ist, und ob die Überantwortung jeder Rechenschaft von der Struktur der Ideenwelt an eine vielberufene intellektuelle Anschauung unumgänglich ist. Wenn irgendwo die Schwäche, welche jede Esoterik der Philosophie mitteilt, beklemmend deutlich wird, so ist es in der ›Schau‹, die den Adepten von allen Lehren neuplatonischen Heidentums als philosophische Verhaltungsweise vorgeschrieben wird. Das Sein der Ideen kann als Gegenstand einer Anschauung überhaupt nicht gedacht werden, auch nicht der intellektuellen. Denn noch in ihrer paradoxesten Umschreibung, der als intellectus archetypus, geht sie aufs eigentümliche Gegebensein der Wahrheit, als welches jeder Art von Intention entzogen bleibt, geschweige daß sie selbst als Intention erschiene, nicht ein. Wahrheit tritt nie in eine Relation und insbesondere in keine intentionale. Der Gegenstand der Erkenntnis als ein in der Begriffsintention bestimmter ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die Wahrheit ist der Tod der Intention. Eben das kann ja die Fabel von einem verschleierten Bilde, zu Sais, besagen, mit dessen Enthüllung zusammenbricht, wer die Wahrheit zu erfragen gedachte. Nicht eine rätselhafte Gräßlichkeit des Sachverhalts ist's, die das bewirkt, sondern die Natur der Wahrheit, vor welcher auch das reinste Feuer des Suchens wie unter Wassern verlischt. Als ein Ideenhaftes ist das Sein der Wahrheit verschieden von der Seinsart der Erscheinungen. Also erfordert die Struktur der Wahrheit ein Sein, das an Intentionslosigkeit dem schlichten der Dinge gleicht, an Bestandhaftigkeit aber ihm überlegen wäre. Nicht als ein Meinen, welches durch die Empirie seine Bestimmung fände, sondern als die das Wesen dieser Empirie erst prägende Gewalt besteht die Wahrheit. Das aller Phänomenalität entrückte Sein, dem allein diese Gewalt eignet, ist das des Namens. Es bestimmt die Gegebenheit der Ideen. Gegeben aber sind sie nicht sowohl in einer Ursprache, denn in einem Urvernehmen, in welchem die Worte ihren benennenden Adel unverloren an die erkennende Bedeutung besitzen. »In einem gewissen Sinne darf man bezweifeln, ob Platons Lehre von den ›Ideen‹ möglich gewesen wäre, wenn nicht der Wortsinn dem nur seine Muttersprache kennenden Philosophen eine Vergöttlichung des Wortbegriffs, eine Vergöttlichung der Worte, nahegelegt hätte: Platons ›Ideen‹ sind im Grunde, wenn man sie einmal von diesem einseitigen Standpunkt beurteilen darf, nichts als vergöttlichte Worte und Wortbegriffe.« Hermann Güntert: Von der Sprache der Götter und Geister. Bedeutungsgeschichtliche Untersuchungen zur homerischen und eddischen Göttersprache. Halle a.d.S. 1921. S.49. – cf. Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Bonn 1896. S.321. Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist. Im empirischen Vernehmen, in welchem die Worte sich zersetzt haben, eignet nun neben ihrer mehr oder weniger verborgenen symbolischen Seite ihnen eine offenkundige profane Bedeutung. Sache des Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des Wortes, in welchem die Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinen Primat wieder einzusetzen. Dies kann, da die Philosophie offenbarend zu reden sich nicht anmaßen darf, durch ein aufs Urvernehmen allererst zurückgehendes Erinnern einzig geschehen. Die platonische Anamnesis steht dieser Erinnerung vielleicht nicht fern. Nur daß es nicht um eine anschauliche Vergegenwärtigung von Bildern sich handelt; vielmehr löst in der philosophischen Kontemplation aus dem Innersten der Wirklichkeit die Idee als das Wort sich los, das von neuem seine benennenden Rechte beansprucht. In solcher Haltung aber steht zuletzt nicht Platon, sondern Adam, der Vater der Menschen als Vater der Philosophie, da. Das adamitische Namengeben ist so weit entfernt Spiel und Willkür zu sein, daß vielmehr gerade in ihm der paradiesische Stand sich als solcher bestätigt, der mit der mitteilenden Bedeutung der Worte noch nicht zu ringen hatte. Wie die Ideen intentionslos im Benennen sich geben, so haben sie in philosophischer Kontemplation sich zu erneuern. In dieser Erneuerung stellt das ursprüngliche Vernehmen der Worte sich wieder her. Und so ist die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte, die so oft ein Gegenstand des Spottes gewesen ist, mit Grund ein Kampf um die Darstellung von einigen wenigen, immer wieder denselben Worten – von Ideen. Die Einführung neuer Terminologien, soweit sie nicht streng im begrifflichen Bereich sich hält, sondern auf die letzten Gegenstände der Betrachtung es absieht, ist daher innerhalb des philosophischen Bereichs bedenklich. Solche Terminologien – ein mißglücktes Benennen, an welchem das Meinen mehr Anteil hat als die Sprache – entraten der Objektivität, welche die Geschichte den Hauptprägungen der philosophischen Betrachtungen gegeben hat. Diese stehen, wie bloße Worte es nie vermögen, in vollendeter Isolierung für sich. Und so bekennen die Ideen das Gesetz, das da besagt: Alle Wesenheiten existieren in vollendeter Selbständigkeit und Unberührtheit, nicht von den Phänomenen allein, sondern zumal voneinander. Wie die Harmonie der Sphären auf den Umläufen der einander nicht berührenden Gestirne, so beruht der Bestand des mundus intelligibilis auf der unaufhebbaren Distanz zwischen den reinen Wesenheiten. Jede Idee ist eine Sonne und verhält sich zu ihresgleichen wie eben Sonnen zueinander sich verhalten. Das tönende Verhältnis solcher Wesenheiten ist die Wahrheit. Deren benannte Vielheit ist zählbar. Denn Diskontinuierlichkeit gilt von den »Wesenheiten..., die ein von den Gegenständen und ihren Beschaffenheiten toto coelo verschiedenes Leben führen; deren Existenz sich dadurch nicht dialektisch erzwingen läßt, daß wir einen beliebigen, an einem Gegenstand uns begegnenden ... Komplex herausgreifen und hinzufügen: χαδ'αύτό, sondern deren Zahl gezählt ist und von denen jede einzelne an dem ihr zukommenden Orte ihrer Welt mühsam zu suchen ist, bis man auf sie stößt, als auf einen rocher de bronce, oder bis sich die Hoffnung auf ihre Existenz als trügerisch erweist«. Jean Hering: Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 4 (1921), S.522. Nicht selten hat die Unkunde von dieser ihrer diskontinuierlichen Endlichkeit energische Versuche zur Erneuerung der Ideenlehre, zuletzt noch die der älteren Romantiker, gebrochen. In ihrem Spekulieren nahm die Wahrheit anstelle ihres sprachlichen Charakters den eines reflektierenden Bewußtseins an.
