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Wer kennt nicht das Märchen von der armen Prinzessin, die mit Schauder und Grauen den häßlichen, glotzäugigen Frosch zum Gefährten nehmen, mit ihm aus einem Schüsselchen essen und in einem Bettchen schlafen muß, und dadurch den allerschönsten und allerfreundlichsten Königssohn von seiner Verzauberung erlöst, der sie zu seiner Königin macht und ihr Leben in eitel Glück und Wonne kleidet?
Wenn ich aufs Leben zurückblicke, meine ich, daß fast jeder von uns Menschen einmal solch arme Märchenprinzeß ist, die mit Thränen und Widerstreben vor einem Froschungeheuer steht, und dann, wenn sie sich ins Unvermeidliche fand und es tapfer auf sich nahm, dahinter einen leuchtenden, köstlichen Königssohn des Glücks fand.
Wenigstens mir ging es damals so, damals als ich vierzehn Jahre zählte und ein so unausstehlicher, arroganter und anspruchsvoller Backfisch war, daß ich eigentlich gar nichts Besseres verdient hätte, als in Wirklichkeit einem Froschungeheuer vorgeworfen zu werden, damit es mich mit Haut und Haaren und mit all meinen Einbildungen, Zierereien und Affigkeiten schlankweg verschlänge.
Ja, das sage ich jetzt, nachdem manch wechselvolles Jahr über mich hingezogen ist, aber damals fand ich das durchaus nicht, damals hielt ich mich direkt für ein Muster – wenigstens meistenteils –, und es war mir einfach unbegreiflich, was Mama meinte, als sie mit solch tiefem Seufzer sagte: »Vor allen Dingen, Delia, brauchst du diese Veränderung der Verhältnisse, damit ein vernünftiges Mädchen aus dir wird!«
Das sollte erst aus mir werden, sollte – o Schauder und Graus – in einem ländlichen Pächterhause aus mir werden! In einem Pächterhause, dessen Bewohner in meinen Ideen nicht viel höher standen wie unsre Butterfrau und unser Kohlenmann. Bauern, Bauern, wie alles, was vom Lande stammte.
Mama machte ein sehr strenges Gesicht, als ich in flammender Empörung mit dieser Ansicht herausplatzte.
»Da fangen schon die verkehrten, überspannten Ideen an,« sagte sie kopfschüttelnd. »Es ist wirklich hohe Zeit, daß das alles anders wird. Da wächst einem solch ein Brennesselchen unter den Fingern empor und man merkt bei den zarten Blättchen nicht eher das Unkraut, bis es anfängt zu stechen. Papas Krankheit ist mir nur dazwischen gekommen, sonst hätte ich dich längst ernsthaft vorgenommen und dir all die thörichten Mucken aus dem dummen, kleinen Kopf verjagt. Früher warst du solch ein liebes, einfaches Kind, aber seitdem wir hieher versetzt sind und du durch die Schule in den neuen Umgang hereingekommen bist –«
Damit traf Mama meine empfindlichste Stelle. Mein Umgang beherrschte mich vollständig, auf ihn war ich grenzenlos stolz, und wenn er mich verändert hatte, so war das nur zum Besseren, Höheren – wenigstens nach meiner Ansicht.
Also unterbrach ich jetzt auch Mamas Standrede, die mir so wie so nach keiner Seite hin gefallen hatte.
»Aber, Mama, besseren Umgang kann ich doch nicht haben! Es sind die feinsten Mädchen aus der ganzen Stadt!«
»Siehst du, da steckt es! Allein das dumme Wort ›fein‹ charakterisiert alles. Wenn du gesagt hättest: die nettesten, tüchtigsten Mädchen –«
»Gott – das sind sie nebenbei –«
Aber das sagte ich kleinlaut, denn eigentlich so furchtbar nett und tüchtig fand ich sie selbst nicht. Aber ich muß auch gestehen, daß ich auf diese Eigenschaften damals weniger Wert legte, wie auf die von meiner Mama verachtete Feinheit.
»Sie denken nicht daran,« behauptete Mama denn auch kaltblütig. »Eingebildete, kleine Affen sind sie, und dich haben sie allmählich auch zu einem solchen gemacht.«
»Aber, Mama, wie kannst du das sagen! Marie Luise von Amstätten ist schon beinahe sechzehn Jahre.«
»Nun ja, sie ist dann eben ein großer Affe, die Eingebildetste und Großthuendste von euch!«
»Ja, ihr Papa ist auch Kammerherr, – das ist doch eine Stellung!«
»Gewiß, für ihren Vater, aber lange nicht für sie.«
»Ja, aber sie wird mal Hofdame, und da ich das auch werden soll –«
Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Was sollst du werden? Hofdame? – Es scheint, als wenn du schon vollkommen übergeschnappt wärest! Wie kommst du denn auf diese unmögliche Idee?«
»Unmöglich?« Ich war ernsthaft beleidigt; Mama verstand mich auch gar nicht in meinen feinsten Gefühlen. »Großmama war doch auch Hofdame, und sie hat gesagt, ich könnte es werden –«
»Mein liebes Kind, deine Großmutter wuchs in ganz andern Verhältnissen auf wie du. Ihr Vater war hoher Beamter an einem kleinen Hof, da lag es fast auf der Hand, daß sie Hofdame wurde. Mittlerweile hat sich das alles sehr verändert, und wenn Großmama auch mal im Scherz so etwas geäußert hat, weil ihre Jugenderinnerungen ihr die Hofdamenlaufbahn reizender wiederspiegeln, wie sie eigentlich war, und sie ihrem einzigen Enkelkinde das Beste wünscht, so sind das doch nur die liebevollen Phantasien einer alten Dame, die aber mit dem wirklichen Leben gar nichts zu schaffen haben. Du bist vorläufig ein dummer, kleiner Backfisch und hast an nichts andres zu denken, als daß du aus diesem für dich und deine Umgebung wenig anmutigen Zustand herauswächst zu einem vernünftigen, tüchtigen Mädchen!«
»Na ja, Mama, meinetwegen. Wenn schon nichts Besseres aus mir werden soll, so laß mich wenigstens hier.«
»Adele, Adele!« Ich bekam meinen vollen Namen, was nie ein Zeichen besonderen Wohlgefallens war. »Was ist nur aus dir geworden! Es ist wirklich doppeltes Elend, Krankheit im Hause zu haben! Erstens der Krankheit halber, zweitens weil es jeden Überblick über die Umgebung raubt. – Da muß eben eine Änderung kommen, es ist die höchste Zeit.«
»Mamachen, ich will ja ganz vernünftig sein. Gott, ich weiß bloß nicht, was du eigentlich willst! Ich thue doch nichts Böses!«
Meine Thränen flossen. Wirklich, ich wußte nicht, was Mama an mir auszusetzen hatte. In meinen Augen war ich ein tadelloses Mädchen. Ich machte eben solch tiefe Knickse und verstand mich ebenso zierlich zu benehmen und zu bewegen wie Marie Luise, die eine Zierde jedes Salons war, wie sie selbst sagte. Ich war dabei fleißiger wie sie, die mit ihren fast zwei Jahren Altersvorsprung in betreff des Wissens mir ganz gleich stand.
Und wenn ich erst an die andern Mädchen dachte! Tilly Nottersen war eigentlich, wie wir in schwachen Stunden unter uns sagten, faul, dumm und gefräßig; bloß war sie schrecklich reich. Solche Kleider, wie sie, hatte keine von uns, und wenn es regnete, kam stets die Equipage sie abholen.
Marie Luise war auch immer sehr freundlich zu ihr, wenngleich sie über die Dicke, wie wir sie nannten, mehr spottete wie über alle andern.
Überhaupt Marie Luise spottete gern, sie that einem manchmal sehr weh, aber sie sagte, das wäre geistreich und gehöre zur guten Erziehung. Und schließlich ließ ich mir das noch lieber gefallen als Blanche Wrights Pomadigkeit, die zwar mit einer gewissen Gutmütigkeit gepaart, aber auf die Dauer sträflich langweilig und manchmal direkt grob war.
Aber Blanche war Ausländerin und deshalb sehr interessant. Ausländerinnen, besonders wenn sie aus England oder Amerika stammen, können thun und sein wie sie wollen, es ist immer schön und fein. Sie sagte dann stets, das wäre bei ihnen so Sitte, sie wären freier im Denken und bedachtsamer im Reden wie wir beschränkten Deutschen, die man bedauern müsse. Besonders die Frauen wären bei uns geknechtet und dürften nie eine eigene Meinung haben.
Da stimmte Marie Luise ganz mit ihr überein und sagte, Blanche wäre ein bedeutender, strebender Geist und man müsse ihr deshalb viel verzeihen, sie hätte es innerlich.
Na ja, äußerlich hatte sie es auch nicht, denn sie war ganz klein, schmal und häßlich, und die Pomadigkeit kam mir auch nie wie ein Zeichen von Bedeutung und Strebsamkeit vor, aber vielleicht verstand Marie Luise das so mehr im großen. Und darin hatte Blanche ja recht, eine eigene Meinung durfte eine deutsche Frau nicht haben. Ich sah es eben wieder, bei der Unterhandlung mit Mama, – ließ sie mich zu einer eigenen Meinung kommen?
Nein, sie unterbrach mich schon wieder.
»Böses? Nein, mein Kind, davor möge dich der Himmel bewahren, aber Thörichtes, Verkehrtes, was dir die Fesseln alberner Vorurteile und Kleinlichkeiten um die junge Seele legt und dich daran hindert, ein fröhliches, unbefangenes, ausgelassenes Kind zu sein, wozu dich deine Jahre glücklicherweise noch berechtigen.«
Ich rümpfte die Nase. Das Wort »Kind« paßte mir gar nicht mehr. Man konnte nie zeitig genug anfangen, sich als junge Dame zu fühlen, sagte Marie Luise, und damit hatte sie mir in den anderthalb Jahren, die wir uns nun schon kannten, manches abgewöhnt, was mir sonst noch sehr in der Art lag und was ich nur mit einem schweren Seufzer aufgab.
Aber ich steckte gerade in dem Alter, in dem man sich an Vorbilder klammert, weil man selbst nicht recht weiß, wie man mit sich daran ist. Überall hat man Halbes und Unsicheres, und da folgt man nun blind dem anscheinend sicheren Führer, ob er zur Tiefe oder zur Höhe lenkt, man merkt und unterscheidet es nicht, man geht unentwegt mit ihm.
Das wäre wohl nie so weit gekommen, wenn Mama in dieser Zeit mehr auf mich hätte achten können. Aber im Anfange, als wir in die neue Garnison kamen, hatte Mama viel damit zu thun, sich in die veränderten Verhältnisse einzuleben, dann quälte sie sich monatelang mit einem bösen Magenleiden, und als sie dieses kaum überwunden hatte, fing Papa mit dem Rheumatismus an, schleppte sich lange Zeit mit Stöhnen und Zähneknirschen hin und brach dann endlich doch zusammen.
In den traurigen Monaten seiner Pflege fand Mama erst recht nicht Zeit und Sinn für Beobachtung ihres heranwachsenden Töchterleins, das mittlerweile seine eigenen Wege gegangen und nach eigenem Geschmack sich zu einer richtigen eitlen und oberflächlichen kleinen Närrin entwickelt hatte.
Die schöne Frühlingszeit brachte in Papas Befinden allmählich Besserung, Mama fing an aufzuatmen, sich wieder einmal mit frischerem Blick umzusehen und zu bemerken, daß ihre Einzigste ihr nicht gefiel, nach keiner Seite hin gefiel. Denn ich war in letzter Zeit zwar endlich etwas gewachsen, aber nebenbei noch schmächtiger wie vorher, blutarm, müde und verdrießlich geworden und zeigte zu all diesen körperlichen Annehmlichkeiten auch noch eine große Neigung, mich beleidigt zu fühlen und in Thränen zu zerfließen.
Das that ich denn auch jetzt redlich, und diesmal hatte ich wirkliche Berechtigung dazu, denn das wird keinem gefallen, einen ganzen Berg Tadel herunterschlucken zu müssen und nebenbei in die Verbannung geschickt zu werden, in ein Dorf, während die Eltern in große, vornehme Bäder, in das Hochgebirge und in Gott weiß was für sonstige Schönheiten gehen!
Von allem andren abgesehen, wie hätte das mein Renommee bei den Freundinnen gehoben, wenn ich solche Reisen gemacht hätte!
Tilly ging in jedem Jahr die Sommerferien über nach der Schweiz, Blanche zu den Eltern nach England, was hochfein, und Marie Luise auf das Stammgut der Familie, was das Hochfeinste war, und ich krankte infolgedessen schon seit Jahresfrist an glühenden Reisewünschen.
Nun konnten sie erfüllt werden. Es lag ganz nahe, daß meine Eltern ihre Einzigste mitnahmen, – nein, es war sogar selbstverständlich, und da kam Mama mit der haarsträubenden Idee, mich zu einer Jugendfreundin aufs Dorf zu schicken, aufs Dorf in ein Pächterhaus! –
»Da wirst du Leib und Seele auskurieren, ein rosiges, frisches, gesundes Mädchen werden und einfache, vernünftige Ansichten bekommen,« sagte Mama. »Widersprich mir nicht, Kind, es ist alles wohl überlegt und du änderst nichts daran. Dich mit uns auf die weiten Reisen zu nehmen ist erstens zu teuer und zweitens habe ich mit einem Leidenden gerade genug zu thun. Dazu auch noch auf eine zweite Person zu achten, die hier piepst und da piepst, geht über meine Kräfte. Dort, bei Tante Regine wirst du dir das schnell abgewöhnen. In der reinen, guten Landluft, beim einfachen, regelmäßigen Leben und gesunder Beschäftigung gehen die Stadtpflanzen Bleichsucht und Nervosität bald ein.«
Das klang nun wieder nicht nach meinem Geschmack. Bleichsüchtig und nervös waren alle meine Freundinnen, das gehörte zur Vornehmheit, nur die dicke Tilly nicht. Natürlich, die aß zu viel und dachte zu wenig, das war eben unvornehm.
Das meinte auch Marie Luise, wenn sie in ihrer Mokierlaune war, – und nun sollte ich auch so werden, dick und gefräßig!
Ich begriff Mama nicht, aber diesmal ließ ich meine Gedanken nicht laut werden, Mama hatte ja doch kein Verständnis dafür, sie würde nur noch mehr schelten.
Ach, und dabei war sie so gut! Mit ihren weichen, weißen Händen, die ich so liebte, strich sie mir liebevoll über das Haar, und nun küßte sie mein thränenfeuchtes Gesicht.
»Kleines Dummchen, quäl' dich und mich doch nicht, sondern bemühe dich, einzusehen, daß deine Eltern nur das Beste für dich wollen,« sagte sie zärtlich. »Du findest dort eine gütige Pflegemutter und eine liebe, verständige Freundin. Die Guste ist nur ein Jahr älter wie du – –«
Guste! Nun hieß die auch noch Guste, wie unser Milchmädchen, die ich ihres festen Schrittes und überkräftigen Körperbaues halber stets den Milchdragoner nannte!
So würde jene Guste gewiß auch sein, denn wenn man einen so plebejischen Namen hatte, mußte man schon wie ein Dragoner aussehen!
Aber als ich das mit der ganzen Geringschätzung, die ich dafür empfand, aussprach, wurde Mama ernstlich böse, verbat sich jedes fernere Wort des Widerspruchs und Unsinns, und ließ mich in meinem ganzen Jammer und Elend allein sitzen.
Ja, da hatte ich nun das Froschungeheuer vor mir und konnte es ebensowenig wie die Königstochter im Märchen in die abgrundtiefen Wasser meines Widerwillens werfen, sondern war der ekelhaften Zusammengehörigkeit mit ihm anscheinend unrettbar verfallen.
Vorläufig sorgte und ängstigte ich mich am meisten vor dem Augenblick, da meine Schulfreundinnen das mir drohende Unglück erfahren mußten, denn darüber war ich sicher, zu all meinem Leid und Kummer würden sie, besonders Marie Luise, noch Spott und Verachtung häufen. Natürlich, – wenn man aufs Land zu Pächtersleuten geht!
Mama hatte mir zwar gesagt, daß es durchaus nichts gesellschaftlich Erniedrigendes wäre, eine Pachtung zu haben, daß Herr und Frau Nord, beide aus sehr guter Familie stammten und nur nicht Vermögen genug besäßen, um sich ein eigenes Gut zu kaufen. Aber das kam gar nicht zur Geltung vor meinen verdrehten Ideen, nach denen Pächtersleute ein für allemal nur eine Kleinigkeit höher rangierten wie Bauern, und mit Wohnung, Sprache und Benehmen sich keinesfalls unter jene Menschen rechnen konnten, die ich als ebenbürtig, und deren Umgang ich für wünschenswert ansah.
Und so würden meine Freundinnen auch urteilen, ich wußte es, besonders Marie Luise. Die hatte schon immer so wegwerfend gesprochen von den Bauern, die das bewußte Stammgut verwalteten, ebenso wie meine künftigen Pflegeeltern auf einem Vorwerk desselben wohnten und von den Herrschaften, wenn diese zur Sommerszeit dort einkehrten, gar nicht beachtet wurden.
»Selbstverständlich, sie zählen nicht zur Gesellschaft!« sagte Marie Luise, kniff die Augen halb zu, rümpfte die etwas breite Nase, die ich eigentlich in lichten Momenten gar nicht aristokratisch, sondern ganz gewöhnlich fand, mit ganz eigener Hoheit und sah furchtbar vornehm und imponierend aus, wenigstens nach ihrer und auch nach meiner Ansicht.
Und da sollte ich nun gestehen, daß ich zu Leuten ging, die selbstverständlich nicht zur Gesellschaft zählten!
Wenn ich es nur hätte verschweigen können! Aber keine Idee daran, das Schicksal des Bekennens traf mich schon in den nächsten Tagen.
»Du, Delia,« sagte mein Vornehmheitsideal, »deine Mama hat meiner erzählt, daß ihr für Monate auf Reisen geht, erst nach Wiesbaden, dann ins bayrische Gebirge und vielleicht noch nach der Schweiz. Du hast doch mehr Glück wie Verstand,« – man sieht, Marie Luise verwöhnte mich nicht durch rücksichtsvolle Höflichkeiten – »die langweilige Schule so lange schwänzen und großartig auf Reisen leben, das könnte auch eine treffen, die das mehr zu würdigen verstände!« – Damit meinte sie sich – »Du bist doch noch ein halbes Kind! Freilich, ich würde ja immer vorziehen, auf unser Stammgut zu gehen, das ist doch feudaler!«
Unter andern Verhältnissen wäre ich ihr schon vorher in die Rede gefallen und zwar auch nicht höflich, denn trotz aller Hochachtung vor der Kammerherrntochter wuchs mir sonst doch niemals der Mund zu. Aber jetzt schwieg ich. Mein Verhängnis lastete zu drückend auf mir.
»Gott,« sagte Tilly und rümpfte nun ihrerseits die auch nicht schmal geratene Nase – »du immer mit deinem ›Stammgut‹ und dem ›feudal‹. Meine Eltern haben auch in Sachsen ein großes Gut, aber wir finden es viel feiner, im Sommer in die großen Hotels zu gehen. So gut ißt man nämlich auf dem Lande doch nicht, denn unser Koch geht nicht mit aufs Land, dafür ist er zu fein.«
»Das nenne ich schon Protzentum,« ereiferte sich Marie Luise, die immer gereizt wurde, wenn jemand ihr Stammgut nicht genügend anerkannte. »Auf Reisen gehen des Essens halber, wie gewöhnlich!«
»Ach was, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, das ist gar nicht gewöhnlich, du bist bloß neidisch!« Tilly zuckte die Achseln und holte als Beleg für ihre Lebensweisheit ein appetitliches Frühstücksbrötchen vor.
»Nein, du bist neidisch, weil unser Gut ein Stammgut ist, und ihr das nicht haben könnt!« höhnte Marie Luise zornrot, und es wäre zu einem regelrechten Zank gekommen, was mir damals in Bezug auf meine Enthüllungen, die dann noch etwas hinausgeschoben blieben, ganz recht gewesen wäre, wenn sich nicht unglücklicherweise Blanche ins Mittel gelegt hätte.
Sie war die Ruhigste von uns und zankte am wenigsten, vielleicht auch, weil ihr das Deutsche noch immer etwas schwer wurde und sie mit unsern flinken Zungen nicht gleichen Schritt halten konnte.
»Laßt doch euer langueiliges Streit,« sagte sie. »Ein Stammgut ist serr gut, aber gutes Essen auch. Das kennt man alles in England, oh yes! Man muß nich streiten um Sachen uo natürlich seind. Delia kann uns sagen besser, uann sie geht und uohin?«
So, nun mußte ich heran, mich rettete kein Engel, rein nichts mehr, denn jetzt wandten sich auch die andern beiden an mich mit ihren Fragen, und ich mußte Farbe bekennen.
Ach, erst das Erstaunen und dann der Sturm, der losbrach! Ganz wie ich es mir gedacht hatte! Ich mußte mich beinahe tot schämen!
Natürlich hatte ich zuerst nur zugestanden, daß ich aufs Land zu Bekannten von Mama ginge, aber dann wurden mir die Pächtersleute auch abgefragt. Sie waren ja alle neugierig wie die Nachtigallen.
»Pächter sind es? Was, Pächter? O Gott, du Arme! Wie ist das möglich? In so kleinbürgerliche, nein, in so bäuerliche Verhältnisse kommst du?« Marie Luise wich ordentlich wie vor einer Pestkranken zurück. »Den Leuten nicke ich so von oben herab zu und spreche mal ein paar freundliche Worte mit ihnen, weil Papa darauf hält, daß man human ist, auch gegen Untergebene; aber in Beziehung zu ihnen treten –«
»Ja, Leute, die nicht genug Geld haben, um sich was zu kaufen, die müssen was pachten,« bestätigte Tilly verächtlich. Leute, die kein Geld hatten, waren in ihren Augen überhaupt nur halbe Menschen. »Na, da wirst du aber gewiß nicht gut zu essen bekommen, da kannst du noch spindeldürrer werden wie du jetzt bist.«
Und dazu saß sie so breit und vollgegessen da, daß ich sie ganz greulich fand und ihr gern einen Klaps gegeben hätte, ebenso wie Marie Luise mit ihrem hochmütigen Gesicht. Nein, im Moment hatte ich meine Freundinnen gar nicht lieb!
»Uas ihr nur uollt? Pachtersleute können serr gute, feine Leut' sein. Bei uns in England haben manche jüngeren Söhne Landsitze gepachtet und sind serr in die gute Gesellschaft,« trat Blanche auf meine Seite.
Aber diesmal ließ sich Marie Luise von der Ausländerin nicht imponieren.
»Gott ja, in England!« fiel sie mitleidig ein. »Da ist alles so anders! Manchmal seid ihr schrecklich freidenkend, schon zu freidenkend! Bei uns geht das nicht. Nein, so auf einem Pachthof leben! – Na, weißt du, da kannst du ja nun die Hofdame spielen! Hahaha! Unter den Enten, Gänsen und den Vierfüßlern, die ich nicht nennen will!«
Sie schüttelte sich vor Lachen. Das kam ihr gelegen, mir die Hofdame vorzuhalten. Darüber ärgerte sie sich schon lange, daß sie nicht das Privilegium der Hofdame allein haben sollte, sondern ich auch immer darüber sprach.
»Aber, glaube nur nicht,« fuhr sie höhnisch fort, »daß du nach solchem Eclat jemals wirklich an den Hof kommen darfst. Da sieht man auf eine tadellose Vergangenheit!«
Das war dem Faß den Boden ausgeschlagen, ich brach in Thränen aus. Solcher Hohn, solche Schmach mußte mich treffen, solche Eltern hatte ich, die mich den schrecklichsten Kränkungen preisgaben! Nein, ich mußte noch einmal mit Mama sprechen, vielleicht auch Papa zu bearbeiten suchen! Sie mußten doch einsehen, daß ich für dergleichen nicht geboren und erzogen war.
Aber da kam ich schön an. Papa, reizbar wie die lange Krankheit ihn gemacht hatte, donnerte mich an, als wenn ich der schlimmste aller Rekruten wäre, und Mama, endlich auch am Ende ihrer Geduld, erklärte, daß sie nun von meinen Albernheiten vollkommen genug habe und mich so schnell wie möglich aus der verderblichen Umgebung meiner thörichten Freundinnen herausbringen wolle. Tante Regine sei jeden Augenblick bereit, mich aufzunehmen. Wenn auch noch einige Wochen bis zum Schulschluß fehlten, das mache nichts, ich würde mehr wie das versäumen und es dort mit Privatunterricht wohl auch wieder einholen, jetzt solle ich nur meine Sachen zusammensuchen und mich in stand setzen zur Reise.
Also es half nichts, die Augen zugedrückt und los auf das Froschungeheuer!
Mama redete mir so gut zu, sie that alles, was eine liebevolle, vernünftige Mutter einem ungebärdigen, thörichten Kinde gegenüber thun kann, und als ich sah, daß mein Schicksal unwiderruflich besiegelt war, fand ich mich ja auch äußerlich mit Anstand hinein, hatte sogar den Mut, meinen Freundinnen gegenüber zu behaupten, daß ich Mamas Idee mit dem Landaufenthalt eigentlich reizend fände, aber innerlich war ich verzweifelt und fest entschlossen, den Bauern dort mit so viel Hochmut, Verachtung und Unliebenswürdigkeit wie möglich entgegenzutreten. Sie sollten schon merken, daß ich in ihre Verhältnisse nicht paßte. Vielleicht machten sie das dann auch Mama klar, und die Eltern erlösten mich und ließen mich doch noch nachkommen.
In diesem Vornehmen und in dieser Hoffnung kam ich über den Abschied leichter hinfort, wie ich gedacht hatte. Außerdem belebte mich die Aussicht, zum erstenmal im Leben allein und selbständig auf Reisen zu gehen.
Mama schwebte gerade deshalb in größter Sorge, da sie aber Papa nicht allein lassen konnte und hier an dem immerhin noch fremden Ort keine Vertrauensperson hatte, die sie mir zum Schutz mitgeben konnte, mußte sie sich darein finden, mich für sechs Stunden Wegfahrt mir selbst und der Güte der Eisenbahn anzuvertrauen.
Im Damencoupé saß schon eine junge Frau mit zwei Kindern, eines noch im richtigen Schreialter, mit Tragkleidchen und Milchflasche.
Ich zupfte Mama am Kleide.
»Da gehe ich nicht hinein. Mit solchen Quäksbälgen kann ich nicht stundenlang zusammensitzen, da wird mir übel und ich bekomme Kopfweh!«
Aber Mama war taub für diese berechtigten Einwände. Sie hatte eben gehört, daß die Dame noch über meine Station hinausfuhr, und nun wendete sie sich mit Inbrunst an die freundlich Platz Machende und empfahl mich für die Reisedauer ihrem Schutz. Ich war empört, – auch dieser Spaß verdorben! Was hatte ich nun von meiner selbständigen Reise, die ich mir heimlich mit den wunderbarsten Reizen ausgemalt hatte. Allein im Coupé, die Füße auf die gegenüberstehenden Polster gelegt, was ich entzückend fesch und elegant fand, auf jeder Station Kuchen oder Limonade kaufend, oder mit der Wichtigkeit einer weitgereisten Weltdame etwas auf dem Bahnsteig promenieren. Zwischendurch vielleicht eine interessante Reise-Gefährtin oder -Gefährten finden, denen gegenüber ich mich ganz erwachsen benehmen und ahnen lassen konnte, daß ich eine sehr vornehme, bedeutende Person sei, – überhaupt immer selbständig, sicher, gewandt auftreten, – so hatte mir diese erste Soloreise vorgeschwebt, und nun saß ich hier als halbes Kindermädchen, unter dem Schutz einer lächerlich jung aussehenden Frau, die zwar »liebes Fräulein« zu mir sagte, mich aber dabei vollkommen wie eins ihrer Babys behandelte und auf jeder Station aufs unglaublichste bevormundete.
»Trinken Sie keine Limonade! Sie bekommen die Cholera, liebes Fräulein. Ihre Mama hat Sie mir auf die Seele gebunden, ich kann es nicht zulassen, daß Sie sich den Magen verderben. Hier, wenn Sie Durst haben, etwas abgekochtes Wasser, wie Baby es trinkt, das schadet keinem Menschen etwas. Steigen Sie um Himmels willen nicht aus dem Coupé, der Zug geht gleich wieder ab. – Vorsichtig, vorsichtig, damit Sie sich nicht die Beine brechen! – O Gott, da kommt ein Gepäckwagen, lassen Sie sich nicht überfahren! Ihre Mama hat Sie mir anvertraut, ich muß über Sie wachen« – und so fort, – zum Rasendwerden!
Dazwischen, während der Fahrt, mußte ich Milchen, die Zweijährige, festhalten und bewachen, damit sie aus dem Fenster sehen konnte und beschäftigt war, sonst brüllte sie wie ein kleiner Löwe. Und Baby mußte ich auf und ab schaukeln und ihm etwas vorsingen, während die Mama das Milchfläschchen wärmte und Wäsche vorsuchte.
Das war meine erste selbständige Reise, von der ich mir einen halben Roman zusammengeträumt hatte! Na, ich danke, mein Landaufenthalt bei den Pächtersleuten fing mit einer hübschen Einleitung an!
Trotzdem, als meine Station nahte, wurde mir doch ganz angst und bange. Nun ging es erst wirklich in die Fremde. Die kleine Mama, Milchen und Baby waren noch Heimatsbeziehungen. Sie gefielen mir außerdem wirklich nicht so übel, nachdem ich erst einmal mit meinen Reiseillusionen abgeschlossen und mich entsagungsvoll als Kind und Kindermädchen etabliert hatte, und mir traten die Thränen in die Augen, als es nun ernsthaft an den Abschied ging.
Wie ich ausstieg, schrie Baby, als wenn es am Spieß stecke, Milchen purzelte beinahe aus dem Coupé; die kleine Mama winkte, nickte und erließ noch hinter mir, während der Schaffner schon die Wagenthür zuschlug, eine Flut guter Lehren und Verhaltungsmaßregeln, die sie alle meiner Mama schuldig zu sein behauptete, und ich kam bei dieser ganzen Abschiedsaufregung gar nicht dazu, mich auf dem kleinen Bahnsteig umzusehen.
Als ich endlich schweratmend so weit war, an meine neue Umgebung zu denken, standen neben mir eine stattliche, hübsche Dame und ein schlankes, hübsches, junges Mädchen, die mir von beiden Seiten lachend und herzlich die Hände entgegenstreckten.
»Du bist Adele Helmold, das sehe ich an der Ähnlichkeit mit deiner Mutter,« sagte die ältere Dame und drückte mich herzlich an sich, während das junge Mädchen mir flink und geschickt mein Handgepäck abnahm. »Willkommen, liebes Herz, hoffentlich wird es dir bei uns recht wohl sein und wir werden viel gute, frohe Stunden miteinander verleben!«
Das waren also die Pächtersleute, diese reizende Frau, die sich ganz neben allen Damen unsrer Bekanntschaft behaupten konnte, und dieses allerliebste, zierliche Mädchen, deren feines Näschen zehnmal aristokratischer in die Welt schaute wie Marie Luisens kräftig ausgebildete, breite Nase!
Nasen waren nämlich meine Schwäche. Ich hatte selbst leider eine richtige impertinente Stupsnase, und daher rangierten alle Leute, die nach dieser Seite hin von der Natur vollwertiger und hübscher bedacht waren wie ich, in meiner Achtung besonders hoch.
Und nun diese reizende Nase an einer Guste und Pächterstochter sitzend.
Ich war so verwirrt und benommen, daß ich auf all die Fragen und Reden der beiden mich Empfangenden nur mechanisch antwortete. Die Leute fielen ja aus meinem Programm! Denen gegenüber hatte ich weder Veranlassung noch Mut, geringschätzig und unliebenswürdig aufzutreten. Wie sollte ich mich nun benehmen?
Und dann geriet ich aus einem Erstaunen in das andre. Statt des Klapperwagens von uraltem Kaliber, den ich erwartet hatte, stand da ein reizender, eleganter Break mit einem Paar feuriger Pferde bespannt, die der livrierte Kutscher während der Aufladung meines Gepäcks und des Einsteigens nur mühsam ruhig und gefügig hielt.
Dann rollten wir auf schattiger Chaussee flott dahin und neben mir plauderte Tante Regine, wie ich sie gleich nennen mußte, liebevoll und herzlich von meiner Mama, die ihre beste Freundin gewesen, und Guste nickte mir lächelnd zu und sagte: »Wir freuen uns so auf dich! Nun sind wir ein Kleeblatt, das Gretel, du und ich, und nun wird's noch lustiger wie bisher! Du sollst mal sehen, Gretel wird dir furchtbar gefallen! Ein toller Strick, nicht, Muschchen? Aber gut und reizend, nicht, Muschchen?«
Ich saß immer wie ein Ölgötze dabei, denn ich konnte mich noch gar nicht in die überraschenden Verhältnisse finden, aber das Herz wurde mir mit jeder Minute leichter und froher. Der greuliche Frosch fing schon an, menschlich zu blicken, wenn er auch noch lange nicht so weit war, um mir als prächtiger Königssohn zu erscheinen.
Von der Chaussee waren wir auf sandigen Landweg gebogen. Rings um uns wogende Kornfelder, grüne Kartoffelebenen und duftige Wiesen, in der Ferne blauschimmernder Wald und herüberblitzendes Wasser.
»Da wo der Wald beginnt und der See herüberglitzert, liegt unser Haus,« plauderte Guste. »Bildschön, sage ich dir! Es wird dir schon gefallen. Es giebt auf der Welt nichts Schöneres, nicht Muschchen?«
»Ja, Mausi, das sagst du wohl, weil du nichts andres kennst,« lächelte die Mutter, »aber Delia, das feine, kleine Stadtfräulein, wird vielleicht andre Ansichten haben.«
»Nein, Muschchen, sie soll es nur erst mal sehen, dann wird sie die staubige, enge Stadt schnell vergessen. Da, sieh mal, hinter dem Wald, dort in der Lücke, wo die kleine Kirchturmspitze auftaucht, da liegt das Schloß und das Dorf. Nur eine Viertelstunde durch den Wald zu gehen, dann bin ich im Schloß und in der Pfarre. Das lernst du alles kennen, denn beim Onkel Pfarrer haben wir unsre Schulstunden. Bisher nur Gretel und ich, aber nun kommst du auch noch dazu. Das wird jetzt ein Spaß! Freust du dich auch, – ja?«
Ich nickte mit dem Kopfe. Vorläufig wußte ich zwar noch nicht recht, weshalb ich mich auf Schulstunden in einem Pfarrhaus und auf ein unbekanntes kleines Etwas, das Gretel hieß, freuen sollte; aber Guste sah mich so herzig und auffordernd an, daß ich gar nicht anders konnte, als gleichfalls freundlich und zuvorkommend sein.
Allmählich kamen wir dem Walde näher, und bei einer Biegung des Wegs lag auf einmal Wald, See und das einstöckige, langgestreckte und mit wildem Wein umrankte Wohnhaus vor uns.
»Ist das nicht entzückend?« fragte Guste mit leuchtenden Augen und schlug mit der kleinen Faust auf mein Knie. »Siehst du, dahinter liegen die Scheunen und Ställe, die sind ja furchtbar interessant, wenn sie auch nicht so groß und weitläufig sind, wie beim Schloß. Na, überhaupt, das Schloß ist ja viel großartiger wie unser Haus, aber ich mag unsres doch lieber, nicht, Muschchen?«
»Sei nur still, Plaudertasche, du verwirrst die arme Delia mit deinem Redeschwall, die kann doch nicht alles auf einmal sehen und verstehen. Nun, da sind wir daheim, Kind, Vater erwartet uns schon auf der Terrasse, und die Hunde sind alle aus Rand und Band. Ängstige dich nicht, sie thun dir nichts, es ist nur Spielerei.«
Ich wagte mich aber doch nicht aus dem Wagen. Vier kläffende Köter standen davor, groß und klein, und sprangen und bellten und fletschten die Zähne, als wenn sie mich alle vier verschlingen wollten.
An so etwas war ich Stadtkind doch nicht gewöhnt. Ich kam mir vor, wie den Wüstentieren preisgegeben. Nein, ich stieg nicht aus dem Wagen!
Da faßte mich der Hausherr mit kräftigen Armen, hob mich in die Höhe und trug mich an Frau und Tochter vorüber ins Haus. Vorsichtig setzte er mich in der Halle nieder.
»Solch leichtes Vögelchen kann man noch in den Käfig tragen,« sagte er lächelnd. »Na, Frauchen, da hast du ein reiches Feld der Fürsorge und Pflege. Die kleine Spitzmaus wird viel Futter brauchen, bis sie das Gewicht der Guste und des Gretel hat!«
Sie lachten alle, und ich sah beschämt zu Guste hinüber. Wirklich, sie war nicht nur ein gutes Stück größer, sondern auch viel breiter und kräftiger wie ich. Dabei sah sie doch zierlich aus, und selbst die frische Gesichtsfarbe, die wir Stadtmädchen unter uns »gewöhnlich« nannten, weil keine von uns sie hatte, stand ihr gut und machte sie durchaus nicht unfein.
»Sie ist auch ein ganzes Jahr älter wie ich,« sagte ich kleinlaut und anklagend.
»Siehst du, deshalb hast du mich auch als Respektsperson zu betrachten, Baby!« lachte Guste und faßte mich zärtlich um die Taille. »Ich habe die Vernunft mit Aufschöpflöffeln gegessen, – nicht, Muschchen?«
»Jawohl, du Nichtsnutz! Du und Gretel, ihr seid ein paar Leuchten der Vernunft. Ich hoffe, unsre Kleine hier wird euch ein bißchen mehr Manieren und mädchenhafte Zurückhaltung beibringen, damit ihr aus einem Paar unbehobelter Bauerngören sittsame junge Damen werdet.«
»Ach, Muschchen, das glaubst du ja selbst nicht! Landpomeranzen sind und bleiben wir, und Delia wird sich auch einpomeranzen, das haben Gretel und ich schon unter uns ausgemacht!«
Guste warf mir einen triumphierenden Blick zu, und ich stand da und wußte nicht, was ich sagen und was ich denken sollte.
Sie sagten es doch selbst, daß sie Bauernmädchen und Landpomeranzen waren, aber anmerken that man es Guste nicht. Sie gefiel mir eigentlich furchtbar gut. So lustig und freundlich und gar nicht ungeschickt im Benehmen, wie eigentlich solch ein Mädchen sein mußte. Auch niedlich angezogen, – und alles um mich herum wie in einem Herrschaftshause.
Natürlich, nicht wie bei Tillys Eltern, wo alles von Vergoldung und Sammet strotzte, oder wie in der Amstättenschen Wohnung, die mit Ahnenbildern und schwergeschnitzten alten Ahnenmöbeln vollgepfropft war, aber doch jedes Stück hübsch, bequem und anständig, wie man es in einem guten, soliden Hausstande findet.
Mama hatte doch recht gehabt, es waren Menschen wie wir, wenn sie auch nur Pächtersleute waren. Der Kopf war mir ganz wirr, und ich vertrat wohl im Augenblick die Rolle der eleganten und gewandten jungen Dame, die ich mir für diese erste Begegnung so besonders ausdrucksvoll zurechtgelegt hatte, recht schlecht, indem ich stumm wie ein Fisch und steif wie ein Besenstiel dastand.
»Laßt nur erst das arme Kind zur Besinnung kommen!« sagte die Hausfrau und nahm mich bei der Hand. »Wir führen dich jetzt in euer Zimmerchen, damit du dir den Reisestaub abwaschen und etwas ausruhen kannst, und wenn du dann zum Abendbrot kommst, bist du ein frischer, kleiner Fisch und fühlst dich im richtigen Fahrwasser.«
»Ja, und dann zeige ich ihr gleich den Garten und die Ställe,« beeilte sich Guste zu sagen.
Aber die Mama winkte energisch mit der Hand.
