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Grips I

Spänesammler Krikoreit war bei der letzten Rationalisierung geflogen.

Tatje, seine Alte, rennt zum Herrn, dem Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher ins Kontor, vor Aufregung schwitzend, die Schürze vor den nassen Augen.

»Herr Fuhrkutscher!« – schreit sie – »Herr Fuhrkutscher! Mein Alter, der Krikoreit, hat euch vierundvierzig Jahre lang die Späne aufgelesen – und jetzt soll er auf einmal zu alt dazu sein –?! Der – und zu alt! Der nagelt mich mit seinen Dreiundsechzig jede Nacht so fest auf die Matratze, daß mir die Lenden krachen, der Krikoreit!« –

 

Herr Fuhrkutscher schaut überhaupt nicht auf von seinen Büchern. Schnauzt sie von unten her an:

»Halts Maul, altes Waschweib!

Erstens heiß ich nicht Fuhrkutscher, sondern Herr Stadtrat! Zweitens hast du anzuklopfen, ob du überhaupt reingelassen wirst! Drittens geht mich das n' Holzspan an, wie oft dich dein Alter festnagelt! Viertens hab ich für das Spänesammeln jetzt eine Maschine; und den Krikoreit wollt ich schon lange rauspfeffern, weil er tattert und dazu säuft wie ein Spundloch! Und fünftens: wenn du hier nochmals rumschreist, daß ich mich übers Kreuz viermal verrechne, kannst du daneben stehen, wenn übermorgen die alte Simoneit statt deiner unsern Waschkessel umrührt!«

Und dabei wird der Herr Stadtrat rot wie eine gereizte Pute; haut bei jedem Satz eine Seite von dem Folianten herum, daß das Papier fingerbreit aufschlatzt.

 

Bei der Krikoreit faucht der Dampf durch die Nasenlöcher. Sie klatscht mit ihrer drallen Faust auf den Tisch, daß die Tintengläser springen:

»Wenn ihr den Krikoreit nicht wieder einstellen wollt, nachdem er euch vierundvierzig Jahre lang aus Abfallspänen Goldstücke gemacht hat, dann seid ihr für mich nicht der Herr Stadtrat, sondern ein ganz ordinärer Fuhrkutscher! Jawohl – Fuhrkutscher! Und daß mein Alter säuft; da hat er an seinem gnädigen Herrn ein großmächtiges Beispiel gehabt! Dem funkelt der Rotspon von den Nasenhuckeln! Und meinetwegen mag euch das Luder, die Simoneit, den Dreck aus den Hemden waschen; dann stinken mir die Hände nicht bis zur nächsten Wäsche danach!«

Schreit's, faucht noch ein paar Dampfwolken, fuchtelt mit den roten Fäusten vor Fuhrkutschers Funkelnase herum, rennt türkrachend davon.

*

Als sie nach Haus kommt, steht die Stube voller Menschen.

Ihr Alter liegt quer über'n Fußboden, aufgedunsen; röchelt nur noch. Hat sich aus Kummer über seine Entlassung zu Tode gesoffen.

 

Sie spuckt verächtlich aus, schiebt die an dem Kadaver herumhantierenden Nachbarn beiseite, schleift ihn zum Bett, drückt ihm die glasigen Augen zu; jagt die gaffende Meute aus der Stube. Wischt mit Schrubber und Lappen den vollgekotzten Boden sauber; sperrt die Fensterläden zu, zieht sich was Dunkles über, schließt das Häuschen ab. Segelt mit trotzig geblähtem Busen durch die neugierigen Straßen; denkt sich was Kräftiges über die Spalierleute. Meldet den Peter Krikoreit auf dem Standesamt als verstorben ab.

*

Der Herr Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher sitzt bei Tisch. – Versteht sich: reich gedeckt, ausgesucht gedeckt. Man kennt sich aus in der Kulinarei. – Aber heute hat er keine Freude dran. Mißmutig stochert er in dem prächtigen Hechtstück herum. Ihm sind eine Portion Läuse über die Leber gelaufen.

 

Erst kommt am Morgen der Buchhalter und meldet, daß alle fälligen Schuldner pünktlich bezahlt haben.

Zum Henker! Kein armer Teufel zu schikanieren. Kein Grundstück billig einzuheimsen. Nicht einmal ein aufgeputztes Weibsbild wegen ihrer Hoffahrt moralisch niederzuschmettern und dann mit Patronatsmiene und hohen Zinsen weihevoll wiederaufzurichten. Der Teufel hole die stabilen Verhältnisse! –

Dann liest man in dem Wurschtblatt, daß zur nächsten Ratswahl der Spitzenkandidat vom Bürgerblock noch nicht feststehe. Was gibts da festzustehen! Das Amt hat seit zehn Jahren Fuhrkutscher als reichster Mann in der Stadt inne. Natürlich steckt die Judenbande dahinter, die Katzensteins. Die Schweine überbieten einem ja neuerdings jeden Konkursankauf, jede Grundstücksspekulation! –

Und dann kommt diese dreckige alte Sau, die Krikoreit; klopft nicht, schreit ihn ganz einfach an: Fuhrkutscher!

Wer heißt hier Fuhrkutscher? Hier gibts keinen Fuhrkutscher! Nur einen Herrn Stadtrat; und wer sich erfrecht, Fuhrkutscher zu sagen, der ist in seinen Augen selbst so ein Fuhr – –, na also: was ganz Ordinäres! Der Herr Stadtrat spuckt seine ganze Verachtung darüber in den Grätentopf.

Und was ist'n das mit der Rotsponnase –? Kann die alte Henne nicht sehen –? Verwechselt sie ihren Alten, den Saufaus, mit mir?! – He –, schiel doch mal neben mir in den Taschenspiegel –: ist da noch was weißzuhaben von der Rotsponnase? Die Huckel, das ist das Alter. Man wird seine Fünfundsechzig in Ärger und Sorgen! – – Die Wanzenbrut! Gönnt einem nur das Mittagsglas nicht! Soll mich kreuzweis – –

 

Wütend gießt er zwei Gläser schüttevoll hinter den zornig zerkauten Hechtwirbel her.

 

Die Gräten spüren ihr Element, patschen vergnügt den Schlund hinunter. Der wehrt sich bellfernd. Die Gräten machen spöttisch krätsch; der Herr Stadtrat würgt wie ein ausgekrähter Suppenhahn an einem Erstickungsanfall, zu dessen körperlichem Ungemach sich noch der vermaledeite Gedanke gesellt, daß die Krikoreit etwa überall herumerzählen könnte, der Herr Stadtrat wechsle nur alle vierzehn Tage das Hemd! –

Man muß ihr das einfach verbieten! – äh – hö! – Man muß sie in Teufels Namen wieder bei sich waschen lassen! – äh – hö! Man kann schließlich den alten Knochen Krikoreit noch im Pferdestall verwenden! – äh – hö! – Taler die Woche! – äh – höhö! – Man will ihn gleich mal holen lassen! – äh – höhöhöhö – – – – –!

Gott sei Dank! das Grätenbiest ist hinunter.

Jetzt kann man wieder vernünftig denken.

Das mit dem Krikoreit wollen wir doch erst mal beschlafen. So ohne weiteres einen Mann füttern, nur weil er vierundvierzig Jahre –; schließlich ist man kein Altersheim! –

Verdammt! da steckt ja noch so 'ne ekelhafte Gräte im Hals – – äh – höhöhöhö! hö! hö! hö! – –

Was will denn der Lausejunge in meinem Zimmer?

 

Bengel! – äh – hö! –

Äh – hö! hö! – – Was ist los? – hö! bist du verrückt! – hö! – hö! Der Krikoreit hat sich – – äh – höhöhö! – weil ich ihn entlassen – äh – hö! hö! hö! – – Die alte Krikoreit läuft in der Stadt herum – hö! hö! erzählt von meiner dreckigen Wäsche – äh – hö! hö! – Das Schandmaul soll doch gleich daran erstick – – äh – hö! hö! hö! hö! hö! hö! …

Nach dem dreihundertsiebenundneunzigsten äh – hö! hatte der Schlund das Würgen satt und erstickte den Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher.

Und dabei hatte er gerade am Morgen die Wäsche gewechselt.

*

Die alte Krikoreit hat einen Gedanken.

Eine halbe Stunde lang schlurft sie im Zimmer herum, dann ist er fertig. Die Hände über der prallen Brust gekreuzt, steht sie vor ihrem toten Alten.