Das Trauerspiel im Sinn der kunstphilosophischen Abhandlung ist eine Idee. Von der literarhistorischen unterscheidet eine solche sich am auffallendsten darin, daß sie Einheit da voraussetzt, wo jener Mannigfaltigkeit zu erweisen obliegt. Die Differenzen und Extreme, welche die literarhistorische Analyse ineinander überführt und als Werdendes relativiert, erhalten in begrifflicher Entwicklung den Rang komplementärer Energien und die Geschichte erscheint nur als der farbige Rand einer kristallinischen Simultaneität. Notwendig werden der Kunstphilosophie die Extreme, virtuell der historische Ablauf. Umgekehrt ist das Extrem einer Form oder Gattung die Idee, die als solche in die Literaturgeschichte nicht eingeht. Trauerspiel als Begriff würde der Reihe ästhetischer Klassifikationsbegriffe sich problemlos einordnen. Anders verhält sich zum Bereich der Klassifikationen die Idee. Sie bestimmt keine Klasse und enthält jene Allgemeinheit, auf welcher im System der Klassifikationen die jeweilige Begriffsstufe ruht, die des Durchschnitts nämlich, nicht in sich. Es konnte auf die Dauer nicht verborgen bleiben, wie mißlich es infolgedessen um die Induktion in kunsttheoretischen Untersuchungen steht. Bei neueren Forschern setzt die kritische Ratlosigkeit ein. Gelegentlich seiner Untersuchung »Zum Phänomen des Tragischen« sagt Scheler: »Wie ... ist ... vorzugehen? Sollen wir uns allerhand Beispiele des Tragischen, d. h. allerhand Vorkommnisse und Geschehnisse, von denen Menschen den Eindruck des Tragischen aussagen, zusammenstellen und dann induktorisch fragen, was sie denn ›gemeinsam‹ haben? Das wäre eine Art induktorischer Methode, die auch experimentell unterstützt werden könnte. Indes dies würde uns noch weniger weiterführen als die Beobachtung unseres Ich, wenn Tragisches auf uns wirkt. Denn mit welchem Recht sollen wir den Aussagen der Leute das Vertrauen entgegenbringen, es sei auch tragisch, was sie so nennen?« Max Scheler: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze 2., durchges. Aufl., 1. Bd. Leipzig 1919. S.241. Es kann zu nichts führen, Ideen induktiv – ihrem ›Umfang‹ nach – aus der populären Redeweise bestimmen zu wollen, um sodann auf die Wesensergründung des umfänglich Fixierten auszugehen. Denn der Sprachgebrauch ist dem Philosophen zwar unschätzbar, wo er als Hinweisung auf Ideen, verfänglich aber, wo er in seiner Interpretation durch laxes Reden oder Denken als förmlicher Begriffsgrund hingenommen wird. Ja, dieser Sachverhalt erlaubt es auszusprechen, daß nur mit äußerster Zurückhaltung der Philosoph der Gepflogenheit landläufigen Denkens, die Worte, um ihrer desto besser sich zu versichern, zu Artbegriffen zu machen, sich nähern darf. Gerade die Kunstphilosophie ist dieser Suggestion nicht selten erlegen. Denn wenn – unter vielen ein drastisches Beispiel – die »Ästhetik des Tragischen« von Volkelt in ihre Untersuchungen Stücke von Holz oder Halbe im gleichen Sinne wie Dramen von Aischylos oder Euripides einbezieht, ohne auch nur zu fragen, ob das Tragische eine gegenwärtig überhaupt zu erfüllende Form oder aber eine geschichtlich gebundene sei, so liegt, aufs Tragische gesehen, in so verschiedenen Materien nicht Spannung, sondern tote Disparatheit vor. Bei der so entstehenden Häufung von Fakten, unter denen bald die ursprünglichen spröderen vom Wust der ansprechenden modernen verdeckt sind, kann der Untersuchung, die, um das ›Gemeinsame‹ zu ergründen, dieser Stapelei sich unterzog, nichts in Händen bleiben, als einige psychologische Daten, die in der Subjektivität, wenn nicht des Forschers so des gleichzeitigen Normalbürgers, das Verschiedengeartete durch die Gleichheit einer ärmlichen Reaktion zur Deckung bringen. In den Begriffen der Psychologie läßt sich vielleicht eine Vielgestaltigkeit von Eindrücken wiedergeben, von der es belanglos bleibt, daß Kunstwerke sie hervorriefen, nicht aber das Wesen eines Kunstgebietes. Dies geschieht vielmehr in einer durchgebildeten Darlegung seines Formbegriffs, dessen metaphysischer Gehalt nicht sowohl im Inneren befindlich als wirkend zu erscheinen und wie das Blut den Körper zu durchpulsen hat.
Das Haften an der Vielgestaltigkeit auf der einen, die Gleichgültigkeit gegen das strenge Denken auf der anderen Seite sind stets die Bestimmungsgründe einer unkritischen Induktion gewesen. Immer handelt es sich um die Scheu vor konstitutiven Ideen – den universaliis in re – wie sie gelegentlich von Burdach mit besonderer Schärfe formuliert worden ist. »Ich habe versprochen, vom Ursprung des Humanismus zu reden, als sei er ein lebendiges Wesen, das als Ganzes irgendwo und irgendwann auf die Welt kam und als Ganzes dann weiter gewachsen ist ... Wir verfahren dabei wie die sogenannten Realisten unter den Scholastikern des Mittelalters, die den allgemeinen Begriffen, den ›Universalien‹, Realität beilegten. In gleicher Weise setzen auch wir – hypostasierend wie die Mythologien der Urzeit – ein Wesen von einheitlicher Substanz und von voller Wirklichkeit und heißen es, als wäre es ein lebendiges Individuum, Humanismus. Wir sollten uns aber hier wie in unzähligen ähnlichen Fällen ... darüber klar werden, daß wir einen abstrakten Hilfsbegriff nur erfinden, um unendliche Reihen mannigfaltiger geistiger Erscheinungen und recht verschiedener Persönlichkeiten uns übersichtlich und faßbar zu machen. Wir können das, nach einem Grundsatz menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis, nur dadurch erreichen, daß wir gewisse Eigentümlichkeiten, die in diesen Reihen von Varietäten uns ähnlich oder übereinstimmend erscheinen, aus dem uns angeborenen systematischen Bedürfnis schärfer sehen und stärker betonen als die Unterschiede ... Diese Marken Humanismus oder Renaissance sind willkürlich, ja irrig, weil sie diesem vielquelligen, vielgestaltigen, vielgeistigen Leben den falschen Schein einer realen Wesenseinheit geben. Und ebenso eine willkürliche, ja irreführende Maske ist der seit Burckhardt und Nietzsche vielbeliebte ›Renaissancemensch‹.« Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst. Berlin 1918. S. 100ff. Eine Anmerkung des Autors zu dieser Stelle lautet: »Das üble Gegenstück des unausrottbaren ›Renaissancemenschen‹ ist ›der gotische Mensch‹, der heute eine verwirrende Rolle spielt und selbst in der Gedankenwelt bedeutender, verehrungswürdiger Geschichtsforscher (E. Troeltsch!) sein gespenstisches Wesen treibt. Dazu tritt dann noch ›der barocke Mensch‹, als welcher uns z.B. Shakespeare vorgestellt wird.« Burdach 1.c.S.213 (Anm.). Diese Stellungnahme ist soweit sie gegen die Hypostasierung von Allgemeinbegriffen geht – nicht in allen Fassungen gehören die Universalien zu denen – in ihrem Recht evident. Aber sie versagt gänzlich vor den Fragen einer platonisch auf Darstellung der Wesenheiten gerichteten Wissenschaftstheorie, deren Notwendigkeit sie verkennt. Einzig und allein diese vermag die Sprachform der wissenschaftlichen Darlegungen, wie sie sich außerhalb des Mathematischen bewegen, vor der grenzenlosen und jede noch so subtile Induktionsmethodik zuletzt in ihren Strudel ziehenden Skepsis zu bewahren, der Burdachs Ausführungen nicht begegnen können. Denn sie sind eine private reservatio mentalis, keine methodische Sicherung. Was insbesondere historische Typen und Epochen angeht, so wird man zwar niemals annehmen dürfen, Ideen wie die der Renaissance oder des Barock vermöchten den Stoff begrifflich zu bewältigen, und die Meinung, eine moderne Einsicht in die verschiedenen Geschichtsperioden lasse sich in etwaigen polemischen Auseinandersetzungen beglaubigen, in denen als an den großen Wendepunkten die Epochen gleichsam mit offenem Visier einander begegneten, würde den Gehalt der Quellen verkennen, der von aktualen Interessen nicht von historiographischen Ideen bestimmt zu sein pflegt. Was aber solche Namen als Begriffe nicht vermögen, leisten sie als Ideen, in denen nicht das Gleichartige zur Deckung, wohl aber das Extreme zur Synthese gelangt. Unbeschadet dessen, daß auch begriffliche Analysis nicht unter allen Umständen auf gänzlich auseinanderfallende Erscheinungen stößt und gelegentlich der Umriß einer Synthese in ihr sichtbar wenn auch nicht legitimiert zu werden vermag. So hat gerade vom literarischen Barock, in dem das deutsche Trauerspiel entsprungen ist, Strich mit Recht bemerkt, »daß die Gestaltungsprinzipien durch das ganze Jahrhundert die gleichen geblieben sind« Fritz Strich: Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts. In: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker zum 60. Geburtstage dargebracht von Eduard Berend. München 1916. S.52.