»Nichts da, heute läßt du Delia ganz in Ruhe. Da wird nichts mehr gezeigt, sondern nach dem Abendbrot stecken wir unser Bleichschnäbelchen gleich ins Bett und lassen sie ausschlafen. Du mußt nur bedenken, daß Delia kein robustes Landkind ist wie du, sondern ein zartes Stadtpflänzchen.«
Ich war mit Tante Regine sehr zufrieden, sie würdigte mich in meiner ganzen Feinheit und das erfüllte mich mit gerechtem Stolz. Denn natürlich hatte ich keine Ahnung davon, daß in der Art, mit der die herzenswarme, liebenswürdige Frau mich behandelte, eigentlich nichts wie Mitleid mit meiner körperlichen Schwächlichkeit und anscheinenden stummen Verlegenheit lag. Sie wollte mir über jedes Gefühl der Fremdheit und Befangenheit forthelfen, und als ich jetzt, gerührt von ihrem Verständnis für meine Zartheit, in meiner gewöhnlichen, nervösen Thränenseligkeit mit feuchtschimmernden Augen zu ihr aufblickte, bog sie sich liebevoll zu mir herab, küßte mich und führte mich dann sanft zur Thüre hinaus.
Guste hat mir späterhin gestanden, daß diese, meiner Empfindung ungemein zusagende Scene auf sie einen sehr verächtlichen und mein Ansehen untergrabenden Eindruck gemacht hätte, und sie damals hinter mir her in die ungebührlichen Worte ausgebrochen wäre: »O je, ist das eine Piepsliese und Thränensuse! Väterchen, wenn wir uns man nicht mit der reingesetzt haben!« –
Aber der brave Onkel hatte schon damals gutes Zutrauen zu mir, er schmunzelte vor sich hin.
»Das Gezirpe wird sie schon ablegen, wenn sie erst ein bißchen mehr Mark in und Fleisch auf den Knochen hat. Nach einer Duckmäuserin sieht sie nicht aus. Nehmt ihr beiden sie nur ordentlich in die Lehre, dann wird sie schon mit der Zeit ebensolch ein lustiger Vogel werden wie ihr!«
Vorläufig war zu dieser angenehmen Veränderung aber noch wenig Aussicht vorhanden. Als ich am folgenden Morgen ausgeschlafen hatte, standen all meine Stadtgedanken und Vorurteile mit mir zusammen auf.
Meine Nachtruhe war zwar tadellos gewesen, aber nun rümpfte ich doch die Nase über die ungewohnte Lagerstatt. Alles Federbetten, unter und über mir! – Das las man immer in den Bauerngeschichten, da schliefen die Leute auch überall auf Federbetten, während ich zu Hause nur eine Daunendecke und Matratzen hatte. Ach, und diese Einfachheit! Zwei Betten, zwei Waschtische, ein kleiner Spiegel und ein Kleiderschrank! Nackter konnte es schon nicht sein!
Gestern abend hatte Guste mir eine lange Auseinandersetzung gehalten. Wenn ich es vorzöge, mein eigenes Schlafzimmer zu haben, dann ginge das auch, aber es wäre doch viel hübscher, wenn wir zusammenschliefen, Gretel und sie bäten sich das oft als besonderes Vergnügen aus; und dann hätten wir nebenan einen Salon für uns, ganz wie ein paar Damen. Was ich nur dazu sagte? Nicht wahr, ich wollte auch lieber ein gemeinsames Schlafzimmer und einen Salon, als zwei Schlafzimmer haben?
Ich hatte zu allem »ja« gesagt, denn ich war gestern abend gräßlich müde gewesen, hatte also weder etwas richtig gesehen, noch richtig gehört.
Nun fiel mir das wieder ein, und ich war neugierig auf den Salon, der nebenan liegen sollte.
Guste mußte wohl schon lange vor mir aufgestanden sein. Ihr Bett stand zierlich geordnet und bedeckt, und das ganze Zimmer glänzte in tadelloser Ordnung und Sauberkeit.
Ich stand also hastig auf, und nachdem ich mit meiner Morgentoilette fertig war, öffnete ich leise die Thür zu dem besprochenen Salon.
Ach, du lieber Himmel, – wenn ich an Tillys Salon dachte! Natürlich, genau so hatte ich ihn mir ja nicht vorgestellt, aber immerhin doch etwas dem Wort entsprechend, und nun gähnten mich auch da sozusagen wieder nur vier kahle Wände an.
In der Mitte stand ein eckiger Tisch, mit einer altmodischen, verwaschenen Decke belegt und von zwei einfachen Rohrstühlen begleitet, und an der Langseite des Zimmers dehnte sich ein gleichfalls altmodisches, unglaublich riesiges Sofa, in dessen Tiefen sechs Personen von meinem Kaliber reichlich versinken konnten und auf das ich mit herber Verachtung herabblickte.
Ach, ich ahnte damals nicht, wieviel köstliche Plauderstunden wir drei lustigen Mädel, zusammengekauert in seine weichen Kissen, dem alten Sofa verdanken; wie oft, in späteren Jahren, ich noch mit Sehnsucht und Entzücken an seine behagliche Weite und verschwiegene, zuverlässige Tiefe zurückdenken würde!
Damals eben schaute ich mit Verachtung auf das hie und da schon gestopfte und geflickte Ungeheuer herab, über dem eine Etagere mit Porzellanfigürchen, Büchern, Gesteinen und derartigen Kleinodien, den Anspruch eines bezaubernden Wandschmuckes erhob.
Und als ich mich wandte, da grüßte mich aus der Fensterecke ein Spielwinkel, ein richtiger Spielwinkel mit Puppenstube, Kochherd, Puppen und weißhölzernen Waschgeräten, wie ich ihn nun schon seit Jahren nicht mehr kannte. O Gott, in welch eine Umgebung war ich geraten! Was würde Marie Luise sagen, wenn sie sähe, daß meine jetzige Gefährtin, mein täglicher Umgang, noch einen Spielwinkel hatte! –
Indem öffnete sich hinter mir die Thür und mit einem Schritt stand Guste neben mir.
»Langschläferin, bist du endlich aus den Federn? Na, entschuldige dich nur nicht. Muschchen sagt, nach solcher Reise müsse man fest ausschlafen. Ich war schon drüben beim Onkel Pfarrer zur Stunde und hab' der Gretel von dir erzählt. Erst wollte sie gleich mitkommen, dich sehen, aber dann besann sie sich, machte ihr baronliches Gesicht und sagte, du solltest ihr nur erst deinen Antrittsbesuch machen, wir hier auf dem Lande wüßten auch, was sich schickte.«
Ich glaube, vor Erstaunen riß ich den Mund weit auf.
»Baronlich,« – und eine, die auf Antrittsbesuche hielt und auf Formen! Das war ja ordentlich zum Aufatmen! O, Marie Luise, wer weiß, was ich hier noch alles erlebe! – Ich packte Guste hastig am Arm.
»Baronlich? Wieso? Ist das Gretel denn eine Baronesse?« fragte ich mit vor Aufregung stockender Stimme.
»Ach, Unsinn, das ist ja nur ein dummer Witz, – auf so was giebt mein Gretel doch nicht ernsthaft was! Na ja, der Vater ist Baron und Kammerherr und Reichstagsabgeordneter und ich weiß nicht, was sonst noch alles, aber natürlich, daran denkt Gretel nicht. Baronlich sag' ich nur manchmal, wenn ich sie ärgern und necken will,« lachte Guste.
Ich war ganz erstarrt. Von all dem hörte ich nur den Vater Baron, Kammerherrn, Reichstagsabgeordneten heraus! Waren das feine Leute! – Marie Luise, was sagst du nun? –
»Und das ist deine Freundin, und – und – da verkehren deine Eltern auch?« fragte ich neugierig und atemlos weiter.
»Aber natürlich, das sind doch nebst Pfarrers unsre besten Freunde, – das ist doch selbstverständlich. Was machst du nur für ein Gesicht? Nimm's mir nicht übel, aber wie die Katze, wenn sie niesen will! Du, sag mal, du wunderst dich wohl über meine Spielecke, nicht? Ach, das mußt du man nicht denken, nein, ich spiele nicht mehr mit Puppen! Das heißt, so manchmal sehe ich sie mir noch an, und Gretel und ich schneidern auch noch ab und zu hier für die große Blonde. Die war immer mein Liebling, die hieß erst Rosaura, weil ich das so schön fand, und dann nacheinander Freia, Chlothilde, Hermagunde, und ganz zuletzt, als wir jetzt die Jungfrau von Orleans lasen, Johanna. Du, kennst du die Jungfrau von Orleans? Himmlisch, nicht?«
Sie preßte mich, ohne auf meine Antwort zu warten, heftig an sich. Ach, und mir war die Jungfrau von Orleans, so sehr ich auch sonst für sie schwärmte, im Augenblick nicht halb so interessant, wie das Gretel vom Schloß, das einen Vater Baron hatte und einen Antrittsbesuch von mir erwartete.
Aber wenn Guste ins Reden kam, dann schien sie ihren Weg zu gehen wie ein junger, ungestümer Waldbach, der sich auch keine Bahnen vorzeichnen läßt. Der schüchterne Versuch, den ich noch einmal zu Gunsten Gretels machte, schlug vollkommen fehl, wenigstens in meinem Sinn, denn auf meine dringende Frage: »Sie ist wohl sehr fein?« riß Guste verwundert die Augen auf.
»Wer? Die Jungfrau von Orleans? Aber du, die ist doch nicht fein – was überhaupt ein dummes Wort ist! Erhaben, groß, wunderbar – –«
»Nein, ich meine doch das Gretel,« unterbrach ich sie, halb ärgerlich, halb verlegen.
»Ach, Unsinn, ein Kind ist sie, anderthalb Jahre jünger wie ich!« Guste streckte sich, in ihren Augen schien an diesem Altersunterschied jeder Gedanke der Feinheit zu scheitern. »Nicht eine Spur fein ist sie. Aber natürlich, ich habe doch Respekt vor ihr, sie fuchtelt mich manchmal ordentlich. Das heißt, so lange ich's mir gefallen lasse. Manchmal, wenn es mir zu toll wird, dann knuffen und boxen wir uns, aber lieber thue ich es schon nicht. Na, das wirst du ja alles lernen, du wirst schon allmählich bei uns Vernunft annehmen!«
Ich war total niedergeschmettert – Knuffen und Boxen nannte die Vernunft annehmen! Aber wie nur das Gretel sein mußte, vor dem Guste doch Respekt hatte, wenn es auch anderthalb Jahre jünger war wie sie. Sicher, das machte die Feinheit, wenn Guste die auch leugnete. Das war gewiß ein zartes, vornehmes, kleines Ding, so ungefähr wie ich. – –
Guste ließ mich aber nicht zu langen Überlegungen kommen, jetzt mußte ich erst Kaffee trinken. Sie aß dabei ihr zweites Frühstück und hielt mir immer wieder vor, daß es schon zehn Uhr sei und ich künftig um diese Zeit auch mein zweites Frühstück einnehmen müsse. Und dann schleppte sie mich zu dem Garten, um mir jedes Beet und jeden Baum und Strauch zu zeigen.
Und ich ging immer in Beben und Todesangst neben ihr her, denn um uns herum, auf Schritt und Tritt, jagten und tollten die vier Hunde, beschnupperten und kläfften mich an, sprangen an mir empor, rannten mich beinahe um, kurz, erhielten mich in einem Zustande ewiger Aufregung.
»Du, die wollen mit dir Freundschaft schließen,« belehrte mich Guste vergnügt. »Sieh bloß, wie lieb und zärtlich sie sind, besonders der Mentor!«
Das war nämlich ein Bernhardiner, der, aufgerichtet, mich um zwei Haupteslängen überragte und vor dessen ungestümen Freundschaftsbezeigungen ich zitterte wie ein Blatt im Winde.
»Du mußt ihm nur einen ordentlichen Puff geben, wenn er zudringlich wird,« ermahnte sie mich freundlich. – Ich, und diesem Ungeheuer einen ordentlichen Puff geben! Ich war glücklich, wenn er mir keinen gab!
»Und ab und zu mußt du ihm das Maul wischen, sonst macht er dich schmutzig. Du, das will ich dir nur gleich sagen, so ausputzen wie heute, darfst du dich künftig nicht. Das lohnt nicht fürs Land, es stört nur. Sieh mal solchen Leinenkittel, wie ich ihn trage, das ist das Wahre!«
Wirklich, sie hatte heute nur ein einfaches, dunkelblaues Leinenkleid an, aber sie sah auch darin hübsch aus. So sauber und frisch, mit dem rosigen Gesicht, aus dem die nußbraunen Augen mich lustig anlachten im heimlichen Amüsement über meine Hundeangst.
»Na, thu nur nicht so jämmerlich, Stadtmäuschen, hier frißt dich keiner, nicht mal die Hunde,« lachte sie und küßte mich. »Wollt ihr weg, ihr Ungeheuer!«
Wie eine Löwin ging sie auf die Hunde los, jagte sie aus dem Garten und schloß hinter ihnen die Thüre.
»So, Muschchen hat mir befohlen, dich sanft zu behandeln, bis du dich eingewöhnt hast.« – Ich seufzte. – »Nachher schlag' ich dich auch nicht tot, Kleine, du brauchst nicht gleich Testament zu machen; ich hab' dich schon sehr lieb und werde dich ganz unter meinen Schutz nehmen, denn sieh mal, ich bin doch die Älteste und Vernünftigste von uns. Und nun führe ich dich zu den Erdbeeren, da wird es dir schon behaglich werden.«
Ja, das wurde es auch. Wir schnabulierten wie die Spatzen und dazwischen pries mir Guste immer wieder von neuem die Vorzüge ihrer Heimat, und im Augenblick, unter dem Eindruck der roten, köstlich mundenden Früchte, war ich wirklich nicht ganz abgeneigt, einzelne derselben anzuerkennen.
Also verging uns der Vormittag in schönster Harmonie und erst bei Tisch kam wieder das Entsetzen über mich, als ich die Portionen sah, die alle Leute um mich her sich auflegten und vertilgten. Ich selbst erregte allgemeines Mißfallen und mußte nacheinander hören, daß ich wie ein Spatz, wie eine Maus, wie ein Wickelkind und wie ein Engel, auf keinen Fall aber wie ein normaler Mensch äße. Tante Regine war wieder die einzig Einsichtsvolle.
»Laßt doch die Kleine! Wenn sie eine Zeitlang hier sein wird, stellt sich schon der Landappetit ein und sie langt dann besser zu, jetzt soll sie sich nicht quälen und den Magen verderben. Aber nebenbei bemerkt, meine Jüngferchen, künftig wird vor dem Essen nicht in die Erdbeeren gegangen. Wo soll denn der Appetit herkommen, wenn der ganze Magen voll Erdbeeren sitzt?«
»Ach, Muschchen, das thut doch nichts! Merkst du an mir eine Appetitverminderung?« fragte Guste und wies strahlend auf die Fleisch- und Gemüseberge, die ihren Teller zierten. »Ich habe noch riesigen Hunger.«
Entsetzlich, die aß noch mehr wie Tilly, aber es stand ihr gar nicht mal schlecht. Es lag etwas so Frisches, Kräftiges darin, daß ich mich zu dem nichtachtenden Ausdruck »gefräßig« für sie nicht entschließen konnte.
Aber ich war doch froh, als ich das Essen hinter mir hatte. Da es in der Stadt nachmittags keine Schule gab, war ich daran gewöhnt, gleich nach Tisch mein Schläfchen zu machen; und in Gedanken hatte ich mir hier schon das alte, behagliche Sofa für die stille Ruhepause ausgesucht. Als ich meine Schritte zu unsrem sogenannten Salon hinauflenken wollte, packte mich Guste beim Kleid.
»Was, du willst doch nicht jetzt im Zimmer bleiben, bei dem himmlischen Wetter? Was willst du überhaupt da oben?«
»Mittagsschläfchen halten,« erwiderte ich mit vornehmer Sicherheit.
Guste behielt den Mund offen vor Entsetzen und riß die Augen so weit auf, daß man dachte, sie müßten herausfallen.
»Was? Mittagsschläfchen? – Muschchen, hör bloß, ich werde ohnmächtig! Die will Mittagsschlaf halten! – Hahaha! – Du, Delia, der einzige Mensch, den ich Mittagsschläfchen haltend kenne, ist Großmama. Junge Mädchen halten doch nicht Mittagsschlaf!«
Beschämt und beleidigt sah ich zu Tante hinüber.
»Aber bei uns thun das alle Leute. All meine Freundinnen – –«
Tante schüttelte lächelnd den Kopf.
»Hat der Arzt es dir verordnet, Delia?«
»Nein, das nicht –«
»Nun, weißt du, Kind, dann wollen wir es nur gleich ein für allemal aufstecken. Guste hat ganz recht, junge Mädchen dürfen sich nicht Bequemlichkeiten gestatten, die nur dem ruhebedürftigen Alter erlaubt sind. Du kannst abends so zeitig schlafen gehen, wie du willst, aber der Tag ist zum Wachen da. Lauft in den Garten –«
»Nein, Muschchen, ich wollte jetzt mit Delia zu Gretel hinübergehen, sie erwartet uns schon.«
»Jetzt, in der Mittagshitze?« fragte ich kläglich. Mein Mittagsschläfchen aufgeben und statt dessen in der Sonnenglut den Landweg laufen, das ging mir doch über die Gemütlichkeit. Ich war ja kein robustes Bauernmädchen, wie Guste; Tante hatte es selbst gesagt, ich war eine feine Stadtpflanze!
Aber Tante schien das im Augenblick nicht in Betracht zu ziehen.
»Ach, im Wald geht immer ein frisches Lüftchen,« sagte sie freundlich mitleidlos, »und ihr seid auch gleich da. So weichlich sind wir hier überhaupt nicht; ob warm, ob kalt, das geniert keinen, und daran wirst du dich schnell gewöhnen, liebes Kind. Das giebt nachher die runden, roten Bäckchen und die kräftigen Nerven, die du dir hier holen sollst. Also lauft nur. Ich kann mir schon denken, daß Gretel darauf brennt, unser Stadtprinzeßchen kennen zu lernen, und Delia wird Augen machen, wenn sie Gretel sieht!«
Dazu lächelte die Tante so ganz besonders befriedigt, und als ich nun sah, daß mein Mittagsschläfchen rettungslos verloren war, stieg auch in mir die Neugier auf das kleine Schloßfräulein wieder mächtig empor. Da würde ich doch jemand finden, der Verständnis für meine feineren Empfindungen und Wünsche hatte. Hier diese Leute, wenn sie auch sonst ganz nett aussahen, und im ersten Anlauf wirklich über ihre Pächterstellung forttäuschen konnten, blieben eigentlich doch Bauern, man merkte es eben an ihrem Unverstand für feine Naturen.
Ich war im Augenblick ganz böse. Das Froschungeheuer, das schon hie und da menschliche Seiten gezeigt hatte, blähte sich jetzt wieder in seiner vollen Häßlichkeit, und wenn nicht der Hoffnungsstrahl der vornehmen kleinen Schloßbewohnerin gewesen wäre, so hätte ich vielleicht jetzt in meiner beliebten Manier eine verzweifelte, thränenreiche Scene arrangiert.
Aber nun nahm ich mich zusammen und sagte so wenig unhöflich und beleidigt wie möglich: »Wie du meinst, Tante. Bei uns in der Stadt macht man zwar nicht um diese Zeit Besuche, aber ich will mich dann doch dafür umziehen gehen –«
»Umziehen? Weshalb denn?« fragte Guste erstaunt. – »Es ist doch heute nicht Sonntag. Du siehst überhaupt schon so ausgeputzt aus und nun willst du dich noch feiner machen?«
»Aber wenn man einen ersten Besuch macht, zieht man sich doch anständig an,« antwortete ich kurz und hoheitsvoll.
Guste lachte, daß sie sich schüttelte. »Aber du, so ist es doch nicht hier zwischen uns. Muschchen, sag du es ihr doch – Gretel lacht uns ja aus!«
Die Tante lächelte auch. »Nein, meine Delia, umzuziehen brauchst du dich wirklich nicht. Hier auf dem Lande macht man keine Umstände, daran mußt du dich gewöhnen. Wirf nur all den thörichten Ballast der vornehmen Stadtideen hinter dich, Kind. Wir sind hier einfache Leute, und besonders Kinder, wie ihr drei, habt noch nicht nötig, die Manieren der Erwachsenen nachzuahmen. Lauft jetzt nur fort, wie ihr gebacken seid, Gretel wartet sicher schon.«
Auf allen Seiten mit meinen Anstandsideen geschlagen und innerlich tief gekränkt, schritt ich neben Guste in den Wald hinein. Zu heiß war es wirklich nicht. Vom See her wehte, wie Tante es prophezeit hatte, ein frisches Lüftchen, dem die zarten Buchen und dunklen Tannenzweige grüßend entgegenrauschten. Überall am Wegrain blühte und duftete es von lieblichen, kleinen Sommerblumen, goldene Sonnenstrahlen blitzten und flimmerten auf Moos und Laub, und uns zur Linken dehnte sich in köstlicher Weite der blau und golden funkelnde See. Es war wirklich wunderschön, aber ich wollte das nicht empfinden, ich war so verdrießlich und beleidigt, daß ich nicht den Mund aufthat und die Füße hinter mir herschleppte wie Holzklötze.
Alles sollte ich thun, wie diese Leute es wollten! – Ich verstand doch von dem, was sich schickt, mehr wie sie, die hier auf dem Lande verbauert waren!
Was würde nur die kleine Baronesse denken, wenn ich so im Alltagskleide, ohne Handschuhe und ohne irgendwelchen Schmuck den ersten Besuch machte? Das quälte mich am meisten. In Gedanken hatte ich mir für diese Staatsaktion schon mein weißes, elegantes Wollkleid zurecht gelegt, mit der himmelblauen, breiten Schärpe, und dazu den großen Hut mit der weißen Feder, – Tilly hatte kaum eine längere!
Aus all diesen empörten und traurig zornigen Gedanken riß mich Guste, indem sie ihren Arm energisch in den meinen schob.
»Du, sag mal, bist du schläfrig, daß du gar nicht den Mund aufmachst?«
»Nein, es paßt mir nur nicht,« sagte ich, recht mit Bedacht ungezogen und hochfahrend.
Sie sollte nur sehen, daß ich nicht so ohne weiteres mit mir herumfahren und über mich bestimmen ließ, wie es diesen Leuten paßte.
Aber wie ich es gesagt hatte, schämte ich mich doch schon. Guste zog ihren Arm hastig aus dem meinen und sah mich erschreckt an.
»Du, das ist aber nicht hübsch von dir – für so habe ich dich nicht gehalten! Das nennt Muschchen ›maulen‹, und die strengsten Strafen, die ich je bekommen habe, sind mir dafür diktiert. Muttchen sagt, Maulen wäre eine Hinterlistigkeit, ein heimlicher, versteckter Groll, und ein ehrlicher, liebenswürdiger Mensch würde lieber mal heftig und sagte seinen Zorn gerade heraus, als daß er ihn still nergelnd nachhaltend mit sich herumtrüge. Nein, das will ich dir nur sagen, dann wird es mit unsrer Freundschaft nichts, wenn du maulen willst.«
Jedes ihrer Worte traf mich wie ein Schlag. Sie hatte ganz recht, genau dasselbe sagte Mama auch. Ich hatte mich eben scheußlich benommen, und ich schämte mich bis in den tiefsten Winkel meiner Seele. Und da ich nichts Besseres zu thun wußte, brach ich in heftiges Schluchzen aus, dazwischen verzweifelt stammelnd:
»Ach, ich habe es ja nicht so gemeint!«
Guste besaß ein Herz von Gold, damals erfuhr ich es zum erstenmal, böse sein konnte sie nie. Sie sagte ihre Meinung gerade heraus und dann war sie mit jedem Groll fertig. So drückte sie mich jetzt auch zärtlich an sich und versuchte mich zu beruhigen.
»Aber dann weine doch nicht, dann ist ja alles gut! Du bist mal grob gewesen und nun bereust du es, damit ist ja alles abgemacht. Gott, wie oft sind Gretel und ich grob miteinander, und dann fallen wir uns wieder um den Hals und versöhnen uns. Nein, das macht gar nichts. – Sei nur nicht bös, daß ich dir gleich so kurz meine Meinung gesagt hab', aber, siehst du, ehrlich müssen wir zu einander sein, sonst werden wir nie Freundinnen. Und nun schnaub' dir die Nase und weine nicht mehr, denn wenn Gretel das sieht, hast du es gleich mit ihr verdorben, die kann Thränensusen nicht leiden. Komm, jetzt sind wir erst richtig miteinander befreundet. Vor dem ersten Streit ist es nicht das Wahre. Wart mal, wir legen ein Wegblatt auf deine Augen, dann sieht dir nach einer Minute kein Mensch mehr an, daß du eine Wassermüllerin warst. So, nun gieb mir einen Kuß und dann haben wir uns wieder furchtbar lieb!«
Ja, ich hatte sie jetzt auch furchtbar lieb, und ich will nur gleich sagen, daß mein Gefühl für sie nie wieder rückwärts gegangen ist, sondern seit jener Stunde, in der sie mir erst so kräftig ihre Meinung sagte und dann mich so liebevoll tröstete, unsre Freundschaft wirklich in Kraft trat und eine feste und treue geblieben ist bis zum heutigen Tage.
Mitten in die Rührung dieses ersten großen Freundschafts- und Versöhnungsfestes klang auf einmal Hundegebell, Stampfen und Laufen, Knistern und Brechen von Zweigen und Gestrüpp und indem Guste mich hastig losließ und ausrief: »Das ist Gretel!« brach auch schon ein mächtiger Bernhardiner, anscheinend der Zwillingsbruder von Mentor, aus dem Gebüsch, und hinter ihm erschien die Gestalt einer jungen Walküre, mit rötlich schimmerndem Goldhaar, das ihr in krauser, mächtiger Fülle über den Rücken fiel und dessen widerspenstige, flimmernde Löckchen ein Gesicht voll blühender Farbenpracht und kraftvoller Frische umrahmten.
Sie war mindestens einen Kopf größer wie ich und fast noch einmal so breit; trotz des stark fußfreien Kleides vollkommen erwachsen aussehend und nur die runden, welchen Kinderwangen und die lachenden, blauen Kinderaugen, mit denen sie mich von oben bis unten musterte, verrieten ihre noch so sehr jugendlichen Jahre.
Und das sollte Gretel sein, das kleine, zierliche Etwas, das ich mir unter diesem Namen, unter ihrem Alter und Stande vorgestellt hatte? Diese junge Riesin, an der alles vor Kraft, Gesundheit und Urwüchsigkeit strotzte? Nein, enttäuschter war noch nie ein Mensch wie ich in diesem Augenblick!
Ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn Guste nicht mit dem Jubelruf: »Gretel!« auf sie zugeflogen wäre.
Mit kurzer Handbewegung schob die Walküre sie zurück. »Laß man, ich muß mir mal erst die Kleine ansehen. Heiliger Strohsack, die ist ja noch winziger und zerbrechlicher wie ich sie mir gedacht habe, die reine Puppe! Niedlich – aber ob sie zu uns passen wird? Solch Porzellanfigürchen!«
Ich stand brennendrot und tödlich verlegen da. Es war wirklich kein Vergnügen, so wie in der Jahrmarktsschaubude zu stehen und sich kritisieren zu lassen. Natürlich, so ein Riesengeschöpf konnte nicht jeder sein! Ich fand es auch nicht einmal schön, dafür war mein Geschmack doch zu städtisch gebildet, und imponieren ließ ich mir lange nicht davon, bloß, ich fand keine Worte, um mir diese rücksichtslose Kritik meiner Person zu verbitten. Ich war viel zu verblüfft und überrascht, um etwas zu sagen.
»Ach, sie wird schon anders werden, wenn sie erst eine Weile bei uns ist, sagt Väterchen,« verteidigte mich Guste. »Laß dich nur nicht von Gretel einschüchtern, sie ist kein solcher Eisenfresser, wie sie thut.«
»Oho,« rief Gretel, »untergrabe nicht meine Stellung! Die kleine Puppe macht solch sanften, stillen Eindruck, mit der mache ich, was ich will. Hoppla, da kann man den Toby gerade als Reitpferd benutzen!«
Und damit faßte sie mich um die Taille, schwenkte mich lustig in die Luft wie einen Hampelmann und setzte mich dann laut lachend auf dem Rücken des großen Bernhardiners nieder.
Nun war aber meine Geduld erschöpft und meine Befangenheit verflogen. Dieses Mädchen, das fast ein halbes Jahr jünger war wie ich, also eigentlich geistig tief unter mir stand, wagte es, mich wie ein Wickelkind, wie eine dumme, wehrlose, kleine Puppe zu behandeln! O nein, so etwas ließ ich mir nicht gefallen, davor brach alles, was sonst vielleicht in diesem Augenblick mein Herz bewegt und meine Kräfte gelähmt hätte, die Hochachtung vor der Kammerherrntochter, die Seelenangst vor dem Riesenhunde, die Fremdheit der Verhältnisse.
Mit einem Satz war ich von meinem unfreiwilligen Reitsitz herabgesprungen und stand nun mit geballten Fäusten, brennenden Wangen und funkelnden Augen vor der noch immer laut und unbändig Lachenden. Auch meine sonstige Thränenseligkeit hatte mich verlassen, für dergleichen blieb mir gar keine Zeit, ich mußte sprechen, ich mußte diesem rotblonden Ungeheuer meine Meinung sagen, gründlich sagen, ohne Einschränkung, ohne Zögern und Stocken.
Ich dachte auch in diesem Augenblick nicht an das förmliche, vornehme »Sie«, das ich mir für den Anfang unsrer Bekanntschaft vorgenommen und mit dem ich zeigen wollte, wie vollkommen ich mich auf Höflichkeit und Formen verstünde. Höflichkeit und Formen waren mir total abhanden gekommen, ich war nur eins: wütend, wütend wie ein gereizter Tiger.
Und wie ein solcher brüllte ich denn nun auch los. »Ein ganz unverschämtes, robustes, ekliges Ding bist du – weißt du das? Kräfte wie ein Bär und eine Gestalt wie eine Riesin kann nicht jeder haben – das ist für ein Mädchen auch gar nicht schön – verstehst du? Und wenn du denkst, mit mir thun zu können, was du willst, dann irrst du dich sehr! Ich lasse mich nicht wie eine Puppe behandeln, nein, absolut nicht! Und sanft und still bin ich auch nicht – nein, nein, nein!«
»Aber Delia!« fiel mir hier Guste entsetzt in die sprudelnde Rede und faßte meinen Arm, während Gretel mit ganz großen, staunenden Augen stumm zu mir herabsah.
»Du, laß sie,« sagte sie jetzt hastig zu Guste, »das ist gar nicht übel. Sie hat ganz recht und nun sie so gar kein Blatt vor den Mund nimmt, gefällt sie mir sehr gut. I, du, nicht Sanfte und nicht Stille« – sie lachte lustig auf – »mit dir werde ich mich ganz famos befreunden, denn natürlich wirst du nicht mehr böse sein, wenn ich dir sage, daß du verstanden hast, dich bei mir in Respekt zu setzen. Zieh nur nicht den Mund so weinerlich, das steht dir lange nicht so gut wie der Zorn. Guste, die kann es noch besser wie wir, die hat es mir ordentlich gesagt!«
»Ja,« stammelte ich beschämt, denn mein Zorn kämpfte jetzt schon wieder mit der Verlegenheit und mit einer unheimlichen Neigung zu Thränen, »ich glaube, ganz höflich war ich nicht – aber du hattest mich auch zu sehr gereizt.«
»Ja, weißt du, ein Komplimentierbuch können wir beide nicht herausgeben,« lachte Gretel, »aber das schadet auch nichts, wir haben gleich das Schlimmste aneinander durchgemacht, nun springen wir flott mit beiden Füßen in die Freundschaft hinein. Ein Knirps bleibst du zwar trotzdem, aber dein Mundwerk ist total ausgewachsen und hält mit meiner körperlichen Riesenhaftigkeit vollkommen Schritt. Bist du mit der Anerkennung zufrieden?«
Ich mußte auch lachen. Sie machte so ein drolliges Gesicht, halb zerknirscht, halb schelmisch. Trotz der übernatürlichen Größe gefiel mir das Gretel doch. Sie hatte ein Leuchten und Lachen in den Augen, so sonnig und so herzenswarm, daß man ihr schlecht widerstehen konnte, wenn sie es darauf absah, ein Herz zu gewinnen. Meins hatte sie schon gewonnen, wenn es auch noch vor wenigen Minuten durchaus nicht danach aussah, als wenn ich mich jemals für sie begeistern würde.
Aber nun that ich es doch. In der Jugend sind die Übergänge der Gefühle oft sehr plötzlich. Wir hatten uns beide im Handumdrehen von gegenseitiger Mißachtung zur Bewunderung emporgeschwungen und es bedurfte gar nicht mehr Gustens eifrigen Zuredens, um uns zu der Überzeugung zu bringen, daß wir die besten Freundinnen der Welt wären.
»Erst kommt ihr natürlich zu uns,« sagte Gretel. »Delia muß zunächst das Schloß, mit allem was drum und dran hängt, kennen lernen, ehe sie in die Pfarre geht. So schickt sich's und für die Schicklichkeit, das hast du hoffentlich schon bemerkt, sind wir hier sehr. Willst du nun erst in die Ställe oder erst ins Haus? Ich meinesteils würde die Ställe vorziehen –«
»Ich aber nicht!« beeilte ich mich schnell zu versichern. Bis jetzt war es mir noch gelungen, mich vor jedem Stallbesuch zu drücken, wenngleich Guste mich auch schon den ganzen Tag lang damit gequält und geschreckt hatte. Ich ängstigte mich bodenlos vor all dem Tierzeug, das nach meiner Idee nur darauf wartete, um auf mich loszustürzen, mich zu stoßen, zu treten, zu zermalmen. Mir waren schon die Hunde zu viel, die mich in stetem Beben und in qualvoller Aufregung erhielten, und nun sollte ich auch noch freiwillig die viel gefährlicheren, feindlicheren Vierfüßler aufsuchen – nein, solange ich es vermeiden konnte, mich als Feigling und Hasenherz zu zeigen, wollte ich es doch thun. Ich hatte die dunkle Ahnung, daß sowohl Gustens wie besonders Gretels Hochachtung, die ich eben mit meinem stolzen Auftreten mühsam errungen hatte, sehr bedeutend sinken würde, wenn ich mit schlotternden Knieen und klappernden Zähnen durch die Ställe schliche. Und daß es so kommen würde, wußte ich tödlich genau. Daher setzte ich auf Gretels prüfenden Blick hastig hinzu: »Es schickt sich doch, daß das Schloß vor den Stall geht!«
»Ja–a,« meinte Gretel gedehnt, »na, das ist Ansichtssache! Bei Vater und mir gehen die Ställe unbedingt vors Schloß, und wenn du ein Landkind wärst, ginge es bei dir ebenso, aber solch ein Stadtkind – –«
Ein Ton mitleidiger Verachtung klang aus ihrer Stimme, aber ich hütete mich, ihn übelzunehmen, ich hätte sonst vielleicht beweisen müssen, daß ein Stadtkind dasselbe leisten könne wie ein Landmädel, und dazu hatte ich nicht die leiseste Neigung.
Also schritten wir durch den Park, der mit dem Wald zusammenhing, dem Schloß zu, und als es aus dem Dunkel riesiger Linden endlich auftauchte, war ich wieder etwas enttäuscht, denn ein Schloß, so ein Stammgutschloß, wie dieses doch wohl auch war, hatte ich mir wieder einmal ganz anders vorgestellt, so ungefähr im Stil der Wartburg, die ich auf einer Reise in Thüringen bewundert hatte, oder wie Stolzenfels und Rheinstein, die mich einst am Rhein in taumelndes Entzücken versetzten.
Dieses hier war ein alter, grauer Steinkasten mit einem neu aufgeflickten roten Ziegeldach. Nicht eine Spur schön und großartig, aber behaglich und solid sah es aus, und der dicke, alte Turm, der sich an einer Seite tiefer in den Park hineinschob, und wie ein Überrest ferner Vergangenheit aussah, gab dem Ganzen doch einen gewissen romantischen Anstrich. Aber Guste hatte nicht unrecht, als sie gestern meinte, ihr Pächterhaus wäre hübscher.
Gerade wie ich das dachte, wies Gretel mit stolzer Handbewegung auf den Steinkasten hin.
»Ist das nicht wundervoll? Liegt es nicht wie ein Märchenschloß da? Auf der Welt giebt es nichts Schöneres wie unser Haus, und wenn Guste mit der albernen Idee kommt, daß ihr Häuschen am See mit den idyllischen Weinranken schöner sei, dann hat sie eben kein Gefühl für wahrhaft Erhabenes und Großes!«
»Wie ein steinernes Salzfaß sieht euer alter Kasten aus, und unser Häuschen ist ein süßes, wonniges, echt menschliches Wohnhaus!« Guste nickte triumphierend mit dem Kopfe. »Das sage ich und das sagt jeder vernünftige Mensch – du auch, Delia, nicht?«
Aber Gretel überhob mich der peinlichen Antwort, sie stürzte auf Guste zu und rüttelte und schüttelte sie.
»O, du Schaf! Immer wieder ärgerst du mich mit dieser impertinenten Redensart! Ich setze dich mal vierzehn Tage ins tiefste Burgverließ und lasse dich hungern, bis du anerkennst, daß unser Schloß das schönste Gebäude der Welt ist!«
Guste lachte unbekümmert um den Zorn des Schloßkindes gemütlich auf: »Ja, das könnte dir gefallen, noch so als alter Raubritter dazusitzen und harmloses Landvolk zu knechten und zu schinden! Schäme dich, Zornbraten, schäme dich auch vor Delia, die an solche Liebestitel wie »Schaf« und dergleichen nicht gewöhnt ist und jetzt gewiß denkt, daß du ein herrschsüchtiges, ungebildetes Mädel bist.«
»Du, findest du das wirklich?«
Gretel pflanzte sich drohend vor mir auf. Aber ich war jetzt schon gewitzigt und wußte, daß man sich von ihr nichts gefallen lassen durfte, und daher sagte ich ganz ernst und sogar etwas verweisend, damit sie merkte, daß ich älter war wie sie: »Ja, das finde ich wirklich. So spricht und so denkt kein feingebildetes Mädchen.«
»Nun hör bloß einer an! Klein wie ein Spatz und kratzig wie 'ne Katz'! – Nun bin ich ja gut beraten zwischen zwei so hochgebildeten, feinen Damen, wie ihr seid!« spottete Gretel. »Aber das ist wahr, Mutter hört es auch nicht gern, wenn ich mit diesen sogenannten Liebestiteln um mich werfe und jetzt, wo wir ein so zartes Blümchen neben uns haben, will ich mich auch zusammennehmen. Ich kann dir nur sagen, »Schaf« ist noch das mildeste und beste, womit ich Guste anrede. Manchmal kommt es viel toller, aber ich meine es nie böse, es liegt mir nur so gut bei der großen Landwirtschaft. Na, nun komm Putchen, betritt mit Ehrfurchtsschauern diese heiligen Hallen!«
Voranschreitend, den mächtigen Toby immer neben sich, öffnete sie die große Glasthüre, die von der Steinveranda in das Haus führte und wandte sich dann nach einem der seitwärts liegenden Zimmer, schon von weitem mit heller Stimme ankündigend: »Mutti, nun bringe ich dir das Stadtprinzeßchen! An der wirst du deine Freude haben! Nimm einen Operngucker, sonst kannst du das Kleinchen nicht finden. Schneid' kein Gesicht, Liliput, Mutti liebt so etwas Zierliches, Zerbrechliches, wie du es bist, sie ist immer unglücklich über ihr Riesenkücken, – nicht, mein goldner Bratengel?«
Dabei flog sie auf eine zarte, wunderschöne Dame zu, die mit einem Buch in der Hand auf einem Diwan ruhte und sich nun lächelnd und neugierig uns zuwandte.
Ich war ganz entzückt, etwas so Feines und Reizendes hatte ich fast noch nie gesehen, und der Knicks, mit dem ich mich jetzt zum Kuß auf die mir entgegengestreckte weiße Hand beugte, fiel so tief und ehrfurchtsvoll aus, wie vor Großmamas alter Fürstin, der ich bei jedem meiner Besuche in der kleinen Residenz einmal zur Audienz zugeführt wurde.