»Krikoreit« – sagt sie – »du hast dich um deine unsterbliche Seele gesoffen. Gut. Ich sollte dich mit dem Feuerhaken bearbeiten, wie immer, wenn du schlapp machtest; denn du warst ein rechter Krumpel. Gut. Trauern kann ich natürlich nicht großartig um dich, weil du sowieso zum alten Eisen geworfen warst, und morgen bei Katzensteins große Wäsche ist; da brauch ich mein Wasser. Gut. – Aber dem protzigen Knauser, der dich rausgeschmissen hat, dem Fuhrkutscher, müssen wir's geben. Gut! – –

Was sagst du, wenn ich deine hundert Taler Erspartes nicht für einen feisten Totenschmaus verplempere, bei dem sich andere die Kuddeln vollfressen, sondern dir armem, schlichten Spänesammler einen ebenso prächtigen Schnarchkasten beim Tischler bestelle wie dem reichen Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer –? Gut! he? –

Was gibts da zu maulen –?

Das schickt sich nicht, Herr und Knecht in einem Sarge –?! Du bleibst eben noch im Tode ein ängstlicher Krümelkäse! Sonst hättest du's wahrscheinlich auch weiter gebracht als bis zum Spänesammler. Schau dir mal deinen Schulkameraden an, den Fuhrkutscher; der wird jetzt im Silbersarg begraben! – –

Aber was heißt Silbersarg?

Als wenn er sich den allein leisten könnte! Den leistet sich mein Krikoreit zum Beispiel genau so verschnörkelt wie der! –

Also – hier wird nicht gemuckst, Alter! Du kriegst dieselbe Sterbegarnitur wie der Fuhrkutscher mit allen Ornamenten und Borden, und wenn die ganze Stadt vor Neid platzen sollte. Basta!« –

*

Die alte Krikoreit geht zum Sargler, zählt die blanken Taler auf den Ladentisch; segelt mit aufgeblähtem Busen zurück durch die glotzende Straße, hinter sich den Sarglerjungen mit dem prächtigen Sarg auf dem Karren.

»Aufs Haar genau wie der Herr Stadtrat Fuhrkutscher –« bemerkt sie herablassend auf die neugierigen Spalierfragen – und denkt sich wieder was Kräftiges, wenn sie in den starren Gesichtern liest: bei der alten Tatje ist's ausgebrochen!

Aber dann fühlt sie sich doch zu einer näheren Erklärung verpflichtet und meint so nebenbei:

»Sie waren doch Schulgenossen, der Krikoreit und der Fuhrkutscher, versteht sich –«,

worauf die ganze Straße wispert: der Tatje ist der Schmerz in die Gedanken gefahren.

 

Wie sie ins Haus tritt, ist da der Leichenarzt.

»Sie müssen ihren Alten sofort einsargen und ins Leichenhaus schaffen. Die Nachbarn beschweren sich über den Gestank. Der Sarg darf nicht wieder geöffnet werden. Machen sie den Abschied gleich hier ab.« –

Die Krikoreit schaut ihn verächtlich an: – Abschied –? Tränen vielleicht –? Nee; wir brauchen unser Wasser morgen bei Katzensteins. Aber den Sarg muß er noch bewundern, der Doktor.

»Genau wie beim Herrn Stadtrat Fuhrkutscher. –«

Wie der Doktor zur zweiten Leiche kommt, ist in der großen Stube die Elite der Stadt versammelt.

Es herrscht eine gedrückte Stimmung.

Ob nun wegen des Todesfalls im allgemein menschlichen Sinne, oder weil die halbe Stadt bei Fuhrkutscher verschuldet ist und nun vor dem Testament zittert, oder wegen der schlechten Luft, kann der Doktor im Augenblick nicht entscheiden.

Alle sind käseweiß. Ab und zu verschwindet ein Leidtragender, das Taschentuch in den Mund gestopft, in die Küche. Stets, wenn einer anhebt, einen salbungsvollen Satz über den unersetzlichen Verlust des im Nebenzimmer Aufgebahrten vom Stapel zu lassen, überkommt es ihn; seine Rede geht in würgende Gutturallaute über, das Taschentuch erscheint blitzschnell; eilig trollt er sich zur nächsten Tür hinaus.

 

Die dicke Brigitte draußen schwitzt Schmer. – In der Küche hängt gerade der Dreizehnte überm Ausguß.

Sollten die Eier für den Trauerkuchen faul gewesen sein –? In ihrem Schmerz hat sie heute morgen versäumt, wie sonst jedes einzelne genau zu beklopfen. Diese heimtückischen Marktweiber haben ihr bestimmt vorgestrige – –

Da tritt der Herr Doktor in die Küche, bleich wie eine Kalkwand, flüstert nach einem Glas Wasser; hängt – ehe sie den eben mit dem Ausguß korrespondierenden Herrn Stadtsteueroberinspektor veranlassen kann, die verkrampfte Hand vom Wasserhahn abzulassen – neben ihm als Vierzehnter darüber; kotzt, daß es die Brigitte im Innersten erbarmt. –

 

Wie er wieder bei sich ist, den Kopf mit kaltem Wasser überspült, – neben ihm spricht sich gerade der Neunzehnte über sein heutiges Mittagessen aus; in der großen Stube kämpfen nur noch sechs, die übrigen zieren als lebende Ornamente in den seltsamsten Sitz-, Knie- und Hockestellungen den luftigen Hausflur, lächeln sich wehleidig an –, geht dem Doktor ein Nordlicht auf –:

Der Herr Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher stinkt so bestialisch, daß sich jedem die Gedärme rumdrehen! –

Mit einem energischen Ruck richtet sich der Herr Doktor auf –: es ist seine Pflicht als Arzt, hier prophylaktisch vorzugehen. Rasch ordnet er das verrutschte Chemiset, streicht sich das zerschüttere Haar glatt; begibt sich mit hilfreichen Schritten in die Trauerstatuenversammlung, die sich inzwischen um die sechs Standhaften vermehrt und vervollständigt hat; räuspert sich, da keiner von seiner rettenden Nähe Notiz nimmt, mehreremals einleitend, beginnt folgendermaßen:

»Werte Trauergemeinde,

Wir alle stehen stumm und tieferschüttert an der Bahre unseres so früh und plötzlich verstorbenen Toten.

Besonders erschüttert uns am Tode des Verstorbenen der Umstand, daß er einem Umstände zum Opfer fiel, der keinesfalls unter so tragischen Umständen zum Tode des Verstorbenen führen mußte.«

 

Die Trauergemeinde glotzt ihn teilnahmslos an. Ihr sind die Umstände, die zum Tode des Verstorbenen führten, höchst gleichgültig vor den Umständen, in denen sie sich momentan befindet.

Aber der Doktor, dies nicht bemerkend, sondern durch seine fabelhaft balanzierte Satzperiode in Schwung versetzt, fährt mit erhobener Stimme fort:

»Sie alle verstehen: ich meine die totbringende Gräte. Nun, werte Trauergemeinde, ich bin in der Lage, sie von dem Schmerz darüber zu heilen; der gleichwohl einem nicht geringeren, aber den Umständen entsprechend heitererem Schmerze Platz zu machen, nicht mehr im Wege steht. Nicht jene verhängnisvolle Gräte wurde dem Toten zum Verhängnis, sondern – wie meine jüngeren Untersuchungen am exitus lethalis ergaben – die verhängnisvolle Gräte war gewissermaßen nur das ausführende Organ des Verhängnisses, das in der Gestalt einer tückischen Malaria noch von den Jugendreisen des Toten her am Leben des Verstorbenen zehrte. Sie hat letzten Endes diese wetterfeste deutsche Eiche gefällt; und in unseren berechtigten Schmerz über diese schmerzliche Fällung mischt sich ein Tropfen berechtigter Furcht vor eventueller Ansteckung mit ebenfalls tötlichem Ausgang.

Deshalb – im Interesse der Lebenden und gewiß auch des Verstorbenen, der, wenn er lebend geblieben wäre, mir bestimmt den Auftrag gegeben hätte, die Lebenden vor seinem späteren Leichnam und dessen Ansteckungsgefahr zu schützen, ihn – wie der Lateiner sagt: requiescare in pace, zu deutsch: seinen Sarg zu vernageln –, befolge ich diesen letzten Wunsch des Verstorbenen und bitte – bei Ansteckungsgefahr – die Ruhe des ewigen Schlafes nicht zu stören.«

*

Vor dem Leichenhaus stehen zwei Särge.

Der eine auf einfachem Karren, der andere viergespannt – von vier Leichendienern in Gehröcken begleitet; beide festversiegelt für alle Ewigkeit.

Der Leichenkammeroberschließer Grips ist weit und breit nicht zu sehen; die Schlüssel zu den Kammern ebenfalls nicht.

Die Leichendiener, die dicke Brigitte, die Tatje Krikoreit wissen keine Erklärung, weshalb er die Schlüssel mitgenommen hat; warum an ihrem wichtigsten Tage zum ersten Male der zuverlässigste Leichenkammerschließer im ganzen Kreise einfach nicht aufzufinden sei.

Man schaut in die Kapelle, ob er vielleicht beim letzten Begräbnis eingeschlafen sei; – umsonst. Man schickt in seine Wohnung; – niemand. Man sucht zwischen den Gräbern; – keine Spur. Schließlich bleibt nur die Vermutung, er habe sich – vergeßlich wie er seit einiger Zeit geworden ist – von innen in eine Kammer eingeschlossen und penne dort mit irgendeiner Leiche um die Wette.