Burdachs kritische Reflexion ist nicht sowohl im Gedanken an eine positive Revolution der Methode als aus der Besorgnis vor sachlichen Irrtümern im einzelnen vorgetragen. Es darf sich aber letzten Endes die Methodik keinesfalls von bloßen Befürchtungen sachlicher Unzulänglichkeit geleitet, negativ und als ein Warnungskanon präsentieren. Vielmehr muß sie von Anschauungen höherer Ordnung ausgehen als der Gesichtspunkt eines wissenschaftlichen Verismus sie darbietet. Der muß dann notwendig beim einzelnen Problem auf diejenigen Fragen echter Methodik stoßen, die er in seinem wissenschaftlichen Credo ignoriert. Regelmäßig wird deren Lösung über eine Revision der Fragestellung führen, die in der Erwägung formulierbar ist, wie die Frage: Wie es denn eigentlich gewesen sei? sich wissenschaftlich nicht sowohl beantworten als vielmehr stellen lasse. Mit dieser im Vorstehenden vorbereiteten, im folgenden abzuschließenden Erwägung allererst entscheidet sich, ob die Idee eine unerwünschte Abbreviatur ist oder in ihrem sprachlichen Ausdruck den wahren wissenschaftlichen Gehalt vielmehr begründet. Eine Wissenschaft, die sich im Protest gegen die Sprache ihrer Untersuchungen ergeht, ist ein Unding. Worte sind, neben den Zeichen der Mathematik, das einzige Darstellungsmedium der Wissenschaft und sie selber sind keine Zeichen. Denn im Begriff, als welchem freilich das Zeichen entspräche, depotenziert sich eben dasselbe Wort, das als Idee sein Wesenhaftes besitzt. Der Verismus, in dessen Dienst die induktive Methode der Kunsttheorie sich stellt, wird dadurch nicht geadelt, daß am Ende die diskursiven und induktorischen Fragestellungen zu einer »Anschauung« Richard M. Meyer: Über das Verständnis von Kunstwerken. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Litteratur 4 (1901) (= Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Litteratur und für Pädagogik 7). S.378. zusammentreten, welche, wie R. M. Meyer mit vielen andern wähnt, als Synkretismus mannigfaltigster Methoden zu runden sich vermöge. Damit steht man wie mit allen naiv-realistischen Umschreibungen der Methodenfrage wieder am Anfang. Denn eben die Anschauung soll ja gedeutet werden. Und das Bild der induzierenden ästhetischen Forschungsweise zeigt die gewohnte trübe Farbe auch hier, indem diese Anschauung nicht die in der Idee gelöste der Sache ist, sondern die subjektiver, in das Werk hineinprojizierter Zustände des Aufnehmenden, auf welche die von R. M. Meyer als Schlußstück seiner Methode gedachte Einfühlung hinausläuft. Diese Methode, als konträrer Gegensatz der im Verlaufe dieser Untersuchung anzuwendenden, »sieht die Kunstform des Dramas und wieder der Tragödie oder Komödie und weiter etwa des Charakter- und des Situationslustspiels als gegebene Größen an, mit denen sie rechnet. Nun sucht sie aus der Vergleichung hervorragender Vertreter jeder Gattung Regeln und Gesetze zu gewinnen, an denen das einzelne Produkt zu messen sei. Und wiederum aus der Vergleichung der Gattungen erstrebt sie allgemeine Kunstgesetze, die für jedes Werk gelten sollen.« Meyer 1.c.S.372. Die kunstphilosophische ›Deduktion‹ der Gattung würde hiernach auf induktorischem Verfahren verbunden mit dem abstrahierenden beruhen und eine Abfolge dieser Gattungen und Arten deduktiv nicht sowohl gewonnen als im Schema der Deduktion vorgeführt werden.