»Donnerwetter, die versteht's! Wenn sie nur nicht im Bärenfell verloren geht!« rief Gretel, zwischen aufrichtiger Bewunderung und Spott schwankend, und purpurglühend vor Ärger und Verlegenheit schnellte ich in die Höhe.
Aber da zog mich ein weicher Arm liebevoll zu sich heran, und eine milde Stimme sagte: »Nimm ihre Ungezogenheiten nicht übel, liebes Kind; sie ist die Tochter einer zwar biederen, jedoch knorrigen Familie väterlicherseits, und ich freue mich, daß unsren beiden wild aufgeschossenen Landmädchen in dir ein so angenehmes Vorbild guter Manieren und mädchenhaft zarter Sitten gegeben wird. Untereinander und am Beispiel lernt sich das leichter wie von guten Lehren und Ermahnungen Erwachsener. Den beiden Wildfängen werden hoffentlich an deinem Auftreten bald die Augen aufgehen für das, was ihnen fehlt.«
»Aber, Mutti, umgekehrt, umgekehrt, – verdirb uns doch die Kleine nicht! Sie soll ja von uns lernen, rote Backen, starke Glieder, feste Nerven und ein flottes, frisches Wesen zu bekommen!« rief Gretel dazwischen. »All die andern Fatzkereien, in denen sie glänzt, bringen wir auch zu stande, nicht, Guste, wenn wir nur wollen? Bloß, Mutti, das mußt du zugeben, das Purzelchen hat es leichter. Die ist beim Knicks gleich auf der Erde, während ich erst einen Meter Wegfahrt habe, bis ich die Tiefe des Bärenfells ergründe.«
»Ja, ja, unser kleines Stadtfräulein ist freilich zierlicher und geschickter gebaut wie du, mein Löwenkind,« lachte die schöne Dame und dann wandte sie sich zu mir, zog mich auf einen nebenstehenden Hocker und fragte mich teilnehmend und freundlich nach der Heimat und meinem bisherigen Leben.
Dabei teilte sie mir mit, daß auch sie einen Teil meiner zukünftigen Bildung in die Hand zu nehmen gedenke, da sie beide Mädchen in der englischen Sprache unterrichte, während Hans Eberhards Mademoiselle uns im Französischen zur weitmöglichsten Vervollkommnung bringen solle.
Hierbei wurde sie von Gretel unterbrochen, die sich mittlerweile weniger malerisch wie bequem auf einem Lehnstuhl gerekelt und teils zugehört, teils mit Guste geflüstert hatte. Nun sprang sie auf. »Gott ja, Mutti, wo steckt denn Bums? Man hört ja nirgend seinen Elfentritt. Treibt der Schlingel sich schon wieder in den Ställen herum?«
Die Mutter seufzte. »Wahrscheinlich, ich habe zwar eben Mademoiselle gebeten, ihn einzufangen und zu waschen, weil er so hervorragend nach dem Kuhstall roch, aber wer kann wissen, wie er ihr wieder ausgekniffen ist!« Indem klang im Nebenzimmer kräftiges Getappe und dazwischen eine scheltende Stimme: » Oh, quelle horreur! Restez ici, Hans Eberhard! Non, c'est impossible – vous avez l'air – –«
Aber da trampelte er schon in das Zimmer hinein, in zerrissenen, dunkelgefleckten, weißen Kniehöschen, überall auf der weißen Matrosenbluse bräunliche Abdrücke der dicken, vor Schmutz klebenden Händchen, und in dem rosigen, vollen Kindergesicht ein Gemisch von triumphierendem Stolz und anklagendem Zorn.
»Ich hatt' ihm schon am Szwanz, feste, am kleinen Ringelszwanz, da lauft er in dem Dreck un riß mir mit und weg war er! – Nicht schelten, Mutti, – ich wollt' ja nich in dem Dreck, der kleine, dicke Szweinchen riß mir bloß mit!«
Entsetzt wehrte die Mutter den sich zärtlich nähernden kleinen Schmutzfinken ab: »Bleib da, bleib da! – Aber, Mademoiselle, Sie sollten ihn doch waschen –«
Das richtete sich an die kleine, dunkellockige Person, die händeringend und verstört hinter Hans Eberhard in das Zimmer gestürzt war.
Sie hatte ein bräunliches, hübsches Gesichtchen und große, dunkle Augen, die jetzt in hellem Zorn sprühten.
» Oh, madame, – ich hab' ihm gewatscht und gekleidet wie eine weiße Engel, aber – comme il est méchant – dreh' ich Rucken, ist er weg, draußen auf das 'of und bei die smutzige Swein!«
»Na, Bums, du präsentierst dich ja als sauberer Knabe!« Gretel faßte den unverzagt Dastehenden oben am Kragen und schüttelte ihn ein bißchen. »Nun solltest du der jungen Dame da sagen, wer du bist, und ich dachte, du dürftest da fein aufrücken mit Titel und Würden, und was wird jetzt daraus? Pfui, wie den verlorenen Sohn finden wir dich unter Schweinen und Trebern! – Steh mal still! Wie heißt du, wenn du ein sauberer, artiger Junge bist?«
Er ließ den dicken, blondborstigen Kopf, der wie eine rosige Kugel auf den festen, breiten Schultern saß, hängen und sagte kleinlaut: »Hans Eberhard, Freiherr von Rungleben.«
»Und wie heißt du, wenn du wie jetzt ein Schmutzpeter und eine ungehorsame Range bist?«
Und noch kleinlauter kam es von den roten Lippen: »Schnipp, schnapp, schnums, Schmudeldibums!«
»Aber, Gretel,« tadelte vom Diwan her die Mama mit halbem Lächeln, »bring doch dem Jungen nicht solchen Unsinn bei –«
»Gar kein Unsinn, Mutti; wenn man ein Schmudeldibums ist, muß man auch so genannt werden. Ein schmutziger Junge hat kein Anrecht auf einen sauberen Namen, verstehst du, Dreikäsehoch?«
Sie schüttelte ihn wieder und er ließ die Unterlippe nun ganz tief hängen. Augenscheinlich war er zerknirscht. Der Schmudeldibums schien ihn tief zu drücken, und dabei sah er mit seinen vollgestopften, festen, kleinen Gliedern, die fast ebenso breit wie lang waren, und mit all dem Schmutz und der Zerrissenheit, die er auf sich trug, so urkomisch und niedlich aus, daß ich ihn trotz alledem gern geküßt hätte – denn kleine Kinder waren eigentlich meine Wonne.
»Geh und zieh dich frisch an!« strafpredigte Gretel weiter, »und dann darfst du wiederkommen und dieser feinen jungen Dame eine saubere Patschhand geben und mit ihr unterthänigst Freundschaft schließen.«
Er sah mich mit großen, prüfenden Augen an, dann sprach er gelassen das große Wort: »Das ist gar keine feine junge Dame, das ist ein kleines Mädchen!« drehte uns stolz den Rücken und trabte, von der händeringenden Mademoiselle gefolgt, aus dem Zimmer.
Hinter ihm lachte Gretel unbändig auf.
»Kinder und Narren reden die Wahrheit! Siehst du, Delia, du bist nichts wie ein kleines Mädchen und hast dich in Demut vor uns beiden Großen zu beugen.«
Ich war sehr rot und sehr ärgerlich, und so sagte ich denn auch ganz kurz: »Ja, länger aufgeschossen wie ich bist du wohl, aber wenn ich mich in Demut vor dir beugen sollte, dann müßtest du schon ein bißchen klüger und manierlicher sein. Davon habe ich aber noch wenig gemerkt!«
Als ich es gesagt hatte, erschrak ich, denn das würde Gretels Mutter gewiß übelnehmen, und verlegen sah ich mich nach ihr um. Aber sie nickte mir freundlich beistimmend zu.
»Ganz richtig, liebe Delia, laß dich nur nicht von dem langen Wildfang unterkriegen, sie kann mehr von dir lernen wie du von ihr. Aber dabei werdet ihr hoffentlich gute Freundinnen und versteht euch in eurer verschiedenen Art.«
»Na, ich seh' schon, Delia, du hast an meiner Mutter einen hübschen Rückhalt gewonnen,« sagte Gretel, und sah halb belustigt, halb ärgerlich aus. Dann kniete sie plötzlich auf dem Bärenfell nieder und drückte ihren goldmähnigen Kopf gegen die Hände der Mutter.
»Ach, du mein Blumenblatt, wie gern wäre ich dir zulieb und damit du mit mir zufrieden sein könntest, auch so ein feines, zartes Dingelchen wie die da; aber ich bin doch nun mal anders geraten, Vaters Bärennatur, äußerlich und innerlich, ungeschickt, heftig, polternd – –«
»Aber, Gretel, mein gutes, liebes Kind,« wehrte die Mama ab und trocknete liebevoll mit den weißen Händen die zwei großen, silberschimmernden Thränen, die ganz plötzlich über Gretels rosiges, sonst so fröhliches Gesicht rollten, »rede doch nicht so! Du bist mir gerade wie du bist am liebsten.«
»Nein, nein, mein Einzigstes, ich weiß schon, daß ich anders werden muß, gesitteter, mädchenhafter und sanfter! Ach, wenn das bloß nicht so verdammt schwer – ach, so –, siehst du, da ist es schon wieder, so etwas sagt ein gesittetes Mädchen nicht! Na, wart, Mutti, ich werde an dem Musterbild lernen, ganz gewiß, das werde ich deinetwegen! Du sollst mal sehen, wie manierlich ich werde!«
Sie sprang auf und wandte sich an mich: »Nimm uns mal ordentlich in die Dressur, Kleines! Ich bin nicht so ungebildet, wie ich im ersten Ansturm scheine und will mich ganz artig in dem, was du besser kannst wie ich, von dir belehren lassen, und du darfst mir sagen, was dir an mir nicht gefällt. Aber, Freiheit und Gleichheit – ich, das heißt, wir beide, Guste, nicht wahr? wir nehmen dich auch in die Schraube. Gar zu geleckt darfst du nicht sein, das ist langweilig und albern, meinst du nicht auch, mein Einzigstes? – Und nun schleppen wir die Delia zu Pfarrers, damit sie das Raupennest dort auch gleich kennen lernt, das wird sie amüsieren!«
Draußen, als wir wieder vor der Thüre standen, schob Gretel ihren Arm in meinen und sagte:
»Meine Mutter ist nämlich das Beste, was die Erde trägt, natürlich Väterchen ausgenommen, aber der ist doch eben ein Mann und ganz anders, mehr meine Art, aber meine Mutt, – o Gott, wenn du wüßtest, wie furchtbar gern ich ihr jeden Kummer ersparen und ganz nach ihrem Geschmack werden möchte! Aber es geht immer mit mir durch, immerzu, so das Wilde – es ist schrecklich schwer! Weißt du und weil ich selbst es so schlecht zu stande bringe, darum erzieh' ich ihr wenigstens den Bums ordentlich und halte ihn streng und such' ihm Manieren beizubringen. Denn sie ist eine kleine, süße Mutti, die viel zu weich und zu zart ist, um mit solch derbem Jungen fertig zu werden. Ich halte ihn kurz, aber es wird mit ihm auch nichts!« Sie seufzte schwer. »Er ist ein echter Rungleben, ebenso wie ich, die werden alle keine sanften, weißen Tauben. – Du hast es gut und Guste wird es auch leichter wie mir,« sie seufzte noch schwerer – »und Väterchen ist leider Gottes immer mit mir zufrieden. Aber das geht nicht so weiter, ich sehe es selbst ein und deshalb ist es sehr gut, daß du gekommen bist, vielleicht bringst du es mir bei!«
Mir war halb stolz, halb ängstlich zu Mute. Jetzt, im Augenblick, da jemand anders mich als Muster ansah, kam ich mir gar nicht musterhaft vor. Es war sehr hübsch und schmeichelte mir sehr, daß alle so viel von mir hielten, aber ich mußte dabei immer an meine Mama denken, – die war doch so wenig mit mir zufrieden gewesen, und die kannte mich am Ende besser wie die Leute hier.
Trotz aller Ziererei und Verschrobenheit, die mir meine lieben Stadtfreundinnen allmählich beigebracht hatten, steckte doch eine hübsche Portion gesunder Ehrlichkeit in mir und die wehrte sich heimlich gegen die unverdiente gute Meinung. Ich hatte eine gewisse Ahnung, daß Knicksemachen und Handküssen nicht genügten, um ein Mädchen als Muster hinzustellen, und es ging mir schwer durch den Sinn, daß ich mich bemühen müsse, das Zutrauen, das man mir entgegenbrachte, auch ernsthaft zu rechtfertigen und wirklich jenes gesittete, sanfte und taktvolle Mädchen zu werden, das man hier in mir sah.
Dazu seufzte ich aber ebensoschwer wie Gretel und Guste sagte, indem sie uns kopfschüttelnd ansah: »Kinder, mir wird ganz angst vor eurer Ausgezeichnetheit; ihr seufzt schon immer um die Wette unter der Last eurer jetzigen und künftigen Tugenden. Ich denke, so schlimm wird es hoffentlich nicht werden!«
Das war ein erlösendes Wort. Wir lachten beide und gaben uns die Hände. Nein, sicherlich, allzu schlimm würde es mit der Ausgezeichnetheit nicht werden! –
Von der Vorderseite des Schlosses führte eine Pappelallee ins Dorf und zum Pfarrhause, das dicht neben der Kirche und dem Friedhof lag, und mit blanken, in der Sonne funkelnden Scheiben fröhlich in die Welt guckte. Auf der Lattenthür, die in den Vorgarten führte, schaukelte ein etwa fünfjähriges, blondhaariges Mädchen, während vom Kirschbaum am Zaun die schlanken Beinchen eines etwas größeren Jungen herabbaumelten.
Von beiden Parteien ein kurzes Gekreisch, dann rutschte der Junge flink wie eine Katze am Stamm herunter, das Mädel riß die Thüre weit auf, wobei ein davor krabbelnder blonder Wicht in kleinem Bogen uns vor die Füße flog und dort mit weitgeöffneten Augen und Mündchen mausestill und staunend liegen blieb.
»Na, ja,« sagte Gretel und bückte sich, um den kleinen Schelm aufzuheben, »ein Wurm mindestens fliegt einem hier immer vor die Füße, manchmal sind es auch zwei oder drei. Das ist die Rahel, drei Jahre alt, dort kommt Esther, die zählt fünf, hinter ihr Elias, siebenjährig, Judith sitzt in den Erdbeeren, sie ist vier Jahre und eine Naschkatze. Tag, Kinder, wo ist die Mutter?«
Wie die Orgelpfeifen standen sie um uns, alle flachsblond, alle blauäugig und alle den Zeigefinger im Mund. Klaps, klaps, viermal in der Reihe traf Gretels feste Hand diese eigenartige Verschönerung der roten Mäulchen. »Ob man den Kleinen das wohl abgewöhnen kann! Hat der liebe Gott euch die Finger zum Lutschen gegeben? Schämt euch! Pfarrerskinder und so lasterhaft! Sperrt die Schnäbel lieber auf, um uns zu sagen, wo die Mutter ist?«
Jetzt grinsten sie alle, hingen sich wie die Kletten an Guste und Gretel und zogen die beiden wortlos mit sich fort.
Ich folgte belustigt, aber doch ein bißchen befangen, – das war alles so neu und wunderlich!
Gretel wandte den Kopf nach mir zurück.
»Komm nur, erst sagen wir der Tante Pfarrer guten Tag, sie sitzt hinten im Obstgarten. Aha, da kommt auch schon Ruth, das Hausmütterchen. Sie ist noch nicht ganz neun Jahre, aber die kann und schafft mehr wie wir drei zusammen.«
Sie sah genau aus wie all die andern, ebenso flachshaarig, blauäugig und rosig, nur daß sie den Mund nicht als natürlichen Bewahrungsort für ihren Zeigefinger betrachtete, sondern sich im Gegensatz zu den Geschwistern sehr manierlich benahm. Sie machte, ein Stückchen vor uns stehenbleibend, einen niedlichen Knicks und sagte freundlich: »Guten Tag, die Mutter sitzt mit David und Benjamin unterm Birnbaum und freut sich sehr, daß ihr kommt.«
Mir wurde ganz angst zu Mute – nahmen denn die Kinder gar kein Ende? Das ganze Alte Testament lebte hier auf.
»Und wo willst du hin, Ruth, warum gehst du fort?« fragte Guste, die Kleine, die an uns vorüberhuschen wollte, festhaltend.
Sie errötete. »Ach, in der Stube ein bißchen Ordnung machen. Man weiß nie, was die Kinder wieder angerichtet haben, und ein paar Erdbeeren bringen und Väterchen benachrichtigen –«
»Ist alles nicht nötig, Ruth,« fiel Gretel ein, »wir machen keine Staatsvisite, wir wollen nichts essen und Väterchen hat uns sicher schon gehört.«
»Ja, aber – –«
»Kein ›aber‹, komm du nur mit uns, damit die junge Dame hier das ganze Raupennest vollzählig sieht. Was sagst du, Delia, ist das nicht süß, sie haben so viel Kinder wie Tage in der Woche. Du sollst die Tante Pfarrer nur mal Strümpfe stopfen sehen, das ist ein kulturhistorisches Schauspiel, wie Väterchen so etwas immer nennt.«
Zu dem schien ich gerade recht zu kommen, denn die blonde, kleine Frau, die mitten auf der Wiese unter dem alten Birnbaum saß, schwenkte uns schon von weitem fröhlich einen winzigen, rosa Strumpf entgegen und neben ihr auf der Wiese stand ein Riesenkorb, aus dem noch mehr von der Sorte hervorzugucken schien.
»Ich kann nicht aufstehen, um euch zu begrüßen. David ist auf meinem linken Fuß eingeschlafen und ich mag ihn nicht wecken, weil er die Nacht hindurch so viel gewacht und geschrieen hat. Der arme Schlingel kriegt einen Backzahn. Aber ihr braucht euch mit Reden nicht zu genieren, der schläft jetzt wie ein Murmeltier, wenn ich nur meinen Fuß ruhig halte, dann weckt ihn kein Kanonendonner. Willkommen, mein liebes Kind, das ist hübsch, daß du hier zu uns aufs Land gekommen bist! So schön ist es nirgend auf der Welt wie hier, es wird dir schon gut gefallen!«
Alle priesen sie diesen Erdenfleck als den schönsten der Welt und ich konnte vorläufig noch gar nichts an ihm finden; und alle nannten sie mich schlankweg »du«, wo man mich in der Stadt doch allgemein schon mit »Sie« anredete. Wunderliche Leute, – Manieren hatten sie entschieden nicht viel! Das heißt, Frau von Rungleben nannte mich auch gleich »du« und ihr konnte ich doch unmöglich Mangel an Manieren vorwerfen. Dann war das wohl hier so allgemeine Sitte. Aber komisch blieb es doch!
Ich machte einen feinen Knicks, zwar nicht so tief wie vor Gretels Mama, aber doch sehr hübsch und zierlich, und gab sehr freundlich meine Hand. Ich ließ mir gar nichts merken, daß ich mich über das »du« wunderte, wirklich nicht, aber die kleine, blonde Frau mit den hellen, klaren Augen schien seltsamerweise doch etwas gemerkt zu haben. Sie lächelte so eigen, während sie meine Hand festhielt.
»Ich nenne dich gleich ohne weiteres »du«, wie die beiden andern Mädchen, liebe Delia, denn meines Mannes Schüler und Schülerinnen sind eigentlich so gut wie meine eigenen Kinder –«
»O, Tante, hast du an den Sieben noch nicht genug?« lachte Gretel.
»Mein Herz hat noch Liebe für ein paar Dutzend,« lächelte die Frau Pfarrer, »ihr könnt alle mit hinein, und das neue Blondköpfchen da paßt gerade so gut zu meinem Siebengestirn, das bekommt ein ganz besonders warmes Eckchen.«
Dazu sah sie mich so herzlich und mütterlich an, daß ich all meine Einwendungen gegen die ungebührliche Du-Behandlung total vergaß und mich hingerissen auf die kleine, verarbeitete Hand beugte, die noch immer die meine festhielt.
Dabei mußte ich aber wohl einen Eingriff in Davids bequeme Lage gethan und den Backzahnerwarter geweckt haben, denn im selben Augenblick, da die Tante Pfarrer mich herzlich an sich ziehen wollte, brüllte es zu meinen Füßen in lauten Jammertönen auf und zwei kleine, feste Fäuste packten in wildem Grimm nach meinen Beinen.
Entsetzt fuhr ich zurück, stolperte gegen den Riesenflickkorb und setzte mich, ganz gegen meinen Willen, tief in diesen hinein. Natürlich nicht mit der abgerundeten Grazie, mit der ich mir sonst meine Sitzplätze zu wählen pflegte, sondern holterdiepolter mit fuchtelnden Armen, in die Luft strebenden Beinen und einem kläglichen Aufschrei.
Um mich flogen die ordentlich und rund zusammengezogenen Strümpfe sämtlicher alttestamentarisch benamster Pfarrerskinder im lustigen Ballspiel auf den Rasen, dann neigte sich, ehe eine rettende Hand mir helfen konnte, der Korb unter meinem heftigen Gestrampel zur Seite, ich rollte auf die Wiese und über mir bauschten sich wie Wogen die Hemdchen und Höschen des Siebengestirns.
Das stand mit Guste und Gretel um das Schauspiel herum und jauchzte vor Vergnügen, selbst David hielt ein im Jammer, richtete sich auf und blickte mit Staunen und Lust auf das liebliche Bild, und ich bin fest überzeugt, daß selbst Klein-Benjamin, der in seinem Korb friedlicher herumstrampelte wie ich in meinem, vor Vergnügen seine rosigen Fäustchen ballte und jauchzend aufkrähte.
Nur Ruth war im Moment, da die Wäschewogen über mir zusammenschlugen, neben mir niedergekniet, schob mit raschen, geschickten Händchen alles mich Hindernde beiseite und sah mir besorgt und ernsthaft in das verwirrte, beschämte Gesicht.
»Hast du dir auch nicht weh gethan?« fragte sie mit ihrer sanften, lieben Kinderstimme. »Ach, du hast Thränen in den Augen, du bist gewiß sehr erschrocken!«
Ja, das war ich, aber noch mehr verlegen und zornig, daß mir so etwas passieren mußte. So eine Ungeschicklichkeit und Lächerlichkeit! Was für eine Einführung war das! Nun mokierten sie sich alle über mich!
Da stand die Frau Pfarrer schon neben mir. Ja, sie lächelte auch, aber so gutmütig und zugleich mit so mütterlicher, liebevoller Besorgnis im Blick.
»Nein, Schaden gethan kannst du dir nicht haben, das ist hier auf dem weichen Rasen unmöglich, nur erschrocken und ein bißchen ärgerlich bist du, nicht wahr?«
Lächelnd wischte sie mit einem der herumliegenden Höschen über mein heißes, thränenfeuchtes Gesicht.
»Ih, wer wird da weinen? Das war doch eigentlich ein richtiger Spaß, über den du mitlachen mußt. Ans Purzelbaumschlagen sind wir hier alle gewöhnt, heute lachen die, morgen du. Spotten thut man nur über den, der es weichlich und beleidigt aufnimmt. Flink, Kinder, räumt den Korb wieder ein, wer am schnellsten schafft, bekommt heute abend den süßesten Gutenachtkuß!«
Sie stürzten einer über den andren, um die verstreute Wäsche aufzusammeln, und währenddessen packten mich Guste und Gretel und schüttelten die Kopfe, wie ich so etwas ernst nehmen und mich darüber aufregen könne! Nein, ich wäre doch ein richtiges, zimperliches Stadtmädchen, und so etwas sollte ich mir nur abgewöhnen. Es hätte sich sogar sehr niedlich gemacht, wie ich mit den zierlichen Knopfstiefelchen so in der Luft herumwirtschaftete und all die weißen, gestickten Unterröckchen um mich her wogten und wallten, ganz wie bei einer kleinen Puppe, die man zum Ansehen ausgeputzt hätte.
Das war Öl auf meinen Zorn gegossen, denn ich war damals eben noch sehr eitel und die Hauptrolle spielte es immer, wie ich aussah und welchen Eindruck ich machte. Also fing ich an, mich über meinen Fall zu beruhigen und mich im Pfarrgarten unter dem Siebengestirn behaglich zu fühlen.
Bei den Kindern hatte nämlich mein Purzelbaum den Bann der Fremdheit und Befangenheit gebrochen, ich war damit ihresgleichen geworden und nun drängten sie sich um mich und fragten und plauderten und lachten mich an, daß ich ganz entzückt war.
Sie gefielen mir alle, mit ihren offenen, lichten Kindergesichtchen, von denen eins aussah wie das andre, nur verschieden in der Größe; aber am liebsten hatte ich von Anfang an Ruth, mit den liebevollen, ernsten Augen und dem sorgsamen Hausmütterchenzug, der über ihrem stillen Gesichtchen und über dem ganzen Wesen lag. So wie sie die Einzige gewesen war, die bei meiner Flickkorbgeschichte nicht lachte, sondern in sorgendem Mitgefühl neben mir niederkniete, so war sie immer; das Herz voll Liebe und Erbarmen, stets nur an andre und nie an sich denkend, und wenngleich im Alter und im Wissen weit hinter uns großen Mädchen stehend, doch überall im Können, Wollen und Thun uns als Muster und leuchtendes Beispiel vorschwebend.
Sie war ganz Liebe, Güte und Frieden, immer bereit, für den Alltag zu schaffen und dabei den Sonntag im Herzen. Und so war der Vater auch. Als die Mädchen mich später zu ihm führten, in das stille, sonnendurchleuchtete Studierzimmer, in dem er bei der Ausarbeitung seiner Predigt saß, flog ihm gleich beim ersten Blick, den die klaren, blauen Augen auf mich richteten, mein Herz entgegen, und es war mir nicht eine Sekunde quälend und unangenehm, als er mich allein bei sich behielt, um mein Wissen einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen.
Wie er fragte und wie er sprach, das war alles so gut, so herzlich, natürlich und freundlich, daß jede Befangenheit schwand, die Antworten fast von selbst kamen und auch das Nichtwissen lange nicht so beschämend drückte wie daheim in der Stadtschule, wo wir manchen Lehrer hatten, der scharf und strenge blickte und dabei lange nicht so klar und anschaulich zu lehren wußte, wie hier mein geliebter Onkel Pfarrer.
Das heißt, so nannte ich ihn nicht von Anfang an, und so wußte ich auch nicht gleich beim ersten Begegnen seine Vorzüge zu schätzen, aber etwas davon fiel doch schon damals in mein Herz, machte es seltsam frei und leicht und gab ihm ein stilles, fröhliches Heimatsgefühl, das mir in der Folge mehr als alles andre hinweghalf über die Sehnsucht nach meinen Eltern und meinem wirklichen Daheim, über jenes leise, stille Weh, das trotz all des Neuen, was augenblicklich meine Sinne und Gedanken beschäftigte, doch allmählich mir drückend auf die Seele fiel.
Die Schulstunden im Pfarrhause waren es, die mir zuerst das Einleben in die neuen Verhältnisse erleichterten; denn so gut mir Guste und Gretel auch gefielen, und so viel besser alles war, wie ich gedacht hatte, so gehörte doch ein Weilchen Zeit und eine ziemliche Anstrengung dazu, um mich an all das zu gewöhnen, was mir hier fremd und seltsam entgegentrat. Ich stand überall auf einem andren Standpunkt, und ganz abgesehen von dem, was ich ›Feinheit‹ nannte, und was unter diesen natürlichen, einfachen Menschen nirgendwo zu finden war, gab es noch so viel andres Fremdes, ja oft Beängstigendes, daß ich alle Selbstbeherrschung aufbieten mußte, um mich vor ihren Augen nicht unausgesetzt lächerlich und verächtlich zu machen.
Und das wollte ich nicht. Nach jener Flickkorbgeschichte, bei der mir alle erklärt hatten, daß Weinen, Erschrecken und Übelnehmen eine Dummheit und Weichlichkeit sei, nahm ich mir fest vor, von all diesen mir sehr anhaftenden Schwächen nie mehr etwas merken zu lassen.
»Landgraf, werde hart!« ermahnte ich mich mit den Worten des Ruhlaer Schmiedes wohl zehnmal an jedem Tage, wenn die beiden, vor keinem Hindernis zurückschreckenden Mädchen mich durch die Pferde-, Kuh- und Schweineställe schleppten, was mir ungefähr so war, als wenn ich in der Arena den wilden Bestien des Urwaldes vorgeworfen werden sollte, oder wenn sie über Hecken und Zäune setzten, Bäume erkletterten, in die Heuschober krochen und all solche Sachen trieben, die mir anfangs entsetzlich, unfein, langweilig und quälend waren.
Aber das dauerte nicht lange. Hatte ich im Anfang alles Glück und allen Frieden im Pfarrhause gefunden, unter den stillen, freundlichen Augen meines geliebten Onkel Pfarrers, der ganz nebenbei und ohne mich zu tadeln oder zu bespötteln, meine Ideen und Gefühle allmählich aus ihren verkehrten Bahnen auf den richtigen, einfachen Weg gesunder Natürlichkeit und wahrer Seelenfeinheit zu lenken wußte, und war die Tante Pfarrer mit ihrem Siebengestirn immer der Schutzwall, hinter dem ich mich vor den wilden Vergnügungen meiner beiden neuen Freundinnen verschanzte, so kam doch sehr bald die Zeit, in der Pfarrers zwar nach wie vor die liebsten und besten blieben, aber ich nebenbei doch mit wachsender Körperkraft und auflebender Jugendlust Freude an all dem fand, was mir im Beginn dieses Landaufenthaltes so beängstigend und fremd gewesen.
Guste und Gretel, ob heimlich von ihren Müttern darauf hingewiesen, oder vielleicht auch aus eigenem Empfinden heraus, hatten mich nach dem ersten, heftigen Ansturm, in dem sie mich ohne Rücksicht mit sich reißen wollten, ziemlich meinen Weg gehn lassen. Bei aller äußeren Wildheit und anscheinenden Rücksichtslosigkeit besaßen beide Mädchen angeborenen Takt und liebenswürdiges Feingefühl. Gretel spottete zwar gern ein bißchen, und ihrem Blick, Lächeln und frischem Witz hatte ich es wohl am meisten zu danken, daß meine weichliche, ängstliche Art sich so schnell stählte und die flotte Natur, die eigentlich in mir steckte, früher zum Durchbruch kam, wie es sonst der Fall gewesen wäre, aber immerhin ließen sie mir Zeit, aus mir selbst heraus so zu werden, wie sie mich gern haben wollten.
Zu Hause ließ man mir volle Freiheit. Tante und Onkel, beide viel in der Wirtschaft thätig, hatten für Beobachtungen und Erziehungsgedanken wenig Zeit. Körperlich wurde ich umsorgt wie eine Prinzessin, aber sonst konnte ich thun und treiben, was ich wollte.
Tante ging von dem Grundsatz aus, daß ich mich so am besten eingewöhnen würde und man späterhin, wenn ich soweit wäre, viel leichter und richtiger da eingreifen könne, wo es nötig sei.
Mit Guste war das eine andre Sache, die mußte, wenn die Schulstunden vorüber und die wissenschaftlichen Aufgaben gemacht waren, schon tüchtig mit in der Wirtschaft helfen, und Gretel, die von all solchen Pflichten noch ganz frei war, klagte oft, daß die Gefährtin ihr lange nicht mehr so gehöre wie früher.
Dazu sah sie mich halb auffordernd, halb verächtlich an.
»Wenn aus dir noch mal etwas würde, hätte ich eine Mordsfreude. Aber Schoßhündchen wachsen sich nicht zu kühnen Rennern aus!«
»Nein, natürlich nicht,« sagte ich empört und gekränkt, »Renner sind bekanntlich Pferde, und zu denen pflegen sich Hunde nie auszuwachsen. Übrigens finde ich den Vergleich nicht fein –«
»Nein, nein, du Weisheitswunder, weder salonfähig noch richtig ist er,« lachte Gretel, packte mich und setzte mich auf ihre hohe, weitbäuchige Kommode. »Predige weiter, Mondscheinprinzessin. Nein, halt! Kleines, –« als ich ärgerlich herunterspringen wollte – »du, sieh mal, Guste, ich glaube, sie bekommt schon runde Bäckchen und sogar ein bißchen Farbe, wie die kleinen Wachspuppen; nein, nein, bleib' sitzen, ich meine es diesmal ernst, ich will dich mit meinen eigenen Armen wieder herunterheben, um zu probieren, ob dein Gewicht nicht am Ende schon zugenommen hat. Wahrhaftig, drei und ein halbes Lot wiegst du schon mehr!«
Lachend setzte sie mich auf die Erde nieder, und Guste, die immer die Vermittlerin zwischen Gretels ausgelassener Laune und meiner Empfindlichkeit spielte, nahm mich gleich in ihre Arme, nickte mit dem Kopf und sagte: »Im Ernst, Delia, Muschchen hat auch schon gesagt, du sähest ganz anders aus und äßest besser und hättest zugenommen. Wißt ihr was, Kinder, wir gehn mal auf den Kornspeicher und lassen uns vom Inspektor wiegen, besonders Delia wird gewogen, damit wir späterhin wissen, wieviel von ihrem Menschen sie uns zu verdanken hat.«
Ich war nicht so sehr von diesem Vorschlag entzückt, denn ich wußte wohl, wie Gretels Spott über mich herfallen würde, wenn es nun klar und deutlich herauskam, wie wenig mein Gewicht betrug. Aber sie ließen nicht nach, nahmen mich in die Mitte und rasten mit mir dem Kornboden zu.
Der Schlüssel zum Aufgange steckte im Schloß, also ging es die Hühnersteige im Sturm in die Höhe und dann schallte es oben in allen Tonarten: »Herr Matthies, Herr Matthies!«
Von dem war nichts zu sehen. Ich atmete erleichtert auf, vielleicht war er nicht zu finden. Mit neugierigem Blick musterte ich den mir noch unbekannten Raum. Wie sauber das alles aussah; das Korn zierlich in Mustern geharkt, der Boden so glatt und rein, – ah! – erschreckt quiekte ich auf. – Was saß da nur dicht vor mir? Etwas so Winziges, Graues, Stilles mit kleinen, kohlschwarzen Äuglein, einem ganz, ganz kleinen, rosigen Schnäuzchen und langem, dünnem Schwänzchen! –
Das war eine Maus, sicher eine Maus, aber eine so unbeschreiblich kleine, niedliche, wie ich sie nie vorher gesehen hatte.
Trotzdem stand ich wie gelähmt vor Schreck und Angst vor dem kaum spannenlangen Tierchen, das regungs- und hilflos zu meinen Füßen saß.
»Was hast du, was ist denn los?«
Guste und Gretel kamen angestürmt. Meine kleine Maus mußte taub und gelähmt sein, sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Da, da!« Ich wies mit zitternden Fingern auf das Häufchen Unglück vor mir, das mich so vollständig aus der Fassung brachte.
Im Nu knieten beide Mädchen nieder.
»O, das süße, goldene Tierchen! Nein, so eine kleine Maus sah ich noch nie!« jubelte Gretel. »Die nehmen wir mit.«
Und während ich vor Entsetzen aufschrie, hatte sie das kleine Tier schon in die Hand genommen.
»Was schreist du denn, als wenn ein Krokodil dich fressen will?«
»Ich ängstige mich,« stammelte ich besinnungslos.
»Vor diesem Atom?« Gretel öffnete dicht vor meinem Gesicht die Hand, in der das Mäuschen genau so still, so zitternd, schwarzäugig und rosenschnäuzig dasaß, wie vorher am Boden. »Sieh doch nur das süße Ding an, das graue Sammetfellchen, das spitze Schnäuzchen, die ängstlichen Augen und die entzückend fein gegliederten Pfötchen! Was du mit einem Handgriff zerdrücken kannst, davor ängstigst du dich, du Banghase? – Schäm' dich! Und wenn es noch häßlich und unappetitlich wäre! Aber dieses reizende Geschöpfchen, an dem nichts wie Schönheit und Zierlichkeit zu bewundern ist!«
»Ja, – aber es ist doch eine Maus!« verteidigte ich mich halb beschämt, halb doch noch ängstlich, wenngleich ich zugestehn mußte, daß ich wirklich noch nie etwas Reizenderes und entzückender Gebildetes gesehen hatte.
»Natürlich, ein Elefant ist es nicht, trotzdem du dich bemühst, einen daraus zu machen,« spottete Gretel. »Nein, Kinder, die behalten wir und ziehen sie groß. Das ist unser Findling. Der arme Wurm hat sich verlaufen, ist gewiß zum erstenmal aus dem Nest gekommen und weiß nun weder hin noch her. Wir ziehen sie auf, heimlich, ganz unter uns. O, du armes, süßes Ding! Seht nur, nicht eine Spur von Scheu, es rührt sich nicht! Wir zähmen es mit der Zeit, – das ist himmlisch! Kommt schnell, damit keiner was merkt, denn im Schloß wird jede Maus mit Feuer und Schwert, oder vielmehr mit Kater und Falle vertilgt. Wir haben nie eine, und wenn wir sie behalten wollen, muß es das tiefste Geheimnis zwischen uns bleiben. Aber, nicht wahr, hier so hilflos und einsam können wir das Tierchen nicht lassen?«
»Vielleicht ist es doch besser, wenn wir sie hier sitzen lassen,« meinte Guste sinnend. »Wenn die Alten sie holen –«
»Nein, nein, kommt nur schnell, ehe der Inspektor uns erwischt. Mäuse haben immer so schrecklich viel Junge, daß sie sich um das einzelne nicht kümmern,« wehrte Gretel heftig ab, den kleinen Findling mit zärtlichen Blicken betrachtend.
»Ach, Pfarrers haben auch viele Kinder und bekümmern sich doch um jedes einzelne,« beharrte Guste bei ihrer Meinung.
»Na, du, aber so was! Pfarrers mit einer Mäusefamilie in gleiche Richtung zu stellen!«
Gretel war empört, ich gleichfalls. Meine geliebten Pfarrers und so eine ruppige Mäusegesellschaft, – nein, Gustens Einwendungen fielen kraft dieser Äußerung ins Wasser. Ich stellte mich energisch auf Gretels Seite; die kleine Maus war ein armer, verlassener Findling, wir mußten uns ihrer annehmen. Im Grunde entzückte mich auch das niedliche Geschöpfchen und die Idee, es aufzuziehen und zu zähmen. Da ich es nicht selbst in die Hand zu nehmen und nicht selbstthätig zu füttern brauchte, fand ich die Geschichte bezaubernd, nebenbei entging ich bei dieser außerordentlichen Gelegenheit der dräuenden Gewichtsbestätigung, und so drängte ich denn mit Gretel vorwärts, der ins Freie führenden Treppe zu.
Guste widersprach auch nicht länger, sie war schließlich ebenso verliebt in unser Ziehkind wie wir und hatte den Kampf mit ihrem Gewissen und der besseren Einsicht schnell überwunden.
Im Sturmschritt eilten wir dem Hause zu. Daß uns nur keiner abfing, ehe wir unsren Fund in Sicherheit gebracht hatten!
»Kinder, in meinem Zimmer kann ich sie nicht behalten,« sagte Gretel bedenklich, »da kommen mir die Mägde dahinter. Wo lassen wir sie nur? Denn gefüttert muß sie doch oft werden und die Erziehung und Zähmung verlangt auch unsre häufige Gegenwart. – Ich weiß schon, ich bringe sie im Garderobezimmer unter; da ist hinter der Pelzkiste ein prachtvolles verstecktes Eckchen, um das sich kein Mensch kümmert. Wir können ungeniert ein- und ausgehn und sonst kommt nur alle Jubeljahre jemand hinein, – machen wir! O Gott, da kommt Mutti mit Frau von Bernsdorf aus dem Garten! – Entwischen können wir nicht mehr, keine Möglichkeit, – wir müssen guten Tag sagen. Heiliger Strohsack! – Ich brauche ihr zwar nur eine Hand zu geben, aber man kann nie wissen, wie meine andre auch verlangt wird. Delia, nimm du sie schnell, du als Fremde brauchst bloß einen Knicks zu machen!«
»Nicht um die Welt!« Ich sprang entsetzt zur Seite, all meine Pflegemuttergefühle ließen mich treulos im Stich vor dieser Anforderung.