Wehmütig gedenkt Brigitte bei dieser Vermutung ihres verstorbenen Herrn Stadtrat; der hätte dieser Schlamperei bald ein Ende gemacht, den Grips hinausgeworfen wie den tattrigen Krikoreit, der drei Stunden später vor Altersschwäche tot umfiel.

Auch Tatje erinnert sich in diesem Zusammenhang an ihren Krikoreit, murmelt vor sich hin: – »vergeßlich der Grips wie mein Alter. Der hätte auch seinen Tod verschlafen, der Krikoreit –.«

 

Aber Grips hat weder die beiden Leichen vergessen, noch ist er in einer Totenkammer eingeschlafen; sondern er hockt in einer nahen Stampe hinter einem mächtigen Bierkrug, den kahlen Kohlrabischädel nachdenklich eingezogen, die flinken Hühneräuglein trübe gerade auf den Vorplatz mit den beiden Särgen gerichtet, wo sie nach ihm suchen. Hört deutlich seinen Namen rufen; schert sich nicht daran, nuschelt – den Daumen mit seinem letzten Vorderzahn zerkauend – trostlos in sich hinein –:

»Tja – da rufen sie nun nach mir. Denken, den alten Grips hat beispielsweise der Schlag gerührt – oder der Postwagen überfahren – oder sonst was Lebensgefährliches, die Leute. Tja – Leute, da seid ihr sozusagen auf dem Holzwege. Der Grips ist soweit dienstfähig, sitzt zwanzig Sarglängen von euch und trinkt beispielsweise Bockbier; also –: warum schließt der Kerl euch nicht die Leichenkammern auf, damit ihr die zwei Knochenkästen los werdet, Leute –?

Tja – Leute, da ist sozusagen was Seelisches im Wege. –

Die beiden Krautköpfe dort, das sind sozusagen zwei Lebenskameraden vom alten Grips: der Herr Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher und der Spänesammler Krikoreit, Leute.

Mit dem Fuhrkutscher beispielsweise habe ich vor zweiundfünfzig Jahren an einem Nachmittage zwölf Pfund unreife Äpfel, daß wir hinterher wie die Rohrspatzen – – –; aber das gehört sozusagen nicht hierher, Leute.

Tja – Leute, so was bleibt gewissermaßen kleben; und wenn dann zweiundfünfzig Jahre später beispielsweise ein Sarg vor dem Leichenhaus steht mit vier galonierten Leichendienern 1. Klasse –; so – Herr Leichenkammeroberschließer Grips, nun schieben sie den mal in ihre Leichenaufbewahrungsanstalt; da hat unsereiner gewissermaßen die Schlüssel verlegt, Leute.

Tja – Leute, und wenn nun daneben beispielsweise noch ein Sarg steht – zwar nicht so prächtig und silberbeschlagen wie der erste, aber mit einem ebenso vertrauten Inhalte, mit dem man sozusagen sechsunddreißig Jahre Freitags abends Skat geklitscht hat, bis die alte Tatje uns mit dem Feuerhaken ins Nest jagte –; was bleibt unsereinem dann übrig, als beispielsweise in die nächste Stampe zu schaukeln, sich die Sache erst mal von weitem anzuschauen, ob man überhaupt nicht sein Amt als Leichenkammeroberschließer niederlegen soll, als beispielsweise seine besten Freunde sozusagen einfach als Leichen registrieren zu müssen, Leute!«

 

Grips nimmt einen tiefen Schluck, zieht wieder den Schädel ein; nuschelt nach einer Pause weiter:

»Was ist denn das nur wieder heute mit dir, Grips! Hast beispielsweise vor zwölf Jahren deine eigene Alte aufbewahrt, nach und nach sind sozusagen alle deine Lebensgefährten in Särgen durch deine Finger gegangen; und jetzt soll es auf einmal nicht mehr gehen –!

Wie denkst du dir denn das beispielsweise, Grips, so ohne die täglichen Berichte von den letzten Stunden deiner Leichen –? Was willst du den Leuten erzählen, wenn sie beispielsweise nach dreißig Jahren aus Amerika kommen und dich fragen: höre mal, Grips, woran starb eigentlich damals mein Vater 1883 –?; und du kannst ihnen nicht sofort antworten: an einer doppelseitigen Lungenschwindsucht beispielsweise, Herr Syndikus; aber durchaus vererbungsfrei, wie der Herr Sanitätsrat sozusagen noch in der Leichenkammer ihrer hochseligen Frau Mutter versicherte.

Tja – Leute, oder soll euch etwa von nun an dieser bockshirnige Unterschließer in Obhut nehmen, dem beispielsweise nicht mal beizubringen ist, daß er erster Klasse beispielsweise auf den Fußspitzen, zweiter vorsichtig, dritter wie ihm die Flossen gewachsen sind – aufzutreten hat, Leute.

Tja – Leute, das ist doch unmöglich! Der alte Grips muß hier Leichenkammeroberschließer bleiben, bis sie auch ihn wie den alten Krikoreit durch eine Maschine ersetzen. Dann bewahrt er sich sozusagen erst mal selber in einer Kammer auf, damit man gewissermaßen den Leuten auch erzählen kann, wie es sich beispielsweise in solch einer Leichenkammer liegt, Leute.

 

Nuschelt's, läßt seine Hühneräuglein flink über den Friedhof flitzen, ob die Särge noch immer dort stehen; faßt die Schlüssel fest, schaukelt auf seinen kreiskrummen Beinen, den Schädel amtlich vorgestreckt, schnurstracks auf die beiden Särge zu. – Die Blumenalte am Tor bemerkt ihn zuerst, fährt vom Stuhle auf, watschelt im Galopp voran, gackert wie besessen: »der Gripsch! der Gripsch!« –, worauf die suchend zwischen den Gräbern Verstreuten neugierig zusammenlaufen.

Grips bemerkt sofort, daß noch nichts Amtliches wegen seines Ausbleibens geschehen. Hält eine Erklärung vor den Dritterklasseleuten für unnötig; fragt sachlich, warum die Särge plombiert sind; erhält die Stinksterbediagnose, winkt schweigend den Trägern, schließt unbeweglich Kammer 4 und 5 auf.

Die Särge verschwinden.

 

Zwei Stunden später, nachdem er sich sowohl von Tatje wie von Brigitte die ausführlichen Sterbeumstände hat berichten lassen, nachdem sich die drei alten Leute in einen umfänglichen Tratsch über die Aufbewahrten, die Vergangenheit im allgemeinen und besonderen versponnen haben, schaukelt er voll wehmütiger Erinnerungen zur Registriertafel.

»Tja – Leute« – nuschelt er – »der Fuhrkutscher und der Krikoreit, die beiden Burschen; nun liegen sie beispielsweise bei mir aufbewahrt, Leute – –«

Und dabei fällt ihm ein, daß er die genauen Nummern vergessen hat.

»Da müssen wir sie sozusagen nochmals besuchen –« nuschelt er wehmütig und schaukelt zur Kammer.

Eine halbe Stunde schaukelt Grips nuschelnd aus einer Kammer in die andere. Untersucht nach Strich und Faden, ob nicht irgendein Silberbeschlag, irgendein Ornament mehr oder weniger auf die sozialen Unterschiede ihrer Inhalte deuten ließen. Nichts. Aufs Haar gleich in Größe und Ausführung.

Dann hält sich Grips eine halbe Stunde für übergeschnappt, schwitzt Blut bei dem Gedanken; zählt siebenundzwanzigmal die Leichenkammern vor- und rückwärts. Schaukelt zur Blumenalten am Tor; führt mit ihr sechsmal hintereinander das tägliche Gespräch über »die vielen Leute, die in diesem Jahre sterben; und daß in diesem Jahre die Blumen wieder besonders teuer sind.« Bemerkt an der Logik, mit der Satz auf Satz wie seit sechsunddreißig Jahren folgt, daß er völlig intakt ist. Schaukelt zurück, wo inzwischen die Särge um keinen Leistennagel verschiedener geworden sind.

Schließlich – nach einer halben Stunde weiteren angestrengten Nachdenkens und Nuschelns hat er das Problem gelöst –:

Die Träger haben den Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer beispielsweise zuerst hineingetragen; er, Grips, hat sozusagen von rechts nach links aufgeschlossen, sodaß in Nummer 4 gewissermaßen der Herr Stadtrat aufbewahrt liegt.

Bei einer nochmaligen Untersuchung der Särge findet er auch kostbarere Ornamente beispielsweise an Nummer 4; und schließlich will er auch an den verschiedenen Gerüchen in den Kammern sozusagen seine alten Freunde genau unterscheiden können.