Während die Induktion die Ideen zu Begriffen durch den Verzicht auf ihre Gliederung und Anordnung herabwürdigt, vollzieht die Deduktion das gleiche durch deren Projizierung in ein pseudo-logisches Kontinuum. Das philosophische Gedankenreich entspinnt sich nicht in der ununterbrochenen Linienführung begrifflicher Deduktionen, sondern in einer Beschreibung der Ideenwelt. Ihre Durchführung setzt mit jeder Idee von neuem als einer ursprünglichen an. Denn die Ideen bilden eine unreduzierbare Vielheit. Als gezählte – eigentlich aber benannte – Vielheit sind die Ideen der Betrachtung gegeben. Von hier aus ist dem deduzierten Gattungsbegriff der Kunstphilosophie die vehemente Kritik durch Benedetto Croce erwachsen. Mit Recht erblickt er in der Klassifikation als dem Gerüst spekulativer Deduktionen die Grundlage einer oberflächlich schematisierenden Kritik. Und während Burdachs Nominalismus der historischen Epochenbegriffe, sein Widerstand, die Fühlung mit dem Faktum im geringsten zu lockern, auf die Furcht, vom' Richtigen sich zu entfernen, zurückdeutet, führt ein durchaus analoger Nominalismus der ästhetischen Gattungsbegriffe bei Croce, ein analoges Festhalten am Einzelnen, auf die Besorgnis zurück, mit der Entfernung von ihm des Wesenhaften schlechtweg verlustig zu gehen. Gerade das ist mehr als alles andere angetan, den wahren Sinn ästhetischer Gattungsnamen ins rechte Licht zu setzen. Der »Grundriß der Ästhetik« rügt das Vorurteil »von der Möglichkeit, mehrere oder viele besondere Kunstformen zu unterscheiden, von denen jede in ihrem besonderen Begriff und in ihren Grenzen bestimmbar und mit eigenen Gesetzen versehen ist ... Viele Ästhetiker verfassen noch immer Schriften über die Ästhetik des Tragischen oder des Komischen oder der Lyrik oder des Humors und Ästhetiken der Malerei oder der Musik oder der Dichtkunst ...; aber was schlimmer ist, ... die Kritiker haben bei der Beurteilung der Kunstwerke noch nicht völlig die Gewohnheit abgelegt, sie an der Gattung oder der besonderen Kunst, der sie nach ihrer Meinung angehören, zu messen.« Benedetto Croce: Grundriß der Ästhetik. Vier Vorlesungen. Autorisierte deutsche Ausg. von Theodor Poppe. Leipzig 1913. (Wissen und Forschen. 5.) S.43. »Jede beliebige Theorie der Teilung der Künste ist unbegründet. Die Gattung oder die Klasse ist in diesem Fall eine einzige, die Kunst selbst oder die Intuition, während die einzelnen Kunstwerke im übrigen zahllos sind: alle original, keines ins andere übersetzbar ... Zwischen das Universale und das Besondere schiebt sich in philosophischer Betrachtung kein Zwischenelement ein, keine Reihe von Gattungen oder Arten, von ›generalia‹.« Croce 1.c. S.46. Diese Darlegung hat den Begriffen ästhetischer Gattungen gegenüber volles Gewicht. Aber sie bleibt auf halbem Wege stehen. Denn so ersichtlich eine Aufreihung von Kunstwerken, die es aufs Gemeinsame abstellt, ein müßiges Unternehmen ist, wo es sich nicht um historische oder stilistische Beispielsammlungen, sondern um deren Wesentliches handelt, so undenkbar bleibt, daß die Kunstphilosophie ihrer reichsten Ideen wie der des Tragischen oder des Komischen je sich entäußere. Denn das sind nicht Inbegriffe von Regeln, nein, selber einem jeden Drama an Dichtigkeit und an Realität zumindest ebenbürtige Gebilde, die gar nicht ihm kommensurabel sind. So erheben sie denn keinerlei Anspruch, eine Anzahl gegebener Dichtungen auf Grund irgendwelcher Gemeinsamkeiten ›unter‹ sich zu begreifen. Denn auch wenn es die reine Tragödie, das reine komische Drama, das nach ihnen benannt werden dürfte, nicht geben sollte, mögen diese Ideen Bestand haben. Dazu hat eine Untersuchung ihnen zu verhelfen, die nicht in ihrem Ausgangspunkt an alles dasjenige, was je als tragisch oder komisch mag bezeichnet worden sein, sich bindet, sondern nach Exemplarischem sich umsieht, und sollte sie auch nur einem versprengten Bruchstück diesen Charakter zubilligen können. ›Maßstäbe‹ für den Rezensenten fördert sie so nicht. Kritik, sowie Kriterien einer Terminologie, das Probestück der philosophischen Ideenlehre von der Kunst, bilden sich nicht unter dem äußeren Maßstab des Vergleiches, sondern immanent, in einer Entwicklung der Formensprache des Werks, die deren Gehalt auf Kosten ihrer Wirkung heraustreibt. Dazu kommt, daß gerade die bedeutenden Werke, sofern in ihnen nicht erstmalig und gleichsam als Ideal die Gattung erscheint, außerhalb von Grenzen der Gattung stehen. Ein bedeutendes Werk – entweder gründet es die Gattung oder hebt sie auf und in den vollkommenen vereinigt sich beides.
In der Unmöglichkeit einer deduktiven Entwicklung der Kunstformen, in der damit gesetzten Entkräftung der Regel als kritischer Instanz – eine Instanz der künstlerischen Unterweisung wird sie immer bleiben –, ist Grund zu einer fruchtbaren Skepsis gelegt. Sie ist dem tiefen Atemholen des Gedankens zu vergleichen, nach dem er ans Geringste sich mit Muße und ohne die Spur einer Beklemmung zu verlieren vermag. Vom Geringsten wird nämlich überall dort die Rede sein, wo die Betrachtung sich in Werk und Form der Kunst versenkt, um ihren Gehalt zu ermessen. Die Hast, die sich an ihnen mit dem Griffe übt, mit dem man fremdes Eigentum verschwinden läßt, ist Routinierten eigen und um nichts besser als die Bonhomie des Banausen. Für die wahre Kontemplation dagegen verbindet sich die Abkehr vom deduktiven Verfahren mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigem Zurückgreifen auf die Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist. Selbstverständlich ist der Radikalismus, der die ästhetische Terminologie einer Anzahl ihrer besten Prägungen berauben, die Kunstphilosophie zum Schweigen bringen würde, auch für Croce nicht letztes Wort. Vielmehr heißt es: »Wenn man den theoretischen Wert der abstrakten Klassifikation leugnet, so heißt das nicht den theoretischen Wert jener genetischen und konkreten Klassifikation leugnen, die übrigens nicht ›Klassifikation‹ ist, die vielmehr Geschichte genannt wird.« Croce 1.c. S.48. Mit diesem dunklen Satze streift der Autor, nur leider allzusehr beeilt, den Kern der Ideenlehre. Ihn läßt ein Psychologismus, der seine Bestimmung der Kunst als ›Ausdruck‹ durch eine andere, als ›Intuition‹, zersetzt, das nicht gewahren. Es bleibt ihm verschlossen, wie die von ihm als ›genetische Klassifikation‹ bezeichnete Betrachtung mit einer Ideenlehre von den Kunstarten im Problem des Ursprungs übereinkommt. Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein. In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. Die Richtlinien der philosophischen Betrachtung sind in der Dialektik, die dem Ursprung beiwohnt, aufgezeichnet. Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und Wiederholung durcheinander sich bedingt. Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht, wie Cohen meint, cf. Hermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis. (System der Philosophie. 1.) 2. Aufl., Berlin 1914. S.35/36. eine rein logische, sondern historisch. Das Hegelsche ›Desto schlimmer für die Tatsachen‹ ist bekannt. Im Grunde will es besagen: die Einsicht in die Wesenszusammenhänge liegt beim Philosophen und Wesenszusammenhänge bleiben was sie sind, auch wenn sie sich in der Welt der Fakten rein nicht ausprägen. Diese echt idealistische Haltung erkauft ihre Sicherheit, indem sie das Kernstück der Ursprungsidee preisgibt. Denn jeder Ursprungsnachweis muß vorbereitet auf die Frage nach der Echtheit des Aufgewiesenen sein. Kann er sich als echt nicht beglaubigen, so trägt er seinen Titel zu Unrecht. Mit dieser Überlegung scheint für die höchsten Gegenstände der Philosophie die Unterscheidung der quaestio juris von der quaestio facti aufgehoben. Das ist unbestreitbar und unvermeidlich. Die Folgerung jedoch ist nicht, daß unverzüglich jedes frühe ›Faktum‹ als wesenprägendes Moment zu nehmen wäre. Vielmehr beginnt die Aufgabe des Forschers hier, der ein solches Faktum dann erst für gesichert zu halten hat, wenn seine innerste Struktur so wesenhaft erscheint, daß sie als einen Ursprung es verrät. Das Echte – jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen – ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in den ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuchen sowohl wie in den überreifen Erscheinungen der Spätzeit vermag Entdeckung es zu Tag zu fördern. Nicht um Einheit aus ihnen zu konstruieren, geschweige ein Gemeinsames aus ihnen abzuziehen, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war – Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war – Totalität. Das ist seine platonische ›Rettung‹.