»Hasenherz!« grollte Gretel kurz, denn zu weiterer Meinungsäußerung war es glücklicherweise schon zu spät, die beiden Damen standen nun vor uns, und wir knicksten der Reihe nach herunter, gaben die Hand und waren in tödlicher Verlegenheit. Wenn nun gerade die Maus quiekte, wenn sie biß, wenn sonst irgend etwas geschah, was Gretels zweite Hand beanspruchte! – Denn Frau von Bernsdorf hielt die andre noch immer freundlich fest und sprach und fragte, daß wir wie auf Kohlen standen!
Nun sagte auch noch Gretels Mutter: »Streich' dir die Haare zurecht, Kind, du siehst wieder wie ein Struwwelpeter aus.«
Allmächtiger, womit sollte sie streichen, da Frau von Bernsdorf noch immer ihre einzige präsentierbare Hand festhielt?
Mit dem Todesmut der Verzweiflung riß Gretel die Unschuldsvolle aus den Fingern des Besuchs, warf einen wilden Blick um sich und mit den Worten: »Ja, ich sehe zu unordentlich aus, ich muß mich schnell ein bißchen zurecht machen,« stürmte sie ohne Knicks und ohne weitere Entschuldigung in das Haus.
»Aber Gretel! Liebste, entschuldigen Sie nur meinen Wildfang, er steht nach wie vor, trotz aller Ermahnungen, mit den guten Manieren auf Kriegsfuß,« entschuldigte Frau von Rungleben verlegen, und während der Besuch lächelnd Gretels Verteidigung übernahm, benutzten wir die Gelegenheit, uns hastig knicksend zu verabschieden und aufgeregt, halb erstickt vor Verlegenheit und heimlichem Lachen unsrer Vorgängerin zu folgen.
Die empfing uns an ihrer Zimmerthür, ganz aufgelöst vor Amüsement und Aufregung.
»Kinder, war das eine Geschichte! Ein reiner Feldzug, Durchschmuggeln eines Waffentransportes durch die feindliche Linie, – gottvoll! Ich kriege noch meine Pauke von Mutti! Thut mir furchtbar leid, meine Goldmusch wieder mal mit ihrer Tochter blamiert zu haben, aber hier galt es die gute Sache. – Nun kommt schnell! ich habe schon ein Kistchen in Bereitschaft, da legen wir ein bißchen Watte hinein, denn das Baby muß es noch weich und warm haben; dann holen wir uns von Mamsell Milch und Weißbrot und danach geht die Fütterung los!«
Wir waren alle drei Feuer und Flamme für unser Abenteuer. Ach, und wie bezaubernd war das nun, als unser Mäusekind das eingeweichte Weißbrot zwischen die zierlichen, winzigen Vorderpfoten nahm und mit dem Rosenschnäuzchen daran herumschnupperte.
Unser Kleinchen war nun mit einem Male ganz lebendig, huschte in seiner hochwändigen Kiste flott hin und her, trank ein bißchen Milch, setzte sich auf die Hinterpfoten, putzte das Schnäuzchen und sah uns dazu mit den blanken, kohlschwarzen Äuglein zutraulich und freundlich an.
Wir kamen überein, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Selbst ich verlor vor diesem Reiz alle Scheu, die ich sonst vor Mäusen hatte, und entschloß mich sogar, die Spitze meines kleinen Fingers in die Milch zu tauchen und unsrem Schützling die herabfallenden Tröpfchen um das spitze Mäulchen zu streichen.
Es war einfach bezaubernd, der Jubel brach bei jeder Bewegung des kleinen Grauchen von neuem los und noch nie, solange ich hier war, hatte ich mich mit den beiden Mädchen so befreundet gefühlt, wie jetzt in gemeinsamem Entzücken und gemeinsamer Freude an unsrem Mäusekind.
Sie mußten das wohl auch fühlen, denn Gretel ergriff plötzlich Guste und mich bei den Händen und sprach: »Kinder, das ist eine erhabene Stunde, in der wir uns zum Schutz und zur Pflege eines armen Waisleins« – Guste zuckte mit ihrer Hand – »nun, sagen wir meinetwegen eines armen, verlaufenen und verlassenen Kindes zusammengethan haben. Wir übernehmen nun gemeinsame Pflichten, uns umschlingt ein innigeres Band wie vordem. Was meint ihr, wenn wir diesen Tag zu einem festlichen für unsre Freundschaft, für unser ganzes Leben machten?«
Sie stand mit brennenden Wangen und leuchtenden Augen zwischen uns, wie eine Veleda, die begeisterte Seherin alter Zeiten, und hingerissen schauten wir zu ihr empor. Ja, sie hatte recht; ja, wir waren zu allem bereit, – nur wußten wir nicht, wozu?
Aber sie wußte es. Mit erhobener Stimme fuhr sie fort: »Wir wollen einen Bund schließen, einen Geheimbund unter uns dreien, treu in Not und Tod, ein Schutz und Schild den Einsamen, Armen, Verwaisten, ob Mensch, ob Tier, alles was hilflos ist, soll bei uns Hilfe finden!«
Das war großartig! Wie die drei Männer auf dem Rütli standen wir in opfermutiger Begeisterung da und nickten mit schimmernden Augen unsrer Rednerin zu.
Gretel flammte, jedes ihrer goldroten Härchen sprühte vor Aufregung und Feuer.
»Und einen Namen muß unser Bund haben, den Mäusebund wollen wir ihn nennen; denn, seht mal, eine Maus hat ihn ins Leben gerufen, und außerdem, ich glaube, einen Mäusebund gab es noch nie, wir haben ganz etwas Besonderes, Eigenartiges!«
Ja, sie hatte recht! Wir jubelten, wir sanken uns in die Arme und küßten uns, – der Mäusebund war groß und glücklich in diesem ersten Moment seines Entstehens!
Gretel war die erste, die sich aus dem Taumel des Mäusebundentzückens aufraffte zum weiteren praktischen Ausbau unsrer Gründung.
»Einen Namen hätten wir also, Kinder, und ein Geheimbund ist es; aber natürlich, das allein genügt nicht, nun müssen wir auch Abzeichen haben.«
»Mäuseabzeichen?« fragte ich erschreckt, – die Sache fing an, unangenehme Seiten zu bekommen.
»Sozusagen, ja,« antwortete Gretel. »Da macht sie schon wieder ein Gesicht, als wenn sie nun jeden Tag eine lebendige Maus verschlucken sollte! Du, eine Mäusebündlerin muß Mut in der Brust haben, denn wer sich zum Schutz der Hilflosen aufwirft, darf keine Gefahr scheuen!«
»Naja,« seufzte ich kleinlaut, »aber Mäuseabzeichen, das klingt doch ganz gefährlich!«
»Sei bloß ruhig! Daß wir uns nun nicht mit lebenden Mäusen behängen werden, kannst du dir doch denken. Aber, seht mal, Kinder, was meint ihr dazu? – Jede kriegt eine kleine silberne Maus am blauen Bande um den Hals, natürlich unter dem Kleide zu tragen, aber doch wie ein Orden, unser Ordenszeichen!«
Damit waren wir furchtbar einverstanden, ja, das war reizend! Aber – silberne Mäuse liefen doch nicht auch auf dem Kornboden spazieren, daß man sie greifen konnte! –
Guste machte diese geistvolle Bemerkung und wurde dafür mit einem ›Schafskopf‹ belohnt, was neuerdings, seitdem ich da war, wirklich nur noch sehr vereinzelt vorkam. Aber hier behauptete Gretel, daß es ein notwendiger Ausdruck wäre.
»Nein, natürlich, die müssen wir kaufen. Ich schreibe an den alten Schultze in R. (das war die nächstliegende Provinzialstadt), der besorgt für Väterchen alle Geschäfte und ist immer, wenn er mal herkommt, furchtbar freundlich zu mir. Er hat mir neulich gesagt, er wolle mir mal einen Gefallen thun. Bis jetzt habe ich dabei immer an ein Reitpferd gedacht, das er Väterchen für mich vorschlagen sollte, aber nun geht dies vor. Der Milchjoseph nimmt den Brief mit, er muß Urfehde schwören, das ist nämlich Stillschweigen –«
»Erlaub' mal, Urfehdeschwören heißt: keine Wiedervergeltung üben!« fiel ich wissensgeschwellt ein.
»Ach was, bei mir heißt Urfehde Stillschweigen,« wehrte Gretel ärgerlich ab. »Unterbrich mich nicht! Also, der nimmt den Brief mit und – ja – Geld werde ich wohl auch mitgeben müssen! – Wieviel mögen wohl drei silberne Mäuse kosten?«
Das wußten wir alle nicht, ich hatte nur so eine ungefähre Idee, daß man da nicht mit fünfzig Pfennig abkäme. Und nun gingen wir an die Prüfung unsrer Barschaften.
Gretel konnte drei Mark flüssig machen, ohne unangenehmes Aufsehen zu erregen; ich ein bis zwei Mark, das heißt, eine Mark war mir lieber wie zwei; Guste konnte allerhöchstens fünfzig Pfennig auf den Altar unsres Bundes legen, aber wir trösteten sie, als sie etwas bekümmert und geniert deshalb war; in einem Geheimbund war alles gemeinsam, da kam es gar nicht darauf an, ob einer viel oder wenig gab, das war alles eine Kasse. Nur als sie schüchtern einwarf, ob wir denn nicht lieber das Geld für die Zwecke unsres Bundes, das heißt, als Unterstützung für Hilfsbedürftige verwenden wollten, wurde sie entrüstet zurückgewiesen und überschrieen. Daran könne man später denken, jetzt wäre die Hauptsache, daß wir Abzeichen hätten, um uns als Bundesschwestern zu fühlen, das übrige fände sich mit der Zeit. Vorläufig hätten wir ja einen Pflegling, der nicht viel koste, – und kurz und gut, die silbernen Mäuse triumphierten über die guten Vorsätze.
Schließlich war Guste ja auch nicht unempfindlich für ein Ordenszeichen am blauen Bande, und so kam denn schnell wieder Einigkeit in unsren Bund und die Ordnung der Dinge wurde nebst Versprechen baldiger Einzahlung unsres Beitrags in Gretels Hände gelegt, die alles mit Urfehde – dabei blieb sie – besorgen wollte.
»Kinder, und nun gehe ich zur Mamsell und frage, ob sie mir nicht ein bißchen Wein geben könnte, so einen Rest Kochwein oder Beerenwein; es ist ganz gleich, wenn es nur Wein ist, damit wir anstoßen können. Und die letzten Tropfen opfern wir den Göttern, wißt ihr, – so spritzen auf den Fußboden, das gehört dazu, das ist die Weihe!«
Wir waren begeistert, – ja, – anstoßen und den Göttern opfern, das machte sich großartig, das gehörte dazu! Wenn Mamsell nur den Wein gäbe! –
Gretel mußte wohl besondere Mittel angewendet haben, denn sie kam wirklich mit einem Rest etwas trübe scheinenden Weines und drei Gläsern zurück, und nun wurde die Kleiderkammer abgeschlossen und der feierliche Akt ging vor sich.
Über der Cigarrenkiste, in der unser Findling sich eben taktlos in die Milch gesetzt und nach dem Herausholen mit seinem Schwänzchen seltsame, weiße Hieroglyphen auf den Boden gezeichnet hatte, reichten wir uns feierlich die biederen Rechten, während wir mit den Linken die Gläser zum Aneinanderklingen hoben und Gretel uns nochmals mit flammenden Worten die Zwecke und Pflichten unsres Geheimbundes vorhielt.
Dann führten wir die Gläser zu den Lippen – brr – war das sauer!
»Wir opfern lieber den Göttern!« beeilte sich Gretel vorzuschlagen, und in freudigem Eifer wurde der Inhalt der Gläser dem Fußboden mitgeteilt.
Dann sanken wir uns in die Arme, küßten uns und fühlten alle heiligen Schauer eines Geheimbundes durch unsre Seelen rieseln.
»Kinder,« sagte Gretel nach diesem feierlichen Moment, »aber den Göttern haben wir etwas zu viel geopfert, seht bloß, wie der Fußboden aussieht! Das kann nicht so bleiben. So sieht es kaum draußen im Stall aus. Wenn jemand hereinkommt und das sieht, dann giebt es gleich Reden und Untersuchungen. Wir müssen aufscheuern!«
Unter Gekicher, mit fliegender Eile und angstvoller Heimlichkeit, jede einen von Gretels Waschschwämmen wassertriefend in der Hand, begaben wir uns an die Reinigung des Bodens.
Ach, es war ein himmlisches Vergnügen, so hatte ich mich mit meinen Stadtfreundinnen niemals amüsiert! – Im letzten Augenblick kam uns Bums in die Quere. Wir hatten eben wieder unsre Schwämme mit reinem Wasser getränkt und wollten ausrücken, da kam er über den Korridor gestürzt, ein Hosenbein angezogen, das andre hinter sich schleppend, einen großen, wunderlichen, roten Farbenklecks auf der linken Wange und finsteren Zorn im dicken Gesichtchen.
»Sie hat mir gehaut, auf die Fingern gehaut! Ich bin ihr ausgereißt!«
Wir standen, die Hände ängstlich auf dem Rücken; hinter uns tropfte es wie Tauwetter, aber vorwärts konnten wir nicht, denn ihm auf den Fersen folgte Mademoiselle wutentbrannt und versperrte uns den Weg.
Sie sprach nur mit Hans Eberhard immer französisch und mit uns in den bestimmten Stunden, sonst war sie eifrig bestrebt, sich deutsch auszudrücken, um die Sprache zu lernen und selbst im höchsten Zorn hielt sie an diesem Grundsatz eisern fest.
So sprudelte sie auch jetzt wieder in deutschem Kauderwelsch uns entgegen: »O, diese Knab'! Nichts kann man 'alten vor seine Fingers! Ganz ein wenig Pomade für mein Mund steht vor mein Lavoir, wo ich ihm anzieh' seine 'osen, uih, er 'at gesteckt seine Fingers in der Pomade und gemacht Klecks auf das Backe! O, bitte, 'alten Sie ihm auf, eh' er lauft in der Salon zu Madame!«
Wir bildeten Spalier. Natürlich, so durfte der Unband nicht in den Salon. Frau von Rungleben hatte heute schon Kummer genug mit ihrer Tochter gehabt, am Sohne durfte sie nicht auch noch böse Erfahrungen machen.
»Bums, schäme dich!« rief Gretel, ihm den Zeigefinger der freien Hand drohend entgegenstreckend.
Bums machte Halt, wollte die Zunge ausstrecken, blieb aber mitten in dieser liebenswürdigen Absicht stecken, denn seine runden blauen Augen waren unsren Spuren gefolgt.
»Ihr kleckert ja!« kam es erstaunt von seinen Lippen.
»Ja, Schmutzbartel, weil wir schon so etwas ahnten und dich waschen wollten!« rief Gretel schnell besonnen, fuhr mit der rechten Hand hinter dem Rücken hervor und drückte ihm den triefenden Schwamm in das rotbemalte Gesicht. »Flink, Kinder, auf zum Schutz der Hilflosen, gebraucht eure Schwämme!«
Halberstickt vor Lachen stürzten wir uns nun auch auf Bums, und aufheulend wandte sich dieser rückwärts, direkt in die Arme Mademoiselles, die ihn packte und mit seligem: »O, Dank, vielen Dank für die 'ülf!« uns zunickend, den Quiekenden und Strampelnden fortschleppte.
Wir lachten, daß wir fast umfielen, und dann kamen wir überein, daß dies der lustigste, schönste und ereignisreichste Tag sei, den wir seit lange erlebten, und daß wir uns glänzend aus der Gefahr gezogen hätten, mit Takt, Mut und Geschick.
»Ja, seht ihr, Kinder, so wirkt schon jetzt unser Bund!« rief Gretel begeistert aus. »Paßt nur auf, was wir noch alles mit ihm ausrichten und an ihm erleben werden!«
Vorläufig beschränkten sich freilich unsre Bundeserlebnisse darauf, daß Gretel die geheimnisvolle Mission an Schultze in Scene setzte, und daß wir mittlerweile uns bemühten, unsren Findling mit leidenschaftlicher Hingabe vom Mäusebaby zur erwachsenen, fetten und großen Maus heranzupflegen.
Das ging nun beides nicht ohne Sorgen und Ängste ab. Schultze hatte durch den Milchjoseph seine volle Bereitwilligkeit erklären lassen, aber um Geduld gebeten, da die Ordenszeichen aus einer größeren Stadt verschrieben werden mußten, was Zeit erforderte. Und unser Mäusebaby wuchs und entwickelte bei aller Niedlichkeit gewisse unangenehme Seiten in Bezug auf Reinlichkeit, Zartheit der Empfindung, Gehorsam und dergleichen.
In den ersten Tagen war alles noch wundervoll, besonders da Guste, die am praktischsten und geschicktesten von uns war, die Reinlichkeitsfrage allein erledigte und Gretel und ich eigentlich nur das Vergnügen von der Sache hatten.
Aber dann erklärte Guste eines Tags, daß sie eigentlich nicht einsähe, warum sie allein Mäusekindermädchen spielen sollte, der Bund verpflichte uns alle gleich und wir möchten nur auch einmal die feinen Händchen rühren.
Das war keine unbillige Forderung, aber Gretel und ich verloren von diesem Augenblick an doch die aufrichtigste und reinste Freude an der Sache. Dazu kam, daß unser Kleinchen bei der ausgezeichneten Pflege, die wir ihm angedeihen ließen, sich sehr schnell zu unliebsamer Stattlichkeit entwickelte, dabei aber sehr viel von seiner Niedlichkeit einbüßte und in der gewünschten Zahmheit, die der Hauptspaß an der Sache werden sollte, nicht die geringsten Fortschritte machte. Im Gegenteil fuhr es jetzt wie ein Berserker in seiner Kiste umher und diese hatte schon zweimal gewechselt werden müssen, endlich sogar einen Deckel erhalten, weil die bekannten Mäuseeigenschaften, Klettern und Nagen, sich zugleich mit der körperlichen Zunahme gefährlich ausbildeten.
Als Gretel dann eines Tags bei erneuten, mutigen Zähmungsversuchen aufschreiend einen blutigen Finger wies, in den die reizenden, spitzen Zähnchen unsres entarteten Pflegekindes eine klaffende Wunde geschlagen hatten, und als Schultze noch immer nicht die silbernen Ordenszeichen schickte, wurde unsre Bundesselig- und Freudigkeit stark getrübt und heimlich wünschte jede von uns, daß wir die Mäuseverantwortlichkeit auf anständige Art und Weise wieder los werden könnten.
Natürlich untereinander gestanden wir das nicht ein, nur verminderte sich das Interesse an dem mit solchem Enthusiasmus ins Leben gerufenen Mäusebund und andre Fragen des Tags und Vergnügens traten wieder mehr in den Vordergrund.
Gretel war so wie so jetzt ziemlich für alles unbrauchbar, da sie ihren von einer längeren Reise heimkehrenden Vater erwartete, an dem sie mit leidenschaftlicher Innigkeit hing. Sie dachte und sprach kaum mehr etwas andres, als was mit Väterchen zusammenhing, und jeder Satz begann unfehlbar mit den Worten: »Wenn Väterchen erst da ist –«.
Da war es denn nun natürlich, daß dabei die Maus zu kurz kam und wenn Guste nicht gewesen wäre, die in stark ausgesprochenem Pflichtgefühl nach wie vor für den Pflegling sorgte, so bin ich nicht ganz sicher, ob er nicht verhungert, oder die Katastrophe seiner Befreiung eher hereingebrochen wäre.
Denn selbstverständlich mußte doch einmal eine Änderung in die Sache kommen. Immer Kistenleben, Brot- und Milchfütterung, das verträgt auf die Dauer kein echtes, freies Mäusegemüt, und unser Grauchen war denn endlich auf den kräftigen Standpunkt gekommen, um uns zu beweisen, daß man nicht ungestraft in die Rechte eines Mäusedaseins eingreift. –
Es war natürlich gerade der Tag, an dem Gretels Vater erwartet wurde, und wenngleich Guste und ich von Rechts wegen bei dieser Familienfeierlichkeit gar nichts zu suchen hatten, so fühlten wir uns doch als Freundinnen und Bundesschwestern verpflichtet, den Empfang zu verschönern und tummelten uns schon seit früher Morgenstunde in der Nähe des Schlosses herum.
Gretel stöberte uns dabei natürlich schleunigst auf.
»Kinder, kommt bloß sehen, wie wunderschön die Mägde die Thür zu Väterchens Zimmer bekränzt haben. Väterchen liebt zwar solchen Firlefanz gar nicht und Mutti hat es eigentlich auch verboten, aber die Mine und die Dore sind doch nicht zu halten gewesen. Fein sieht es aus! Kommt schnell, der Wagen ist noch nicht in Sicht! Eigentlich greulich, daß Väterchen nicht erlaubt, daß eins von uns ihn von der Bahn holt – ich hätt' es so gern gethan! Aber eigentlich hat er auch recht, ob nun eine Stunde früher oder später – –«
Währenddessen waren wir in das Haus gegangen und wollten an der Treppe, die in das obere Stockwerk führte, vorüber nach dem Zimmer des Hausherrn abbiegen, da ertönte von oben ein entsetzliches Gekreisch, ein »uih, uih,« wie nur Mademoiselle es mit solcher Verve und Helligkeit zu stande brachte. Und richtig, nun zeterte es auch ganz deutlich: » O ciel, une souris, certainement, kanz kewiß, ein Maus, ein Maus! Über mein Bein sprungt es! Dore, Mine, Mamsell, ein Maus! – O, da, da – sie lauft – uih, uih!«
Uns wurde es dunkel vor den Augen, eine schreckliche Ahnung stieg in uns auf – schnell die Treppe in die Höhe!
Oben war ein bewegtes Leben. Dore, Mine, Mamsell und Mademoiselle jagten über den Korridor. Dore und Mine mit Besen bewaffnet, Mamsell, die gerade in ihrer Stube beim Frisieren gewesen war, mit wallenden Haaren und in der Nachtjacke und Mademoiselle im Unterröckchen und Untertaille, alle sehr aufgeregt, und die drei Deutschen in flammender Entrüstung.
»Bei uns giebt es keine Maus, die wird gar nicht geduldet! Wer weiß, was Sie wieder gesehen haben!« Und dazwischen Mademoiselle mit wilden Handbewegungen und lodernden Blicken: »O, ich weiß, was ich sehte – ein Maus, ein graues Maus, hupp über mein Bein, – grad' aus mein Kleid – –«
»Wo denn? Wo haben Sie denn die Maus gesehen?«
»O, in derr Kleiderkammer!«
»Unmöglich, in der Kleiderkammer eine Maus! Wo sollte die denn herkommen?« entrüsteten sich Dore und Mine, in ihrem Ordnungsgefühl tief verletzt, und wir drückten uns bleich und still in den Winkel, näher der Treppe zu, in heißer Sehnsucht, dieser Scene zu entfliehen.
Da kreischte es aber allgemein auf, Dore, Mine, Mamsell und Mademoiselle, alle vier aus einem Munde: »Ja, ja, da ist sie, eine Maus, eine Maus!«
Wir fuhren zusammen. Unser armer Findling! Was würde nun mit ihm geschehen?
»Eine Maus, eine Maus!« jauchzte nun auch Bums, der aus seinem Zimmer entwischt war und im nagelneuen, schneeweißen Anzug hinter der bewegenden Tagesfrage hertrampelte.
Mit dem jubelnden Ausruf: »Ich hab' ihr am Szwanz!« stolperte er in blinder Hast über Minens Spüleimer, stieß diesen um und setzte sich fest aufplanschend mit all seiner fleckenlosen Sauberkeit in den bräunlichen Strom, der dem Eimer entrinnend sich schnell über den Korridor und die Treppe hinunter ergoß. Nun war es Zeit, daß wir Reißaus nahmen, denn die Sache hatte den Höhepunkt erreicht. Alle guten Gefühle für unser gehetztes Pflegekind verließen uns, wir hatten nur eine ausgesprochene Neigung, uns in Sicherheit vor möglichen Fragen zu bringen – uns war nicht wohl in unsrer Mäusebundhaut! –
Zu spät! – Von dem Gezeter aufgeschreckt, stand unten an der Treppe Frau von Rungleben, mit ängstlichen Blicken hinaufforschend, und da ihre fragende Stimme im allgemeinen wilden Gebrüll der oben Beschäftigten total ungehört blieb, eben dabei, ihr Kleid hoch zu heben und an dem lustig plätschernden Spülbach vorbei die Treppe emporzusteigen, zum Schauplatz der Thaten.
Der Rückzug war uns abgeschnitten. Nun drückten wir uns tiefer in den bergenden Schatten des großen Bettschrankes, der dicht an der Treppe stand und hofften auf den glücklichen Zufall, der vielleicht die Blicke der Hausfrau blind an uns vorübergleiten lassen würde.
Da sprang es dicht neben uns auf, klein, grau, flink, uns so bekannt und vertraut und doch nun in der Freiheit so fremd und erschreckend, daß ich ebenso laut aufquiekte wie die andern: »Uih – die Maus!«
Gretel gab mir einen Puff, einen ordentlichen, aber er kam zu spät, entdeckt waren wir nun und natürlich wandte sich die jetzt oben anlangende Hausfrau zuerst an uns.
»Was ist denn, Kinder? Was soll das allgemeine Geschrei?«
Zur Antwort kamen wir glücklicherweise nicht, denn nun stürmten Dore, Mine und Mamsell auf sie zu, während Mademoiselle mit neuen Jammertönen auf den still und bestürzt im Wasser sitzenden Bums zueilte.
Es war eine furchtbar komische Scene für einen Unbeteiligten, aber hier gab es nur Beteiligte, und wir als die Allerbeteiligtsten hatten jedes Gefühl für Komik verloren. Uns schüttelten Jammer und Mitleid, teils mit der Maus, teils mit uns.
Frau von Rungleben hatte mittlerweile aus all dem Stimmengewirr doch glücklich herausbekommen, um was es sich handelte. Sie schüttelte den Kopf.
»Und darum sieben kreischende, aufgeregte Frauenzimmer und ein schmutziger, brüllender Junge! Alles um eine kleine Maus, man sollte es nicht für möglich halten! Uih!« schrie sie im selben Augenblick auf und sprang mitten in das Spülwasser hinein. »Dieses entsetzliche Tier! Zu Tode habe ich mich erschreckt! Dore, Mine, augenblicklich wird der Hidigeigei geholt, der wird schon reinen Tisch machen –«
»Nein, Mutti!« todesmutig stürzte Gretel dazwischen. Vor dem Gedanken, daß der alte, starke Kater, der dem Schloß seinen tadellosen Ruf als mäuserein verschafft hatte, auf unsren kleinen, armen Schützling gehetzt werden sollte, brach Gretels Sorge um das eigene Wohl zusammen, die edlen Bundes- und Pflegemuttergefühle siegten. »Nein, Mutti, das darfst du nicht, der Hidigeigei soll unsre Maus nicht fressen!«
»Eure Maus?« Frau von Rungleben hatte sich aus der Wasserpfütze wieder auf trockenes Terrain gerettet und sah jetzt mit aufdämmerndem Verständnis in unsre drei Sündergesichter. »Natürlich, wie sollte sonst auch eine Maus hier in das Schloß kommen, wenn nicht dahinter wieder ein Streich meines Fräulein Tochter steckte! Das ist mir aber doch zu toll, sogar Ungeziefer schleppst du ins Haus – –«
»Gnädige Frau, der Wagen mit dem Herrn Baron rollt eben in den Hof,« rief von unten das Stubenmädchen, und im Nu war die ganze Scene verwandelt.
Frau von Rungleben brach mitten in ihrer donnernden Standrede ab und eilte die Treppe hinunter. An ihr vorüber, in ihrer beliebten und oft gerügten Art das Treppengeländer als Rutschbahn benützend, sauste Gretel in das untere Stockwerk; Mine, Dore und Mamsell flogen nach den verschiedenen Himmelsgegenden, in die ihr Beruf sie rief; Mademoiselle raste mit ihrem durchweichten Zögling zu neuer Säuberung, und auf dem Schauplatz blieben nur der Spülbach, Guste, ich, – und voraussichtlich die Maus.
Guste und ich sahen uns beklommen an.
»Wenn wir sie jetzt nur retten könnten,« sagte Guste leise. »Wir wollen sie mal rufen, vielleicht hat sie sich doch an den Namen und an uns gewöhnt.«
»Ja, vielleicht,« stimmte ich zu, und dann hüpften wir um das Spülwasser herum, suchten in allen Ecken und lockten mit den zärtlichsten Tönen: »Puck, Puckchen, kleiner Puck, hör' doch!«
Aber der Name, den unser Grauchen gleich in den ersten Tagen erhalten hatte, mußte noch nicht vollkommen in sein Begriffsvermögen eingedrungen sein, oder vielleicht mißbilligte unser Pflegling auch die Haltung, die wir vorher der ganzen Sache gegenüber angenommen hatten. Kurz und gut, er erschien nicht, trotz aller Beschwörungen, und traurig ließen wir endlich davon ab.
»Weißt du, wir gehen jetzt still nach Hause, hier erwarten uns doch keine Lorbeeren mehr,« seufzte Guste mit inniger Überzeugung. »Es ist schon am besten, wenn wir keinem unter die Augen kommen! Aber wir wollen die Hausthür offen lassen, vielleicht ist Puckchen schlau und entwischt! Mehr können wir ja nicht für ihn thun.«
Ich nickte stumm mit dem Kopfe. Es war mir furchtbar peinlich, daß Frau von Rungleben böse auf uns war und ihre gute Meinung von mir verlieren könnte. Unser wunderschöner Geheimbund sah nun, da er an die Öffentlichkeit trat, ganz anders aus wie vordem.
Bedrückt schlichen wir die Treppe hinab und wollten uns eben an dem Wohnzimmer vorüberdrücken, als sich dessen Thür öffnete und Gretel aus ihr herauslugte.
»Ihr wollt wohl durchbrennen? – Is nich, liebe Kinder! Väterchen hat eben nach euch gefragt, er sagt, er hätte uns was mitgebracht, uns allen dreien, – kommt nur flink herein!«
Sie zog uns mit stürmischer Gewalt ins Zimmer.
»Da, Vater, da ist unsre Neue! Sieh bloß die Zuckerpuppe! Aber sie macht sich, wir haben sie schon erzogen, aus der kann noch was werden!«
»Ja, ja,« lachte Frau von Rungleben, »von eurer Erziehung habe ich eben ein hübsches Resultat erlebt –«
»Ach, Mutti, jetzt nicht!« Gretel hielt ihr den Mund zu, und währenddessen hatte uns der Hausherr freundlich die Hände gereicht.
Gretel hatte recht, sie und der Vater waren eine Art: rotblonde Riesen, machtvolle, prächtige Gestalten, wie man sie nicht oft sieht.
Herr von Rungleben lächelte auf mich knicksendes, kleines Etwas amüsiert herab, mein Patschchen ging in seiner kräftigen Männerhand fast verloren, und ich hatte das Gefühl, als könne er mich mit einem Druck derselben total zermalmen.
Aber er that es nicht, sondern er sprach reizend freundlich und herzlich zu Guste und mir, und die Scheu vor seiner Größe ging ganz verloren an der liebenswürdigen Art seines Wesens.
»Du, Väterchen, du hattest uns ja etwas mitgebracht,« mahnte Gretel, die mit glänzenden Augen neben dem Vater stand und uns triumphierend und selig zunickte.
Ach, Gretel, du ahntest nicht, wie du mit deiner Frage das Glück dieser Stunde zerstörtest! –
Mit einem eigentümlichen Schmunzeln wandte sich Herr von Rungleben seiner Tochter zu.
»Ich eigentlich nicht, Mädels, ich bin nur Liebesbote des alten Schultze.« – Wir zuckten alle drei wie unter einem Schlage zusammen. – »Sag mal, Tochter, wie kommst du denn dazu, deine Geschäfte von diesem alten Knaben besorgen zu lassen?«
Gretel war erst erblaßt, nun schoß ihr alles Blut in die Wangen.
»Vater, das ist ja unmöglich! – Er hat doch Urfehde gelobt –«
»Urfehde? Was soll denn das heißen? Lebtest du mit ihm im Kriege, daß er jetzt ewigen Frieden schwören mußte?« lachte der Vater, und ich konnte nicht anders, ich rief vorwurfsvoll dazwischen: »Siehst du, Gretel, ich hatte doch recht, Urfehde heißt nicht Stillschweigen!«
»Sei du jetzt nur still!« fuhr Gretel mich zornig an, »das spielt gar keine Rolle, auf jeden Fall scheint der alte Schultze ein alter Esel zu sein«
»Gretel!« rief Frau von Rungleben kopfschüttelnd.
»Mutti, thut mir leid, aber alles wo es hinpaßt, er ist ein alter Esel, davon beißt die Maus keinen Faden ab!«
»Ja, eben, Maus,« fiel Herr von Rungleben ein und zog ein Päckchen aus der Rocktasche, »ich verstehe die Geschichte nicht, aber Schultze hat mir das da mitgegeben und läßt dazu sagen: Mäuse wären nicht aufzutreiben gewesen, aber sein Sohn, der die Sache besorgt hat, hätte drei ganz gleiche, allerliebste silberne Äffchen gefunden, die mit den Beinen strampeln –«
»Man müßte ihm selbst die Beine ausreißen!« fuhr Gretel, bebend vor Entrüstung, auf und nahm dem Vater das zierlich in Seidenpapier gewickelte Kästchen aus der Hand, während wir, vernichtet und beschämt, uns stumm und bleich an die Wand lehnten.
»Aber was bedeutet denn die ganze Geschichte?« forschte Frau von Rungleben sich Gretel nähernd, die, Thränen des Zornes in den blauen Augen, das Kästchen hastig geöffnet hatte und es nun, mit einem verzweifelten Blick nach uns, fest in der Hand zusammendrückte.
»Frag bloß nicht, Mutti, – ich ersticke vor Wut! Es war ja doch ein Geheimbund! – Ach, das versteht ihr nicht! – Nun ist ja überhaupt alles vorbei, die Maus ist fort, und als Ordenszeichen haben wir Affen! – Na, in meinem ganzen Leben gründe ich keinen Geheimbund mehr!«
Gretel schluchzte auf. Weinen war sonst nicht ihre Sache, aber hier ging es über ihre Kräfte! – Ich konnte das verstehen, mir war ebenso zu Mute. Schrecklich, Affen als Ordenszeichen! Und so vor allen Leuten! – Diese Schmach war kaum zu überleben! –
Und Guste lachte. Sie konnte lachen, ja, sie lachte ebenso herzlich und laut wie Gretels Eltern, die zwar noch immer vor einem Rätsel standen, aber doch instinktiv die Lösung desselben sehr komisch fanden.
»Guste, wie kannst du lachen?« Gretels Thränen versiegten, sie donnerte die Freundin so strafend an, daß ich, wenn das mir gegolten hätte, in den Boden gesunken wäre.
Aber auf Guste schien das gar keinen Eindruck zu machen, sie lachte weiter und sagte dazwischen: »Ich kann nicht anders, Gretel, es ist zu komisch! Lacht doch auch, seid vernünftig! – Der Mäusebund ist zum Affenbund geworden!«
»Und das findest du komisch? – Eine tödliche Beleidigung ist es!« grollte Gretel, aber es klang lange nicht mehr so empört wie vorher, und wie Guste nun, auf Frau von Runglebens Drängen und Fragen hin, allmählich unsre ganze Mäusebundgeschichte zum besten gab, glätteten sich Gretels Mienen; sie fiel selbst erzählend und beschreibend ein, und zuletzt lachte sie mit ihrem geliebten Väterchen so lustig mit, als wenn wir niemals Affen als Ordenszeichen erhalten, und unser Geheimbund nie schmachvoll an die Öffentlichkeit gezerrt worden wäre.
Herr von Rungleben schüttelte sich vor Lachen, er hatte einen Heidenspaß an der Sache, und bei ihm hießen wir von diesem Augenblick an nur noch die »Mäusebündlerinnen«.
Aber Frau von Rungleben war doch ein bißchen ärgerlich und unzufrieden.
»Ihr habt euch wirklich benommen, als wenn ihr der Bums wäret, so kindisch und unüberlegt, wie man es so großen Mädchen gar nicht zutrauen sollte. Und die vernünftige, zart gebildete Delia mitten drin! Kinder, Kinder, schlechte Beispiele verderben gute Sitten! Was werden Delias Eltern sagen, wenn sie hier nichts wie Dummheiten lernt!«
Ich stand tief beschämt und zerknirscht da, aber Herr von Rungleben, freundlich meine Schulter klopfend, verteidigte uns.
»Wenn die Mädel nichts Schlimmeres thun, als Geheimbünde zum Wohle schutzloser Mäuse stiften und sich Affenorden zulegen, dann wird ihre Seele keinen Schaden nehmen. Tröstet euch, Kinder, der Sinn der Sache war nicht so übel, an dem haltet nur fest, kleine Mäusebündlerinnen, wenn auch allerlei Verschiebungen in euer Programm gekommen sind. Schutzlose beschützen, Hilflosen helfen, Hungernde speisen, – à la bonheur, das kann ein gutes Lebensmotto werden, über das wir nicht lachen wollen. Macht nur aus dem jetzigen Spiel künftighin Ernst, dann werdet ihr schon euren Platz im Leben tüchtig ausfüllen. Aber damit ihr für die Zukunft kein böses Omen habt, gebt mir die strampelbeinigen Äffchen, die muß der alte Schultze umtauschen; davon beißt die Maus auch keinen Faden ab, – wir wollen haben, was wir bestellten, dafür werde ich sorgen.«
Er hielt Wort. Nach einiger Zeit, als wir unsre tragikomische Mäusegeschichte schon halb zum Vergessenen zählten, brachte er eines Tags wieder ein niedliches Päckchen aus der Stadt mit, aber diesmal erwuchs uns daraus keine Beschämung und Enttäuschung, sondern jubelnde Freude. Es enthielt drei reizende silberne Broschen in Form eines Ordenskreuzes. Als erhabenen Mittelpunkt trug jeder dieser Sterne eine allerliebste graue Maus, deren funkelnde Äuglein aus kleinen Rubinen gebildet waren, und in den vier Spitzen standen die Worte: »Schutzlose schützen, Hilflosen helfen, Traurige trösten, Hungernde speisen.«
Das war ein hübscher Schluß unsres Mäusebundes, der dadurch nicht ohne Nachklang und Wirkung blieb, denn jene Worte fielen in unsren Herzen nicht auf harten Boden, sondern schlugen langsam und fest Wurzel, und haben unsrem späteren Leben noch oft Richtung und Inhalt gegeben.
Viel mehr dem späteren, wie dem damaligen, denn damals begann unter Herrn von Runglebens Führung eine ganz andre Zeit, eine so flotte, lustige, frische, wie sie mir noch nie vorgekommen war, und wie ich sie ein paar Wochen früher auch noch nicht hätte mitmachen können und wollen.
Nun war das schon anders, ich hatte schon Lehr- und Wehrzeit hinter mir, und meine Kräfte waren nicht mehr so ungeübt wie im Anfange. Freilich bebte ich zuerst auch noch vor den neuen Anforderungen zurück, wenn es hieß: »Hoppla, die kleine Maus muß nun auch auf den Gaul!« oder: »Die Liliputpatschen sollen festhalten und lenken lernen. Hier, Putchen, nimm die Leine und kutschiere drauf los!« und ohne »Ach« und »Oh« ging es nicht ab, aber ich mußte doch an alles heran, und hatte ich es erst einmal angepackt, dann fand ich auch Vergnügen daran, und was die beiden andern Mädchen an Kraft und Übung voraus hatten, das eignete ich mir durch Geschmeidigkeit und Geschick an.