 

Aber die Träger hatten den alten Krikoreit zuerst hineingeschafft, weil er auf seinem Karren beispielsweise bequemer für sie lag; und Menschen sozusagen und Leichendiener im besonderen immer zuerst das Bequemere tun. Und die Särge blieben einander bis auf den kleinsten Schnörkel gleich, weil sie nach einem Schema gemacht waren. Und auch am Geruch war gewissermaßen nichts zu unterscheiden, weil Alkoholleichen nicht nach Spänesammler und Stadtrat, sondern sozusagen bestialisch nach Verwesung stinken.

So kam es, daß Spänesammler Krikoreits Leiche als die des Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher registriert wurde.

*

Spänesammler Krikoreit hat einen Traum.

Bekanntlich haben Gestorbene, bevor sie in den ewigen Schlaf hinübergleiten, noch einen letzten Lebenstraum, in dem sich der heißeste Wunsch ihres verflossenen Daseins nachträglich erfüllt. Spänesammler Krikoreit hatte nur einen einzigen großen Wunsch bei Lebzeiten gehabt: einmal eine Minute lang der Herr Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher zu sein – oder, da ihm das natürlich versagt, durch irgendeinen Zufall (– kleine Leute glauben immer an große Zufälle; das ist ihre Philosophie! –) so prunkvoll wie dieser begraben zu werden. Jetzt – drei Atemzüge vor dem völligen Verlöschen alles Irdischen – kommt ihm dieser Wunsch nochmals klar ins Gedächtnis. Mit fast wollüstiger Eindringlichkeit stellt er sich vor –: sein alter Skatbruder Grips habe, um dem toten Freund eine letzte Freude zu machen, ihn, den Spänesammler Krikoreit, als den Herrn Stadtrat Fuhrkutscher registriert, und er werde nun als dieser begraben – – –.

Also – –: da wird zum Beispiel jetzt feierlich seine Leichenkammer aufgeschlossen; herein treten mit ernsten, schmerzgefaßten Gesichtern und Zylindern die auserlesensten Männer der Stadt; verneigen sich hochachtungsvoll vor seinem Sarg, verschlucken dabei schamvoll eine unmännlich hochgeschossene Träne. Ihre vier Spitzen: der Herr Oberbürgermeister Grundeis, der Herr Schul- und Heimatmuseumsdirektor Hirschgeweih, der Herr Oberst a. D. und Vorsitzende des Krieger-, Schützen- und sämtlicher übrigen nationalen Befreiungsvereine Zündnadel, der schwerreiche Kaufmann und nach seinem Tode Stadtratsanwärter Katzenstein – fassen ehrfurchtsvoll die vier Ecken seines Sarges, heben ihn auf ihre schmerzgebeugten Schultern, tragen ihn – unterstützt vom Herrn Steueroberinspektor Hühnerzahn, da Katzenstein nicht bis zur Schulterhöhe der anderen hinaufreicht, und dadurch der Sarg bei jedem Schritt hintenunter zu kippen droht, – durch eine lange Gasse grüßend gesenkter Zylinder und tränengebadeter Spitzentücher zur Kapelle, wo dumpfer Orgelklang ihn umrauscht.

Dem Toten wird mit jeder Minute wehmütiger ums Herz.

 

Jetzt verstummt die Orgel.

Der Herr Kreissuperintendent Walkmühle tritt mit gefalteten Händen vor den Sarg; überzeugt sich beim Gebet durch einen raschen, unauffälligen Rundblick über die riesige Gemeinde, daß es sich um ein Begräbnis allererster Klasse handelt; setzt die schwungvollste Walze ein, beginnt mit Hiob 14, Vers 20 –:

»Denn du stößest ihn gar um, veränderst sein Wesen und lässest ihn fahren –«

die Totenrede.

Mit zart gesalbten Worten entwirft er ein Lebensbild des Verstorbenen; seine unermüdliche Schaffenskraft und Pflichttreue, lieblich umsäumt von vorbildlicher Bescheidenheit und menschlicher Güte.

 

An dieser Stelle wird von einem Verspäteten die Tür geöffnet; es zieht plötzlich. Die ganze Trauergemeinde gerät in eine gelinde Husterei.

In ihr versinkt leider ungehört die eben gepriesene hohe Bildung und Wohltätigkeit des Verblichenen; erst seinen Verdiensten um die Stadt vermag ein strenger, amtlicher Blick des Herrn Oberbürgermeisters wieder einigermaßen Achtung zu verschaffen. Sein jetzt folgender goldener Humor scheint nur Brigitte bekannt gewesen zu sein; denn sie zerreißt die Stille in Erinnerung an manchen ihr humorvoll nachgeworfenen Stiefel mit einer wilden Schluchzerfuge. Allgemein wird die Teilnahme erst wieder, als der Seelsorger mit tränenverschleierter Stimme zur Schilderung der heimtückisch schleichenden Krankheit des Dahingeblichenen übergeht, die dieses Kämpfer- und Dulderleben so jäh und tragisch dahinraffte.

In der dritten Garnitur der Trauergäste flüstert eine ahnungsvolle Stimme in die ringsum stumme Erschütterung hinein:

»– er soll sich zutode gefressen haben –«, worauf eine merkbare Unruhe entsteht, die wiederum auf den Herrn Superintendenten übergeht, der mit einem nervösen Schnörkel von der Vergänglichkeit des irdischen Leibes und seiner oft rätselhaften Verwandlung schon im Sarge seine Totenrede allererster Klasse beendet.

 

Der Name Fuhrkutscher darf auf testamentarischen Wunsch während des Begräbnisses nicht fallen; es ist nur immer die Rede vom Verstorbenen, Verblichenen oder Dahingeblichenen, sodaß Krikoreit in seinem Sarge in zwiefachem Sinne von seinem Verschiedensein erschüttert ist; das Verschiedensein ebenfalls in zwiefachem Sinne.

Mit einem Zipfel seines seidenen Kopfkissens wischt er sich die Tränen aus den Augen, bereut bitter sein allzufrühes, leichtsinniges Sterben, das die ganze Stadt mit einem unersetzlichen Verlust beschenkt hat; und beschließt: sollte er durch einen zweiten Zufall noch einmal zum Leben erwachen, lieber der Stadt als arbeitsloser Spänesammler erhalten zu bleiben, als sich zutode zu saufen, und ihr und sich zum zweiten Male solch eine herzzerreißende Trauerfeier zuzufügen.

In diese Betrachtungen über sein zweites und gewissermaßen sogar drittes Ich hinein rauscht der Lorbeer niedergelegter Kränze. Krikoreit schließt selig die Augen und stellt sich sich selber vor, all diese goldstrotzenden Schleifen und Widmungstexte um den mageren Spänesammlerleib gewickelt.

So – ja so möchte er begraben werden!

 

Schon löst den ehrgeizigen Cäsarentraum ein neuer ab –: der Herr Oberbürgermeister Grundeis schneuzt sich ergriffen an seinem Grabe die Nase.

»Werte Trauergäste!

Rasch tritt der Tod den Menschen an, und mancher tritt vom Lebenspfade ab, bevor er seiner Tage Spur genugsam ausgetreten hat.

Diesen schönen Spruch unseres heimischen Dichters und Schulrektors Hirschgeweih möchte ich als Motto über den vor uns liegenden Sarg nageln.

Ihr alle als den städtischen Angelegenheiten Fernstehende könnt nicht ahnen, was der Verblichene für den Handel und Wandel, Gedeih und Verderb unseres städtischen Lebens bedeutet hat. Stets rüstig – wie das Reh im Klee! – um wiederum mit einer bekannten Hyperbel unseres Hirschgeweih zu reden (– Hirschgeweih muß sich zum zweiten Male verlegen die Brillengläser putzen –), stand er seinen behördlichen Obliegenheiten ob; und in seinem spezifischen Ressort: der Bekämpfung der Blattlaus in den städtischen Obst- und Gemüsegärten, der Beseitigung unzüchtiger Bilder von den Mauern städtischer Gebäude und der Reglung des männlichen Geburtenüberschusses zur stärkeren Hinneigung nach der weiblichen Seite desselben, also – wie sie sehen – in den wichtigsten volkswirtschaftlichen Fragen, kann ich wohl sagen, hatte er sozusagen das Zeug zu einem Minister! –«

 

Krikoreit möchte in seinem Sarge vor Rührung laut aufschluchzen, aber er fürchtet, die Trauerfestlichkeit zu stören; so druckst er nur selig in sich hinein –: Wie? Der Herr Oberbürgermeister hat ihn beobachtet, wie er im Auftrage des Herrn Stadtrat Fuhrkutscher für einen halben Groschen pro Abend mit Kelle, Eimer und Pinsel durch die Stadt wanderte, überall die Zeichen öffentlicher Unzucht unbarmherzig ausmerzend, übertünchend –. Und auch des allsonntäglichen Kampfes gegen die verdammten Blattläuse in seinem Hufegärtchen gedenkt er –! Und ist schon einmal einem Kattner die Ehre widerfahren, wegen der neun Bengel, die er mit seiner Tatje gemacht hat, öffentlich belobigt zu werden –?! Krikoreit weiß sich in seinem Glücke keinen anderen Rat, als die Tatje neben sich tot zu wünschen, um sie das alles miterleben zu lassen. Er strahlt in seinem Sarge wie ein blankgeputzter Festapfel. Dieser Begräbnistag ist wahrhaftig der schönste seines ganzen Lebens! –