Die philosophische Geschichte als die Wissenschaft vom Ursprung ist die Form, die da aus den entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung die Konfiguration der Idee als der durch die Möglichkeit eines sinnvollen Nebeneinanders solcher Gegensätze gekennzeichneten Totalität heraustreten läßt. Die Darstellung einer Idee kann unter keinen. Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist. Das Abschreiten bleibt virtuell. Denn das in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen würde. Innen erst kennt es Geschichte, und zwar nicht mehr im uferlosen, sondern in dem aufs wesenhafte Sein bezogenen Sinne, der sie als dessen Vor- und Nachgeschichte zu kennzeichnen gestattet. Die Vor- und Nachgeschichte solcher Wesen ist, zum Zeichen ihrer Rettung oder Einsammlung in das Gehege der Ideenwelt, nicht reine, sondern natürliche Geschichte. Das Leben der Werke und Formen, das in diesem Schutze allein sich klar und ungetrübt vom menschlichen entfaltet, ist ein natürliches Leben. cf. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Charles Baudelaire: Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort von Walter Benjamin. Heidelberg 1923. (Die Drucke des Argonautenkreises. 5.) S. VIII/IX. Ist dies gerettete Sein in der Idee festgestellt, so ist die Präsenz der uneigentlichen nämlich naturhistorischen Vor- sowie Nachgeschichte virtuell. Sie ist nicht mehr pragmatisch wirklich, sondern, als die natürliche Historie, am vollendeten und zur Ruhe gekommenen Status, der Wesenheit, abzulesen. Damit bestimmt die Tendenz aller philosophischen Begriffsbildung sich neu in dem alten Sinn: das Werden der Phänomene festzustellen in ihrem Sein. Denn der Seinsbegriff der philosophischen Wissenschaft ersättigt sich nicht am Phänomen, sondern erst an der Aufzehrung seiner Geschichte. Die Vertiefung der historischen Perspektive in dergleichen Untersuchungen kennt, sei es ins Vergangene oder ins Künftige, prinzipiell keine Grenzen. Sie gibt der Idee das Totale. Deren Bau, wie die Totalität sie im Kontrast zu der ihr unveräußerlichen Isolierung prägt, ist monadologisch. Die Idee ist Monade. Das Sein, das da mit Vor- und Nachgeschichte in sie eingeht, gibt in der eigenen verborgen die verkürzte und verdunkelte Figur der übrigen Ideenwelt, so wie bei den Monaden der »Metaphysischen Abhandlung« von 1686 in einer jeweils alle andern undeutlich mitgegeben sind. Die Idee ist Monade – in ihr ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpretation. Je höher geordnet die Ideen desto vollkommener die in ihnen gesetzte Repräsentation. Und so könnte denn wohl die reale Welt in dem Sinne Aufgabe sein, daß es gelte, derart tief in alles Wirkliche zu dringen, daß eine objektive Interpretation der Welt sich drin erschlösse. Von der Aufgabe einer derartigen Versenkung aus betrachtet erscheint es nicht rätselhaft, daß der Denker der Monadologie der Begründer der Infinitesimalrechnung war. Die Idee ist Monade – das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt. Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als dieses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.
Die Geschichte der Erforschung des deutschen Literaturbarock leiht der Analysis einer seiner Hauptformen – einer Analysis, die nicht mit der Feststellung von Regeln und Tendenzen, sondern mit der in ihrer Fülle und konkret erfaßten Metaphysik dieser Form allererst einzuhalten hat – einen paradoxen Schein. Ist es doch unverkennbar, daß unter den vielfältigen Hemmungen, denen die Einsicht in die Dichtung dieser Epoche begegnete, eine der gewichtigsten in der wie immer bedeutenden, so doch befangenen Gestalt liegt, die zumal ihrem Drama eignet. Entschiedener als andre appelliert gerade die dramatische Form an den historischen Nachhall. Er ist der barocken versagt geblieben. Die Erneuerung der literarischen Habe Deutschlands, welche mit der Romantik einsetzte, hat die Dichtung des Barock noch bis heute kaum betroffen. Es war vor allem das Drama Shakespeares, das für die dichtenden unter den Romantikern mit seinem Reichtum und mit seiner Freiheit verdunkelnd vor den gleichzeitigen deutschen Versuchen stand, deren Ernst dem spielenden Theater zudem fremd war. Der werdenden germanischen Philologie ihrerseits galten die durchaus unvolkstümlichen Versuche eines gebildeten Beamtentumes als verdächtig. So bedeutend in Wahrheit die Verdienste dieser Männer um Sprache und Volkstum, so bewußt ihr Anteil an der Bildung einer nationalen Literatur war – in ihrer Arbeit prägte die absolutistische Maxime: alles für, nichts durch das Volk zu leisten, zu deutlich sich aus als daß sie Philologen aus der Schule Grimms und Lachmanns hätte gewinnen können. Nicht zum wenigsten ein Geist, der ihnen, an dem Gerüst des deutschen Dramas Fronenden, verwehrte auf die Stoffschicht deutschen Volkstums irgendwo zurückzugreifen, macht die quälende Gewaltsamkeit ihrer Geste. Spielen doch weder deutsche Sage noch deutsche Geschichte im Barockdrama eine Rolle. Aber auch die Verbreiterung, ja die historisierende Verflachung der germanistischen Studien im letzten Drittel des Jahrhunderts kam der Erforschung des barocken Trauerspieles nicht zugute. Die spröde Form blieb einer Wissenschaft, der Stilkritik und Formenanalyse Hilfsdisziplinen letzten Ranges waren, unzugänglich und zu historisch-biographischen Skizzen konnten die aus unverstandenen Werken trübe blickenden Physiognomien der Autoren die wenigsten verleiten. Ohnehin ist von einer freien oder gar spielerischen Entfaltung des dichterischen Ingeniums in diesen Dramen keine Rede. Vielmehr haben die Dramatiker der Epoche an die Aufgabe, die Form eines weltlichen Dramas überhaupt zu erstellen, sich gewaltsam gebunden gefühlt. Und so oft sie auch, nicht selten in schablonenhaften Reprisen, um diese von Gryphius bis Hallmann sich gemüht haben – das deutsche Drama der Gegenreformation