Frau von Rungleben schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Aber, Mann, Mann, nun verdirbst du auch noch die dritte! Müssen denn alle Mädchen Amazonen und Wagehälse werden? Das ist ja schrecklich! Laß dir doch an deiner eigenen genügen, die ist schon einmal ein halber Junge; und Guste hat ja auch solche Eltern, die mit dir in ein Horn stoßen, aber Delia ist doch ein zartes, kleines Stadtmädchen!«
»Eben darum, Frauchen, das ist sie zu sehr gewesen, eine bleichsüchtige, nervöse Zierpuppe! Deshalb haben die Eltern sie hergeschickt, damit ein gesundes, frisches Menschenkind aus ihr wird. Ich habe alles mit Frau Regine besprochen, die weiß, was die Eltern wollen. I, zum Kuckuck, eine Soldatentochter, und piepste herum wie ein kranker Spatz, kein Mark in den Knochen, keine Schneid' in Haltung und Sinn! Ja, ich weiß alles, wie es war, und ich freue mich, daß es schon so anders geworden. Sieh bloß an, in dem Mädel steckt Soldatenblut, die mausert sich hier aus. Was, Puthühnchen, fühlst du dich nicht wohl unter meinem strammen Regiment?«
Dann nickte ich strahlend. Ei, gewiß fühlte ich mich wohl, unbeschreiblich, unsagbar wohl, ein ganz andrer Mensch war ich geworden, ich fühlte es selbst, das Froschungeheuer hatte sich zum köstlichsten Märchenprinzen verwandelt, und ich saß im Märchenlande und war glücklich wie eine Märchenkönigin.
Tante Regine klopfte mir die Backen und sagte voll Stolz: »Wie sie aussieht, rotbäckig und rund wie ein Borsdorfer Apfel! Wenn es so anschlägt, dann hat man seinen Spaß daran, Pflegekinder zu haben. Deine Mutter wird Augen machen, wenn sie dich wiedersieht! Ein ganz andres Mädchen bist du geworden!«
Und wenn ich im Haushalt anstandshalber einmal meine Hilfe anbot, dann schüttelte sie lachend den Kopf.
»Lauf nur und tummele dich mit deinem Gretel in Feld und Flur! Du bist nicht zum Lernen und Arbeiten hier, sondern zum Erholen und Austoben. Bist ja auch noch eben solch ein Kindskopf wie Gretel, wenn man das auch im Anfang nicht geahnt hat. Genieße es nur, die Kinderjahre gehn schnell vorüber. Mit Guste fängt nun schon ein andres Regiment an, die wächst schon hinüber ins gesetzte Alter.«
Guste seufzte dazu; sie fühlte sich anscheinend noch nicht recht dazu geeignet; aber es half ihr nichts. Während wir, Gretel und ich, die Sommerferien nach allen Seiten hin in lustigem Übermut und seliger Faulpelzerei ausnutzten, mußte sie tüchtig in der Wirtschaft heran und bekam an allen Ecken und Enden zu hören, daß sie ein vernünftiges Mädchen werden und anfangen müsse, des Lebens Pflichten kennen zu lernen.
Außerdem begannen für sie beim Onkel Pfarrer jetzt die vorbereitenden Religionsstunden zu ihrer Konfirmation und unwillkürlich wandelte sich unter diesen Gustens Wesen zu einem nachdenklichen Ernst und einer gewissen sanften, abgerundeteren Mädchenhaftigkeit, die sie oft über die Gemeinschaft mit uns hinaushob und den Altersunterschied zwischen uns fühlbar machte.
Gretel drückte mich dann an sich und sagte: »Was bin ich vergnügt, daß du hier bist und daß du dich so nett gemacht hast. Sieh mal, Väterchen ist ja ein prachtvoller Kamerad, aber man braucht doch noch was andres daneben, für alles hat er ja doch nicht Verständnis. Na, das kann man ihm auch nicht übelnehmen, er ist am Ende nur ein Mann, und ein armer, geplagter, der mit einer Masse verdrehter Geschichten, wie Politik und all solchem Unsinn, sich noch nebenbei beschäftigen muß. Na, sieh mal, da kann ich nun nicht mit, ebenso wie er bei mir mit vielem nicht mit kann, und da war bis jetzt Guste immer so prachtvoll. Nun bekommt sie aber so ein bißchen was Pomadiges. Mutti findet es wunderschön, und es mag ja auch sein. – Gott, man muß ja so was durchmachen, und ich bin überzeugt, danach wird sie wieder so 'n famoser Käfer, wie sie früher war. Aber augenblicklich ist nicht viel mit ihr los. Da bin ich nun selig, daß ich dich habe, die überall mitgeht und mitmacht, – man muß doch auch mal was Lustiges unternehmen, nicht? So ein bißchen Leben in die Bude bringen, sonst wird man ja wie ein alter Gaul, der sich die Beine im Stall steifsteht!«
Na, zum Beinesteifstehn kamen wir nicht! Vormittags ritten und fuhren wir mit Herrn von Rungleben die Felder besichtigen, und ich war bald für den Stand der Saaten ebenso interessiert, wenn auch nicht immer ebensogut darüber unterrichtet wie Gretel; nachmittags trieben wir uns im Park, Wald und Heide herum und abends schwärmten wir im Mondschein, oder, wenn der nicht zu haben war, in der Dunkelheit im Garten, deklamierten unsre Lieblingsstellen aus Schillers Dramen und Gedichten, oder erzählten uns Gespenster- und Räubergeschichten.
Am Abend war Guste immer dabei, oft auch Mademoiselle, die dann Bums glücklich zur Ruhe gebracht hatte und gern ein Stündchen mit uns verplauderte.
Mademoiselle war noch ein ganz junges Mädchen und fühlte sich sehr zu uns hingezogen. Wir hatten sie auch sehr lieb, wenngleich wir uns gern mit ihr neckten, da vieles an ihr uns unbeschreiblich komisch und fremdartig vorkam.
Vor allen Dingen ihr niedliches Kauderwelsch, dann die Lebendigkeit ihrer Auffassung und Empfindung, und am allermeisten ihre bebende Seelenangst vor Gespenstern.
Das war ein Punkt, den wir drei scherzhaft behandelten, denn selbst ich, bei all meiner sonstigen Hasenherzigkeit, hatte vor Gespenstern absolut keinen Respekt, uns waren Gespenstergeschichten halbe Märchen, an denen wir uns eben nur ergötzten, weil sie so nett gruselig klangen; aber daran glauben, wie Mademoiselle, – kein Gedanke!
Natürlich bemühten wir uns mit unsrer ganzen geistigen Überlegenheit, die kleine, ängstliche Mademoiselle von ihrer Gespensterfurcht zu kurieren, und es war ein direkter Sport bei uns, ihr jeden Abend eine neue, seelenerschütternde Gespenstergeschichte zu erzählen, bei der sie, bebend wie Espenlaub, mit jeder Hand sich an eine von uns klammernd, dumpf stöhnte.
Wenn dann ihre Fassung fast zu Ende war und sie bei jedem fallenden Blatt, bei jedem zitternden Mondenstrahl hell aufkreischte: »O, da, – ein Gespenst!« dann suchten wir sie mit den weisesten Aufklärungen zu beruhigen, lösten all unsre tollen Gespenstergeschichten in schlichte Natürlichkeit auf, zeigten ihr den Ast, dessen Knacken sie entsetzt, den Mondstreifen, der ihr als Gespenst erschienen und kamen uns wie die vollendetsten Erzieher dieses thörichten, zitternden Persönchens vor.
Aber ohne jeden Erfolg, Mademoiselle war nicht zu überzeugen.
»Es giebt aber Gespenster,« behauptete sie mit rollenden Augen, »o, ich weiß, – da in das alte Turm, da geht es um, ganze weiß und lang, – ein Ahnfrau, sagt Dore, – das sein totgeschlagt und 'at keine Ruh'! O, ich weiß, und ich ängstige mir seher!«
Wir lachten uns halb krank, – aber ich muß gestehen, es gruselte mich doch etwas! So ein alter, dicker Turm konnte schon eine Vergangenheit haben und totgeschlagene Ahnfrauen wirkten auch auf mich nicht ganz beruhigend.
»Sag mal, Gretel,« fragte ich hinterher stockend, »ist da was dran mit dem Turm?«
»Was dran? Mit der wandelnden Ahnfrau? – Frag' doch nicht so dumm – die macht sich keine Bewegung mehr!«
»Nein, natürlich nicht, aber ich meine nur, wurde sie erschlagen da in dem Turm?«
»Gott, ja, ich glaube, irgendwer hat da im Turm mal irgendwen erschlagen, ob das aber eine Ahnfrau war, davon habe ich keine Ahnung. – Nein, Kinder, das mit Mademoiselle muß anders werden! Wenn die nun Bums so 'nen Unsinn erzählt, nachher glaubt der dumme Junge auch daran!«
»Ach, wo wird sie!« wehrte Guste ab. »Aber eins will ich euch nur sagen, Kinder, ihr sollt das arme Ding nicht jeden Abend mit euren Geschichten ängstigen, das ist gar nicht recht!«
»Ängstigen? Aber, Guste, wir wollen sie doch nur erziehen, abhärten, aufklären – –«
»Na, dann fangt ihr es recht dumm an. Ihr füttert sie auf mit Gespenstergeschichten, und bis ihr zum Erklären und natürlichen Auflösen kommt, ist sie schon so sinnlos eingeängstigt, daß sie von eurer Weisheit nichts mehr hört. Redet doch was Vernünftiges, andres –«
»Nein, das ist gerade so amüsant,« lachte Gretel. »Es ist doch eine unglaubliche Dummheit, und wir müssen sie davon kurieren, – wenn nicht anders, mal durch Thatsachen!«
»Thatsachen? – Ja, was meinst du damit?«
»Wir müssen ihr mal als Gespenster erscheinen, und wenn sie dann glaubt, nun wäre es wahr, dann entpuppen wir uns und beweisen ihr, daß sie ein kleiner, alberner Hasenfuß ist.«
»Ich glaube, Gretel, du bist übergeschnappt!« entsetzte sich Guste. »Erst das Mädchen zu Tode ängstigen und dann einen Scherz daraus machen! Nein, mit solchem Unsinn fange nur nicht an, das würde ich nie dulden!«
Und auch ich bäumte mich dagegen auf. Nein, als Gespenst erscheinen, das war mir zu gruselig, – ich wüßte auch nicht, wie wir das machen sollten!
»Ach, ihr seid die reinen, moralischen Schlafmützen!« schalt Gretel. »Was ist denn daran? Solch eingefleischte Gespensterfurcht kann man nur mit Kraftmitteln kurieren –«
»Jawohl, – hast du nie gehört, daß Menschen aus Schreck plötzlich sterben können?« – Guste war ganz aufgeregt. – »Das ist frevelhafter Leichtsinn! Und bist du zum Erzieher für Mademoiselle gesetzt? Nein, das laß nur gefälligst sein, dazu biete ich meine Hand nicht, und überhaupt, dagegen werde ich stets mit allen Kräften auftreten.«
»Na, denn nicht, du außerordentlicher Tugendbold! Was du jetzt langweilig und pomadig wirst, das ist gar nicht zu sagen! Wenn das Alter auf alle Leute so traurig wirkt, dann danke ich, dann möchte ich nie so alt werden wie du, sondern mein ganzes Leben lang dreizehn Jahre bleiben!«
»Ja, und ein dummer, naseweiser Backfisch auch dein ganzes Leben lang!«
Guste reckte sich so hoch wie sie konnte, machte ein schrecklich erwachsenes, überlegenes Gesicht und segelte ab, dem Pachthause zu. Augenscheinlich war sie sehr böse, und ich muß sagen, recht hatte sie eigentlich; denn höflich war Gretel wieder mal nicht gewesen, war sie auch jetzt nicht, als sie hinter der Fortgehenden eine lange Nase machte.
»Aber, Gretel!« sagte ich vorwurfsvoll und schickte mich an, Guste nachzugehn, denn sie war erstens meine erste Freundin, und zweitens hatte sie recht, wenngleich sie ja zum Schluß auch nicht sehr höflich gewesen war.
»Richtig, nun behandelt mich nur beide wie ein Monstrum,« grollte Gretel. »Du bleibst hier. Die Guste wird jetzt so furchtbar erwachsen und tugendhaft! Das muß man ihr abgewöhnen, und deshalb darfst du ihr nicht nachgehn, sonst bildet sie sich ein, sie wäre die Kaiserin von China und aus ihrem Munde fiele nichts wie Gold und Perlen.«
Über den Vergleich mußte ich lachen. Man konnte Gretel doch nie böse sein! – Aber trotzdem, so mit Gewalt ließ ich mich nicht halten. Überhaupt den Ton »du bleibst hier!« liebte ich nicht, und deshalb riß ich mich von ihrer Hand los und sagte ganz ernst:
»Ich gehe Guste nach, denn sie hat recht und du unrecht, und es ist nicht hübsch von dir, so zu deiner besten Freundin zu sein, und ihr das Alter vorzuhalten –«
»So? Und ist es von meiner besten Freundin nett, wenn sie mich einen dummen, naseweisen Backfisch nennt? – Na, warte, Dickkopf, wenn du nicht bleiben willst, dann komme ich mit. Der Klügere giebt nach! Ich will der Guste doch noch einen Kuß geben!«
Damit flog sie mir voraus, hinter Guste her und hatte mit dieser längst Versöhnung geschlossen, als ich, wohlbedacht langsam, bei den beiden anlangte.
Ja, so war sie immer, unsre Wilde, aufbrausend, unmanierlich, herrisch, und dabei doch so weichherzig, gut und ehrlich, ehrlich auch gegen ihre eigenen Unarten.
Aber die Gespenstergeschichte lag ihr doch zu sehr im Sinn. Trotz Streit und Versöhnung hatte sie ihre Gedanken darüber nicht aufgegeben, das sollte ich nur zu bald und zu unliebsam erfahren.
Geredet wurde nicht mehr darüber, wenigstens fing Gretel nie mehr des Abends mit Gespenstergeschichten an, und wenn Mademoiselle, die bei all ihrer Furcht und Aufregung eigentlich kein lieberes Thema kannte wie dieses, immer wieder darauf kam, schwieg Gretel hartnäckig und überließ es uns beiden, unsre Weisheitsströme über die zapplige, kleine Dummheit zu ergießen.
Aber Mademoiselle hörte nicht auf uns. Mit ihren großen, dunklen Augen hing sie wie gebannt an Gretels unbewegten, von einem gewissen geheimnisvollen Reiz umschwebten Zügen.
»O, Mademoiselle Marguerite,« – denn mit dem Kosenamen Gretel kam sie ein für allemal nicht zu stande – »Sie wissen etwas. O, das ist der Ahnfrau in das dicke Turm! Auf die kleine Galerie lauft es 'erum und stöhnt! Kewiß, sie weiß das, Mademoiselle Marguerite, Sie willen es nicht sagen!«
Dann lächelte Gretel unbeschreiblich geheimnisvoll, zuckte die Achseln, warf Guste einen triumphierenden Blick zu und meinte: »Mademoiselle, ich sage gar nichts. Meine Meinung kennen Sie, – das ist alles Unsinn, aber ich darf Sie ja nicht überzeugen, ich soll Sie in Ihrem blinden Unverstand lassen, – reden wir von etwas andrem!«
»Sie ist doch ein vernünftiges Mädchen,« sagte Guste hinterher anerkennend, »man muß ihr nur gut zureden. Siehst du, ich habe immer die meiste Macht über Gretel gehabt; wenn ich ihr etwas sagte, hat sie es« – da stockte sie etwas und schloß dann vorsichtig – »manchmal doch gethan.«
Ich glaube, Guste fühlte sich dabei wie ein Herrscher, der ein rebellisches Volk unterworfen hat. Sie sprach sich auch Gretel gegenüber lobend aus.
Gretel lächelte, – ach, so spitzbübisch, daß, wenn Guste aufgepaßt hätte, ihr Lob vielleicht weniger gönnerhaft ausgefallen wäre.
Aber Guste paßte nicht auf, denn sie hatte augenblicklich mit dem »erwachsen fühlen« sehr viel zu thun, und war bei unsren Angelegenheiten immer nur mit halber Seele.
Herr von Rungleben sagte: »Sie häutet sich und das ist eine verwickelte und aufregende Geschichte.«
Natürlich war das nur einer seiner Witze, aber wir hatten ihn angenommen und neckten Guste oft mit ihrer Häutung, was sie immer furchtbar übelnahm.
Diesmal aber ließ sich Gretel auf keine Neckerei ein, sondern schob ihren Arm in den Gustens und sagte ernsthaft:
»Siehst du, Große, so nett bin ich nun mal. Eigentlich verdiene ich eine Belohnung! – Sag mal, ihr macht wohl wieder rein, nicht wahr? Da werden überall Betten gesonnt und Teppiche geklopft, und oben bei euch wird gescheuert – –«
»Ja, – das ist doch nichts Besonderes? Das geschieht doch öfter,« meinte Guste verwundert.
»Na ja, aber Delia ist euch dabei doch eigentlich im Wege, – da könntet ihr sie mir mal für ein paar Tage borgen.«
»Borgen? Aber sie ist doch sowieso den ganzen Tag bei euch!«
»Ja, das wohl, – aber, sieh mal, – doch nur tagüber –«
»Na ja, nachts machen wir auch nicht rein, – und überhaupt, Delia stört uns dabei gar nicht,« lächelte Guste verschmitzt und schelmisch.
»Ach, du Ungeheuer willst mich nur nicht verstehn, – du weißt ganz gut, was ich meine!«
»Warum gehst du denn so krumm herum, anstatt einfach zu sagen: Ich möchte Delia furchtbar gern auch mal zum Schlafen ausborgen; ich habe mit dem Schwatzen tagüber nicht genug, das muß auch noch nachtüber besorgt werden,« lachte Guste und Gretel fiel ihr, nun auch lachend, um den Hals.
»Schaf, liebes, wenn du das weißt, warum sagst du nicht gleich: ja.«
»Aber, Kinder, das muß ich sagen, ihr borgt mich da immer hin und her, als wenn ich ein Kleidungsstück, oder ein junger Hund wäre,« fiel ich nun halb ärgerlich, halb lachend ein.
Ich war ja entzückt von dem Gedanken, ins Schloß ausgeborgt zu werden, mit Gretel in einem Zimmer zu schlafen und auch noch nachts mit ihr Tollheiten treiben zu können, aber so über meinen Kopf hinweg über mich verhandeln zu lassen, das mochte ich doch nicht. Ich war immer sehr darauf bedacht, meine Selbständigkeit zu wahren.
»Räsoniere nicht, Kleines!« Gretel stürmte auf mich zu. »Freue dich, wenn einer dich borgen will! Du, sag schnell, – du freust dich doch?«
Sie kniff mich dazu so energisch in den Arm, daß ich laut aufschrie, und dann behauptete sie, das wäre ein zustimmendes Freudengeschrei gewesen, und nun sei die Sache abgemacht.
»Ich habe auch schon Muttis Erlaubnis! Für Delia wird ein Bett in mein Zimmer gestellt!« jubelte sie, in die Hände klatschend. »Du, Delia, denk' bloß den Witz, wenn wir uns mit Betten bombardieren und mit Wasser begießen und all solch schöne Künste treiben werden! Kannst du kopfüber ins Bett purzeln? Ich habe mal hier auf dem Jahrmarkt einen Schlangenmenschen gesehen, der konnte entzückende Verrenkungen machen! Na, ich werde dir schon alles beibringen! Ach, du ahnst nicht, was ich alles in Bereitschaft habe!«
Ich konnte mir zwar »kopfüber« ins Bett purzeln nicht so überwältigend schön vorstellen, und beim Bettenbombardement und Wasserbegießen würde ich wohl immer den kürzern ziehen, aber ich freute mich doch unsinnig, und ich glaube, – Gustens Seelengröße und Erwachsenheit in allen Ehren – aber in diesem Augenblick beneidete sie uns doch ein bißchen, wenngleich sie ja das alles mit Gretel auch schon durchgemacht hatte.
Aber natürlich, so eine Nachfolgerin ist nie etwas Angenehmes, und weil wir das fühlten, küßten wir sie furchtbar viel und waren reizend nett zu ihr, den ganzen Tag hindurch. Wir hatten sie ja auch sehr, sehr lieb, und gewiß war sie die beste von uns, aber augenblicklich häutete sie sich doch mal und dazu konnte sie uns und wir sie nicht brauchen. Das kommt manchmal so im Leben! –
Tante Regine, der dann die Sache vorgetragen wurde, hatte natürlich auch nichts dagegen, und so wurde mein Nachtzeug und alles was ich sonst für ein paar Tage brauchte, unter Lachen und Jubel gepackt und ich zog mit Gretel selig ab.
Gegen Abend kam uns Guste besuchen. Das war zwar nichts Besonderes, denn wir waren fast jeden Abend drüben im Schloß gewesen, aber nun machte es doch einen andren Eindruck und wir hatten sehr viel Spaß damit. Wie es dunkel wurde, fand sich Mademoiselle zu uns, sehr aufgeregt, noch viel mehr wie sonst, sogar all ihre Rockfalten zappelten vor Aufregung.
»O, Fräuleins, Fräuleins, es is kanz kewiß, – der Gartenfritz 'at sie gesehen, – sie geht um, das Ahnfrau, – kanz kewiß, gestern in die Nacht! Schneeweiß und lang auf die Galerie von das dicke Turm, sagt Dore! O, o, wie ich mir ängstige!«
»Aber, Mademoiselle, wenn Sie nur einmal mit dem Unsinn aufhören möchten,« tadelte Guste, während Gretel heftig meinen Arm preßte, und vor unterdrücktem Lachen den Schlucken bekam. »Wenn Sie alles glauben wollen, was die Mägde schwatzen! Die machen sich nur lustig über Sie!«
»O, bitte seher, – Sie mussen 'ören! Der Gartenfritz 'at ihr gesehn, kewiß und wahrhaftig. Sie 'at die Armen gereckt in der Luft, o, – o! Sie wollen gehen sehen alle ihr diese Nacht, aber ich ängstige mir – –«
In dem Moment wurde Mademoiselle abgerufen und wir blieben allein zurück. Guste war ganz außer sich über Mademoiselles Reden.
»Eigentlich müßten wir es deinem Vater sagen, Gretel, die Geschichte wird nun doch zu toll –«
»Unsinn,« fiel Gretel hastig ein, »Väterchen auch noch mit solchen Dummheiten belästigen! Ich bleibe dabei, das einzig Richtige ist es, die Leute von ihren Einbildungen zu überzeugen. Glaubst du denn, wenn Väterchen sie ankuranzt, daß das was hilft? Dann sagen sie nur: ›Der gnäd'ge Herr ist auch so einer von den Aufgeklärten, die alles leugnen, der versteht das nicht!‹ – Nein, beweisen, beweisen, daß sie abergläubische Narren sind –«
»Fange nur nicht wieder damit an! So etwas läßt sich nicht beweisen.«
»Hm, – wetten, daß?«
»Gretel, mach keine Dummheiten – –«
»Ach was, predige nicht Moral, sondern mach, daß du schnell nach Hause kommst. Der Himmel hat sich auf einmal so bezogen und da hinten zucken schon die Blitze. Man kann nicht wissen, wann es losgeht und dann wirst du pudelnaß.«
Das schien Guste auch zu fürchten und daher nahm sie schnell Abschied und trabte mit hurtigen Schritten ins Dunkel hinein, ihrem Heim zu.
»Du,« flüsterte Gretel hinter ihr und zog mich dem Hause zu, »ich muß dir was sagen, aber erst gelobe Stillschweigen!«
»Urfehde?« neckte ich.
»Spottkatze, das gefällt dir, mir immer wieder die Dummheit vorzuhalten! Nein, im Ernst, Delia, kannst du schweigen?«
»Aber selbstverständlich, – wie das Grab! Was hast du denn?«
Sie kicherte leise vor sich hin. »Delia, Mademoiselle hat recht, das Ahnfrau geht um! – Ach, es ist ein gottvoller Spaß!«
Nun schüttelte sie sich vor Lachen, und ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Mir kam zwar eine dunkle Ahnung, – aber das war doch nicht möglich! –
»Gretel, sag mal ernsthaft, was soll das heißen?«
»Aber, Dummchen, merkst du denn noch nichts? – Ich bin in mein Bettuch gehüllt, nun schon zwei Nächte oben auf der Turmgalerie spazieren gegangen, und gestern habe ich den Dämlack, den Gartenfritz gesehen, und da hab' ich die Arme in die Lüfte gereckt und Knickse gemacht und gestöhnt – zum Totlachen! Er ist sofort ausgerissen, – und nun wußt' ich genau, daß es heute die ganze Gesindestube erfährt, die Ahnfrau geht um! – Und Delia, deshalb habe ich dich ja geborgt für die Nacht, – heut' mußt du mit umgehn!«
Sie hatte das alles ohne Einhalt und ohne von meinem Schreck Notiz zu nehmen, hastig und mit unterdrücktem Jubel hervorgesprudelt. Ich war wie erstarrt. Sie hatte es doch gethan, trotz Gustens Ermahnungen! O, dieses Gretel!
Und nun sollte ich auch noch mit! – Nicht um die Welt! Mir zitterten allein bei dem Gedanken alle Glieder, und weil ich meine Angst davor doch nicht gern so ganz blank und klar vor Gretel eingestehn wollte, machte ich ihr heftige Vorwürfe über ihren Übermut, und was sie sich dabei denke – –
Aber sie ließ mich nicht viel zu Worte kommen.
»Gott ja, all die Weisheitsspäne kenne ich ja! Aber du kannst mir glauben, ihr habt nicht recht, sondern ich habe recht. Den Leuten muß die Gespensterfurcht durch Beweise ausgetrieben werden, anders überzeugt man sie nicht. Nun stehn sie heute alle unten im Dickicht, darauf will ich schwören. Mademoiselle sagt es ja auch, und dann wandeln wir da oben in schneeweißen Gewändern, oder vielmehr Bettüchern, und machen all die Mätzchen und Geschichten, daß sie sich entsetzen. Und auf einmal lassen wir die Bettücher fallen und rufen: ›Wißt ihr nun, wie Gespenster aussehen? Habt ihr es nun gelernt?‹ – Oder weißt du, wir machen das auch vielleicht erst morgen, damit der Spaß länger dauert. Denn du kannst mir glauben, ein Heidenspaß ist es! Ich bin gestern beinahe vor Lachen gestorben!«
Mir kam die Sache aber gar nicht spaßhaft vor. Gustens Reden saßen mir zu sehr im Gemüt, und außerdem reizte mich das Gespensterspielen nicht im geringsten. Ich kam also mit weiteren Einwendungen.
»Du, Gretel, glaubst du, daß deine Eltern mit dem Spaß zufrieden sein werden?«
»Ach,« – sie stockte, der Punkt schien ihr auch nicht ganz sicher und vergnüglich – »weißt du, die erfahren das gar nicht; – und wenn auch, ja, – vielleicht erfahren sie es doch – ich selbst verschweige ja den Eltern nichts, nein, das mag ich nicht. Aber, siehst du, dann ist Zeit darüber vergangen, und schließlich ist es auch nur Mutti, die sich vielleicht entsetzt. Väterchen aber wird einen Heidenspaß daran haben und auch einsehen, daß ich recht handelte, als ich all den Dummheiten damit ein für allemal ein Ende machte. Nein, davon bin ich überzeugt, Väterchen ist damit zufrieden, wenigstens nachher, – du kannst ganz sicher sein!«
Ich sah, nach dieser Seite hin konnte ich nichts mit ihr machen, sie war von ihrem Plan zu sehr begeistert und eingenommen.
»Aber, Gretel,« sagte ich kleinlaut, »warum soll ich denn nun auch noch mit? Das stört nur die Sache, es giebt doch nur eine Ahnfrau.«
»Aber, Delia, des Vergnügens halber sollst du mit. Denke doch nur, solchen Spaß erlebt man nicht alle Tage. Die meisten Menschen kommen überhaupt ihr Leben lang nicht dazu, Gespenst zu spielen!«
»Das ist ja auch nicht durchaus notwendig,« wandte ich ein.
»Nein, natürlich nicht, aber interessant ist es! Sei kein Frosch! das ist doch mal was Apartes, als Ahnfrau auf der Turmgalerie zu wandeln. – Stell' es dir bloß vor! Das hätt' ich früher nur mal Guste anbieten sollen! Mit Pauken und Trompeten wäre die dabei gewesen. Die hatte Sinn für alles, ehe sie in die Häutung kam und von der Ehrpusselei geplagt wurde. Ja, Guste, die war freilich auch was andres!«
Damit hatte sie meinen kitzlichen Punkt getroffen, mein Ehrgeiz bäumte sich auf. Guste nachstehn, nicht können was Guste konnte, nein, dazu hatte ich schon zu viel geleistet, war meinen jetzigen Vorbildern zu sehr nachgekommen, um schließlich vor etwas zurückzubeben, was eine mir als Vorzug der andren vorhielt. Schließlich konnte ich ebensogut wie Guste und Gretel im Bettuch Gespenst spielen und auf der Turmgalerie herumhüpfen!
»So was schrecklich andres ist Guste auch nicht!« sagte ich pikiert. »Fürchten thue ich mich nicht, und wenn du meinst, daß ein zweites Gespenst nicht den Eindruck stört – –«
»Aber nein, Goldfisch, Engelsbraten!« Gretel umarmte mich stürmisch. »Das ist ja der Hauptspaß, daß wir es gemeinsam machen! Allein habe ich ja doch nur die halbe Freude davon. Du wirst schon sehen, wie kostbar amüsierlich das ist. Wir schleichen wie die Katzen, und dann ducken wir uns und recken uns wieder hoch auf, und strecken die Arme in die Luft und wimmern, – zum Schießen, sag' ich dir! Komm nur, es ist gar nicht notwendig, daß wir die Gespensterstunde abwarten. Gestern habe ich auch schon um diese Zeit geahnfraut, und heute müssen wir uns eilen, ehe das Wetter heraufzieht. Es liegt in der Luft, wir bekommen bombensicher ein Gewitter, und wenn es auch besonders schön wäre, bei Donner und Blitz als Ahnfrau zu erscheinen –«
»Nein, nein,« unterbrach ich sie angstvoll, »das thue ich auf keinen Fall, vor Gewitter ängstige ich mich entsetzlich!«
»Natürlich, Banghase! Na, sei nur ruhig, bis es so weit ist, liegen wir längst wieder in den Betten, und wenn du dich zu sehr ängstigst, nehme ich dich zu mir. Komm jetzt nur schnell, daß wir Toilette machen! Siehst du, da schleichen Dore und Mine schon nach dem Turm, – ich sagt' es ja! Na, die kaufen wir uns!«
Nach und nach war ich durch Gretels Reden auch angefeuert und in Stimmung gekommen. Es war doch eine gloriose Idee, Ahnfrau zu spielen!
Kichernd hüllten wir uns, oben in Gretels Zimmer angelangt, in die langen Tücher aus unsren Betten.
»Wart mal erst!« flüsterte Gretel hastig. »Das geht nicht so ohne weiteres. Hier hast du ein Stück Watte und eine Schale mit Mehl, das ich aus der Speisekammer gestriezt habe. Wir müssen uns die Gesichter weiß machen, ordentlich weiß. Wenn auch die Bettücher halb darüberfallen, aber es darf von menschlicher Farbe nichts an uns zu sehen sein. So, – die Nasenspitze ist noch rosig, – na ja, wenn du dir die Nase auch noch schnaubst! – Solch irdisches Fühlen mußt du dir als Gespenst und Ahnfrau abgewöhnen!«
Und das mehlgetränkte Wattebäuschchen kreidete meine Nase von neuem ein.
Wir lachten dabei, daß wir uns setzen mußten! Es war auch unbeschreiblich, wie wir aussahen, mit den mehlweißen Gesichtern und der Bettücherdraperie, unter der nur unsre weißbestrumpften Füße neugierig hervorsahen.
»Nun kann es losgehn, Ahnfrau Numero Zwei!« kicherte Gretel, steckte erst vorsichtshalber ihren Kopf durch die Thürspalte, um zu sehen, ob die Luft rein sei, und zog mich dann an der Hand mit sich fort.
Sie fand sich überall im Dunkel gut zurecht und führte mich schnell und sicher durch Gänge und Zimmer, die ich noch nie betreten hatte.
»So, nun sind wir an der Turmthür! Ich habe sie schon heute nachmittag aufgeschlossen und in den Angeln geölt, daß ihr Knarren uns nicht verrät. Nun haben wir das Ziel gleich erreicht, – nur noch die Wendeltreppe in die Höhe.«
Durch die Luken des Turmes, die vielleicht einstmals als Schießscharten gedient hatten, fiel jetzt mattes Licht auf unsren Weg, und flink waren wir oben in einer Art Halle, von der eine leicht klaffende Thür ins Freie führte, auf eine ziemlich bröckliche, regenverwaschene Steingalerie, die rings um den Turm lief und der Schauplatz unsrer Ahnfrauthätigkeit sein sollte.
So dicht vor das Handeln gestellt, überfiel mich doch wieder die Angst, und zitternd hielt ich Gretel zurück.
»Du, Gretel, es ist doch ein toller Streich, – wir wollen es lieber nicht thun, ich – ich mag nicht!«
»Schäme dich, vor den Thoren Roms umkehren!« Sie schüttelte mich empört an den Schultern. »Daraus wird nichts, jetzt kommst du mit! Du wirst mir noch einmal dankbar sein, daß ich dich mitnahm, es ist doch ein Spaß!«
Das empfand ich in diesem Augenblick gar nicht, auch nichts von der prophezeiten Dankbarkeit. Ich hatte nur keine Courage die Flucht zu ergreifen, eigentlich auch keine Gelegenheit, da Gretel mich ganz fest an der Hand hielt und mitzog.
Na, denn nur vorwärts, da ich nicht rückwärts konnte, und mit einem bebenden Seufzer betrat ich jetzt dicht hinter der Ahnfrau Numero Eins als Ahnfrau Numero Zwei die Galerie.
Ein heftiger Windstoß riß uns fast die Bettücher von den Köpfen. Gretel ließ meine Hand los, und beide packten wir hastig nach den flatternden Tüchern.
»Langsam, langsam!« raunte Gretel mir zu. »Gespenster laufen nicht wie die Hasen! Schleppender Schritt, und wenn du kannst, irgendwie mit dem Arm eine klagende Gebärde machen!«
Ehe ich aber dazu kam, die klagende Gebärde zu machen, brauste ein zweiter heftiger Windstoß über uns hin, blendendes Licht schoß vom Himmel, ein Knattern und Prasseln in den Lüften, und zugleich mit dem Gewitter stürzte der Regen in Strömen auf uns herab.
Halbtot vor Schreck und Angst schrie ich laut auf und machte Kehrt. Was kümmerte mich jetzt Ahnfrau und Gretel, ich trug nur ein Verlangen, – mich vor der Nässe zu retten und dem entsetzlichen Gewitter zu entfliehen.
Dabei verwickelte ich mich in mein langschleppendes Bettuch und fiel mit den Knieen hart auf das nasse Gestein der Galerie.
Au, that das weh! Und wie kalt und naß das war!
»Steh doch auf, schnell, willst du hier ein Sitzbad nehmen?« schrie mir Gretel atemlos ins Ohr und riß mich mit starken Armen in die Höhe.
Dabei fuhr ihr der Sturm in das locker gehaltene Bettuch, hob es hoch in die Luft und jagte dann wild jauchzend mit ihm über die Wipfel der Bäume.
»Mein Bettuch, mein Bettuch!« schrie Gretel verzweifelt hinter dem weißen flatternden Tuche her und warf die Arme anklagend in die Luft, mit der wunderschönsten Ahnfraugebärde.
Aber es war jetzt wohl keiner da, der diese bewundern konnte, und das Bettuch ließ sich davon auch nicht beschwören, es spielte seine Gespensterrolle allein weiter, während wir beide im strömenden Regen, unter Donner und Blitz seinem weißen, geisterhaften Fluge noch einen Moment lang entsetzt nachstarrten.
Dann seufzte Gretel tief auf.
»Zurück, du rettest den Freund nicht mehr, so rette das eigene Leben!« lachte sie grimmig auf, nahm mich bei den Schultern und stürmte mit mir der ins Innere führenden Thüre zu.
Mittlerweile lief das Wasser schon an uns herunter, denn der Himmel hatte all seine Schleusen geöffnet und goß immer mit doppelten Gießkannen. An Gretel, die noch unbeschützter war wie ich, klatschten die Kleider schon wie eine Art Badegewand an, und mein lang schleifendes Bettuch hinterließ ganze Pfützen auf dem Fußboden der Halle, auf dem wir, zitternd vor Frost, Nässe und Schreck nun beide stehn blieben.
»Das ist eine reizende Geschichte,« sagte Gretel kläglich. »Diesmal sind wir die Blamopsten!«
Als sie dabei ihr triefendes Gewand, zierlich mit beiden Händen wie zum Menuett fassend, vom Körper zog, sah sie mit dem weißbemalten Gesicht und den wild um den Kopf hängenden Haaren so unbeschreiblich komisch aus, daß ich, trotzdem mir das Weinen viel näher stand wie das Lachen, doch nicht anders konnte als loszuplatzen.
Sie sah überrascht zu mir herüber.
»Du, das gefällt mir, du kannst noch lachen! – Na ja, kannst du auch, wenngleich du auch wie ein begossener Pudel aussiehst! Aber darin liegt doch noch ein gewisser Anstand, aber ich – –!« Sie sah an sich herunter. »Gottvoll! Nun fehlt bloß noch, um dem Ding die Krone aufzusetzen, daß wir irgendwem in den Weg laufen in diesem Aufzuge. Wenn ich nur mein Bettuch hätte! – Wie soll ich das erklären, wenn es morgen früh irgendwo durchweicht im Park liegt, oder vielleicht als Siegesfahne von einem Baume weht? – Na, vorläufig habe ich vom Gespensterspielen genug! Ich wünschte, wir lägen erst trocken und warm in unsren Betten!«
Ja, das wünschte ich auch, besonders als jetzt wieder ein greller Blitz herniederzuckte und polternder Donner ihm grollend folgte. Ich drängte mich verängstigt an Gretel.
»Komm bloß schnell, ich ängstige mich tot. Wenn uns hier der Blitz erschlägt!«
»Ach was, der denkt nicht daran, hier im Turm sind wir so sicher wie in Abrahams Schoß.«
»Ich will aber auch nicht in Abrahams Schoß sitzen, sondern in meinem Bett!« verlangte ich ungestüm und verzweifelt, und Gretel nahm mich nun bei der Hand und tappte mit mir die Treppe herunter. Schön war das nicht, mit den nassen Strümpfen und dem langen Bettuch auf den pechfinsteren Stufen. Mir schlugen die Zähne vor Frost und Angst aufeinander. Das war nun der Spaß, für den ich Gretel mein Leben lang dankbar sein sollte! –
Nun mußten wir gleich am Ziel sein, da zuckte Gretel plötzlich zusammen, hemmte den Schritt und zog mich hastig an sich.
Ach, du lieber Himmel, ja, ich hörte es auch, was sie so erschreckte!
Herrn von Runglebens Stimme war es, und sie kam ganz aus der Nähe.
»Zum Kuckuck, wer hat denn die Turmthür geöffnet? Das zieht ja wie ein Blasebalg, – und jetzt, bei dem Gewitter! Wenn man nicht selbst nach allem sieht, giebt es nichts wie Unordnung! Da muß auch oben die Thür nach der Galerie offen sein! Das ist doch eine grenzenlose Trödelei. Wer hat da überhaupt etwas zu suchen? He, Wilhelm, Wilhelm!«
»Um Gottes willen, er ruft den Wilhelm! – Der darf uns nicht so sehen!«
Gretel stürzte an mir vorüber auf die untere Turmthüre zu.
»Väterchen, liebstes, bestes, ruf nicht den Wilhelm!«
»Nanu?« hörte ich Herrn von Runglebens Stimme im höchsten Erstaunen.
Ach Gott, mir schlotterten die Kniee! Gretel, die einen Augenblick lang in der Thürspalte gestanden hatte, zog sich schleunigst wieder in unser mitleidiges Dunkel zurück, nur der Kopf blieb draußen.