Mitten in sein verzücktes innerliches Hüpfen hinein ist es ihm plötzlich, als wenn fortgesetzt eine andere Stimme in den schwungvollen Nekrolog des Herrn Oberbürgermeisters hineinquatschte. Aber wie er ganz empört den Inhaber dieser pietätlosen Unverschämtheit heraushören will, gelingt ihm eine namentliche Feststellung durchaus nicht. Ja – bei wachsender Aufmerksamkeit scheint es ihm sogar mehr und mehr, als wäre diese freche Stimme das blecherne Echo des Herrn Oberbürgermeisters, das von den hohlen Wänden widerhallt. –

Aber wiederum sind es ganz andere Worte, ungefähr so –:

»– – – Gott sei Dank, daß diese großfressige Null mir nicht mehr in alles hineinquasseln kann! Katastrophal, wie dieser unfähige Kerl zum Beispiel fortgesetzt neue Pulver gegen die Blattlaus entdeckte, und die sich danach in Quadratwurzeln vermehrte! – Und wie regelte dieses fette Filou den Geburtenüberschuß zur stärkeren Hinneigung nach der weiblichen Seite desselben –? Indem er auf Stadtkosten einige Schmierbroschüren über ›Kinderwahl in der Ehe‹ verteilen ließ – mit dem Ergebnis, daß gar keine Kinder mehr geboren wurden! Überhaupt, so etwas Borniertes, Großmäuliges, Analphabetisches hat unser Stadtrat noch nicht erlebt, und führt doch schon bezeichnenderweise einen gehörnten Ochsenkopf im Wappen.«

 

Krikoreit rutscht unruhig in seinem Kasten hin und her. Zerbricht sich den Kopf, wem diese unangenehme, keifende, bürgermeisterähnliche Stimme gehören möge, – und kann natürlich nicht wissen, daß Sarg-Tote nicht nur die Fähigkeit haben, alles, was während des Begräbnisses über sie gesprochen wird, zu hören, sondern sogar imstande sind, neben den wirklichen Worten, die jeder hört, auch die heimlichen, verschwiegenen Gedanken ihrer Mitmenschen über sie, die sogenannten inneren Stimmen, zu vernehmen; und daß das Gespräch, das sich da vor seinem Sarge ereignet, zwischen dem Herrn Oberbürgermeister außen und dem Herrn Oberbürgermeister innen geführt wird. Er ahnt auch noch nichts, als sich jetzt, nachdem der behördliche Kranz niedergerauscht ist, vor ihm ein zweites Gespräch abspielt, das der Herr Oberst a. D. Zündnadel mit seiner inneren Stimme folgendermaßen führt:

Äußere Stimme: »Kameraden! Mein altes Soldatenherz schlägt Trauermarsch!«

Innere Stimme: »Quatsch! Laß' Reveille blasen, daß die alte Vogelscheuche nicht mehr den ganzen Schützenverein verschandelt!«

Äußere Stimme: »Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nit. Er ging an meiner Seite – –«

Innere Stimme: »Wie der Latsch zum Beispiel regelmäßig falschen Tritt bei den Parademärschen hatte –!«

Äußere Stimme: »Jetzt ist er abberufen zur großen Armee –.«

Innere Stimme: »Der alte Blücher wird ihn schon zusammenschmeißen, daß er jeden Knochen einzeln ins Sanatorium schicken muß!«

Außen: »Sein heißester Wunsch, auf dem Felde der Ehre zu fallen, blieb ihm leider versagt.«

Innen: »Dabei hat sich das Schwein den ganzen Krieg über in der Etappe herumgedrückt und mit seinen Sägemehlschiebungen das E. K. I geangelt! –«

Außen: »Das Vaterland steht trauernd an der Bahre dieses kampferprobten Soldaten –.«

Innen: »Das Vaterland wird sich für solche Pappsoldaten bedanken!

Warum quatsch ich überhaupt hier solches Blech! Die Kerle vom Schützenverein grienen mich schon an! Es ist doch stadtbekannt, daß dieses Walroß kein Luftgewehr richtig bedienen konnte! – –«

 

Krampfhaft drängt der Herr Oberst die übermächtige innere Stimme zurück, angelt nach abschließenden Kernworten; setzt mehreremals mit einem verzweifelten – »äh – äh – äh –« an. Gerät wieder ins Innere. Faßt sich schließlich schweißtriefend zu einem markigen Anlauf –:

»Deshalb, Waffenbrüder, senken wir die Fahnen und rufen dem scheidenden Kameraden unsren Abschiedsgruß zu – – – äh – äh – äh – – –«

Jetzt hakts völlig aus. Der Satz ist ihm aus der gestrigen Festrede für die zur Schützenreichstagung Fahrenden zwischen die Zähne geraten. Was soll man nun einem Toten zurufen?

»– äh – äh – äh –«

Wegen dieses Rhinozerosses blamiert man sich vor der ganzen Stadt! Wo nehme ich zum Teufel schnell einen Ruf ins Grab her! Für Rufe ins Grab steht kein Schema in meinen »Markige Redeschemata für Vorsitzende vaterländischer Vereine« –!

»– äh – äh – äh – – – –«

Die Saukerle feixen mich wahrhaftig schon aus, weil ich nicht weiterkann! In einem Monat ist Vorstandswahl. Wenn ich mich heute lächerlich mache, fall ich totsicher durch!

»– äh – äh – – – – Und rufen dem scheidenden Kameraden unseren Abschiedsgruß zu – äh – – äh – – –«

Hier rutscht die innere Walze in die äußere; mit dem Brustton echtester Soldatenüberzeugung schmettert der Herr Oberst los:

»Gottverdammich! Das Arschloch soll sich seine Leichenreden selber halten!!«

 

Aus.

Das Gewölbe dröhnt von dem Gewieher der ganzen Trauergemeinde. Den Pfarrer hat die unfaßbare Tempelschändung an die Wand geblasen, wo seine bebenden, blutleeren Lippen sinnlos Bibelstellen lallen. Brigitte liegt ohnmächtig über vier Stühlen, schnauft nur noch schwach; während der Herr Oberst mehr tot als lebendig auf den Kranz in seiner Hand starrt, der sich vor seinem Fieberblick in die sechsläufige Pistole verwandelt, mit der er sich noch diese Nacht in einer fernen Stadt selbst entleiben wird. Alles, was noch einen Rest Ehrfurcht vor der Majestät des Todes und seines heiligen Hauses aufbringt, verschwindet schleunigst durch die Arkaden ins Freie. Prustet sich minutenlang aus. Wiederholt gegenseitig immer wieder den verhängnisvollen Satz und gerät erneut in einen minutenlangen Lachkrampf, bis akute Bauchschmerzen auch dem grimmigsten Gewieher ein erschöpftes Ende bereiten.

In der Kapelle ist fast nur noch 3. Klasse Plebs verblieben; staut sich um die vier Hauptpersonen der Tragikomödie, den Herrn Oberst, den Superintendenten, Brigitte und den Sarg; wartet mit der ganzen schamlosen, taktlosen Unverfrorenheit des gemeinen Pöbels, wie sich die blamierten Kultursäulen ihrer Stadt aus der Affaire zu ziehen gedenken.

Das Begräbnis ist rettungslos geschmissen!

 

Krikoreit wälzt sich in seinem Sarge.

Hageldicht knallen die inneren und äußeren Witze, die nur gedachten und die offen ausgesprochenen, auf seinen Spänesammlerschädel nieder, daß es in seinem Gehirne wie in einer Sägemühle brummt und surrt.

Aber eins wird ihm aus dem wüsten Tohuwabohu durcheinanderschreiender Stimmen immer klarer –: es handelt sich hier nicht um ihn, den Krikoreit, sondern offensichtlich und klar zu hören um den Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher. Der ist das Arschloch!

Und daß er, der Krikoreit, als dieser begraben werden sollte, hat er nicht nur geträumt, sondern tatsächlich erlebt; und der Grips muß ihn wahrhaftig falsch registriert haben –, und warum es niemand merkt, das mag der Teufel wissen!

Aber ich bedanke mich schönstens, für den alten Fuhrkutscher das Arschloch zu machen! Ich will als ehrlicher Spänesammler bestattet werden; und mein Grab soll nicht bis ans Ende aller Tage zum Spottstein der ganzen Stadt werden, daß einer dem anderen beim Vorübergehen feixend zuflüstert:

»– hier liegt das A – – – – – –.«

Zum ersten Male in seinem Leben energisch, zum ersten Male stolz auf sein Proletentum, will er die Zumutung, etwa als der reiche Fuhrkutscher angesehen und begraben zu werden, entrüstet zurückweisen. Richtet sich im Sarg mit kräftigem Ruck auf, haut mit dem Hinterkopf hart an die starken Sargbohlen, rammt sich den Verstand ein und fällt nun wirklich starrtot zurück.