hat niemals jene geschmeidigte, jedem virtuosen Griff sich bietende Form gefunden, die Calderon dem spanischen gab. Gebildet hat es sich – und gerade weil es notwendig dieser seiner Zeit entsprang – in einer höchst gewalttätigen Anstrengung und dies allein würde besagen, daß kein souveräner Genius dieser Form das Gepräge gegeben hat. Dennoch liegt der Schwerpunkt aller barocken Trauerspiele in ihr. Was der einzelne Dichter darin fassen konnte, bleibt ihr unvergleichlich verpflichtet und ihrer Tiefe tut seine Beschränkung nicht Abbruch. Diese Einsicht ist eine Vorbedingung der Erforschung. Unerläßlich freilich bleibt auch dann noch eine Betrachtung, die fähig ist zur Anschauung einer Form überhaupt in dem Sinne sich zu erheben, daß sie anderes in ihr erblickt als eine Abstraktion am Leibe der Dichtung. Die Idee einer Form – soviel wird aus dem Vorangeschickten zu wiederholen erlaubt sein – ist nichts weniger Lebendiges als irgendeine konkrete Dichtung. Ja sie ist als Form des Trauerspiels mit einzelnen Versuchen des Barock verglichen entschieden das Reichere. Und so wie jede, auch die ungebräuchliche, die vereinzelte Sprachform gefaßt zu werden vermag nicht nur als Zeugnis dessen, der sie prägte, sondern als Dokument des Sprachlebens und seiner jeweiligen Möglichkeiten, enthält auch – und weit eigentlicher als jedes Einzelwerk – jedwede Kunstform den Index einer bestimmten objektiv notwendigen Gestaltung der Kunst. Diese Betrachtung blieb der älteren Forschung also schon darum verschlossen, weil Formanalysis und Formgeschichte ihrer Aufmerksamkeit entgingen. Aber nicht darum allein. Vielmehr hat ein sehr unkritisches Haften an der barocken Theorie des Dramas mitgewirkt. Es ist die den Tendenzen der Epoche angeglichene des Aristoteles. In den meisten Stücken war diese Angleichung eine Vergröberung. Ohne nach den erheblichen Bestimmungsgründen dieser Variation zu fahnden, war man allzuschnell bereit, von einem entstellenden Mißverständnis zu reden und von da war es zu der Auffassung, die Dramatiker der Epoche hätten im wesentlichen nichts gegeben, als die unverständige Anwendung ehrwürdiger Präzepte nicht mehr weit. Das Trauerspiel des deutschen Barock erschien als Zerrbild der antiken Tragödie. In dieses Schema wollte ohne Schwierigkeit sich fügen, was einen geläuterten Geschmack in jenen Werken befremdend, ja wohl barbarisch anmutete. Die Fabel ihrer Haupt- und Staatsaktionen entstellte das antike Königsdrama, der Schwulst das edle Pathos der Hellenen und der blutrünstige Schlußeffekt die tragische Katastrophe. So gab das Trauerspiel sich als die unbeholfene Renaissance der Tragödie. Und somit drängte eine weitere Klassifikation sich auf, die vollends jede Sicht auf diese Form vereiteln mußte: das Trauerspiel als Renaissancedrama betrachtet steht in seinen markantesten Zügen als mit ebenso vielen Stilwidrigkeiten behaftet da. Lange blieb diese Inventarisierung dank der Autorität von stoffgeschichtlichen Registern unberichtigt. Durch sie wird das höchst verdienstliche, die Literatur des Gebietes fundierende Werk von Stachel »Seneca und das deutsche Renaissancedrama« von jeder nennenswerten Wesenseinsicht, die es denn auch nicht unbedingt erstrebt, streng ausgeschlossen. In seiner Arbeit über den lyrischen Stil des XVII. Jahrhunderts hat Strich diese Äquivokation, die längst die Forschung lähmte, aufgedeckt. »Man pflegt den Stil der deutschen Dichtung im 17. Jahrhundert als Renaissance zu bezeichnen. Wenn man aber unter diesem Namen mehr versteht, als die wesenlose Nachahmung des antiken Apparates, so ist er irreführend und zeugt von dem Mangel an stilgeschichtlicher Orientierung in der Literaturwissenschaft, denn von dem klassischen Geist der Renaissance hat dieses Jahrhundert nichts gehabt. Der Stil seiner Dichtung ist vielmehr barock, auch wenn man nicht nur an Schwulst und Überladung denkt, sondern auf die tieferen Prinzipien der Gestaltung zurückgeht.« Strich 1.c. S.21. Ein weiterer Irrtum, der in der Geschichte von dieser literarischen Periode sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit gehalten hat, hängt mit dem Vorurteil der Stilkritik zusammen. Gemeint ist die angebliche Bühnenfremdheit dieser Dramatik. Es ist dies vielleicht nicht das erstemal, daß die Verlegenheit vor einer sonderbaren Szene zu dem Gedanken avanciert, die habe es nie gegeben, dergleichen Werke hätten nicht gewirkt, die Bühne habe sich ihnen verweigert. Zumindest in der Interpretation des Seneca begegnen Kontroversen, die früheren Diskussionen übers barocke Drama darin gleichen. Wie dem nun sei – für das Barock ist jene hundertjährige Fabel, wie sie von A. W. Schlegel cf. August Wilhelm von Schlegel: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. 6. Bd.: Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur. 3. Ausg., 2. Theil. Leipzig 1846. S.403. – Auch A. W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. (Hrsg. von J. Minor.) 3. Teil ((1803-1804)): Geschichte der romantischen Litteratur. Heilbronn 1884. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. 19.) S.72. bis auf Lamprecht cf. Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte. 2. Abt.: Neuere Zeit. Zeitalter des individuellen Seelenlebens, 3. Bd., 1. Hälfte (= der ganzen Reihe 7. Bd., 1. Hälfte). 3., unveränd. Aufl., Berlin 1912. S.267. sich vererbt, sein Drama sei ein Lesestück gewesen, widerlegt. In den heftigen Vorgängen, die die Schaulust herausfordern, spricht gerade das Theatralische mit besonderer Gewalt. Sogar die Theorie betont die szenischen Effekte bei Gelegenheit. Horazens Dictum: Et prodesse volunt et delectare poetae versetzt die Buchnersche Poetik vor die Frage, wie letzteres denn vom Trauerspiele denkbar sei und sie erwidert: von seinem Inhalt nicht, sehr wohl aber von seiner theatralischen Darstellung cf. Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919. S.58..