»Schick ihn bloß fort, Väterchen, erbarm' dich, ich erkläre dir nachher alles!«
Draußen rief Herr von Rungleben in den Korridor herunter: »Bleib' nur da, Wilhelm, ich brauche dich nicht, du kannst wieder in die Gesindestube gehn, fix! Und sieh zu, daß der Franz sich um die Pferde kümmert, ich komme gleich nach.«
Wilhelms Schritte, die schon bedenklich nahe geklungen hatten, verhallten. Gretel seufzte: »Gott sei Dank! – Du bleib' man da, vielleicht kann ich den Kampf allein ausfechten und dich dann ungesehen fortschleppen. Ich muß nun hinaus ins feindliche Leben!«
»Nein, nein!« – Es war ja schrecklich, Herrn von Rungleben so unter die Augen zu treten, aber ehe ich hier bei Blitz und Donner allein blieb! – Und dann, – ein anständiges Gemüt hatte ich – »Mitgefangen, mitgehangen!« sagte ich heroisch und drängte mich dicht an Gretel, »ich verlasse dich nicht!«
Sie drückte stumm meine Hand und dann öffnete Herr von Rungleben die Thüre und leuchtete mit der Laterne in unsren Schlupfwinkel hinein.
»Donnerwetter!« stieß er bei unsrem Anblick hervor, und die Laterne schwankte in seiner Hand. »Da brat' mir einer 'nen Storch! – Mädel, seid ihr verrückt geworden? Wie seht ihr aus, und wo kommt ihr her?«
Na ja, ich glaube es schon selbst, hübsch aussahen wir nicht. Naß wie die Wasserratten, weiß wie die Mehlwürmer und zitternd wie Espenlaub! – Das Mehl in Gretels Gesicht war vom Regen halb heruntergewischt, sie war gestreift wie ein Zebra und ab und zu hing ein Mehlklümpchen an ihr herum, auf den Wangen, im Haar, an den nassen Kleidern, – grauenerregend schön und komisch.
Aber für das Komische hatte keiner von uns Sinn, auch Herr von Rungleben nicht, dessen Brauen sich unheilverkündend zusammenzogen.
»Liebster Vater!« sagte Gretel mit zitternder Stimme, »morgen beichte ich alles, und dann kannst du mich ausschelten und strafen wie du willst, aber jetzt thu' mir den Gefallen und laß uns unsres Wegs ziehen. Delia holt sich sonst den Tod vor Erkältung. Es zieht so jämmerlich und wir sind pudelnaß. Wir können uns aber nicht vor dir sehen lassen, wirklich nicht! Geh bloß, – und erbarme dich, erzähl' der Mutti nichts. Wenn du uns auch den Weg säubern könntest, damit uns niemand begegnet, ja?«
Er schüttelte den Kopf, senkte die Laterne und drehte sich von uns ab.
»Na, dann kommt schnell!« sagte er kurz, »ich sehe nichts. Da scheint mir ja eine nette Verrücktheit dahinter zu stecken, wohl verunglückte Mondscheinschwärmerei, was?«
»Mehr, Väterchen,« seufzte Gretel. Und wie die armen Sünder schlichen wir hinter ihm her. »Ich sage dir morgen alles. Wenn uns das Gewitter nicht in die Quere gekommen wäre –«
Huh, wir flogen in das Dunkel zurück, denn eben öffnete Frau von Rungleben die Thüre des Wohnzimmers. »Ist etwas passiert, Eberhard? Warum schicktest du den Wilhelm zurück?«
Die Laterne war blitzschnell erloschen.
»Nichts ist passiert, Frauchen. Aber geh schnell zurück ins Zimmer. Es zieht wie toll, das ist bei Gewitter gefährlich. Ich komme gleich herein, will bloß oben noch mal revidieren.«
»Aber willst du nicht die Laterne frisch anzünden?«
»Nein, nein, geh nur hinein!«
Er drängte sie in das Zimmer und dann flogen wir im Dunkel an ihm vorüber, der Treppe zu, nach unsrem Stübchen.
Aber das Schicksal war heute nun einmal heimtückisch gegen uns gesinnt. Im Moment, da wir Mademoiselles Zimmer passieren mußten, öffnete diese die Thüre.
Ein gellender Aufschrei: »Ah, das Ahnfrau, das Ahnfrau!«
Wir waren schon wieder im Dunkel untergetaucht, aber das Gekreisch hallte uns nach, und kaum hatten wir unser Stübchen erreicht und die Thüre hinter uns ins Schloß geworfen, da wurde es schon von allen Seiten lebendig und alle möglichen Stimmen schwirrten durcheinander. Mamsell, Dore, Mine, Wilhelm, sie kamen alle oben im Korridor zusammen, und Mademoiselles heller Diskant schwebte über dem Gewirr und den Fragen immer wieder mit den schaurigen Worten: »Das Ahnfrau, das Ahnfrau, – ich hab' ihm geseh'n!« –
Ich hatte mich schluchzend auf mein Bett geworfen. Der Schrecken und die Angst der letzten Viertelstunde brachen nun in Thränen aus. Ich war wie zerschmettert und bebte vor Aufregung am ganzen Körper. Gretel war aus andrem Holz geschnitzt wie ich. Sie hatte im Moment Licht gemacht und riß nun ihren Schrank auf, mit hastigen Händen zwei Nachtkleider aus ihm herauszerrend. Kräftig hob sie mich vom Bett auf.
»Schnell, hier hast du etwas Trockenes! Weine nicht, naß sind wir ohnedem genug! Zieh dich um, das ist das erste!«
In Windeseile ging sie mir mit gutem Beispiel voran, ich hatte noch nicht alle Knöpfe meiner nassen Kleider gelöst, da stand sie schon in trockenen vor der Waschschüssel und bearbeitete ihr Gesicht und Haar.
Währenddessen tobte draußen auf dem Korridor der Gespenstersturm immer heftiger. Es schienen sich noch mehr Leute hinzu zu finden und man hörte deutlich die Ausrufe: »Ja, ja, sie hat recht, – draußen auf dem Turm geht es auch um! Ja, gestern haben wir ihr geseh'n, und heut', wie das Gewitter losbrach, schrie sie auch oben – –«
Ich faltete vor Entsetzen die Hände. »Gretel, hörst du das Schreckliche?« Sie trocknete eben ihr Gesicht und seufzte schwer auf.
»Mach' nur, daß du trocken und warm wirst! Gleich ins Bett! Heute müssen wir uns schon ohne Bettücher behelfen. Und dann lieg' still. Ich muß nun hinaus, die Suppe ausessen, die ich mir eingebrockt habe.«
»Gretel, du wirst doch nicht –«
»Natürlich werde ich. Da hilft kein Mundspitzen, es muß gepfiffen werden. Eine bessere Gelegenheit, um die Leute aufzuklären giebt es gar nicht.« – Sie seufzte noch schwerer. – »Denkst du, ich habe bloß große Worte und keine Thaten? Gieb mir dein nasses Bettuch her, das wird mir als Beweis dienen. O je! – wenn ich doch nie eine Ahnfrau gewesen wäre!«
Indem klang Herrn von Runglebens Stimme kurz und befehlend in all das Gesumm draußen hinein.
»Was ist hier los? Was thut ihr hier alle zusammen?«
Gretel setzte sich ganz schwach auf den Stuhl an meinem Bett, in dem ich mich schon zusammengekauert hatte.
»Allmächtiger, nun kommt auch noch Väterchen dazu! Fehlt zu meinem Glück nichts wie Mutti, dann kann die Erde gefälligst untergehn und unser entartetes Geschlecht nebst Ahnfrau und Urenkeln begraben!«
Und dazu lachte sie nun, lachte, daß sie sich schüttelte. Ich war ganz starr.
»Gretel, wie kannst du nur lachen?«
»Ja, du, – komisch ist es doch! Glaub' mir, wenn wir beide mal Großmütter sind, werden wir mit Vergnügen daran zurückdenken, wenngleich mir im Moment, ehrlich gestanden, nicht sehr vergnüglich zu Mute ist. Na,« – sie gab sich einen Ruck und stand auf, – »denn man los!«
»Gretel,« sagte ich und hielt sie am Kleide fest, »ich glaube nicht, daß dein Vater entzückt sein wird, wenn du jetzt herausgehst.«
»Nein,« gab sie kleinlaut zu, »das glaube ich auch nicht. Aber sieh mal, das ist doch point d'honneur, das muß ich!«
»Frag' ihn erst!« bat ich. »Rufe ihn herein –«
»Ja, und mittlerweile gehn die Leute auseinander und die Sache bleibt unaufgeklärt –«
»Laß sie auseinandergehn, frag' ihn erst!«
Mein Rat schien ihr doch einzuleuchten.
»Wart' mal, mir fällt etwas ein!« – Sie näherte sich der Thüre, öffnete sie und rief hinaus: »Väterchen, kläre ihnen doch die Sache auf. Ich bin im Nachtkleide herausgegangen, um zu sehen, ob die Fenster im Korridor geschlossen waren; da hat Mademoiselle mich erblickt und hinter mir her geschrieen: ›Die Ahnfrau, die Ahnfrau!‹ Nun schwatzen sie es alle nach! Hört ihr, – ich bin es gewesen, kein Gespenst!«
Tiefe Stille folgte ihren Worten.
»Na, natürlich löst sich alles ganz einfach auf,« klang dann Herrn von Runglebens Stimme. »Hört ihr nun? Schämt euch mit eurer albernen Gespensterfurcht!«
»Ja, gnä'ger Herr, das kann schon sind, – aber draußen auf 'm Turm, das war doch nich' auch 's gnä'ge Freileinche, –« erhob sich jetzt eine weibliche Stimme. »Wir haben's alle ganz deitlich geseh'n, wie es da herummerwimmerte! Un' wie der Sturm un's Gewitter losbrach, da flog es mit ausgestreckten Armen, schneeweiß un' groß über'n Park, – wahrhaft'gen Gott, das haben wir alle geseh'n, gnä'ger Herr!«
Jetzt riß Gretel ohne jedes Besinnen die Thüre weit auf.
»Na ja, und das war ich auch! Morgen früh könnt ihr in den Park gehn und mein Bettuch suchen, das mir bei der Geschichte weggeflogen ist und das ihr als Gespenst über die Bäume segeln saht. Nun wißt ihr's! – An dem Tuche mit unsrem eingestickten Namen werdet ihr doch wohl nicht zweifeln? Mit so was pflegen sich Gespenster nicht abzugeben!«
Bums, schlug die Thür zu und schwer aufatmend setzte sich Gretel auf den Stuhl an meinem Bett, in dem ich leichenblaß und zitternd, aber doch in tiefer Bewunderung vor Gretels Mut mich aufgerichtet hatte.
Draußen war nach diesem unerwarteten Zwischenfall tiefe Stille eingetreten. Dann murmelte und brummte es noch etwas, auch Herrn von Runglebens Stimme klang noch einmal auf und danach hörte man, daß die angesammelten Massen sich verzogen.
Gleich darauf nahten kräftige Schritte unsrem Zimmer.
»Nun kommt des Himmels Strafgericht,« stöhnte Gretel, packte hastig ihre weiße Bettdecke und schlang sie als Mantel um sich. »Duck dich unter deine Decke, das muß ich allein durchmachen! Mit Glacéhandschuhen wird mich Väterchen diesmal wohl nicht anfassen, – uff!«
Jetzt klopfte es an die Thüre und Gretel erhob sich, um zu öffnen.
»Komm nur herein, Väterchen!« sagte sie mit gepreßter Stimme, »ich bin auf alles gefaßt.«
Ich hatte mich wirklich unter meine Bettdecke geduckt, aber hinter einem Zipfel schielte ich hervor, um den Vorgang im Auge zu behalten.
Herr von Rungleben sah gar nicht so freundlich und lustig aus, wie ich ihn sonst kannte. Auf seiner Stirne lag eine dicke Falte, und der Blick, mit dem er jetzt seine Tochter maß, war weder anerkennend noch ermutigend.
Draußen blitzte und donnerte es noch immer, aber ich kam nicht zur richtigen Angst davor, denn nun ging das Gewitter drinnen bei uns los und das lag mir mehr am Herzen.
Gretel beichtete alles haarklein, auch ihre guten Absichten bei der Sache, und für die wurde sie nicht am wenigsten angedonnert. Zum Erzieher der Leute sei sie nicht berufen, das hieße den Bock zum Gärtner setzen. Wie eine Närrin habe sie sich benommen! Was die Leute von solch einem Herrschaftsfräulein denken müßten? Ob sie etwa glaube, daß daran der Respekt wachse, wenn man nichts wie Dummheiten triebe? Sie sei kein Kind mehr, sondern eine große, alte Person, der man schon einen Schatten von Vernunft zutrauen könne, aber nichts wie Albernheiten steckten in dem dicken Schädel! –
So grollte und tobte es über mein armes Gretel hin, daß mir unter dem Deckbett immer die Thränen über die Backen liefen. Gretel saß ganz still, sie widersprach mit keinem Wort, sondern ließ alles lautlos über sich ergehn. In ihre Bettdecke gewickelt, die Füße übereinander gekreuzt, mit gesenktem Kopfe und gefalteten Händen saß sie auf ihrem Bettrande und seufzte nur ab und zu.
Herr von Rungleben ging im Zimmer auf und ab mit dröhnenden Schritten, focht mit den Händen in der Luft herum und wetterte.
Endlich wurde sein Schritt ruhiger, seine Stimme sanfter und sein zorniger Blick glitt mit einer Art Erbarmen über die verunglückte Ahnfrau seines Geschlechts Etwas wie ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann blieb er vor Gretel stehn, räusperte sich, fuhr mit der Hand über ihr lockiges Goldhaar und sagte in seinem natürlichen Tone: »Na, Mädel, Kopf hoch! Nun ist die Geschichte erledigt. Daß es mir nicht noch mal vorkommt, verstanden! – Aber sonst bist du doch mein gutes, dummes, altes Gretel!«
Sie sprang auf und schlang die Arme um seinen Hals. »Und du, du bist mein einzigstes, gutes, liebes Väterchen!«
Dazu schluchzte sie ganz kurz und leidenschaftlich auf, und er küßte und streichelte sie.
»Na, na, nun man keine Rührung, nun ist ja alles gut, mein Eselchen, – wir thun es nicht wieder.«
»Ach, Väterchen, es waren bloß ungünstige Verhältnisse, sonst wäre die Sache ganz anders verlaufen.«
»Ja, aber dämlich immer. Gretel, das sage ich dir, noch mal kommst du mir nicht mit solchem Unsinn!«
»Aber nein, Väterchen, das ist ja nun verbraucht, für meine eigene Ahnfrau kauft mich kein Mensch mehr.«
Sie sah unter Thränen lachend zu ihm auf, und er schmunzelte nun auch. Aber dann blickten sie sich auf einmal ernst an, wie vom gleichen Gedanken gepackt.
»Was wird nur Mutti sagen?« fragte Gretel mit einem langen Seufzer.
»Ja, mit der wirst du nicht so leicht fertig, wie mit deinem nachsichtigen Vater.« – Herr von Rungleben schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Ich muß ihr noch heute abend alles sagen. Na, ich werde es so wenig schlimm wie möglich hinstellen und ein gutes Wort für dich einlegen, aber Mutti wird doch sehr böse sein. Und die Blamage bei den Leuten! Die Geschichte geht durch Stadt und Land! Gretel, Gretel, – was machen einem die ungeratenen Töchter doch für Sorgen!«
»Ja, Väterchen,« gab sie zerknirscht zu, »aber paß man auf, der Bums wird dir späterhin noch mehr Sorgen machen, der ist ein echter!«
»Na, echter wie du auch nicht,« brummte der Vater abwehrend. »Nun geh schlafen, Maus, – und was macht denn die Kleine? Die wird sich einen guten Schnupfen bei der Geschichte geholt haben, wenn nichts Schlimmeres. Ich schicke euch noch durch Mamsell heißen Thee herauf, dann schwitzt ihr euch hoffentlich alles aus!«
Als er fort war, kroch ich unter meiner Bettdecke hervor, und nun ging es erst an ein richtiges Besprechen der ganzen Geschichte, bis Mamsell uns den heißen Thee brachte.
Sie kam selbst und sah schrecklich neugierig aus.
»Na, gnäd'ges Fräuleinche, aber so was! Ist das nur 'ne Menschenmöglichkeit? – Na, die ganze Gesindstub' steht auf Stützen!«
»Lassen Sie sie stehn, Mamsell! Sorgen Sie nur für frische Bettücher, und daß meins morgen früh im Park aufgenommen wird,« sagte Gretel kurz und pustete in ihr heißes Getränk.
Mamsell schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Also wirklich und wahrhaftig, Fräulein Gretel? Nein, so was lebt nich mehr, das bringt auch nur unser Fräulein zu stande! Sie wollen es alle nich glauben, aber ich sagt' gleich, das sieht unserm gnäd'gen Fräuleinche ähnlich. Die fürcht' sich nich vor'm Gewitter noch vor Gespenster, – die lauft, wenn's sein muß, um Mitternacht auf 'n Kirchhof. Gottchen, Gottchen, is das 'ne Geschichte!«
»Na ja, ja, Mamsell! Da haben Sie die Gläser und nun machen Sie sich auf die Strümpfe und schicken uns Bettücher. Wir sind von der Geschichte zu müde und müssen jetzt unsre ganze Kraft und Zeit aufs Schwitzen verwenden.«
Gretel schob die Aufgeregte aus dem Zimmer.
»Siehst du, das ist nun meine schwerste Strafe, jetzt muß ich von jeder Magd und jedem Viehjungen und Stallknecht immer wieder die Ver- und Bewunderung über die Ahnfraugeschichte hören. Das verfolgt mich bis an mein Lebensende! Aber Strafe muß sein, es geschieht mir schon recht!« –
Und wie sie es prophezeit hatte, so geschah es. Wochenlang hat das arme Gretel nichts andres zu hören bekommen, als die Randglossen zu ihrer nächtlichen Gespensterfahrt, die in den wunderbarsten Variationen durch die ganze Nachbarschaft zog und mehr wie einmal hat sie gesagt: »Nun halte ich es nicht mehr aus! Der Nächste, der mir damit kommt, wird durchgeprügelt!«
Aber es kam immer wieder ein Nächster, der sich nicht zum Prügeln eignete, und sie mußte ihre Strafe ruhig weitertragen.
Am schlimmsten war es natürlich im ersten Ansturm. Vor allen Dingen Frau von Rungleben gegenüber. Das hatte ich mir nicht nehmen lassen wollen, diese böse Stunde mit Gretel durchzumachen. Ich blieb dabei: »mitgefangen, mitgehangen!« Aber Gretel selbst ließ das nicht zu.
»Nein, das würde mich nur genieren. Ich hab' dich sehr lieb, Delia, und ich erkenne deinen Edelmut an, aber das ist so etwas, das ich lieber allein abmache. Laß nur, – du wirst auch schon noch von Mutti deine Standrede bekommen; du entgehst ihr nicht, armes, verleitetes Lämmchen, das sich nur unter so viel Schmerz und Widerspruch zum Gespenst ausbilden ließ!«
Sie wollte mich küssen, aber ich nieste ohne Ende. Der Schnupfen hatte mich trotz des Thees doch erwischt, und ehe ich mit dem Niesen fertig war, hatte Gretel schon ihren Bußgang nach Mutters Zimmer angetreten, und mir blieb nichts übrig, als sie draußen zu erwarten.
Nach dem Gewitter war wieder das köstlichste, klarste Sommerwetter eingetreten. Gretels Geistergewand, das entflohene Bettuch, das schon in aller Frühe von den Zweigen einer alten Tanne heruntergeholt war, trocknete fröhlich und sehr wenig gespensterhaft in Sonne und Wind, und ich, nachdem ich es mir verschämt vom Hausfenster aus angesehen hatte, ging in den Park hinunter, um dort im Borkenhäuschen auf Gretel zu warten, bis sie von dieser unangenehmen Unterredung zurückkam.
Danach wollten wir zu Guste herübergehn und ihr lieber alles selbst erzählen, ehe sie es von andern erfuhr.
Wir dachten beide an die Beichte bei Guste nicht mit überströmendem Entzücken. Guste, die immer abgeredet, die jetzt mit dem Erfolg so recht hatte, würde es an Spott und Triumph nicht fehlen lassen. So gut sie sonst auch war, diesmal konnte man es ihr nicht verdenken, wenn sie uns abkanzelte.
In trübe Gedanken versunken trat ich in den Park hinaus. O Gott, da kam Guste schon an! Nun mußte ich armer Wurm ihr allein, ohne Gretel entgegentreten, – mir wurde ganz schwach zu Mute.
Sie winkte schon von weitem mit dem Taschentuch und schlug dann die Hände anklagend zusammen. Natürlich, sie wußte schon alles! – Na, dann brauchte ich wenigstens nicht den Mund aufzuthun; das hatte auch etwas für sich.
»Wo ist Gretel? – Na, Kinder, ihr habt euch aber mit Ruhm bedeckt! Nein, das hätte ich doch nicht gedacht! Dazu haben wir dich nicht ausgeborgt!«
»Ach Gott, rede doch nicht immer vom Borgen!« fiel ich ärgerlich ein. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich kein Gegenstand bin, den man verborgen kann, sondern daß ich eine Person bin –«
»Das hast du ja auch bewiesen,« kicherte Guste. »Als Person bist du aufgetreten! Nein, Delia, wie ist so was möglich! Nur Bettücher habt ihr umgehabt, sonst nichts, nichts an! Und dann ist Gretels Tuch auch noch weggeflogen –«
Nun war ich wütend. So hatte man die Geschichte schon wieder entstellt! Ich erzählte alles genau, wie es gewesen war, und Guste lauschte mit atemlosem Interesse, nur manchmal mich mit Ausrufen des Entsetzens oder einem unwillkürlichen Aufschrei unterbrechend.
Wir waren kaum zu Ende, da erschien Gretel, mit etwas unheimlich geröteten Augenlidern, aber sonst vergnügt und leichtfüßig wie immer.
»Ich weiß schon, was du sagen willst, Guste, inkommodiere dich gar nicht! Mutti hat mir eben alles viel eindringlicher, verzweifelter und anklagender vorgehalten, wie du es beim besten Willen kaum kannst. Ich habe Unmögliches geleistet, meine Familie und die ganze Gegend blamiert, ein unschuldiges, unserm Schutz anvertrautes Kind in ruchloses Verderben gelockt, meine Mutter in tödliche Aufregung versetzt u. s. w. u. s. w. – Das ist alles wahr, und besonders meine arme, kleine Mutti that mir schrecklich leid, – Delia, du verlockte Unschuld, viel weniger – aber im ganzen bin ich wirklich zerknirscht. Also sei gnädig, hacke du nicht auch noch auf mir herum, – meine Nerven sind etwas angegriffen!« Dazu versuchte sie zu lachen, aber es kam nur mühsam heraus, Mutters Unzufriedenheit nagte ihr ernsthaft am Herzen, wenn sie auch darüber hinfortzuscherzen versuchte.
Guste verstand das auch recht gut und sie benahm sich reizend. Sie ging zu Gretel hin und küßte sie und sagte tröstend: »Nimm es dir nicht so zu Herzen, etwas direkt Schlimmes hast du doch nicht gethan. Das wird deine Mutter bald einsehen, und dann vergeßt ihr das und es ist alles wieder gut.«
»Das wird ein Weilchen dauern,« meinte Gretel bedrückt. »Mein gutes Renommee, das immer auf etwas wackeligen Füßen stand, ist stark erschüttert und es wird mir sehr schwer werden, es wieder zu befestigen.«
Traurig saßen wir alle drei da und beredeten die Sache nach allen Seiten hin. Frau von Rungleben hatte direkt bestimmt, daß Gretel zur Strafe vorläufig weder spazierenreiten noch -fahren dürfe, sondern statt dessen wolle sie mit der Frau Pfarrer sprechen, wie Gretel vorteilhafter, mehr ihrem Alter gemäß zu beschäftigen sei. Vielleicht mit Handarbeitsunterricht, Musik oder gemeinsamen Lesestunden.
»Und das jetzt im Sommer, in den großen Ferien!« klagte Gretel in dumpfer Verzweiflung. »Ist es nicht genug, wenn ich im Winter ruhig und bescheiden bin? Der Sommer ist doch nicht dazu da! – Aber momentan ist mit Mutti nicht zu reden, sie ist unerbittlich, klagt sich an, daß sie meine Erziehung viel zu sehr in Väterchens Händen gelassen hätte und verlangt, daß ich nun mit Extrapost in die guten Manieren und die tadellose Sanftheit hineinfahre. Und das alles um so eine harmlose Geschichte! Da müssen sich ja vor Mitleid mit mir meine gesamten Ahnfrauen in den Gräbern umdrehen!«
Ich war fast ebenso geknickt wie Gretel. Wir trugen die angesetzten Strafen gemeinsam, auch meine Hauptvergnügungen hörten auf. Ja, ja, nun hieß es doch: »mitgefangen, mitgehangen«!
Guste war sehr teilnahmsvoll und benahm sich furchtbar nett.
»Das ist ja sehr unangenehm,« stimmte sie zu, »aber so schlimm wie es jetzt scheint, wird es schon nicht werden. Und sieh mal, Gretel, ewig kannst du doch überhaupt nicht solch ein Strauchdieb und Wildfang bleiben. Du kommst doch allmählich auch in die Jahre –«
»Gar nicht komme ich in die Jahre!« empörte sich Gretel. »Du thust, als wenn ich mindestens schon die alte Dorfkathrine wäre, mit dem Kopfe wackelte und stets ein Tröpfchen an der Nase hätte! Hatzi, – na ja, beinahe kann bei dem Schnupfen, – hatzi, – schon so etwas kommen, aber das sind vorübergehende Zustände, und aufs Altenteil laß ich mich deswegen noch lange nicht setzen. Vorläufig freilich heißt es in den sauern Apfel beißen! – Ich bin bloß neugierig, was Mutti und die Tante Pfarrer nun ausklügeln werden, um mich zu zähmen und zum Tugendspiegel zu machen!«
Frau von Rungleben nahm aber die Sache vorläufig sehr ernst, sie war schon am selben Vormittage bei Pfarrers gewesen, hatte mit dem Ehepaar eine lange Besprechung gehabt und nachdem ich noch extra einen Verweis erhalten und ernsthaft ermahnt war, mich von Gretel nicht beeinflussen zu lassen, sondern lieber veredelnd auf das wilde Reis zu wirken, wurde uns armen Sündern mitgeteilt, daß die Tante Pfarrer sehr gern bereit wäre, uns nachmittags Handarbeitsstunden zu geben –
Hier fiel Gretel angstvoll ein: »Aber, Mutti, doch nur ein- bis zweimal in der Woche, wir haben doch von Rechts wegen Ferien!«
»Die du nicht zu benutzen verstehst, mein Kind,« sagte Frau von Rungleben streng. »Und überhaupt gilt all das nur dir, über Delia habe ich nichts zu sagen –«
»Nein, nein, ich mache alles mit Gretel durch, ich habe ihre Fehler geteilt, ich teile auch ihre Strafe,« beteuerte ich heroisch, und Gretel drückte in heftiger Dankbarkeit meine Hand, während ihre Mutter mir heimlich gerührt und gnädig zunickte.
»Gut, liebes Kind, wie du willst. Guste wird möglicherweise auch dabei sein. Wie oft in der Woche ist noch unbestimmt, das hängt von Tante Pfarrers Zeit ab, es werden wohl auch nicht immer Handarbeitsstunden sein. Tante Pfarrer hat noch andre Pläne mit euch, und ich lasse ihr darin vollkommen freie Hand; mir ist es nur darum zu thun, daß ihr nicht ganz unbeschäftigt seid und nicht auf zu viel dumme Gedanken kommt. Für das nutzlose Herumstrolchen seid ihr nachgerade zu alt. Das taugt nichts, wie ihr bewiesen habt.«
»Aber, Mutti, können wir denn das alles nicht bis nach den Ferien lassen? Jeder Mensch hat doch mal im Jahr eine Zeit, in der er sich ausruhen kann. Man kommt ja ganz von Kräften bei dem ewigen Arbeiten!«
»Darüber bin ich ganz unbesorgt,« sagte Frau von Rungleben kühl und trocken, »deine Kräfte sind etwas zu überschüssig, die können schon eine gewisse Abnützung vertragen. Mache nicht so viel unnütze Redensarten, es bleibt dabei, du wirst jetzt streng in die Zucht genommen.«
Und es blieb wirklich dabei. Wenigstens unter dem ersten Eindruck unsrer verunglückten Gespenstergeschichte.
Die Tante Pfarrer bestätigte es uns, als wir gleich nach dieser Unterredung zu ihr herüber ins Pfarrhaus segelten.
»Ja, Kinder, nun verlegt nur den Schauplatz eurer sinnreichen Thätigkeit nachmittags für ein paar Stunden in den Pfarrgarten,« lächelte sie vergnügt. »Das wird ganz hübsch werden, glaubt nur. Es ist wirklich an der Zeit, daß ihr ein bißchen Sitzfleisch bekommt. Und nebenbei schlage ich vor, um euch weiter nutzbringend zu beschäftigen, daß ihr den Zwecken eures seligen Mäusebundes einmal etwas ernsthaft näher tretet. Ordensbroschen mit christlichen Sprüchen tragen und sich dabei wie die Heiden und Türken benehmen, das ist nicht hübsch, das ist so ein Stück Heuchelei und Pharisäertum. Wir wollen endlich einmal Wirklichkeit daraus machen!«
»Aber, Tante, was sollen wir denn thun?« fragte Gretel beunruhigt. »Schon in so jungen Jahren sich zur Heiligen auszubilden, ist doch ein bißchen viel verlangt!«
»Na, na, mit deiner Heiligkeit wird es so eine Sache sein,« lachte die Tante Pfarrer. »Du wirst dein Lebtag eine tolle Heilige bleiben. Aber im Ernst, Gretel, würde es dir gar keine Freude machen, deinen Nebenmenschen zu nützen, wirklich Hilflosen zu helfen, Schutzlose zu schützen, Traurige zu trösten –«
»Schutzlose zu schützen am allermeisten, Tante! Das hat so etwas Ritterliches! Auch Hilflosen zu helfen, – ja, gewiß! Aber ich weiß nicht, – damit verbinde ich immer so die Idee von Schwert und Krieg und Kampf, und wo soll das denn hier in unsrem Dorfe vorkommen?«
»Aber, Gretel, du bist doch nicht ein alter Haudegen vergangener Jahrhunderte, sondern ein junges Mädchen der Gegenwart. Das hat andre Aufgaben zu verstehen unter den Worten: ›Schutzlose schützen, Hilflosen helfen –‹«
»Na ja, denn man zu, Tante, dann erkläre uns diese Aufgaben, – dann los mit der Mäusebündelei!«
Kampfbereit streckte sie die kräftigen Arme in die Luft und stürzte sich dann auf den heranwatschelnden David, ihn hoch hebend und den laut Jauchzenden kühn herumschwenkend.
»David, mein Harfenschläger, komm, Tante Gretel will ihr Samaritertum bei dir beginnen! Deine dicken, ungeschickten Strampelbeinchen bedürfen entschieden der Hilfe, – Tante Gretel trägt dich spazieren! Und wenn Elias dich mit der rohen Kraft des Stärkeren schubst, will sie zu deinem Schutz ihn wiederschubsen; und wenn du in Trauer zerschmilzt, weil dein Papierschiffchen kaputt ist, will sie dich trösten und dir ein neues machen; – und wenn du hungrig bist, bettelt sie der Mamsell für dich einen ganz, ganz feinen Zwieback ab und speiset dich! – Hurra, Tante, ich habe den Kern der Sache erfaßt!«
»Du liebes, dummes Ding, das hast du auch,« nickte die Tante lachend: »Beinahe so soll es kommen, nur etwas anders. Wirf jetzt mal den König David ins Gras und überlasse ihn sich selber. Da kommt gerade auch Guste aus ihrer Religionsstunde. Setzt euch, Kinder, und nun wollen wir ernsthaft besprechen, was ich schon lange für euch auf dem Programm habe. Guste weiß es schon halb und halb, – nicht, mein Mädchen?«
Guste nickte sehr wichtig und vergnügt mit dem Kopfe und wir schauten voll Erwartung zur Tante Pfarrer hinüber.
Die fuhr fort: »Seht mal, Kinder, jetzt ist die Zeit der Ernte. Alles im Dorf, was schaffen kann, ist mit Schneiden und Einbringen des Getreides beschäftigt. Nicht allein die Männer, sondern auch die Frauen, nur die ganz Alten, Kranken und Schwachen bleiben zurück, und die Kinder. Die Kinder, die gerade jetzt keine Schule haben und sich daher den ganzen Tag unbeschäftigt herumtreiben. Die Großen sind zu Wärtern der Kleinen gesetzt, aber, wie schlecht sie ihres Amtes walten, wissen wir alle. Da dachte ich –«
»Um Himmels willen, Tante, wir sollen doch nicht Kinderwärterinnen für die schmutzigen, ungekämmten Bauernkinder werden?«
Gretel sprang von der Gartenbank auf und focht abwehrend mit den Händen in der Luft herum.
»Doch, etwas Derartiges meinte ich,« sagte die Tante Pfarrer ruhig. »Ihr solltet euch ein bißchen der armen Kinder annehmen, dafür sorgen, daß die größeren Geschwister sich selbst und die Kleinen ordentlich und sauber halten und dann hier im hinteren Teil des Pfarrgartens, den ich euch gern zur Verfügung stelle, damit ich das Ganze unter den Augen behalten und im richtigen Moment ratend und helfend eingreifen kann, also hier die Dorfjugend versammeln und mit Spielen, kleinen Arbeiten, Erzählungen und dergleichen unterhalten und belehren.«
»Aber, goldene Tante, wozu? Die Kinder fühlen sich ohne uns viel wohler, die brauchen uns weder als Schutz, noch Hilfe, noch Tröster, allerhöchstens als Speiser. Na, und davon redest du nicht mal!«
Die Tante Pfarrer lächelte.
»Das kann aber auch vorkommen, wenn Not vorhanden ist. In meiner Absicht handelt es sich aber vorerst darum, daß die Kinder nicht so verwahrlosen und nicht auf unnütze, schlechte Gedanken kommen. Wer nicht beschäftigt ist, gerät leicht auf Abwege, – faßt euch nur an die eigenen Nasen! – Und wenn das bei euch passierte, wie viel leichter verfallen diese ungebildeten Kinder auf thörichte Dinge. Hier, wenn ihr euch ihrer annehmt, lernen sie sich manierlicher bewegen und ausdrücken, selbständig denken, Freude an andern Dingen wie an faulem Herumlungern, Raufen und rohem Schimpfen finden. Und dann denkt nur, welche Last und Verantwortung ihr den alten Großmüttern und Großvätern abnehmt, wie ihr denen helft, wenn ihr ein paar Stunden des Tags für ihr kleines Volk sorgt!«
»Ein paar Stunden?« stöhnte Gretel. »Tante, du bist unbarmherzig! Wir werden ja angeschmiedet wie die Galeerensklaven. Ein paar Stunden bei der Handarbeit und ein paar Stunden Kinderpflege, – was bleibt uns dann noch zur Erholung von des Lebens Mühen?«
Eigentlich dachte ich das auch, das heißt, nur in Betreff der Handarbeitsstunden, während mir die Idee mit den Kindern gar nicht übel gefiel. Kinder waren mein Entzücken! Ich wußte auch allerlei Spiele und Liedchen, mit denen ich sie amüsieren und beschäftigen wollte. Das war wirklich ein hübscher Gedanke!
Ich zupfte Gretel am Kleide: »Du, das mit den Kindern ist doch niedlich! Glaub' nur, das wird uns Vergnügen machen. Du tollst ja auch gern mit dem Siebengestirn herum –«
»Ja, das Siebengestirn! Pfarrers Raupennest, das ist auch etwas andres! Die niedlichen Bälge, sauber gewaschen und gekämmt, aufgeweckt und manierlich –«
»Das sollen eure Zöglinge auch alle durch euch werden. Und außerdem, meine Trabanten könnt ihr immer mit dabei haben, die vertraue ich euch auch an. Ruth soll euch sogar beim Unterricht und Spiel helfen.«
»Ah Tante, warum sagtest du das nicht gleich? Nun sieht die Geschichte schon anders aus! Du, hör', Tantchen, sollen wir auch Jungen in Pension und Pflege nehmen? Dann bedinge ich mir die aus, die drille ich als Rekruten und Turner! Hei, das besorgen wir!«
»Nein, mein Gretel, einen Exerzierplatz nach deinem Gefallen machen wir nicht aus dem Garten,« lachte die Tante. »Ich denke überhaupt nur an die kleinen Mädchen von fünf bis acht Jahren, die denn auch, wenn es nicht anders geht, die ganz Kleinen mitbringen dürfen. Die Jungen traue ich euch nicht zu.«
»Ach, wie schade! Mit denen hätte man noch was Flottes unternehmen können. Was macht man denn mit Mädels? Die sind nun ganz bodenlos langweilig!«
»Zu eurem Amüsement geschieht das alles auch nicht, Gretel, und überhaupt, wir müssen erst einmal im Dorf herumhören, ob die Eltern für unsren Plan Neigung haben und uns ihre Kinder schicken. Alle thun es sicher nicht, und die Kinder werden auch im Anfang nicht gern kommen! Zu solchen Dingen müssen die Leute auch erst erzogen werden,« sagte die Tante Pfarrer sinnend. »Das müssen wir alles erst sehen! – Aber wenn daraus nichts wird, dann sehe ich, sonst eine gesunde, erziehliche Beschäftigung für euch zu erdenken.«
»Ach, Tantchen, strenge dich nur nicht an,« – Gretel fiel ihr stürmisch um den Hals – »wir kriegen auch ohnedem den Tag herum. Wir sind durchaus nicht auf erziehliche Beschäftigungen versessen!«
»Nein, nein, das brauchst du nicht erst zu beteuern! Aber deine Mutter ist darauf versessen und daher wirst du dich wohl darein finden müssen. Sträube dich nicht, Gretel, morgen fangen wir mit den Vorbereitungen an. Morgen ist Sonntag, alle Arbeit ruht, die Leute sind zu Hause. Da verteilen wir uns und gehn, den Müttern unser Anliegen vortragen. Dann kann mit der neuen Woche auch ein neues Leben beginnen, und ihr tretet Montag vormittag zu eurer ersten Lehrstunde an.«
»Auch am Vormittag, Tante? Aber dann ist ja der ganze Tag verplempert! Können wir nicht gegen Abend etwas mit den Kindern spielen?«
»Nein, Gretel, gerade in den Tagesstunden sind die Kinder am unbeschäftigsten, und da ihr nachmittags bei mir Handarbeitsstunden habt, bleibt nur der Vormittag. Guste, wird deine Mutter dich auch aus der Wirtschaft beurlauben?«
»Ja, Tantchen, Musch meint, wirtschaften könnt' ich noch immer lernen, dies wäre erziehlich mehr wert wie kochen und backen, ich lernte hierbei Geduld und würde überhaupt beim Lehren selbst lernen, und sie hielte es für sehr gut, wenn ich mit dabei wäre. Ich komme auch gern, sehr gern, Tantchen, ich freue mich auf Vor- und Nachmittag, und besonders auf das Zusammenarbeiten mit euch!«
Das rührte auch Gretel etwas. Sie seufzte zwar noch immer, aber sie gab sich darein, besonders da ihr nichts andres übrigblieb, und so traten wir denn am Sonntag nachmittag unsren Werbegang an.
Ich hatte mich an Gretel angeschlossen, weil ich allein mit den Leuten nicht umzugehn verstand, und es machte mir einen riesigen Spaß, zu sehen und zu hören, wie sie die Sache anfaßte.
Viel Höflichkeit und Beredsamkeit entwickelte sie nicht, aber sie verstand den Ton und die Art, die man brauchte, um den Leuten alles begreiflich zu machen; ziemlich kurz, ein bißchen lustig, wie sie immer war, aber dabei ganz Schloßfräulein und Herrin. Anscheinend hatten die Leute das gnädige Fräulein vom Schloß alle lieb, und jetzt durch die Gespenstergeschichte, die natürlich im Dorf ebenso bekannt war, wie auf dem Hof, und auf die, zu Gretels Entsetzen, überall angespielt wurde, hatte sie noch an Interesse und Reiz gewonnen, aber großes Entgegenkommen für unser Anerbieten fanden wir doch nicht.
Ach nein, das Minchen und Linchen, das Lorchen und Malchen, alle halfen sie schon der Großmutter oder dem Großvater in Haus und Küche. – Nein, man könnte sie schon zu Hause gebrauchen. Und die Kinder wollten doch auch Ferien haben, – und so allerlei. Aber schließlich ließ sich denn doch hier und dort eine Mutter herbei, uns ihre Mieke und Trine und so weiter zu versprechen.