Durch den Stoß und Gegenstoß ist der Sarg ins Wanken geraten, rutscht vom Gerüst ab, poltert unter dem entsetzten Gekreisch der auseinanderstiebenden Gemeinde zur Erde.

 

Der Superintendent und die alten Weiber liegen schaudernd auf den Knieen, flehen im Angesicht des furchtbaren Himmelszeichens um Vergebung aller ihrer Sünden seit Christi Geburt. Der Herr Oberst versucht vergebens, sich mit Hilfe einer Trauerschleife an einem vorragenden Emporebalken aufzuhängen; seine Wolkenkratzerbeine verharren unentwegt auf dem Fußboden. Alle anderen sind in die Stadt geflüchtet, wo das neue Gerücht schon in der kleinsten Gasse kreist.

Eine sofort einberufene geheime Ratssitzung beschließt einstimmig, den geschändeten Sarg bei Nacht und Nebel in der Selbstmörderecke ohne Namen zu verscharren. Leichendiener und Totengräber weigern sich und müssen mit hohen Summen bestochen werden.

Fuhrkutschers Vermögen wird konfisziert, teils der Kirche zur Stiftung einer Sühnekapelle überwiesen, teils für wohltätige Stadtzwecke –: Blattlausbekämpfung, Reglung des Geburtenüberschusses zur stärkeren Hinneigung nach der weiblichen Seite desselben – verwendet.

 

So kam es, daß von dem Herrn Stadtrat und Dampfsägemühlenbesitzer Fuhrkutscher nur ein einziges Wort übrigblieb; und das wird nur in Fuhrkutscherkneipen offen ausgesprochen.

*

Leichenkammeroberschließer Grips fährt aus dem Schlaf, springt vom Bett auf, entzündet mit zitternden Fingern das Gas, kriecht in jede Ecke und Ritze seines Zimmers, ruft immer wieder – zähneklappernd vor Kälte und innerem Schauder –:

»Krikoreit! Alter Krikoreit! Wo steckst du, Bruderherz? Was willst du von mir, tote Seele –?!«

Aber ihm antworten nur die aus dem Schlaf geschreckten Nachbarn, schimpfen über die nächtliche Ruhestörung, hämmern an Türen, Decken und Fenster, bis der verängstete Grips, von den vielen unheimlichen Geräuschen ringsum nur noch verwirrter, ganz fest überzeugt ist: der tote Krikoreit sei im Zimmer versteckt und treibe grauenhaften Spuk mit ihm. –

Zusammengekrümmt hockt er im Nachthemd auf seinem Bett. Vergegenwärtigt sich immer wieder den Traum, den er nun schon die dritte Nacht mit greifbarer Deutlichkeit hat –:

Krikoreit steht im Leichenhemd, eine riesige Beule am Hinterkopf, vor seinem Bett, schaut ihn mit traurigen Augen an, klagt mit seiner weinerlichen dünnen Greisenstimme: warum Grips ihn denn falsch registriert habe. Warum er es zulasse, daß auf dem Leichnam seines sechsunddreißigjährigen Skatbruders herumgetrampelt, daß er zum Prellblock für den stinkigen Fuhrkutscher mißbraucht werde. Es sei unerhört, daß Grips zum Begräbnis, als nach der unaussprechlichen zündnadelschen Beleidigung er, Krikoreit, einen letzten, gewaltsamen Versuch gemacht habe, seinen ehrlichen Namen zu retten, indem er seinen Sarg von dem schmutzigen Fuhrkutscherschen Podest herunterwarf, nicht das Geringste geahnt habe – oder ahnen wollte. Und er komme immer mehr zu der Überzeugung, Grips sei von Fuhrkutscher für schnödes Geld gedungen worden, ihn statt des Stadtrates zu registrieren, damit die zündnadelschen Beschimpfungen den Stadtrat nicht in seinem feisten Todesschlafe stören könnten. Nie habe er einen gewissenloseren Judas gekannt als Grips, der die Seelen seiner besten Freunde noch im Tode verschiebe. Und wenn er nicht sofort den Irrtum beim Magistrat melde, daß ein ehrlicher Spänesammler in reinliche Erde umbegraben werde, müsse er, Krikoreit, eigenhändig aufstehen und öffentlich seine Umgrabung beantragen. Und wenn durch seine Auferstehung die ganze Stadt in Ohnmacht fiele! Und wenn der Wissenschaft eine Schlagader platze –!

 

Hier springt Grips auf, reckt seinen Hühnerhals, soweit er kann, kräht mit fuchtelnden Fäusten den Geist Krikoreits an:

Das sei eine Gemeinheit gegen die ganze Menschheit, wenn er sozusagen behaupten wolle, der Leichenkammeroberschließer Grips registriere die Leichen falsch! Denn wie wolle da einer beispielsweise wissen, ob er vor dem Grab seiner Mutter stehe, oder vor dem ihres Arztes, der sie gewissermaßen zu Tode gedoktert habe –!? Er gebe zu, daß auch Leichenkammeroberschließer einmal irren könnten; aber so etwas mache man unter sich, sozusagen mit der Behörde ab. Deshalb brauche er noch lange nicht aufzuerstehen und beispielsweise die ganze Stadt bis zu massigen Herzschlägen zu erschrecken!

Und wenn der Krikoreit etwa glaube, er sei gewissermaßen absichtlich verwechselt worden, so zerreiße es ihm, dem Grips, das Herz, daß sein alter Skatbruder beispielsweise so von ihm denken könne. Und er wolle sozusagen noch diesen Morgen aufs Rathaus gehen und die Umgrabung beantragen; auch wenn ihm der Irrtum die Leichenkammeroberschließerstelle koste! –

Die Stimme schnappt über. Grips verfällt in einen Schüttelschluchzkrampf. Jammert kläglich bis zum Morgen – teils über die sozusagen verloren gehende Stelle, teils über das Mißtrauen seines alten Skatbruders, teils über seine beispielsweise unverzeihliche Zerfahrenheit, teils gewissermaßen über die Verderbtheit der heutigen Welt im allgemeinen –; zum Ärger seiner Nachbarn, die vor seinem jaulen und miauen kein Auge zutun können.

*

Am Morgen zieht Grips seinen schwarzen Festtagsrock an, wichst sich die Kohlrabiplatte mit Hautfett, kramt seine Anstellungsurkunde als Leichenschließer hervor, faltet sie bedächtig auseinander, liest langsam und wehmütig jeden Buchstaben bis auf das Datum der Poststempel, opfert eine Träne darauf; faltet sie wieder zusammen. Schaukelt bekümmert durch die Straßen, ohne einen Gruß zu bemerken; läßt sich beim Herrn Oberbürgermeister melden.

 

Der ist sehr erstaunt.

Seit seinem Amtsantritt hat er von Grips nur durch die Personalakten und als notwendiges, stummes Requisit bei den Begräbnissen Kenntnis gehabt.

Da er gerade nichts Wichtigeres zu tun hat, empfängt er den alten Beamten freundlich; winkt lächelnd ab, als er dessen Bitte, ihn wegen Altersschwäche seines Amtes zu entheben, gehört hat. Solange Grips lebe, bleibe alles beim alten; später könne man einmal über eine elektrische Leichenkammerschließanlage nachdenken.

 

Grips erbittet sich untertänigst das Nachdenken gewissermaßen schon jetzt, denn elektrisch wären beispielsweise so schwerwiegende Irrtümer ausgeschlossen. Und damit kommt er sozusagen auf den Kern seines Gesuches, berichtet wahrheitsgemäß – ohne sich zu schonen – von den zwei Särgen, der offenbaren Verwechslung durch seine Nachlässigkeit; legt mit schlagender Dialektik den Sargsturz beim Begräbnis sozusagen im Sinne eines Protestes des Verwechselten aus und endet schließlich bei einer geflüsterten Schilderung der dreimaligen Erscheinung des Falschbegrabenen und seiner Drohung, persönlich seine Umgrabung beim Herrn Oberbürgermeister zu beantragen, was beispielsweise aus Gründen der öffentlichen Moral und Sicherheit unbedingt vermieden werden müsse.

 

Der Herr Oberbürgermeister hört geduldig zu. Bekommt während Grips' langer Rede selbst den Eindruck, daß es besser sei, den schon etwas schwach im Kopfe werdenden Alten durch eine elektrische Anlage zu ersetzen. Klopft ihm infolgedessen um drei Grad kühler auf die Schulter –: mit der elektrischen Schließanlage habe er eigentlich gar nicht so unrecht; zumal für Grips zufällig eine Pumperstelle bei der städtischen Düngerabfuhr freigeworden sei.