Die Forschung, welche mit so vielfachen Befangenheiten sich diesem Drama gegenüber fand, hat in Versuchen einer objektiven Würdigung, die wohl oder übel der Sache fremd bleiben mußten, die Verwirrungen nur gesteigert, denen nun jede Besinnung auf den Sachverhalt von Anfang an begegnen muß. Daß dabei die Sache so könnte aufgefaßt werden, von der Wirkung des barocken Trauerspiels ihre Übereinstimmung mit den von Aristoteles als Wirkung der Tragödie angesprochenen Gefühlen der Furcht sowie des Mitleids zu erweisen, um zu schließen, es sei echte Tragödie – da doch Aristoteles sich nie hat beifallen lassen zu behaupten, nur Tragödien könnten Furcht und Mitleid hervorrufen – das sollte man wohl nicht für möglich halten. Höchst skurril bemerkt ein älterer Autor: »Durch seine Studien lebte sich Lohenstein so in eine vergangene Welt ein, daß er darüber seine vergaß und in Ausdruck, Denken und Fühlen einem antiken Publikum verständlicher, als dem seiner Zeit gewesen wäre.« Conrad Müller: Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein. Breslau 1882. (Germanistische Abhandlungen. 1.) S.72/73. Dringender als die Widerlegung derartiger Extravaganzen mag der Hinweis erfordert werden, daß ein Wirkungszusammenhang nie eine Kunstform bestimmen kann. »Die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst ist die ewige unerläßliche Forderung! Aristoteles, der das Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! welch ein Jammer!« Goethe: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4. Abt.: Briefe, 42. Bd.: Januar-Juli 1827. Weimar 1907. S.104. So Goethe. Gleichviel, ob Aristoteles durchaus vor dem Verdacht, den Goethe von ihm wehrt, zu sichern ist – daß die von ihm definierte psychologische Wirkung aus der kunstphilosophischen Debatte über das Drama gänzlich ausscheide, ist ein dringendes Anliegen ihrer Methode. In diesem Sinne erklärt Wilamowitz-Moellendorff: »das sollte man einsehn, daß die χάδαρσις; für das Drama nicht artbestimmend sein kann, und selbst wenn man die affekte, durch welche das drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige paar furcht und mitleid recht unzureichend bleiben.« Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Einleitung in die griechische Tragödie. Unveränd. Abdr. aus der 1. Aufl. von Euripides Herakles I, Kap. I-IV. Berlin 1907. S.109. – Noch unglücklicher und weit häufiger noch als der Versuch, das Trauerspiel mit Aristoteles zu retten, ist jener Typus ›Würdingung‹, der da mit Aperçus sehr leichten Kaufes die ›Notwendigkeit ‹ dieses Dramas bewiesen haben will und mit ihr ein anderes, von dem nicht ersichtlich zu sein pflegt, ob das der positive Wert oder die Hinfälligkeit jedweder Bewertung ist. Im Bereich der Geschichte ist die Frage nach der Notwendigkeit seiner Erscheinungen ganz offenkundig allerwege apriorisch. Das falsche Schmuckwort der ›Notwendigkeit‹, mit dem man das barocke Trauerspiel oft dekorierte, schillert in vielen Farben. Es meint nicht nur historische in müßigem Kontrast zum bloßen Zufall, sondern auch die subjektive einer bona fides im Gegensatz zum Virtuosenstück. Daß aber mit der Feststellung, das Werk entspringe notwendig einer subjektiven Disponiertheit seines Autors, nichts gesagt ist, erhellt. Nicht anders steht's um die ›Notwendigkeit‹, die Werke oder Formen als Vorstufen der ferneren Entwicklung in einem problematischen Zusammenhang begreift. »Mag sein Naturbegriff und seine Kunstanschauung zerrissen und zertrümmert sein für immer; was unverwelklich, unverderblich, unverlierbar fortgedeiht, das sind einmal die stofflichen Entdeckungen, und dann noch mehr die technischen Erfindungen des XVII. Jahrhunderts.« Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko. Leipzig 1924. S.299. So rettet noch die jüngste Darstellung die Dichtung dieser Zeit als bloßes Mittel. Die ›Notwendigkeit‹ cf. J. Petersen: Der Aufbau der Literaturgeschichte. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 6 (1914), S.1-16 u. S.129-152; bes. S.149 u. S. 151. der Würdigungen steht in einer Sphäre der Äquivokationen und gewinnt ihren Anschein aus dem einzigen ästhetisch erheblichen Begriff der Notwendigkeit. Es ist der, dessen Novalis gedenkt, wo er von der Apriorität der Kunstwerke als einer Notwendigkeit da zu sein, welche sie mit sich führen, spricht. Daß diese einzig einer Analyse, die sie bis in den metaphysischen Gehalt beträfe, sich ergibt, ist augenfällig. Der moderantistischen ›Würdigung‹ entgeht sie. In einer solchen bleibt am Ende auch der neue Cysarzsche Versuch befangen. Wenn frühern Abhandlungen die Motive einer ganz anderen Betrachtungsweise abgingen, so überrascht bei dieser letzten, wie wertvolle Gedanken und präzise Beobachtungen durch das System der klassizistischen Poetik, auf welches sie bewußt bezogen werden, um ihre beste Frucht kommen. Zuletzt spricht hier weniger die klassische ›Rettung‹ denn eine unmaßgebliche Entschuldigung. In älteren Werken pflegt an dieser Stelle der Dreißigjährige Krieg sich einzufinden. Für alle Entgleisungen, die man an dieser Form zu tadeln fand, erscheint er haftbar. »Ce sont, a-t-on dit bien des fois, des pièces écrites par des bourreaux et pour. Mais c'est ce qù'il fallait aux gens de ce tempslà. Vivant dans une atmosphère de guerres de luttes sanglantes, ils trouvaient ces scènes naturelle; c'était le tablaeau de leur moeurs qu'on leur offrait. Aussi goûtèrent-ils naîvement, brutalement le plaisir qui leur ètait offert.« Louis G. Wysocki: Andreas Gryphius et la tragédie allemande au XVIIe siècle. Thèse de doctorat. Paris 1892. S.14.
Dergestalt hatte die Forschung des Jahrhundertendes von einer kritischen Ergründung der Trauerspielform sich hoffnungslos weit entfernt. Der Synkretismus kulturhistorischer, literargeschichtlicher, biographischer Betrachtung, mit dem sie die kunstphilosophische Besinnung zu ersetzen bestrebt war, hat in der neusten Forschung ein Pendant von weniger harmloser Struktur. Wie ein Kranker, der im Fieber liegt, alle Worte, die ihm vernehmbar werden, in die jagenden Vorstellungen des Deliriums verarbeitet, so greift der Zeitgeist die Zeugnisse von früheren oder von entlegenen Geisteswelten auf, um sie an sich zu reißen und lieblos in seinen selbstbefangenen Phantasien einzuschließen. Gehört doch dies zu seiner Signatur: kein neuer Stil, kein unbekanntes Volkstum wäre aufzufinden, das nicht alsbald mit voller Evidenz zu dem Gefühl der Zeitgenossen spräche. Dieser verhängnisvollen pathologischen Suggestibilität, kraft welcher der Historiker durch »Substitution« Petersen 1.c. S.13. an die Stelle des Schaffenden sich zu schleichen sucht, als wäre der, eben weil er's gemacht, auch der Interpret seines Werkes, hat man den Namen der ›Einfühlung‹ gegeben, in dem die bloße Neugier unterm Mäntelchen der Methode sich vorwagt. Auf diesem Streifzug ist die Unselbständigkeit der gegenwärtigen Generation zumeist der imposanten Wucht erlegen, mit der ihr das Barock begegnete. Zu einer echten, neue Zusammenhänge nicht zwischen dem modernen Kritiker und seiner Sache, sondern innerhalb der