Wenn wir dann draußen waren, triumphierte Gretel: »Sagt' ich's nicht? Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich! Für Neuerungen sind die Leute nicht, haben auch gar kein Bedürfnis dafür. Das sind Tante Pfarrers schöne, städtische Ideen, mit denen sie immer wieder unsre Bauern zu beglücken versucht, und für die wir nun bluten müssen. Aber meinetwegen, man zu, – ich thue mein möglichstes!«
Und dann redete sie drinnen wieder wie ein Buch und eroberte sich eine neue Seele.
Als wir dann im Pfarrhause zusammentrafen und Bericht von unsrer Thätigkeit ablegten, hatte Gretel den größten Erfolg, das heißt, die meisten Zusagen zu verzeichnen, was doch ihrem Stolz sehr schmeichelte und ihre erste Freude an dieser an und für sich sie wenig beglückenden Thätigkeit war.
Am folgenden Morgen begann dann die Sache. Etwas kläglich, da sich von all den halb und halb Versprochenen nur vier kleine Mädchen im Alter von fünf bis sieben Jahren eingefunden hatten, eins davon noch mit einem halbjährigen Brüderchen beladen, das ihrer Wartung anvertraut war und nun zu Benjamin ins grüne, grüne Gras gesetzt wurde, um unsre erziehliche und ersprießliche Thätigkeit nicht zu stören.
Unsre angehenden Zöglinge waren todverlegen, aber wir vier jungen Lehrerinnen, Ruth mitgerechnet, nicht weniger. Wir wußten gegenseitig nicht, was wir miteinander anfangen sollten und unterschieden uns in den Zeichen unsrer Befangenheit nur dadurch, daß die kleinen Dorfmädchen angstvoll an ihren Fingern lutschten und verzweifelt grinsten, während wir gesittet lächelten und uns die Hände drückten. Die Tante Pfarrer nahm sich denn zuerst der Sache an, kommandierte noch Esther und Judith dazu, und begann dann mit Liedersingen und Reigenspielen.
Gequält leiteten wir großen Mädchen an, und noch gequälter folgten die armen Kleinen. Im Anfange kam kein Ton aus ihren Kehlen und die Reigen schlangen sie wie die kleinen Trampeltiere. Wir mußten uns die Kehlen heiser singen und die Füße von ihnen abtreten lassen, alles im Interesse der guten Sache. Aber nach und nach, besonders als Esther und Judith, die einzig Unbefangenen, mit ihren niedlichen, kleinen Kinderstimmen anfingen mitzukrähen und im Reigen sich lustig und flink drehten, kam auch über die angstvollen Bauernkinder ein sorgloseres Aufatmen. Hie und da piepste und quäkte eine einen falschen Ton mit, und die Bewegungen wurden freier und leichter.
Aber erquicklich war die Geschichte nun mal nicht, und als die Tante Pfarrer nach anderthalb Stunden erklärte, daß es für heute genug sei, und die Kinder nun nach Hause gehn könnten, kam zum ersten Male echtes Leben in die Sache. Unsre Schülerinnen trabten in blinder Eile davon. Linchen vergaß vor Vergnügen am Abzuge sogar das Brüderchen, das mit Benjamin gemeinsam im Gras ein süßes Vormittagsschläfchen hielt und entschieden von dieser ersten Vergnügungsstunde den reinsten Genuß gehabt hatte.
Als wir es ihr im letzten Augenblick noch glücklich in die Arme gedrückt, hatten, sanken wir erschöpft auf die Gartenbank nieder und Gretel gab der allgemeinen Stimmung den richtigsten Ausdruck, als sie, sich schüttelnd, ausrief: »Lieber Schnee schaufeln und Strümpfe stopfen als Kindergärtnerin bei diesen Dorfbälgen spielen! Nein, Tantchen, man muß ein Kamel sein, um das durchsetzen zu können! Glaub' mir, an der Geschichte gehn wir zu Grunde!«
Ich glaube, die Tante Pfarrer war innerlich auch ein bißchen entmutigt und enttäuscht, aber sie ließ sich nichts merken. Sie lachte und sagte: »Aber, Gretel, Rom ward auch nicht an einem Tage erbaut. Alles will gelernt und geübt sein. Ausdauer gehört zu jedem Erfolg, und je schwerer man einen Erfolg erringt, desto beglückender ist er. Werft nur nicht gleich die Flinte ins Korn! Das ist nur beim ersten Angriff schwer und wird mit jedem Tage besser!«
»Na, ich bin neugierig, ob morgen sich nur ein einziger von den Trampelmaiern wieder einfindet,« sagte Gretel, »nach meiner Ansicht haben die von der Geschichte ebenso genug wie wir!« –
Aber sie irrte sich. Unsre tapferen Vier kamen wieder, und Tante Pfarrer hatte recht, mit jedem Tage machte sich die Sache leichter, und mit jedem Tage gewannen Lehrer und Zöglinge gegenseitig größeres Vergnügen an den gemeinsamen Stunden.
Guste, Ruth und ich fanden uns sehr bald in die richtige Behandlung der Kinder und in das Kunststück, die Spiele und Vergnügungen mit allerlei kleinen Nützlichkeiten und Belehrungen zu verbinden. Wir drei hatten wohl natürliches Talent für den Umgang mit den Kleinen, das besonders bei Ruth, trotzdem sie die jüngste war, sich doch am ausgebildetsten zeigte. Sie war von den kleinen Geschwistern her eingeübt und verstand es, die Befangensten unbefangen, die Ungeschicktesten geschickt, die anscheinend Dümmsten leidlich aufgeweckt zu machen. Dazu kam, daß alle Dorflinder sie kannten, mit ihr vertraut waren und sie liebten, und so bildete sie den natürlichen Vermittler zwischen uns und unsren Zöglingen, deren Zahl nach und nach wuchs und wirklich an Manieren und Intelligenz zunahm.
Guste und ich waren mit Feuereifer bei der Sache. Was wir nicht selbst wußten, lernten wir bei Tante Pfarrer, die einstmals einem Kindergarten vorgestanden hatte und ein unerschöpflicher Born von Liedchen, Spielen und niedlichen, einfachen Beschäftigungen war und uns mit Freude und Genugthuung zur Seite stand.
Nur Gretel, die eigentlich doch die ganze Geschichte eingefädelt und besorgt hatte, für die sie auch am meisten bedacht war, konnte sich nicht hineinfinden, wenigstens nicht in der Art wie wir, selbsteingreifend, lehrend und mitspielend.
Sie lag meistenteils im Grase und spielte, wenn es ihr gerade einfiel, mit David, Benjamin und den verschiedenen kleinen Geschwistern, die von unsren großen Zöglingen mitgebracht und vertrauensvoll zu den jüngsten Pfarrers ins Grüne gesetzt wurden.
Gretel hatte sich einen Extraschwamm und ein Extrataschentuch angeschafft, um ihre Klasse, wie sie die Kleinsten nannte, in menschenwürdige Verfassung zu bringen und darin zu erhalten, und dann jauchzte und krabbelte sie mit den kleinen Vierfüßlern auf der Wiese herum, fing ihnen Grillen und Käfer und that, wie sie sagte, ihre Schuldigkeit auf ihre Weise.
Tante Pfarrer und wir hatten zuerst wieder und wieder versucht, sie mit uns in gleiche Bahnen zu lenken, aber es ging nicht. Sie wurde so verzweifelt und benahm sich so ungeschickt und ungebärdig, daß Tante Pfarrer die erste war, die da sagte: »Laßt sie gehn, Kinder, aus einem Adler macht man kein Haushuhn! Sie ist auch die jüngste von euch und wird mit der Zeit vielleicht anders, aber vorläufig ist mit ihr noch nichts anzufangen. Man muß sie aus sich selbst heraus werden lassen, anders geht es bei ihrer Natur nicht!«
Da küßte Gretel ihr die Hand, ganz ernst und großäugig und sagte: »Tante Pfarrer, ich danke dir. Es ist ganz wahrhaftig nicht böser Wille, – ich möchte schon, aber ich kann nicht. Besonders nicht so auf den Pfiff, – nun schlägt die Uhr, nun nimm den Faden in die Hand und haspele ihn ab wie er läuft, so glatt und wohlgeordnet. Na, Tante, ich weiß nicht, ob du das verstehst, und ich weiß es auch nicht so auszudrücken, – aber ich kann es eben nicht per ordre de Mufti!«
Die Tante Pfarrer seufzte.
»Aber, Gretel, wie soll das denn später im Leben werden, wenn dieses und jenes an dich herantritt, was du auch nicht magst und doch mußt? Denn jeder Mensch, der mit andern in Beziehung steht, muß sich oft zwingen zu dem, was ihm nicht gefällt. Das thut man denn nicht ab mit den Worten: Ich kann nicht!«
»Ich weiß nicht, Tante, – dann fange ich es eben anders an. Sieh mal, ich schaffe es doch auch hier mit den Kleinen und thu' damit doch auch meine Schuldigkeit, nur in meiner Art! Das wird schon immer so im Leben sein, glaub' nur!«
»Gott gebe es, Wildfang! Vielleicht kommt dir späterhin auch noch mal die Vernunft!«
»Ja, Tantchen, später, peut-être! Jetzt laß mich nur noch ein bißchen unvernünftig sein!«
Aber dann fuhr sie uns auch mal in unsre Klasse hinein, mitten in alle Ordnung, mit einem ihrer Einfälle, der aber gerade immer paßte, ihre Aufmerksamkeit für jede einzelne Person zeigte und oft mehr wirkte, wie unsre sorgsamsten Lehren und Ermahnungen.
Vielleicht war es nur ein Griff, ein paar Worte, ein Scherz oder irgend ein abenteuerliches, schnell erfundenes Märchen. Aber immer traf es den richtigen Punkt und packte die Kinder mit ganz besonderer Macht.
Ich entsinne mich noch eines Vormittags, an dem ein durch das Dorf ziehender Töpferwarenhändler mit dem kleinen, grauen Esel, den er vor sein Wägelchen gespannt hatte, unsre gesamten Zöglinge, die nie vordem einen Esel gesehen, in fieberhafte Aufregung brachte und alle Bande unsrer Ringelreihen und Beschäftigungsspiele löste.
Die Kinder waren dem jammervoll »iah, iah« schreienden Grauchen, so weit sie es sehen konnten, mit den Blicken gefolgt, hatten über die Thatsache, daß es die am Wege stehenden staubigen Disteln mit Wonne verspeiste, sich höchlichst verwundert und bestürmten uns nun mit Fragen über Art, Herstammung, Zweck und Eigentümlichkeiten des fremden Tieres.
Guste und ich hatten unser möglichstes gethan, um all die Fragen sachgemäß zu beantworten, aber wir waren mit unsrer Eselsweisheit ziemlich schnell zu Ende und konnten vor allen Dingen die dringenden Erkundigungen über den Ursprung des kleinen Grauen nicht mit jener angenehmen Sicherheit beantworten, die ein Lehrer seinen Schülern gegenüber unzweifelhaft haben muß.
Gretel lag schon wieder im Grase und mühte sich damit ab, Naujoks Karlemännchen zu bewegen, daß es auf einem Bein stehe und das andre graziös in der Hand halte, ein Kunststück, das unfehlbar mit dem gleichen Erfolge, das heißt mit einem kräftigen Niedersitzen des jungen jauchzenden Künstlers endete.
Auf einmal sprang sie in unsre allmählich langsam fließenden Erklärungen hinein.
»Das will ich euch mal erzählen, Kinners, paßt auf! dann werdet ihr gleich wissen, woher die Esel stammen und was sie eigentlich sind. – Da war mal ein kleines Mädchen, 'n ganz gutes, kleines Ding, bloß es hatte ein paar recht häßliche Fehler, – Fehler, die man leider auch bei andern ganz guten, kleinen Mädchen findet! – Es war nämlich zuerst ein Schmutzsuschen, – sieh mal, Mine, so wie du! Immer Flecken im Rock, immer Löcher in der Jacke, das Schürzenband geknotet und die Haare wie Kraut und Rüben um den Kopf hängen.«
Mine, unser schwarzes Schaf in Ordnungssachen, saß viel bestürzter und blutübergossener da, wie bei all unsren sonstigen Ermahnungen.
»Ja, so war das kleine Mädchen nun! Und da hatte es noch einen Fehler. Es war eine Naschkatze. Immer mußte es das Beste haben, süße Früchte und feinen Kuchen – genau so wie du, Judith, – eine greuliche Naschkatze, die hinter der Zuckerdose und den Geleetöpfen her war und ihrer lieben Mutter viel Kummer machte. Ja, ja, das war auch ein häßlicher Fehler!«
Judith zuckte mit dem Mündchen und rang die kleinen Hände, sie schämte sich halb tot, aber gesund war es ihr, denn das mit der Naschkatze stimmte aufs Haar.
Und Gretel fuhr fort: »Und dann hatte das kleine Mädchen einen dritten, abscheulichen Fehler. Es war ein eigensinniger Nickel, der immer widersprechen mußte und nichts häufiger sagte, als ›nee, nee‹! – Genau wie du, Karlin, die auch ein eigensinniger Nickel ist und zu allem, was man von ihr verlangt, trotzig und widerwillig ›nee, nee‹ sagt. Ja, min Dochter, so 'n Undocht wer dat nu!«
Karline war ein unfreundliches, eigensinniges Ding, das wirklich jede Antwort mit einem hartnäckigen ›nee, nee‹ anfing. Wir mochten sie alle nicht, und wie sie jetzt den dicken Mund noch dicker aufsetzte und der Erzählerin einen ihrer schiefen Blicke zuwarf, hatte jede von uns die heimliche Neigung, ihr einen kräftigen Denkzettel zu verabreichen.
Gretel lächelte vor sich hin und erzählte weiter: »Na ja, Kinners, und dies kleine Mädchen mit den drei häßlichen Fehlern hatte nun eine mächtige, sehr gute, aber auch sehr strenge Fee zur Patin, die schon wer weiß wie oft gesagt hatte: ›Hör mal, Liese,‹ – das kleine Mädchen hieß nämlich Liese – ›wenn du dich nicht endlich änderst und gegen deine Fehler kämpfst, dann muß ich doch mal meinen Zauberstab nehmen, dich erst ordentlich damit durchwichsen und dann in ein Tier verwandeln, das dir alle deine Fehler recht eindringlich vor die Seele führt?‹
»Aber die Liese hielt das nur für einen Spaß von ihrer Frau Patin, sie sah diese verdrießlich an, sagte: ›Nee, nee!‹ und war nach wie vor ein Schmutzbartel und eine Naschkatze.
»Na, da riß der wunderschönen Fee endlich mal die Geduld, und als sie eines schönen Tags ihr Patenkind überraschte, wie es von Mutters süßem Kirschkuchen naschte, sich dabei von oben bis unten mit Kirschsaft bekleckerte, und als die Fee sie beim Schopf kriegte, noch widerwillig dieser ›nee, nee‹ entgegenbrüllte, da hielt sich die Fee nicht mehr, nahm ihren Zauberstab, wichste das Lieschen kräftig durch, und dann beschrieb sie große Kreise um die Schreiende und murmelte viele Worte. Da wurde das Lieschen plötzlich ganz still und fühlte in all seinen Gliedern ein Rucksen und Drucksen, ein Strecken und Recken, ein Dehnen und Gähnen, und wie es sich recht besah, da hatte es auf einmal ein graues, schmieriges Fell, vier Beine, zwei lange, lange Ohren und ein hartes, großes Maul. Als es das öffnete, um zornig ›nee, nee‹ zu sagen, da kam nichts andres heraus als immer ›iah, iah‹. – Und da war nun der Esel fertig, trug zur Strafe für Lieschens Schmutzbartelei ein ewig graues, unsauberes Fell, mußte zur Strafe für Lieschens Naschhaftigkeit fortan nur Disteln und Kletten fressen, und konnte zur Strafe für Lieschens unfreundlichen Widerspruchsgeist nie mehr ›nee, nee‹, sondern immer nur noch ›iah, iah‹ sagen.
»So, nun wißt ihr, woher der Esel stammt und woher er seine Eigentümlichkeiten hat, und nun geht in euch und müht euch, eure Fehler abzulegen, damit ihr nicht, wie das gute kleine Lieschen, eines Tags auch ein häßlicher, grauer Esel werdet!«
Damit ging sie lachend ab, und die Kinder lachten auch, selbst Mine, Judith und Karline, aber diese drei ziemlich bedrückt, und alle zeigten fortan ein so merkliches Bestreben, die in Gretels Märchen gerügten Fehler zu bekämpfen und abzulegen, wie sie es bis jetzt vor keiner Ermahnung und keiner Strafe gezeigt hatten.
Die lächelnde Erinnerung: »Denk an das Eselchen!« blieb lange Zeit das beste Mittel, sie zu beschämen und auf den rechten Weg zu führen, und die unfreundliche Karline, die in späteren Jahren ein ganz freundliches, liebes Mädchen wurde, hat mir einmal verschämt gestanden: »Nee, nee, gnäd'ges Fräuleinche, seit dunnemals, als uns' Fräulein Gretche das vom Esel erzählte, hab' ich mich das Neesagen sehr abgewöhnt. Das hat mich zu sehr geärgert, wenn die annern mir auf jedes ›nee, nee‹ ein dutzend Mal ›iah, iah‹ vorschrieen! Das ging mich doch an die Knochens, und da hab' ich unsrem Fräulein Gretche wirklich viel zu danken.« –
Wenn Gretels Vergnügen an den Beschäftigungen des Vormittags trotz alledem ein sehr mangelhaftes blieb, so war sie desto mehr mit den erst auch so schmerzlich beseufzten Nachmittagsstunden zufrieden. Nicht, daß die Handarbeiten sie besonders entzückten, nein, darin blieb sie sich treu; ich glaube, mehr wie ein bißchen Strümpfe stopfen, und auch das noch von zweifelhaftem Wert, ist bei all den Nachmittagen nicht von ihr geleistet worden. Aber da war etwas andres, was ihre leidenschaftliche Seele in Flammen setzte und ihr ein Entzücken bereitete, neben dem das unsre wie ein Nachtlämpchen gegen eine Fackel schien.
Unser geliebter Onkel Pfarrer war gleich am ersten Nachmittage unter uns erschienen, im Gesicht ein verheißungsvolles Lächeln und in der Hand ein verheißungsvolles Buch.
»So ganz nüchtern wollen wir die Handarbeitsstunden denn doch nicht behandeln,« sagte er freundlich. »Wenn meine liebe Frau sich da eine Hilfstruppe für die Ausflickerei und Näherei ihres Siebengestirns heranzieht und nichts wie des Leibes äußeren Schmuck und Bedarf in ihr Bereich nimmt, so muß ich doch versuchen, diese Nüchternheit etwas zu schmücken und zu verklären. Wie steht es, darf ich dem Flick- und Nähklub als ästhetisches Mitglied und Vorleser beitreten?«
Das wurde mit allgemeinem Jubel begrüßt, und selbst die Tante Pfarrer, die sich entrüstet verwahrte gegen die Annahme, daß sie uns nur als Hilfstruppe für ihre stets gefüllten Ausbesserkörbe betrachte, verstand sich dazu, diese schwere Beleidigung gegen ihre Uneigennützigkeit zu verzeihen und das ästhetische Mitglied in Gnade unter uns aufzunehmen.
Das waren denn nun köstliche Stunden. Der Onkel Pfarrer hatte die Odyssee mitgebracht, und unter seiner Leitung und seinen Erklärungen wanderten wir entzückt und oft atemlos vor Erregung und Interesse auf den Spuren des edlen Dulders Odysseus, hörten den bräunlichen Menelaos und den verständigen Jüngling Telemachos; zitterten, bebten, jubelten bei den Abenteuern und Kämpfen der Helden, und flickten, stopften und nähten dazu beinahe ebenso erfolgreich, wie die edle Penelopeia, die mit dem nächtlichen Zerstörungswerk ihre Arbeit nicht weniger fördern konnte wie zum Beispiel Gretel die ihre beim Zuhören.
Tante Pfarrer schlug dann freilich manchmal die Hände entsetzt zusammen, wenn ihr Mann das Buch zuklappte und Gretels Handarbeit noch genau auf demselben Punkt stand wie beim ersten Ton aus Onkel Pfarrers Munde. Aber dann behauptete die Sünderin mit leuchtenden Augen, daß sie leider vergessen habe, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen und daher dem betörenden Gesang der Sirenen erlegen sei; – oder, die dämmernde Eos habe sie an diesem Morgen etwas zu früh mit den Rosenfingern geweckt und ihr daher die eigenen Rosenfinger gelähmt. Sie könne sie nur noch zum lecker bereiteten Mahle erheben, aber entschieden nicht mehr zur Herstellung der schneeigen Linnengewänder, mit denen die holde Nausikaa hinab zum Strande zöge, – oder irgend solch eine mit klassischen Redewendungen verbrämte Tollheit, daß selbst die Tante Pfarrer lachen mußte und dem Nichtsnutz kopfschüttelnd wieder verzieh.
Gretel konnte oft allein vom Zuhören ganze Stellen auswendig. Nicht die geringste Einzelheit entschwand ihrem Gedächtnis, und ihr Interesse ließ nicht eine Sekunde nach, während Guste und ich doch manche Wiederholungen und Längen mit verstohlenem Gähnen und einem Abschweifen der Gedanken begleiteten. Entschieden war ich jetzt wieder intimer mit Guste befreundet. Unsre Interessen gingen mehr Hand in Hand. Uns lag unser Kinderhort, wie wir ihn stolz benannten, im Grunde doch mehr am Herzen wie die ganze Odyssee, und unser Minchen und Linchen, Rikchen und Fiekchen beschäftigten uns mit ihren Fortschritten viel eindringlicher wie die schönsten Verhandlungen unter den Göttern Griechenlands und die merkwürdigsten Abenteuer des edlen Dulders und seiner Zeitgenossen.
Wir fühlten uns vollkommen befriedigt und seelenvergnügt in dieser Zeit, und ich verlangte nichts andres, nicht einmal das von Gretel so schmerzlich entbehrte Reiten und Fahren, das bei all seinen Reizen für mich doch stets mit einer gewissen körperlichen und moralischen Anstrengung verbunden gewesen war.
Guste unterstützte mich in meinen sanfteren Regungen mit Eifer und Liebe. Sie war heimlich doch stolz darauf, mich Gretel allmählich wieder abzujagen und die erste Hand auf mich zu legen, und Gretel war in dieser Zeit schlaff. Sie ließ es geschehen, ohne jemals kräftig dagegen aufzutreten, oder, wie früher, mich einfach mit Gewalt in ihre Bahnen zu lenken.
Es war gar nicht unser Gretel von sonst, viel stiller, viel lässiger, nicht mehr übersprudelnd von tollen Einfällen und lustiger Laune, sondern oft verdrießlich und heftig, und nur in alter Lebendigkeit und Frische, wenn der Onkel Pfarrer uns nachmittags vorlas.
»Du,« sagte Guste, »es thut wirklich not, daß Gretel wieder ihr altes Leben anfängt. Muttchen sagt auch, noch wäre nicht die Zeit gekommen, wo man Gretel in strenge Zucht nehmen könne. Sie komme ihr vor wie ein junges Füllen, das man zu früh in Dressur genommen hätte. Man müßte sie noch etwas austoben lassen. Gott, weißt du, das ist ja ganz natürlich, wenn jemand an so viel Freiheit gewöhnt ist wie Gretel, und so von seinem eigenen Vater angelernt ist, dann wird er nicht mit einem Schlage ein Hauskätzchen! Sie ist ja auch noch so schrecklich jung,« – Guste machte ihr altklügstes, überlegenstes Gesicht – »jetzt wird sie erst vierzehn, in diesen Tagen.«
»Was, Gretel feiert bald Geburtstag?«
»Weißt du das nicht? Ach, davon wird im Schloß nicht viel Aufhebens gemacht! Na ja, Mamsell backt Kuchen und Gretel darf einen Lieblingswunsch äußern, der ihr, wenn er nicht zu groß ist, fast immer erfüllt wird, aber sonst ist das ein Tag wie jeder andre.«
Ich war ganz verblüfft! Ein Geburtstag, mein Geburtstag! Was war das immer für ein Ereignis! Von Morgens an ein blumenbekränztes, gratulations- und geschenkgeschmücktes Ehrenfest, das schon wochenlang vorher seine Lichtstrahlen über alles warf, und hier erfuhr ich erst davon, als es schon vor der Thüre stand.
»Aber, Guste, das geht doch nicht so, da müssen wir doch etwas thun und schenken und –«
»I wo, das ist im Schloß nicht Sitte. Von Onkel und Tante weiß überhaupt kein Mensch, wann die Geburtstag haben, und wenn es nicht von den Kindern jedermann im Schloß und Dorf wüßte, weil sie von hier sind, so erführe es vielleicht auch niemand. Die lieben alle das Gethue nicht. Ja, ein paar Blumen bringen wir hin und ein Körbchen mit unsern Frühbirnen, die Gretel so gern ißt und die im Schloßgarten nicht sind, aber sonst wird das alles genau so wie an jedem andern Tage. Aber ich will doch mal Gretel fragen, was sie sich in diesem Jahr wünscht? Sie sprach immer von einem eigenen Reitpferde, – na, damit ist es nun Essig! Die Tante Rungleben ist doch manchmal recht komisch. Auf einmal so streng mit Gretel umzugehn! Es thut nicht gut, glaub' mir! Vater und Mutter sagen es auch, Gretel wäre gar nicht mehr sie selbst, wenn das so fortginge, würde sie vielleicht noch krank! Sie wäre nun mal ein eigentümlicher Charakter, ein echter Rungleben, die vertrügen nichts, was gegen ihre Natur geht!«
Daraufhin wurde mir nun auch um Gretel ganz angst und ich sah sie mir am folgenden Vormittage mal genau an.
Aber Gustens düstere Prophezeiungen schienen jeden Grundes zu entbehren. Gretel war gerade heute in prächtiger Laune, wieder so lustig und schelmisch, daß man daran erst merkte, wie verändert sie in letzter Zeit gewesen war.
Ich atmete auf und nahm es nicht einmal übel, als sie mir nach den Stunden eine aus Benjamins Windel zusammengeknotete Nachthaube und eine aus Tannenreisern hergestellte Brille aufsetzte und einen tiefen Knicks vor mir machend erklärte, ich sei ein Monstrum an Altklugheit und Ehrpusselei und könnte in diesem passenden Kostüm gleich eine hervorragende Stellung als Vorsteherin eines Mädchenpensionats einnehmen.
»Ja, du Weisheitseule, es wird die höchste Zeit, daß ich dich wieder zu einem normalen, flotten Backfisch mache! Guste, die Brave, hat dich zu lange in den Scheren gehabt, du bekommst auch schon Häutungsanfälle, und das ist noch etwas zu früh! Dafür haben dich deine Eltern uns nicht anvertraut. Hurra, Kinder, ich freue mich, ich freue mich wie ein Spitzbube, daß nun bald wieder ein andres Leben beginnt!«
»Aber wieso denn? Warum denn?«
»Ach, ihr Bähschäfchen, kennt ihr euch das denn nicht denken? Übermorgen ist doch mein Geburtstag und gestern hat Mutti mich gefragt, was ich mir diesmal dazu wünsche!«
»Was, erst gestern?« fuhr ich entrüstet dazwischen. Ich wurde das ganze Jahr lang gefragt, was ich mir wünsche, und so dicht vor meinem Geburtstage kamen höchstens noch ganz kleine Nachträge. Da hatte Mama schon alles längst zusammengeschleppt und besorgt.
»Na ja, das war zeitig genug,« nickte Gretel vergnügt. »Es wird mir ja doch erst übermorgen erfüllt. Na, ihr könnt euch doch denken, was ich mir wünschte, – Freiheit, Freiheit, Freiheit!«
Sie schrie es in die Luft hinaus wie eine, die am Ersticken war, reckte die Arme und dehnte ihre ganze Gestalt.
»Für die Ferien lohnt es ja kaum mehr, denn die sind fast zu Ende, aber wer weiß, was meine Mutter sich darüber hinaus noch ausgedacht hätte, um mich zu beschäftigen und zu zähmen! Nein, da mußte ein Riegel vorgeschoben werden! Ich habe mit ihr gesprochen, – ganz ernsthaft. – Na, ich meine, Väterchen hatte schon vorgearbeitet. Meine süße, kleine Mutti war ergebungsvoll. Es ist aber auch wahr, Kinder, für das bißchen dumme Zeug habe ich lange genug gebüßt, und mein Leben lang kann ich doch nicht Kindergärtnerin und Linnennäherin sein!«
»Aber, Gretel, wenn die Ferien zu Ende sind, hört der Kindergarten von selbst auf, und die Nachmittage, wenn der Onkel Pfarrer vorliest, sind doch dein Schönstes,« wandte ich kopfschüttelnd ein.
»Zum Vorlesen ist der Winter da, dann wird es noch tausendmal schöner sein. Jetzt im Sommer ist Wald und Feld das Beste! Und die Kindergärtnerei, – nun ja, die fällt wohl mit den Ferien fort, aber, ich sagte es schon, wer weiß, was danach aufs Tapet gekommen wäre! Nein, nein, bedingungslose Freiheit wie bis dahin, das ist alles, was ich mir wünsche! Und meine Eltern sind ja keine Barbaren, sie werden mir den Wunsch schon erfüllen!«
Darüber waren wir auch ziemlich beruhigt. Genützt hatte die Strafe für Gretel doch nicht viel, anders war sie nicht geworden. Aber natürlich, Strafe mußte sie auch einmal kennen lernen, und künftig würde sie sich schon mehr in acht nehmen.
Nun waren wir neugierig, ob das wirklich ihr einziges Geburtstagsgeschenk sein würde? Ich sagte unbedingt: nein. Das war doch überhaupt kein Geburtstagsgeschenk, nur eine Art Verzeihung. Aber Guste behauptete steif und fest, mehr bekäme sie sicher nicht. Das kenne man im Schloß eben nicht anders. Das wäre Runglebensche Familienart und darauf hielte Herr von Rungleben, – alles einfach und ohne Verwöhnung. Ein Geburtstag sei schließlich nichts andres wie jeder Lebenstag, nur die Gefühlsduselei der Menschen mache ihn zu etwas Besonderem, und bei seiner Familie wolle er das nicht einreißen lassen.
Ich muß nun schon sagen, daß mir das gar nicht gefiel. So nackt und kahl und lieblos! Nein, da war es zu Hause doch besser, und meine Gedanken wandelten in Liebe und Dankbarkeit zu meinen Eltern, die mit ihrer Einzigsten doch viel zarter und anmutiger umgingen.
Ach, meine lieben Eltern! Wenn ich sie nur hier gehabt hätte, dann wäre mir nichts mehr zu wünschen übrig geblieben. Nein, wirklich! Beinahe konnte ich doch Gretels Geburtstagsgeschenk verstehen. Es giebt eben Dinge, die über alles andre hinaus beglücken, und wenn die einem erfüllt werden, dann ist das eigentlich das schönste Geburtstagsgeschenk!
Wenn ich jetzt dicht vor meinem Geburtstage stünde, wer weiß, ob ich nicht auch, statt all der Kleinigkeiten, die sonst diesen Tag so vielfach schmückten, nur das eine gewünscht hätte, was mir so besonders am Herzen lag!
Ja, besonders; denn in Mamas Briefen, die, Gott sei Dank, über Papas Ergehn nur Gutes und Beglückendes meldeten, traten jetzt schon oft Bemerkungen über ihre und danach auch meine Heimkehr auf, und so unendlich ich mich auch auf das Wiedersehen mit meinen Eltern freute, der Gedanke an das Scheiden aus den mir unbeschreiblich lieb und vertraut gewordenen Verhältnissen und von all den lieben Menschen, fiel wie ein dunkler Schatten auf meine Freude und hatte mir schon manch heimliche Thränen erpreßt.
Das Froschungeheuer war nun mal Königssohn geworden und blieb es, und man konnte es mir nicht verdenken, wenn ich meine Herrschaft im Märchenkönigreiche nur mit Schmerzen aufgeben würde! – Im ganzen dachte ich ja daran auch nur, wenn Mamas Briefe eben eingetroffen waren, sonst lebte ich in den Tag hinein, jeden dieser köstlichen Spätsommermorgen mit neuem Jubel begrüßend und all seine Freuden und Reize mit dankbarem, glücklichem Herzen genießend.
Da war nun Gretels Geburtstag angebrochen. Tante Pfarrer hatte anordnen wollen, daß an diesem Vormittage der Kindergarten ausfiel, damit das Geburtstagskind seinen Ehrentag ganz ungehindert und ungeteilt verleben könne. Aber dagegen hatte Gretel sich gewehrt.
»Nein, Tante, da nehme ich gerade mit Pomp Abschied von dem Schauplatz meiner ruhmreichen Thätigkeit. Das ist kein Zwang mehr, das soll ein Vergnügen werden. Daß ihr morgen alle kommt, ihr Rangen! Vor allen Dingen die Kleinen mitbringt! Ich will meine Klasse noch einmal voll versammelt sehen, sauber gewaschen und gekämmt, sage ich euch! Solche Dreckpfoten wie heute dürfen morgen nicht vorkommen, verstanden? Dafür habt ihr Großen zu sorgen. Morgen ist Abschiedsfest, Hurra!«
Natürlich waren Guste und ich mit Blumen und Obstkörbchen beladen schon in aller Frühe auf dem Wege zum Schloß und wurden von Gretel mit Jubel empfangen.
»Ich habe meine Freiheit, Kinder, ich darf wieder mit Väterchen reiten und fahren und ein lustiges Mädel sein! Juchhei! Vorbei ist die düstre, die schreckliche Zeit!«
»Und was hast du sonst noch bekommen?« forschte ich neugierig. Es war doch unmöglich, daß die Eltern sie damit abgespeist haben sollten.
»Von Vater und Mutter einen Kuß, und Väterchen hat mir obenein noch die Ohren so lang gezupft, daß ich beinahe ein richtiges Langohr, auch äußerlich, geworden bin,« lachte sie lustig.
»Und weiter?«
»Noch mehr, du Nimmersatt? Sind ein Paar regelrechte Eselsohren nicht genug für einen Esel? Eine bescheidene Seele wie ich ist damit befriedigt, mein Hühnchen. – Bums hat mir außerdem noch das Versprechen geschenkt, daß ich seiner Zeit seinen ersten ausfallenden Milchzahn bekomme, und den läßt Mutti mir dann zum Ring fassen. Das ist doch niedlich, nicht? Na, Kinder, ihr bleibt zu Mittag hier. Überhaupt, das wird ein Geburtstag, wie ich ihn noch nie erlebte. Meine Eltern sind zu gut! Mutti hat zwei Körbe mit Kuchen und Himbeerlimonade gepackt für unsre Kleinen im Pfarrgarten, und Vater läßt nach Tisch für uns, Mademoiselle und Bums miteingeschlossen, den Break anspannen und uns ins Heu fahren. Wißt ihr, auf die wundervolle Wiese mitten im Walde, auf meinen Lieblingsplatz. Da können wir uns dann austollen, wie wir wollen. Ist das nicht himmlisch?«
Ja, das fanden wir auch, aber trotzdem kam ich nicht aus der geheimen Verwunderung und Empörung heraus, daß Eltern ihrem Kinde nichts weiter zum Geburtstage schenkten wie Versprechungen und Vergnügungen für andre. Denn die Bewirtung im Pfarrgarten war doch eigentlich hervorragend ein Vergnügen für andre!
Aber Gretel war wunschlos selig und befriedigt. – Sie hatte doch wohl ein besseres, bescheideneres Gemüt wie ich, ich sah es mit stiller Beschämung. Ja, das würde ich nie vergessen, wie anspruchslos und einfach meine hiesigen Freundinnen waren. Nie wieder sollten jene Stadtmädchen, an die ich gar nicht mehr als Freundinnen zurückdenken mochte, meinen Sinn verderben und mich wieder zu einer so anspruchsvollen, eitlen und verzierten Närrin machen, wie sie es bisher gethan hatten. Ich gelobte es mir zum hundertsten Male, und als Gretel mich jetzt unter das Kinn faßte und lustig fragte: »Welch tiefe Weisheitsgedanken ziehen eben durch dein holdes Haupt?« umschlang ich sie heftig und sagte ganz leise: »Alles Liebesgedanken für dich und Guste. Ich habe euch furchtbar lieb und will mich auch in der Ferne bemühen, in eurer Art weiter zu leben.«
»Sprich nicht von der Ferne,« sagte Gretel ungestüm, »du verdirbst mir den ganzen Geburtstag! Unser Herzblättchen können wir gar nicht mehr entbehren! Nein, nein, bloß heute keine Rührung! Vorwärts, Kinder, kommt zur Mamsell und seht euch unsre Vorräte an für die kleine Gesellschaft im Pfarrgarten. Wir können nachher bald losziehen, denn bei Pfarrers muß ich doch erst das ganze Siebengestirn gratulierend über mich ergehn lassen, und so sieben alttestamentarische Mäulchen abzuküssen, das nimmt Zeit fort!«
Natürlich, das nahm es auch, aber reizend war es! Tante Pfarrer hatte alle sieben in weiße Gewänder gesteckt; die kleinen Mädchen mit rosa Schleifen geschmückt und jede einen Rosenstrauß in der Hand; die Jungen, das heißt die beiden kleinen, denn Elias eignete sich in seiner Hosentoilette nicht mehr zur Schleifengarnitur, blau bebändert und große Kornblumenkränze im Haar, was sich besonders bei Benjamin, der noch bedenklich kahlköpfig war, sehr kleidsam und großartig ausnahm. So stand das Siebengestirn in Reih' und Glied, abgestuft wie die Orgelpfeifen, vor der Thüre des Pfarrhauses, dahinter die Eltern, und zur Seite, mehr in das Gebüsch gedrückt, unsre Bauernzöglinge, auch alle festtäglich gekleidet und jeder einen Busch buntflammender Blumen in den derben, kleinen Fäusten.
Sowie wir auf der Bildfläche erschienen, gab der Onkel Pfarrer ein Zeichen, und unter Tante Pfarrers Anführung setzten all die feinen, zarten Kinderstimmchen mehr oder minder richtig ein: »Heil sei dem Tag, der dich geboren!«
Gretel blieb ganz fassungslos stehn. Wir mit ihr, hinter uns Dore und Mine mit den Eßkörben.
Es war ein zu hübscher Moment, und als dann die ganze Gesellschaft auf Onkel Pfarrers Wink mit einem Lebehoch auf das Geburtstagskind ihren Vortrag schloß, stürzte dieses, zwischen Lachen und Weinen schwankend, auf die Pfarrersfamilie los und küßte die kleinen Mäulchen so herzlich und stürmisch ab, daß David, der wieder mal einen Zahn bekam und daher gegen Zärtlichkeiten, die auf seine Wangen zielten, sehr empfindlich war, laut losbrüllte, seinen Kornblumenkranz verzweifelt vom Kopf riß und ihn in ungestümer Abwehr Gretel auf die rotblonden Locken drückte.
Da stand sie nun so bildhübsch, den blauen Schmuck im goldenen Haar, die Hände mit Rosen gefüllt und Gesicht und Augen leuchtend in Jugendlust und Freude!
Die Tante Pfarrer schloß sie innig in die Arme.
»Daß Gott dich so erhalte, du sonniges, blühendes Sommerkind! Daß nie ein Rauhreif und ein Gewitter deine lachende Blüte störe!«
Und der Onkel Pfarrer strich ihr liebevoll über das glühende Gesicht: »Nur immer den Kopf klar und das Herz warm möge dir der Herr erhalten, dann gehst du auch unversehrt durch des Lebens rauhe Tage, die keinem von uns erspart bleiben!«
Gretel küßte ihm die Hand, sie sagte gar nichts, aber ich glaube, sie war sehr gerührt und bewegt, und Guste und ich waren das auch. Wirklich, schöner konnte man gar nicht einen Geburtstag feiern!
Nun kamen die Dorfkinder an die Reihe, alle so blitzdumm und befangen, ihre Blumen wie Waffen abwehrend von sich gestreckt und auf den blankgescheuerten Gesichtern eine verzweifelte Miene. Aber Gretel verstand ihnen die Befangenheit zu nehmen. Nun war sie wieder ganz das tolle, lustige Ding, das mit ihnen lachte und in ihrer Redeweise mit ihnen verkehrte. Und als nun gar Dore und Mine die Körbe auspackten, da war Jubel und Seligkeit bald allgemein.