Obgleich Grips den Sturz von der Leichenkammer zur Düngerpumpe schmerzlich empfindet, fügt er sich doch – eingedenk seiner schweren Verfehlung – ergeben in alles und bittet nur inständig, die Umgrabung der Leichen beispielsweise noch heute zu veranlassen. Er habe es gewissermaßen seinem alten Freund und Skatbruder diese Nacht feierlich versprechen müssen.

 

Der Herr Oberbürgermeister spielt ungeduldig mit dem Bleistift –: Das mit der Verwechslung der Särge sei natürlich eine Angstfantasie seines übergewissenhaften Leichenkammerschließergewissens; jetzt sei er durch die Entlassung entlastet, und man wünsche ihm viel Glück im neuen Beruf.

Und damit macht er eine unzweideutige Geste nach der Tür.

 

Aber Grips bleibt.

Umständlich entrollt er ein Bild der damaligen Situation, in der die Sargverwechslung sozusagen vor sich gegangen sei –: seine Gedanken in der Stampe, das Bier, die zwei gewissermaßen völlig gleichen Särge, der Klatsch mit den Weibern, die vergessenen Nummern, seine Vermutung, die natürlich falsch gewesen sei; denn beispielsweise hätten die faulen Kerle, die Leichendiener, selbstverständlich erst den näheren Sarg – –, womit er sie übrigens nicht um ihr Brot bringen wolle.

Hier unterbricht ihn der Herr Oberbürgermeister grob.

Das alles ginge ihm jetzt, da er nicht mehr Leichenkammerschließer sei, keinen Span an. Die Unterredung sei zu Ende.

 

Aber Grips hat nicht umsonst sein ein Menschenalter in Ehren versehenes Amt geopfert –: noch heute müßten die Särge gewissermaßen umbegraben werden, ehe weiche er sozusagen nicht von der Stelle!

Der entschiedene Ton dieses Subalternen fährt dem Herrn Oberbürgermeister in die Nase; er lappt ihn ab, daß die Bürodiener draußen erbleichen.

Aber Grips steht unbeweglich, beharrt auf seiner Forderung, beweist mit einem Dutzend gewissermaßen, beispielsweise und sozusagen, daß es eine heilige Pflicht der Stadt sei, seinen alten Freund vor aller Welt zu rehabilitieren.

 

Mit jedem Wort wächst der oberbürgermeisterliche Zorn.

Soll diese verfluchte Fuhrkutschergeschichte, die ihn und seine Stadt in jedes Witzblatt gebracht hat, kein Ende haben –? Was geht ihm die Ehre eines lausigen Spänesammlers an! – Und läßt man sich schließlich von dem Geschrei dieses Halbidioten verbluffen und gräbt um, gibts eine zweite Blamage, daß die Spatzen seinen und seiner Stadt Namen im Duett mit Schildau pfeifen.

Eben kräht der gleichfalls in Wut geratene Grips durchs offene Fenster auf den Marktplatz hinaus:

»Gerechtigkeit muß sein in unserer Stadt, beispielsweise auch auf dem Gottesacker!« welcher Ausspruch die unten lauschend stehengebliebenen Bürger mit tiefer Zufriedenheit über ihren Herrn Oberbürgermeister erfüllt, dem sie diesen markigen Satz zuschreiben. –

 

Aber dem ist die Zufriedenheit seiner Bürger, die Gerechtigkeit auf dem Gottesacker, die Ehre von lausigen Spänesammlern und die Gewissensqual von idiotischen Düngerpumpern höchst wurscht!

Das Prestige über alles!

Hinten im Genick packt er den Grips, schleift den Zappelnden, Schreienden zur Tür, schüttelt jeden Buchstaben in dessen aufgeflogene Hirnkapsel hinein –:

»Es wird nicht umgegraben!

Machen sie meinetwegen aus dem Gottesacker eine Kommune! Das ist den Leichen furchtbar schnuppe!« – und pfeffert ihn die Treppe hinunter.

*

Grips hat einen Komplex.

Nuschelnd umkreist er mit eingezogenem Schädel den frischaufgeschütteten Grabhügel, unter dem sein Skatbruder Krikoreit friedlich – oder vielmehr nicht friedlich schlummert.

»Krikoreit« – nuschelt er – »Bruder Krikoreit. Du bist mir sozusagen diese Nacht nicht erschienen.

Warum –?

Beispielsweise könnt ich ja von den Aufregungen am Tage so müde gewesen sein, daß ich deinen Besuch verpennte. Aber hier liegen gewissermaßen tiefere Gründe vor.

Ich habe sozusagen mein Wort nicht gehalten.

Du liegst noch immer als stinkiger Fuhrkutscher hier in der Schandecke und bereitest dich beispielsweise vor, aufzuerstehen und deine Umgrabung persönlich zu beantragen; indem du es nicht mehr für nötig hältst, mir wortbrüchigem feigen Judas davon Kenntnis zu geben. Und von deiner Sachkenntnis ist sozusagen nichts anderes zu erwarten. –«

 

Hier hält Grips im Kreisen inne, wickelt ein Paket, das er unterm Arme trägt, auf; zum Vorschein kommt sein vollständig zerrissener, beschmutzter Festtagsrock.

»Du kannst gewissermaßen sehen, Bruder.

Hier siehst du beispielsweise meinen total ruinierten Bratenrock. Wer hat ihn zerfleddert –? Der Herr Oberbürgermeister sozusagen, als er mich mit meiner Bitte um deine Umgrabung die Treppe hinunterwarf.«

 

Grips wickelt zusammen, kreist wieder eine Zeitlang stumm; dann nuschelt er weiter:

»Tja – wirst du jetzt beispielsweise bemerken, Bruder –, dann hätte der Grips sich eben Leute nehmen sollen und sozusagen eigenhändig den Bruder Krikoreit umgraben.

Da hast du mir gewissermaßen meine eigenen Gedanken aus dem Hirne gefädelt, Bruder. –

Ich gehe also geradewegs vom Herrn Oberbürgermeister zum Totengräber, will ihn sozusagen bei seiner Ehre beschwören; aber unterwegs kommt mir schreiend ein Junge nachgelaufen, bringt mir beispielsweise diesen versiegelten Brief vom Herrn Oberbürgermeister eigenhändig.«

Grips entfaltet sorgfältig das Amtsschreiben, legt es mit der Schriftfläche auf den Hügel; kreist eine Weile stumm.

 

Als er annimmt, Krikoreit habe zu Ende gelesen, nuschelt er fort:

»Was ist nun beispielsweise hier zu machen, Bruder –?

Du bist sozusagen eine gute Seele; und wenn uns der Herr Oberbürgermeister eigenhändig bittet, im Interesse der öffentlichen Moral und Sicherheit die Umgrabung nicht vorzunehmen, weil sonst gewissermaßen die ganze Stadt an der Leichenregistratur irre würde und umgraben wolle, so leuchtet das uns beiden sozusagen ein.

Hinwiederum aber wäre es ebenfalls nicht im Interesse der öffentlichen Moral und Sicherheit, wenn du beispielsweise bis ans Ende aller Tage als stinkiger Fuhrkutscher hier liegen müßtest, weil dann gewissermaßen jedermann das Vertrauen zu seiner eigenen Grabstätte verlieren würde, Bruder.

Ich fordere dich also auf, mit mir sozusagen über einen gerechten Ausgleich nachzudenken.«

Und damit setzt sich Grips auf eine nahe Bank, läßt den Bruder Krikoreit nachdenken.

 

Nach einer Viertelstunde beendet er dessen Gedankenblasen, die als Luft Wölkchen über dem Hügel schweben, folgendermaßen:

»Ich sehe, Bruder, du bist auch im Grabe beispielsweise nicht springer in den Gedanken geworden. Also laß deinen alten Skatbruder Grips beispielsweise einmal für dich denken.

Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.

Wenn beispielsweise der Herr Oberbürgermeister – wie es in dem Briefe steht – mich wieder ehrenvoll in mein Amt als Leichenkammeroberschließer einsetzt, so kann er von mir nicht mehr verlangen, daß ich besagtes Amt gewissermaßen in der alten Art und Weise verwalte. Dafür habe ich sozusagen die Hochachtung vor der weltlichen Gerechtigkeit verloren.

Wenn ich selbst aber gewissermaßen diese Gerechtigkeit noch nicht verloren habe, so ist es meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, beispielsweise das Unrecht an meinem Bruder wieder gut zu machen. Und wenn schließlich der Herr Oberbürgermeister mir den Weg zu dieser Wiedergutmachung eigenhändig weist, indem er mich sozusagen anschreit: – machen sie meinetwegen aus dem Gottesacker eine Kommune! – und mich dabei die Treppe hinunterpfeffert, so laß ich mir das nicht zweimal sagen; renne schnurstracks auf den Friedhof und teile dir gewissermaßen als Erstem mit, daß ich diesen Rat befolgen werde, Bruder. Und jedermann wird mir zugeben müssen, daß ich beispielsweise im rechtlichen wie im behördlichen Sinne unantastbar handle!«

Die letzten Sätze schreit er, damit ihn der Krikoreit ja verstehe, so laut, daß der ganze Friedhof von seiner Absicht Kenntnis nimmt und durch zustimmendes Pappelrauschen seinen Entschluß billigt.