Sache selbst erschließenden Einsicht hat die Umwertung, die mit dem Ausbruch des Expressionismus – wenn auch nicht unberührt von der Poetik der Georgischen Schule cf. Christian Hofman von Hofmanswaldau: Auserlesene Gedichte. Mit einer Einleitung hrsg. von Felix Paul Greve. Leipzig 1907. S.8. – eintrat, bisher nur in den wenigsten Fällen geführt cf. jedoch Arthur Hübscher: Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls. Grundlegung einer Phaseologie der Geistesgeschichte. In: Euphorion 24 (1922), S.517-562 u. S. 759–805. Aber die Geltung der alten Vorurteile ist im Schwinden. Frappante Analogien zu dem gegenwärtigen Stande des deutschen Schrifttums haben immer neuen Anlaß zu einer, wenn auch meist sentimentalen so doch positiv gerichteten Versenkung ins Barocke gegeben. Schon im Jahre 1904 erklärte ein Literaturkritiker dieser Epoche: »es will mir ... scheinen, als ob das Kunstgefühl noch keiner Periode seit zwei Jahrhunderten mit der ihren Stil suchenden Barockliteratur des siebzehnten Jahrhunderts im Grunde so verwandt gewesen ist, wie das Kunstgefühl unserer Tage. Innerlich leer oder im Tiefsten aufgewühlt, äußerlich von technisch formalen Problemen absorbiert, die sich mit den Existenzfragen der Zeit zunächst sehr wenig zu berühren schienen, – so waren die meisten Barockdichter, und ähnlich sind, so weit man sehen kann, wenigstens die Dichter unserer Zeit, die ihrer Produktion das Gepräge geben.« Victor Manheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius. Studien und Materialien. Berlin 1904. S. XIII. Inzwischen hat die Meinung dieser Sätze, die schüchtern und zu kurz ergriffen ist, in einem sehr viel weitern Sinne sich behauptet. 1915 erschienen als Auftakt des expressionistischen Dramas die »Troerinnen« von Werfel. Nicht zufällig begegnet der gleiche Stoff bei Opitz im Beginn des Barockdramas. In beiden Werken war der Dichter auf das Sprachrohr und die Resonanz der Klage bedacht. Dazu bedurfte es in beiden Fällen nicht weitgespannter künstlicher Entwicklungen, sondern einer am dramatischen Rezitativ sich schulenden Verskunst. Zumal im Sprachlichen ist die Analogie damaliger Bemühung mit der jüngstvergangenen und mit der momentanen augenfällig. Forcierung ist den beiden eigentümlich. Die Gebilde dieser Literaturen wachsen nicht sowohl aus dem Gemeinschaftsdasein auf, als daß sie durch gewaltsame Manier den Ausfall geltender Produkte in dem Schrifttum zu verdecken trachten. Denn wie der Expressionismus ist das Barock ein Zeitalter weniger der eigentlichen Kunstübung als eines unablenkbaren Kunstwollens. So steht es immer um die sogenannten Zeiten des Verfalls. Das höchste Wirkliche der Kunst ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Zu Zeiten aber bleibt das runde Werk allein dem Epigonen erreichbar. Das sind die Zeiten des ›Verfalls‹ der Künste, ihres ›Wollens‹. Darum entdeckte Riegl diesen Terminus gerad an der letzten Kunst des Römerreiches. Zugänglich ist dem Wollen nur die Form schlechtweg doch nie ein wohlgeschaffenes Einzelwerk. In diesem Wollen gründet die Aktualität des Barock nach dem Zusammenbruch der deutschen klassizistischen Kultur. Das Streben nach einem Rustikastil der Sprache, der sie der Wucht des Weltgeschehens gewachsen scheinen ließe, kommt hinzu. Die Übung, Adjektiva, die keinen adverbialen Gebrauch kennen, mit dem Hauptwort zum Block zusammenzupressen, ist nicht von heute. ›Großtanz‹, ›Großgedicht‹ (d.h. Epos) sind barocke Vokabeln. Neologismen finden sich überall. Heute wie damals spricht aus vielen darunter das Werben um neues Pathos. Die Dichter suchten der innersten Bildkraft, aus welcher die bestimmte und doch sanfte Metaphorik der Sprache hervorgeht, sich persönlich zu bemächtigen. Weniger in Gleichnisreden als in Gleichnisworten suchte man seine Ehre, als sei die Sprachschöpfung unmittelbare Angelegenheit der dichterischen Wortfindung. Die barocken Übersetzer fanden Freude an den gewaltsamsten Prägungen wie sie bei Heutigen zumal als Archaismen begegnen, in denen man der Quellen des Sprachlebens sich zu versichern meint. Immer ist diese Gewaltsamkeit Kennzeichen einer Produktion, in welcher ein geformter Ausdruck wahrhaften Gehalts kaum dem Konflikt entbundener Kräfte abzuringen ist. In solcher Zerrissenheit spiegelt die Gegenwart gewisse Seiten der barocken Geistesverfassung bis in die Einzelheiten der Kunstübung. Dem Staatsroman, dem damals wie heute sich angesehene Autoren widmeten, stehen die pazifistischen Bekenntnisse der Literaten zum simple life, zur natürlichen Güte des Menschen heute so gegenüber wie damals das Schäferspiel. Den Literaten, dessen Dasein heute wie je in einer vom tätigen Volkstum getrennten Sphäre sich abspielt, verzehrt von neuem eine Ambition, in deren Befriedigung die damaligen Dichter freilich trotz allem glücklicher waren als die heutigen. Denn Opitz, Gryphius, Lohenstein haben in Staatsgeschäften hin und wieder dankbar entgoltene Dienste zu leisten vermocht. Und daran findet diese Parallele ihre Grenze. Durchgehend fühlte der barocke Literat ans Ideal einer absolutistischen Verfassung sich gebunden, wie die Kirche beider Konfessionen sie stützte. Die Haltung ihrer gegenwärtigen Erben ist, wenn nicht staatsfeindlich, revolutionär, so durch den Mangel jeder Staatsidee bestimmt. Zuletzt ist über mancherlei Analogien die große Differenz nicht zu vergessen: im Deutschland des XVII. Jahrhunderts war die Literatur, so wenig die Nation sie auch beachten mochte, bedeutungsvoll für ihre Neugeburt. Die zwanzig Jahre deutschen Schrifttums dagegen, die zur Erklärung des erwachten Anteils an der Epoche angezogen wurden, bezeichnen einen, wie auch immer vorbereitenden und fruchtbaren, Verfall.
Desto gewaltiger der Eindruck, den die mit verstiegenen Kunstmitteln unternommene Ausprägung verwandter Tendenzen im deutschen Barock gerade jetzt hervorzurufen imstande ist. Einer Literatur gegenüber, die durch den Aufwand ihrer Technik, die gleichförmige Fülle ihrer Produktionen und die Heftigkeit ihrer Wertbehauptungen Welt und Nachwelt gewissermaßen zum Schweigen zu bringen suchte, ist die Notwendigkeit der souveränen Haltung, wie Darstellung von der Idee von einer Form sie aufdringt, zu betonen. Die Gefahr, aus den Höhen des Erkennens in die ungeheuren Tiefen der Barockstimmung sich hinabstürzen zu lassen, bleibt selbst dann unverächtlich. Immer wieder begegnet in den improvisierten Versuchen, den Sinn dieser Epoche zu vergegenwärtigen, das bezeichnende Schwindelgefühl, in das der Anblick ihrer in Widersprüchen kreisenden Geistigkeit versetzt. »Auch die intimsten Wendungen des Barock, auch seine Einzelheiten – vielleicht sie gerade – sind antithetisch.« Wilhelm Hausenstein: Vom Geist des Barock. 3.-5. Aufl., München 1921. S.28. Nur eine von weither kommende, ja sich dem Anblick der Totalität zunächst versagende Betrachtung kann in einer gewissermaßen asketischen Schule den Geist zu der Festigung führen, die ihm erlaubt, im Anblick jenes Panoramas seiner selbst mächtig zu bleiben. Der Gang dieser Schulung ist es, der hier zu beschreiben war.