Wir feierten einen richtigen Spielvormittag, ganz ohne moralischen und erziehlichen Zweck, aber riesig vergnügt, Gretel immer obenan und so voll Verständnis für ihre kleine Gesellschaft und das was diese amüsierte, daß nicht ein einziger Mißton störend dazwischenklang.
»Bei manchen Dingen in der Welt ist das Ende das Beste,« lachte Gretel seelenvergnügt hinterher, als die letzten der Dorfkinder abzogen. »Tante Pfarrer, Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder! – Aber nur für die Kindergärtnerei. Sei mir nicht böse, aber die Geschmäcker sind eben verschieden; die Lämmlein zu hüten ist nicht mein Metier, ich sage mit dem Alpenjäger: Mutter, laß mich gehen, schweifen auf den wilden Höhen! Nun habt tausend Dank für die schöne Geburtstagsfeier, ihr seid und bleibt Engel, alle, sogar David, wenn er mir auch einen sehr irdischen Puff gegeben hat! Und künftig besuche ich euch wieder nur als Schulkind, oder als hoher Gast!«
Bei Tisch war es auch furchtbar lustig. Gretel nahm den alten, immer etwas brummig aussehenden Inspektor vor.
»Herr Matthies, heute nachmittag fahren wir ins Heu. Nun lassen Sie mal mit sich reden, – wieviel Heuhaufen dürfen wir zerwühlen und ruinieren?«
Herr Matthies fuhr zusammen.
»Zerwühlen und ruinieren? Aber, Fräulein Gretel, Sie wissen doch, dazu ist das Heu nicht da.«
»Und meinen Sie, daß wir ins Heu fahren, um auf der abgemähten Wiese fein artig spazieren zu gehn, Grillen zu fangen, den Fröschen einen Knicks zu machen und die Heuhaufen wie Heiligtümer zu respektieren? Väterchen, unterstütze uns mal! Wir wollen freie Hand für allen Spaß haben!«
Herr von Rungleben schmunzelte. »Das ist nicht meine Sache, das müßt ihr mit dem Herrscher aller Heuhaufen, mit Herrn Matthies, allein abmachen. Ich lasse euch nur hinexpedieren.«
Aber dabei blinzelte er so vielsagend zu Herrn Matthies herüber, daß wir alle wußten, er stand auf unsrer Seite, und dadurch ermutigt stürmten wir gemeinschaftlich mit Gretel auf den Heuhaufenbeherrscher ein.
»Für jeden einen, Herr Matthies,« quälte Gretel. »Das ist, was man eine bescheidene Forderung nennt! Nein, nein, bewegen Sie nicht so abweisend den Kopf. Für jeden einen, – das gestattet ein edler Charakter.«
»Wieviel sind Sie denn?« fragte Herr Matthies halb bezwungen.
»Wir vier junge Damen und Bums, macht fünf –«
»Ach, so ein kleiner Junge braucht nicht einen ganzen Heuhaufen für sein Vergnügen,« wehrte Herr Matthies ab.
»Aber gerade! Denken Sie nur, kleine Herren sind immer anspruchsvoller,« fiel Gretel altklug ein. »Und außerdem, Herr Matthies, sehen Sie mal, ich bin heute Geburtstagskind, für mich müssen Sie etwas extra thun, mir müssen Sie mindestens zwei Heuhaufen spendieren!«
Herr Matthies entsetzte sich, aber er meinte es nicht so schlimm, wie er that. Schließlich drucksten wir ihm doch sechs Heuhaufen ab, und nun war der Jubel groß. Wir konnten gar nicht die Zeit abwarten, bis der Break für uns angespannt war und wir zu unsren Heuhaufen kamen.
Erst wurde natürlich noch Kaffee getrunken und dann der Eßkorb für uns gepackt. Das war ein Hauptspaß, draußen im Heu eine Art Picknick ganz unter uns! Jede von uns erbettelte noch etwas extra von Mamsell, und dann schleppten wir Seidenpapier und Schälchen und Näpfchen und Fläschchen zusammen und stopften und drückten, bis der große Eßkorb kein freies Eckchen mehr zeigte und Frau von Rungleben kopfschüttelnd meinte: »Damit könnt ihr einem Regiment die Magen verderben, Kinder. Seid doch vernünftig, – wo wollt ihr das alles hinessen, nachdem ihr erst vor kurzem bei Tisch eine tüchtige Klinge geschlagen habt und beim Kaffee auch nicht zurückhaltend gewesen seid?«
Aber wir erklärten einstimmig, daß sie unsre Kräfte noch gar nicht richtig kenne, wir würden mit allem fertig.
»Meinetwegen,« seufzte sie, »aber seid wenigstens mit Bums vorsichtig. Mademoiselle, ich binde Ihnen den Jungen auf die Seele, der schlingt bis er platzt, wenn man nicht hinter ihm her ist, und einen geplatzten Jungen möchte ich doch nicht gern haben.«
Lachend gelobten wir alle, daß Bums ungeplatzt zurückkehren solle, und dann ging die Fahrt los. Wir vier, Guste, Mademoiselle, ich und Bums innen im Break, Gretel kutschierend auf dem Bock. Wilhelm wurde nur mitgenommen, damit er den Break wieder nach Hause fahren konnte, und erst zum Abendbrot sollte er uns wieder damit abholen.
Die Wiese im Walde war wirklich das Schönste, was man sich denken konnte. An drei Seiten von den herrlichsten Buchen und Tannen umrahmt und die vierte sich öffnend zum weiten Blick in die blaue Ferne, auf andre, endlos sich dehnende Wiesen, auf welchen die Mäher und Mäherinnen in ihren weißen Hemden und grellbunten Röcken und Westen noch mit dem Wenden des Heus beschäftigt waren, während bei uns schon die hohen Haufen in Reih' und Glied, in tadelloser Ordnung und Zierlichkeit dastanden, bereit zum Einfahren.
Unser Eßkorb wurde von Wilhelm in einen besonders lauschigen, schattigen Waldwinkel an dem Rand der Wiese getragen. Dann rumpelte er mit dem Break über den unebenen Boden heimwärts, und wir schritten mit prüfendem Blick unser Gebiet ab.
Von den andern Wiesen herüber klang das Lachen und Rufen der Arbeiter, ab und zu Gesang wie von fernen Stimmen und dazwischen das gemütliche, echt sommerliche Zirpen der Heimchen, die grün und braun, im lustigen Durcheinander uns über die Füße und gegen die Kleider sprangen.
Bums war in wildem Jagdeifer hinter ihnen her. Mit seinen dicken, ungeschickten Beinchen stampfte er über das ganz kurz gemähte Gras, stolperte bei allen Unebenheiten des Bodens und lag bei jedem dritten Schritt auf der Nase, ohne auch nur einen der kleinen, flinken Heuhüpfer erhaschen zu können.
Wir ließen ihn seine eigenen Wege gehn und suchten erst einmal die sechs preisgegebenen Heuhaufen aus, natürlich die stattlichsten und besten wählend.
»Kinder,« sagte Gretel, »ich schlage vor, zwei davon schleppen wir zusammen zum gemeinschaftlichen Lagerplatz. Einer ist zu wenig, jeder muß sich einen bequemen Fauteuil zurechtkrabbeln können. Dann schleppen wir den Eßkorb dahin und halten mal erst Picknick. Wer schon wieder essen kann, melde sich, indem er einen Luftsprung macht.«
Sie ging mit gutem Beispiel voran, sprang wie ein Gummiball in die Höhe und keine von uns zögerte, ihr zu folgen. Selbst Bums nicht, wenn auch unfreiwillig, indem er wieder über einen Maulwurfshügel stolperte und als Zustimmung zu Gretels Vorschlag wenigstens seine Beine in die Luft streckte.
Nun ging es los. Zwei nebeneinander liegende, mächtige Heuhaufen wurden zusammengeschleppt und zu Rückenkissen und Sitzpolster eingerichtet. Wir wühlten und klopften und drückten und arrangierten so lange, bis ein elegantes Halbrund entstanden war, in dem jede von uns einen molligen Winkel ihr eigen nannte und wir doch alle in Gemütlichkeit nebeneinander lagerten und uns unterhalten konnten.
Dann ging es an das Auspacken des Korbs, wobei ein großer, roter Fächer, den Mademoiselle zum Kühlungfächeln eingeschmuggelt hatte, ebenso wie die mit Roßschweifen geschmückte Pferdeleine unsres Kleinsten als platzraubende Überfracht mit herbem Tadel den beiden Sündern vor die Füße geworfen wurden. Trotzdem mußten wir zugeben, daß die Eßvorräte reichlich bemessen waren und jede etwas für ihren Schnabel fand.
Wir schmausten wie die Sybariten, ganz in das duftige Heu geschmiegt, von Sommerluft umfächelt und von höchstem Behagen geschwellt, dessen beschauliche Stille nur manchmal unterbrochen wurde von dem mahnenden Ruf Gretels: »Daß nur der Bums nicht platzt!«
Dann, als wir nicht mehr essen konnten, schoben wir den fast geleerten Korb beiseite und streckten uns lang aus.
»Fünf Exemplare der Boa constrictor im gefüllten Zustande,« bemerkte Guste sehr passend. »Das verlangt ein Stündchen ungestörte Ruhe!«
Aber so wunderschön diese ungestörte Ruhe auch im weichen Heupfühl war, – Gretel hielt sie nicht lange aus.
»Kinder, wir werden zu fett, wenn wir so faulenzen. Nach einem solchen Picknick ist eigentlich das Richtigste eine sehr flotte Bewegung. Ich werde mich jetzt an den Sprung über einen der unberührten Heuhaufen machen. Wer kommt mit?«
Wir brummten aus dem Heu heraus etwas, das durchaus nicht nach Sprungeifer klang und rührten uns nicht. Als Gretel aber ihr schwarzes Röckchen über den weißen Unterkleidern raffte und dann mit einem anfeuernden: »Hoppla!« zwar nicht über, aber doch mitten hinein in den Heuhaufen sauste, da packte uns doch der Ehrgeiz.
Das mußte besser zu machen sein! Mit dem richtigen Anlauf mußte man hinüberkommen, zweifellos! Gretel war nur ungeschickt, – wir wollten es schon besser machen!
Im Nu waren wir auf den Beinen und fortan konnten sich die Heuhüpfer vor uns verstecken, wir flogen noch viel wilder und vor allen Dingen viel lauter und gewaltiger in der Luft herum.
Gretel jauchzte. Ha, ha, – sie hatte den Triumph, daß keine von uns es besser zu stände brachte wie sie. Mit den kühnsten Anläufen, mit dem leichtesten Schwunge plumpste jede, genau wie unsre Vorgängerin, mitten hinein in den Heuhaufen und riß einen Teil des lockeren Widerstandes mit sich in die Tiefe.
Der Eifer wuchs. Jede schichtete ihren Heuhaufen von neuem, der eine hervorragend spitz, der andre gemäßigt rund, – und immer wieder war es derselbe Effekt, wie die Mehlsäcke plumpsten wir hinein und um uns flogen die Heubündel!
Das war ein Lachen und Jauchzen und Schreien! Bums trampelte von einem Haufen zum andren, half die vor Trockenheit knisternden Grasbüschel sammeln und von neuem schichten und begleitete jeden Sprung mit einem Stampfen der dicken Beinchen.
Auf einmal blieb er großäugig vor Gretel stehn, die eben wieder einen Berg zersplittert hatte und nun langgestreckt auf den Trümmern desselben lag.
»Du bist ein Storch!« schrie er mit seiner kleinen Baßstimme. »Ein Storch mit rote, lange Beine!«
Wir standen alle herum und mußten hell auflachen. Wahrhaftig, er hatte recht. Da saß Gretel mit ihren rotbestrumpften, langen Beinen, darüber den weißen Unterrock mit dem schwarzen Saum des Kleiderrocks und oben die weiße Bluse, – das Kostüm stimmte aufs Haar.
»Gretel, du bist ein Storch!« jubelten wir ihm nach. »Sieh doch bloß an!«
Sie blickte an sich herunter, ganz ernsthaft.
»Wahrhaftig, wie ein Storch! Na, das ist ganz passend für Wiesenvergnügungen! – Kinder, ich habe eine Idee! Mir ist eine Erleuchtung gekommen. Kinder,« – sie sprang auf und ihre Augen blitzten – »wir wollen ein feines Spiel spielen, jede übernimmt eine Vogelrolle. Delia, du bist so schneeweiß, – du kannst eine Schneegans spielen –«
Entrüstet trat ich zurück. »Fällt mir nicht ein, – eine Schneegans! Es giebt doch auch noch andre weiße Vögel!«
»Du, eine Schneegans ist etwas sehr Feines!«
»Meinetwegen, aber ich will keine sein! Ich bin eine Taube, eine weiße Taube.«
»Auch gut! Für ein sanftes Täubchen habe ich dich immer gehalten,« lachte Gretel. »Wart' nur, das arbeiten wir noch aus. Kinder, das wird fein! Ein Storch und eine Taube! Guste, was kannst du denn sein mit deinem gelben Pikeekleide?«
Guste schüttelte den Kopf. »Ich verstehe die Geschichte überhaupt noch nicht. Was sollen wir denn machen und was ist das für ein Spiel?«
»Natürlich ein selbsterfundenes, eins das wir uns erst zurechtstellen! Das ist doch gerade das Schönste daran. Wart' nur, das besprechen wir nachher, erst Rollenverteilung. Guste, was hältst du von einem Goldammerchen?« – »Meinetwegen, ich weiß nur nicht, was ich als Goldammer thun soll?«
»Das kommt alles nachher! – Mademoiselle, verstehn Sie, was ich meine?«
Mademoiselle nickte eifrig mit dem dunklen Köpfchen. »Ja, ja, ich verstehn! Ein Storch, eine Taube, – o, ich verstehn! Wir machen wie diese Tieren! Ein Goldammer, so ein kleines, gelbes Vogel auf das Feld, o, ich weiß!« – Sie sah an ihrem rosa Kattunkleidchen herunter. – »Eine rosa Vogel giebt es nicht, nein! – O, ich weiß,« jubelte sie dann auf, »ich weiß, – ich sein ein Kakadu mit ein rosa Schopf! Das mach' ich mir aus Papier, wo wir 'aben Kuchen gewickelt ein.« O, und ich sagen immer Kakadu, Kakadu!«
Dazu drehte und wendete sie den Kopf, faßte ihr rosa Röckchen, schwenkte es wie ein Paar Flügel und scharwenzelte und dienerte wie ein richtiger Kakadu.
Wir klatschten in die Hände und jauchzten ihr zu. Gretel packte sie beim Arm und küßte sie ungestüm.
»Prachtvoll, prachtvoll! Die hat es heraus! Augenblicklich weiß sie, was ich will! – Natürlich müssen wir uns nun alle ein bißchen zurechtstutzen. So, ich stecke mir den schwarzen Kleiderrock so auf, daß er wie ein Paar zusammengelegte Flügel aussieht, und um den Kopf binde ich ein Taschentuch, der muß weiß sein. Bloß der Schnabel, der eigentlich am Storch die Hauptsache ist, der fehlt. Wo kriege ich einen langen Schnabel her?«
»O, ich weiß, ich weiß!« rief Mademoiselle, die sich vornahm an diesem Tage ganz den Kindern zu gehören und an ihrem Spiel teilzunehmen, lief nach unsren Heusitzen und schwang dann triumphierend ihren roten Fächer in der Luft. »Eine rote Schnabel, ganz lang, klapp, klapp, wie eine Klapperstorch!«
»Famos, Mademoiselle, Sie sind ein Genie!« jubelte Gretel, und wie nun Mademoiselle über das rosa Einwickelpapier herstürzte, es mit dem Kuchenmesser in feine Streifen teilte, diese kräuselte und sich davon einen pompösen Kakaduschopf herstellte, erwachte auch in uns beiden ein wilder Ehrgeiz.
»Ich muß einen weißen Schopf haben!« erklärte ich, unter dem weißen Papier wühlend, und Guste jammerte verzweifelt: »Aber, was mache ich? Gelbe Schöpfe giebt es nirgends und ich will doch auch eine Kopfgarnitur haben!«
»O, ich weiß,« fiel Mademoiselle wieder ein. »Hier das Pferdeschwanz von Bums seine Leine! Wir nehmen ihm los und binden ihm mit ein Gürtel um Ihr Kopf. Eine kleine, gelbe Vogel ist sehr 'übsch mit eine schwarze Schopf!«
Das leuchtete Guste ein. Und nun kommandierte Gretel weiter. »Du, Delia, mußt immer ›ruckuckucku‹ sagen, – das ›r‹ rollen, ordentlich! So! Und dann nickst du mit dem Kopf und spreizt deinen weißen Rock wie ein Rad und trippelst hin und her, wie die Tauben, wenn sie sich lebhaft unterhalten. Ich werde auf einem Bein stehn und mit meinem roten Schnabel klappern, Mademoiselle versteht ihre Rolle, der brauche ich nichts zu sagen, und du, Guste, – ja, was wirst du machen?«
»Ja, was werde ich machen?« fragte Guste trübselig. »Goldammern haben gar keine Besonderheiten.«
»O, sie trillern sehr niedlich –«
»Ach was, ich kann doch nicht immer trillern!« wehrte Guste ärgerlich ab.
»Na, dann sagst du »schip, schip«, das paßt für jeden Vogel, und machst dazu Kiebitzengang, das ist auch nicht übel!« Kiebitzengang war Gustens Stärke. Sie nickte befriedigt mit dem schwarzen Roßschweif und sagte zustimmend: »Schip, schip«, worüber wir alle losjubelten.
»Bums kann einen Frosch vorstellen, sein braungrüner Kittel paßt dazu famos, und sein Mund ist breit genug, um mit Geschick ›quak, quak‹ zu sagen,« bestimmte Gretel, nahm Bums beim Kragen und trichterte ihm ein: »Junge, Bums, du hüpfst auf allen vieren und schreist dazu immer: Quaks, quaks, brekekekex!«
Bums quiekte vor Wonne. Das war ein Vergnügen nach seinem Geschmack, auf allen vieren Hüpfen und »quaks, quaks« sagen – das »brekekekex« kürzte er einfach in »kex« ab – und er war auf dem Gipfel der Seligkeit, als Mademoiselle ihm in aller Eile aus Wegebreitblättern einen Kranz für seinen runden, dicken Kopf zurechtmachte.
»Nun kann es losgehn, Kinder! Ich werde die Rollen verteilen,« sagte Gretel, als wir alle mit unsrer Toilette fertig waren. »Guste und Delia, ihr seid die Einheimischen, ihr wohnt hier in unsrem Heunest. So, ich komme Abschied nehmen, denn es ist nun Zeit, um nach Ägypten zu ziehen, und bringe euch den Herrn von Kakadu mit, der hier im Schloß einen großen, prachtvollen Käfig hat, aber doch manchmal Sehnsucht fühlt, mit Stammesgenossen zu verkehren. Ist das nicht hübsch? – Ihr seid zu Hause und wir kommen an. Bums, du kannst neben uns herhüpfen, aber nimm dich in acht, wenn mich der Appetit packt, spieße ich dich auf und verschlinge dich!«
Das störte Bums nicht. Er trug Heldenmut in der Froschbrust und hüpfte quakend neben den beiden her, die sich etwas von unsrem Heunest entfernten und dann im Charakter ihrer Rollen den Weg zu uns antraten.
Wir saßen im Nest und warteten. Da kamen die drei hinter einem Heuberg hervor. Gretel ganz kurz geschürzt, daß die roten Beine über die ganze Wiese leuchteten, mit langen, gravitätischen Schritten, den roten Fächer an den Mund gehalten und zwischendurch mit ihm klappernd. Neben ihr die kleine Mademoiselle mit dem wehenden, flatternden Schopf, ab und zu ihre Ärmchen wie Flügel hebend und senkend, mit beiden Füßen zugleich hüpfend, wie ein rechter Vogel, und ihr »Kakadu, Kakadu!« laut in die Luft krähend.
In unregelmäßigen Sprüngen hüpfte Bums neben dem wunderlichen Paar her, quakte was er konnte und schrie vor Wonne, wenn Gretel sich hinunterbeugte und mit dem roten Schnabel nach ihm pickte. Die ganze Gruppe sah so komisch aus, daß wir beide beinahe vor Lachen platzten.
Aber nun galt es Taube und Goldammer spielen, und als unsre Gäste nahe genug waren, um mit Anstand empfangen zu werden, hüpften wir vor das Haus, Guste mit feinstem Kiebitzengang, ich nickend und »ruckuckucku« rollend, und bewillkommten die Nahenden, die ihrerseits klapperten, quakten und »Kakadu« schrieen, daß einem ganz himmelangst werden konnte.
Zuerst brachten wir vor unterdrücktem Lachen kein Wort heraus, dann war Gretel die erste, die sich faßte.
Sie stellte sich auf ein Bein, worin sie auch sonst Virtuosität besaß, lüftete etwas die schwarzgesäumten Flügel und grüßte mit steifer Gravität.
»Meine teure Freundin,« sagte sie zu Guste, »die Zeit meiner südlichen Reise naht. Ich komme, mich bei Ihnen und Ihrer lieblichen Nichte, dem sanften, weißen Täubchen zu verabschieden.«
Guste kiebitzte hin und her, wackelte mit dem Roßhaarschopf und versuchte einen kleinen Triller, ehe sie höflich erwiderte: »O, verehrter Herr Nachbar, das thut mir furchtbar leid. Muß es denn schon wieder geschieden sein? Die Frösche sind doch hier noch so fett!«
»Ja, teure Freundin, selbst die fettesten Frösche können mich nicht mehr fesseln.« – Schnell pickte sie mit dem Schnabel nach Bums, der wie ein Wollsack um uns herumhüpfte. – »Meine Pflicht hier ist erfüllt, ich habe alle Häuser mit Kindchen versorgt, damit das Schloßfräulein und ihre beiden vorzüglichen Freundinnen in späteren Jahren wieder Material für ihre erziehlichen Bestrebungen haben.«
Ich schüttelte mich vor Lachen, und Herr Storch stellte sich von einem Bein auf das andre, sah mich mißbilligend an und sagte: »Ei, ei, Jungfer Taube, Ihr scheint mir ein Lachtäubchen geworden zu sein, das für ernste Dinge keinen Verstand hat. Das ist die Jugend, meine liebe Frau Goldammer, – Jugend hat keine Tugend! In unsrer Zeit war das freilich anders. Prischen gefällig?«
Und genau wie es Herr Matthies immer that, wenn er mit den Kornkäufern verhandelte, griff sie hinter ihre Rockschöße und holte ein Schächtelchen mit Pfefferminzchen hervor, das sie Guste präsentierte.
Guste kiebitzte und knickste. »Danke, danke, lieber Herr Nachbar. Aber, wen bringen Sie uns denn da, wenn ich fragen darf?«
»Kakadu, Kakadu,« krähte Mademoiselle, dienerte und bewegte die Flügel, und Herr Storch stellte vor: »Der junge Herr von Kakadu, Schloßbewohner und Ausländer. Er kommt von den Philippinen und ist ein sehr interessanter junger Mann, den ich Ihrem geneigten Wohlwollen empfehle.«
»Ach, sehr erfreut!« Guste gab mir einen Puff. »Kind, mache doch dein Kompliment, wie es sich für ein junges, guterzogenes Mädchen schickt.«
Ich war wie vom Lachteufel besessen. Mir kam die ganze Geschichte so urkomisch vor, daß ich ganz aus meiner Rolle fiel und immer nur kicherte. Aber nun nahm ich mich doch zusammen, spreizte mein Röckchen, hüpfte, dienerte und rollte mein »ruckuckucku« so ernst, wie es mir möglich war. »Das Kind ist noch so schüchtern,« entschuldigte Guste zu Herrn Kakadu hinüber, »es nimmt eben erst Tanzstunden.«
»Ah, Tanzstunden,« fiel Herr Storch ein und leuchtete mit dem ganzen Gesicht. »Famos, das ist etwas für uns. Herr von Kakadu ist am Hofe des Königs der Philippinen Vortänzer gewesen, der hüpft wie ein Federball. Wie wäre es mit einem kleinen Menuett zwischen uns vieren?«
»Das wäre entzückend!« jauchzte ich. »Kinder, das ist ein Gedanke!«
»O, o!« Herr Storch schüttelte verweisend das taschentuchumwobene Haupt, »Jungfer Täubchen, Sie sind etwas zu kordial. Ein Jüngferchen wie Sie hat sich fein sittsam zu benehmen und junge Herren vom Range des Herrn von Kakadu nicht mit vertraulichen Anreden zu traktieren!«
O, Gretel war köstlich! Sie spielte die Storchrolle wie ein geborener Storch. Aber ich wagte ihr das nicht zu sagen, ich war doch jetzt Jungfer Taube und mußte mich nach diesem Verweis doppelt sanft und täublich benehmen. So scharrte ich verlegen mit den Füßen, klappte meine Flügel zusammen und sagte sehr bescheiden: »Ruckuckucku, ich bitte um Entschuldigung.«
Und dann tanzten wir Menuett, das heißt, was wir Menuett nannten, einen selbsterfundenen Tanz mit Verschlingungen, schrecklich vielen Knicksen und wunderbaren Touren, in denen Gretel bald mit dem einem Bein, bald mit dem andren wild herumschlenkerte, Guste im Kiebitzengang das Großartigste leistete, Mademoiselle mit ihrem leichten Figürchen rosenumbauscht durch die Lüfte flog und ich im Hin- und Hertrippeln glänzte.
Dazu ließ jeder seine Stimme in der ihm vorgeschriebenen Eigenart ertönen, und der Spaß riß uns so hin und beschäftigte uns so vollkommen, daß wir nichts sahen und hörten, als nur uns allein.
Auf einmal lachte es hinter uns mit – wie es uns schien – hundert Stimmen auf.
Entsetzt fuhren wir mit den Köpfen nach der Richtung unsres Heunestes herum, von wo her das erschreckende Geräusch kam, und gelähmt blieben wir alle stehn. Hinter dem duftigen Wall, der uns als Rückenlehne gedient hatte, standen Runglebens, Pfarrers und noch drei unbekannte Personen, von denen eine Leutnantsuniform mir sogleich am angstvollsten in die Augen fiel.
Bums, in beneidenswerter Unbefangenheit, hüpfte jubelnd und quakend den unliebsamen Zuschauern entgegen, während wir uns verzweifelt umsahen, ob sich nirgends die Erde aufthun und uns mitleidig verschlingen wollte.
»Sagt mal, Kinder, was soll denn das bedeuten?« rief Herr von Rungleben nähertretend. »Spielt ihr Komödie? Gretel, du siehst ja wie ein Storch aus.«
»Ich bin auch einer,« gestand Gretel mit dumpfer Ergebung ein und tastete dazu angstvoll nach den verschiedenen Stecknadeln, mit denen sie ihr Kostüm zu einem so naturgetreu storchlichen zurechtgestutzt hatte.
»Mußtet ihr denn herkommen? Konntet ihr euch nicht wenigstens mit anständigem Geräusch ankündigen?«
Herr von Rungleben stand jetzt dicht vor uns und die übrige Gesellschaft folgte ihm lachend. Es war entsetzlich! Wir rupften und zupften alle an uns herum, hatten glühende Gesichter und schämten uns grenzenlos.
»Aber, Mädels,« sagte Herr von Rungleben, »wir sind ja mit zwei Wagen angerumpelt gekommen, mit unsrem und eurem, haben so viel anständiges Geräusch gemacht wie möglich, aber ihr wart wie blind und taub und hüpftet nur immer in eurem wunderlichen Aufzuge wie von der Tarantel gestochen im Grase herum.«
»Wir tanzten Menuett,« berichtete Gretel würdevoll. Sie hatte sich jetzt in Ordnung gebracht und sah den kommenden Dingen mit stolzer Ruhe entgegen. Etwas von der Storchgravität war noch übrig geblieben, wenn sie auch nicht mehr auf einem Beine stand und klapperte. Aber die edle Gemessenheit lag über ihr und mit dieser trat sie nun den Nahenden entgegen.
Guste, die mit ihrem Pferdeschweif am schlechtesten in Ordnung kam, während Mademoiselle sich im Nu aus einem Kakadu wieder zu einem zierlichen, jungen Mädchen entpuppte, drängte sich an mich und flüsterte mir verzweifelt zu: »Wenn es bloß Runglebens und Pfarrers wären, machte ich mir nichts daraus, auch Gretel nichts, aber daß gerade dieser Fritz Knobelsdorf dabei sein muß, dieser grüne Junge, den sie jetzt in Uniform gesteckt haben und der sich mit seinen paar Jahren mehr jetzt so schrecklich viel dünkt, – das ist hart! Der wird sich mokieren! Ganz früher war er mal sehr nett, da hat er immer mit uns gespielt und getollt, aber seitdem er beim Militär ist, fühlt er sich wie ein Pascha von drei Roßschweifen und neckt uns immer greulich!«
Ja, ich mußte auch gestehn, das war mir das Peinlichste, überhaupt die fremden Leute! – Aber sie waren dann sehr nett, eigentlich liebenswürdig und sogar entschuldigend, so daß wir schneller über die Verlegenheit fortkamen, wie wir im Anfang gedacht hatten, und es dann noch ganz reizend wurde.
Freilich, der Leutnant neckte furchtbar an uns herum, besonders an Gretel, die er nach dem Hauffschen Märchen nur noch Kalif Storch nannte, aber Gretel hatte nicht umsonst als Kalif Storch einen langen spitzen Schnabel besessen; sie benutzte ihn ordentlich und wehrte sich ihrer Haut, so gut sie konnte.
Vollkommen versöhnten wir uns freilich erst mit unsrem Vogelabenteuer und mit dem Leutnant, als dieser nach dem Abendbrot, an unser Menuett anknüpfend, vorschlug, ob wir den Tanz nicht in etwas andrer Gestalt und Form fortsetzen wollten?
Das nahmen wir mit Jubel auf. Tante Pfarrer setzte sich an das Klavier und spielte Tänze, und wir tanzten. Unter uns, mit dem Leutnant, mit Onkel Rungleben und dem Knobelsdorfschen Ehepaar, zuletzt sogar jede einmal mit unsrem geliebten Onkel Pfarrer, der da sagte: »Man soll fröhlich sein mit den Fröhlichen,« und versicherte, daß er seit seinen Studentenjahren zum ersten Male wieder die Beine zum Tanze rühre. Es war einfach himmlisch, und als Gretel beim Abschiede mit glühendem Gesicht und leuchtenden Augen erklärte: »Das war der schönste Geburtstag, den ich bis jetzt erlebt habe! Aber ich sagte es ja gleich, daß er das sein würde!« da stimmten wir aus vollem Herzen bei, trotzdem wir doch alle an diesem köstlichen Tage einen Moment erlebt hatten, wo wir nichts sehnlicher wünschten, als daß die Erde sich öffne und uns allesamt verschlingen möchte! –
Am folgenden Morgen beim Kaffeetisch gab Tante Regine, die wir gestern abend schon schlafend gefunden hatten, mir einen Brief meiner Mutter.
»Deine Mutter hat ihn eingelegt in einen Brief an mich, Delia, der mich ganz traurig gemacht hat. Das heißt, erschrick nicht, Kind, es stehn nur gute Nachrichten darin, die allerbesten. Deine Eltern sind wieder daheim und beide frisch und gesund wie seit Jahren nicht, aber nun wollen sie auch so schnell wie möglich ihr Herzblatt wieder bei sich haben, und das wird bei uns und im Schloß großen Kummer geben.«
»O Gott, Muschchen, bald? Das ist doch hoffentlich erst zu Ende Herbst? Noch ist es ja so schön, und Delia muß doch noch die Äpfelernte mitmachen!« rief Guste mit ganz verstörtem Gesicht, und auch mir war es wie ein Schwert durchs Herz gefahren bei dem Worte »bald«.
»Nein, Mausi, mach' dich nur auf einen schnellen Abschied gefaßt,« antwortete Tante. »Delia muß ihren Koffer packen, sie soll übermorgen zu ihres Vaters Geburtstag daheim sein.«
»Aber das ist ja nicht möglich, so schnell können wir uns nicht trennen!« schrie Guste auf und warf sich mir um den Hals.
Ich schluckte auch an meinen Thränen. Das war schrecklich, so schnell und unvorbereitet! Davon hatte Mama im letzten Brief noch nichts erwähnt. Freilich, Papas Geburtstag! Ach, ich freute mich ja eigentlich unsagbar darauf, meine Eltern wiederzusehen, und daß ich schon Papas Geburtstag mitfeiern konnte, war ein unerwartetes Glück! Aber daneben ging der Trennungsschmerz von allen hiesigen Lieben, und der lag mir im Augenblick näher wie die Freude über das Wiedersehen meiner Eltern. Ich schluchzte ebenso auf wie Guste.
»Kinder, seid keine Narren!« sagte Tante Regine und strich liebevoll über unsre Köpfe. »Das wußtet ihr doch beide, daß es wieder einmal geschieden sein muß. Deine Mutter, Delia, hat ganz recht, daß sie damit so plötzlich kommt. Unannehmlichkeiten macht man am besten so schnell wie möglich ab. Dann überwinden sie sich am leichtesten. Geh, Kind, und lies deinen Brief. Du bleibst hier, Guste, damit du sie nicht störst! Geh nur, Delia, dann wird die Freude über das Wiedersehen mit den Eltern schon allen Kummer überwinden.« Ja, natürlich, sie war ja auch in meinem Herzen. Ich war doch kein Kind, das seine Eltern nicht lieb hatte! – Aber, – aber, – ach, mein schönes Märchenkönigreich! –
Mamas Brief war einzig, so liebevoll, so gütig und voll Freude über das Wiedersehen mit mir, daß wirklich davor alles andre versank. Sie schrieb: »Mein Liebling, nun sind wir daheim, mit Gottes Hilfe beide so gesund und frisch, wie wir es nie zu hoffen wagten. Papa wieder ganz im Besitz seiner alten Kraft und Lebensfreudigkeit, und ich unbeschreiblich dankbar und froh darüber. Nun fehlt uns zum vollen Glück nur noch unser Kind, und mit dem will ich Papa zu seinem Geburtstage überraschen. Ich dachte selbst nicht, daß wir dazu schon zu Hause wären, aber wie nun alles so gut ging, erfaßte uns doch die Sehnsucht nach Hause zurückzukehren so sehr, daß wir wiederum unsre Koffer packten und heimwärts zogen.
»Dir wird der Abschied von den dortigen Lieben wohl etwas zu schnell und überraschend kommen, aber, ich denke, gerade bei dieser besonderen Gelegenheit macht er sich am leichtesten. Abschied, der überstürzt ist, verliert durch die Überstürzung seine drückendste Schwere. Versüßt ihn euch mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen im künftigen Sommer, denn deine und Tantes Berichte über dein Wohlergehn und Glücklichfühlen sind so befriedigend gewesen, daß ich für dich nichts Besseres wünschen kann, als Körper und Seele auch künftighin dort zu stärken und zu erfrischen.«
Und dann schrieb Mama noch unsagbar viel Liebes und Holdes, das über mein Trennungsweh rosige Schleier wob und mich für den Augenblick alles andre vergessen ließ über dem Glück, meine lieben, lieben Eltern wiederzusehen.
Freilich änderte sich das im Laufe des Tags wieder sehr. Wo ich hinkam, gab es einen Sturm des Widerspruches und Kummers, im Schloß und in der Pfarre, alle hätten sie mich noch gern behalten, und alle sahen sie mich mit Trauer scheiden. Mein liebes Siebengestirn schluchzte in sieben verschiedenen Tonarten, David und Benjamin blind und bewußtlos mit, nur vom Beispiel angefeuert, so daß Gretel, die ihren Schmerz hinter einem wilden, höhnischen Grimm verbarg, sich zu der Äußerung aufschwang: »Das ganze alte Testament vereinigt sich zu den Klageliedern Jeremias!« Und selbst Bums, der mich im Anfang doch nur verächtlich als kleines Mädchen betrachtete, gab jetzt seinen erwärmten Gefühlen mit einer für ihn oft angewandten Redensart seines Vaters Ausdruck: »Du bist ein Mordskerl, ich hab' dir lieb, bleib du man bei uns!«
Trotz dieser erhebenden Anerkennung fiel der Abschied im letzten Augenblick doch sehr herabstimmend für mich aus, indem Bums vollkommen in Anspruch genommen davon, daß der Schlächter ein gekauftes Kalb vom Hofe trieb, in heiße Thränen ausbrechend sich aus meinen Armen wand und schmerzvoll ausrief: »Nu geht unser schönstes Kalb fort! Was thut mich das leid um unser schönes Kalb, das wir so fett und groß gefuttert haben!«
Darüber gab es ein allgemeines schallendes Gelächter, unter dessen Nachwirkung ich über den Abschied vom Schloß mit einem weniger großen Thränenstrom fortkam, wie beim Abschied von der Pfarre.
Gretel schob mich heftig von sich, als ich mit zuckendem Munde ihr Lebewohl sagen wollte. »Dummes Ding, ich komme noch morgen früh herüber, das kannst du dir doch denken!«
»Aber, Gretel, wir fahren schon um halb fünf vom Hofe –«
»Na ja, denkst du, ich bin solch eine Nachteule wie du, daß ich schlafe, bis mir die Sonne in den Magen scheint? Geh jetzt nur, ich komme auf jeden Fall!«
Aber dann stand am folgenden Morgen schon der Wagen vor der Thüre, ich hatte unter Strömen von Thränen von allen Einwohnern des Hauses, alle Hunde und Katzen miteingeschlossen, den herzzerreißendsten Abschied genommen und noch war von Gretel nichts zu sehen.
Onkel, Tante und Guste, die mich alle drei zur Bahn bringen wollten, erklärten, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei, und daß sie meine Grüße an Gretel noch bestellen wollten, aber nun müßte ich in den Wagen, da helfe alles nichts.
Ach, wie mir das Herz schwer war, ohne einen richtigen Abschied von meinem Gretel, das mir schließlich doch die Liebste von allen gewesen war!
Aber was sollte ich thun? – Ich ließ alle einsteigen, unter dem Vorwände, nur noch einmal Mentor die Pfote zu drücken und Phylax den Kopf zu streicheln, und dabei schielte ich immer nach dem Walde, – kam sie nicht doch noch? Und eben, wie ich den Fuß hob, um in den Wagen zu steigen, flog etwas Helles vom Waldessaum her, wie ein Blitz so schnell. Da hatte sie mich in den Armen und küßte mich wie eine Rasende.
»Kinder, macht ein Ende, flink, es ist die höchste Zeit!« rief der Onkel vom Bock.
Da packte sie mich wie eine Feder, hob mich in den Wagen und während ihr die Thränen dick und schnell über das rosige Gesicht stürzten, sagte sie mit grimmigem Ausdruck: »Und wenn du im künftigen Jahr nicht wiederkommst, dann – dann bekommst du Schläge!«
Dazu ein vielsagendes Drohen mit der Faust, und wie die Pferde anzogen, sprang mein wildes, geliebtes Gretel, ebenso schnell, wie es gekommen war, zurück in den Wald. Ich sah ihr nach mit thränenverdunkeltem Blick, sah hinüber zum taufrischen Wald und blauschimmernden See, zum rebenumrankten Pächterhäuschen, von dem mir weiße Tücher nachwinkten und Hundegebell grüßend herüberklang, zur kleinen Waldlücke, aus der hervor zum letzten Mal der liebe, schiefergraue Kirchturm aufstieg, – ade, aller Zauber meines Märchenkönigreichs, – ade!
Und dann richtete ich mich tapfer in die Höhe und trocknete meine Thränen. Da versank nur der äußere Glanz meines Königreichs, die Schätze, die ich in ihm sammelte, trug ich im Herzen mit mir fort, köstlich und unverlierbar: wahre Freundschaft fürs Leben, Gesundheit für Leib und Seele, ein dankbares Herz und eine sonnige Hoffnung auf Wiederkehr! – O, Heil dem garstigen Froschungeheuer, das sich zum glückspendenden Königssohn wandelte!