 

Grips konstatiert befriedigt diese Tatsache, verfällt erschöpft wieder in sein Nuscheln –:

,,Du hast mich also begriffen, Bruder. Dann ist es gut; und du kannst sozusagen die Absicht, deine Umgrabung zu beantragen, fallen lassen. Der Name auf dem Leichenstein deckt sich in Zukunft nicht mehr mit dem Toten, der darunter liegt.

Heut Nachmittag wird beispielsweise die Frau Schulrektor Hirschgeweih begraben. Registrieren wir sie sozusagen als die alte Spittlerin Krumel, die daneben liegt; und beide werden deshalb gewissermaßen nicht schlechter schlafen.«

Grips umkreist noch einmal den Hügel, ob der Bruder Krikoreit noch etwas hinzuzufügen habe; dann schaukelt er zufrieden nach der Kapelle, wo gerade zum Begräbnis der Frau Schulrektor nach ihm verlangt wird.

*

Wo sich nun irgendeine Gelegenheit bietet, registriert Leichenkammeroberschließer Grips falsch.

Mit spitzfindigen Gründen und fortgesetzten Anträgen erreicht er es schließlich, daß sämtliche Särge aus Rücksicht auf den »bedrohten Gesundheitszustand des Herrn Grips« einen Tag vor dem Begräbnis vernagelt werden müssen.

 

Der Herr Oberbürgermeister kann sich nicht wehren, da Grips in seinen Anträgen immer auf dem Sprunge ist, ihn und die Stadt mit der ungesühnten Fuhrkutschergeschichte bloßzustellen, was aus Gründen der öffentlichen Moral, Sicherheit und Blamage unbedingt vermieden werden muß.

 

Frei schaltet Grips über die höchsten und niedersten Leichen der Stadt, bestimmt ihre letzten Ruhestätten und Begräbnisklassen nach eigenem Ermessen; und hat es bald zu einer Philosophie der Leichenregistrierung gebracht, deren Axiom der Satz ist: wer es im Leben gut gehabt hat, soll den Armen den kleinen Ausgleich einer prunkvollen Ruhestätte überlassen! –

Übrigens ist den Toten – nach des Herrn Oberbürgermeisters eigenem Ausspruch – ihre Ruhestätte höchst schnuppe; Namen haben sowieso keinen Sinn mehr, da kein Mensch in hundert Jahren beispielsweise einen Unterschied zwischen der Asche des Herrn Stadtrat Fuhrkutscher und der des Spänesammler Krikoreit zu machen imstande ist.

*

Lange Zeit läßt sich die Stadt diese Korrektur ihres gesellschaftlichen Aufbaues geduldig gefallen; zumal kein Mensch im Begräbnisschmerz daran denkt, die Echtheit des jeweils bestatteten Sarges zu untersuchen, und städtische Kontrollkommissionen leichtsinnigerweise auf diesem Gebiete noch nicht existieren.

 

Aber jede Philosophie gerät zuweilen ins Schlittern; und so unterläuft Grips schließlich der folgenschwere Fehler, beim Begräbnis des Herrn Oberst a. D. Zündnadel, der mit Gardemaßen gesegnet ist, einen Kindersarg statt seiner zu registrieren.

Das fällt nun selbst dem Herrn Superintendenten auf, als er von der hohen, ehrfurchtgebietenden Gestalt des Toten spricht und dabei auf den niedlichen Metersarg weist; – und da im gleichen Augenblick draußen ein herzzerreißender Schrei der Kindmutter ertönt, die beim Abschied von ihrem kleinen Liebling vor ein Sargmonstrum geführt wird, ist der Skandal fertig.

 

Alle schreien mit drohend geschwungenen Fäusten nach Grips, der seelenruhig erklärt:

»Tja – Leute, das ist sozusagen gar kein Irrtum. Warum soll gewissermaßen das Kind nicht als Oberst begraben werden, wenn es beispielsweise später vielleicht Feldmarschall geworden wäre, Leute. –«

– worauf ein eisiger Schauer der Stadt über den Rücken läuft –: seit fast fünfzig Jahren hat uns ein Verrückter registriert. Wie mag das unter der Erde aussehen!« –

Eine sofort vorgenommene Untersuchung der Leichenkammern und ihrer Registranten bestätigt diese grauenhafte Vermutung –: Keine einzige Leiche ist richtig begraben worden! –

Starr, gelähmt vor Entsetzen, wächst in jedem Gehirn die Zwangsvorstellung: die Tränen, die man am Grabe seiner Lieben vergossen, galten dem ärgsten Feinde, den man zwölf mal zum Teufel wünscht! Das ist ja zum Wahnsinnigwerden, daß man einen wildfremden Menschen betrauert hat!! –

Die Kapelle verwandelt sich nach Minuten in eine Ohnmachtunfallstation.

*

Am folgendem Tage steht im »General-Anzeiger« folgendes fettgedrucktes Inserat:

 

»Leute!

Um den vielen Anfragen, die mündlicher- und schriftlicherseits, leider sozusagen oft unter tätlichen Androhungen, an mich ergangen sind, gewissermaßen im Ganzen Folge zu leisten, bitte ich jeden Bürger, der sich beispielsweise über die Neuorganisation unseres Gottesackers orientieren will, heute Abend 8 Uhr auf dem Marktplatz vor der Justitiasäule zu erscheinen, wo ich sozusagen einen Vortrag darüber halten werde, Leute!

Hochachtungsvoll
Leichenkammeroberschließer Grips.«

 

*

Um 4 Uhr versammeln sich die ersten alten Spittelweiber, die vor dem Gedanken, ihr vor einem Menschenalter verstorbener Mann habe nicht die rechte Grabpflege, in der vergangenen Nacht nicht schlafen konnten und im Chor durchs Spital wimmerten.

 

Um 5 Uhr klebt an allen Ecken ein großes, grelles Plakat: die Versammlung um 8 Uhr sei polizeilich verboten. Grips sei in Gewahrsam und werde behördlich vernommen werden.

 

Um 6 Uhr ist in jeder Familie, in jedem Kränzchen, in jedem Vereinszimmer, an jedem Stammtisch außerordentliche Sitzung, wobei einstimmig beschlossen wird, die Versammlung in corpore zu besuchen; teils, um zu sehen, was eigentlich los sei, teils um geschlossen für strengste Ahndung des ungeheuerlichen Verbrechens zu demonstrieren, teils weil das nächste Sommerfest erst in drei Wochen ist, und man vorher keine passendere Gelegenheit hat, zusammen zu sein.

 

Um 7 Uhr schlagen die Bratwurstmäxe und Brezelliesen ihre Stände auf. Ein langhaariger Jüngling offeriert mit schriller Stimme die eben erschienene Sondernummer des »Herold der Wahrheit« über »Gott und die Heiligkeit seines geweihten Ackers«, die reißenden Absatz findet.

 

Um 8 Uhr wogt alles, was nicht Rheumatismus hat, über den Platz; begrüßt sich, schlägt die Hände zusammen, ist entrüstet – entsetzt – empört; kaut Brezeln und konstatiert, daß Frau Glucke schon wieder eine neue Bluse anhat.

 

Um halb 9 Uhr haben sich die Vollbärte zu einem Volksausschuß zusammengeschlossen, verlangen eine Audienz beim Herrn Oberbürgermeister zwecks öffentlicher Befragung besagten Gripses zur allgemeinen Beruhigung. Als sie nach einer Viertelstunde unverrichteter Sache zurückkehren, nimmt die Volksstimmung – infolge Ausverkaufs der beruhigenden Bratwürste und Brezeln – bedrohliche Formen an. Rufe werden laut, Pfeifen, Gejohle; Steine demolieren verschiedene Amtsscheiben; sodaß sich kurz vor 9 Uhr der Herr Oberbürgermeister zur Verhütung weiteren Stadtschadens unter Ablehnung jeglicher persönlicher Verantwortung in Sachen Grips gezwungen sieht, denselben gefesselt – rechts und links von zwei handfesten Gendarmen begleitet – zur öffentlichen Befragung freizugeben. –

 

Sofort wird er – trotz des gendarmlichen Widerstandes – hochgewirbelt, fliegt wie ein Gummiball von Faust zu Faust. Zehn Sekunden später taucht aus einem wüsten Brei von Köpfen, Fäusten, Schimpfworten und zornigen Spazierstöcken sein Kohlrabischädel gerade unter dem Bronzekranz der Justitia auf.

Mit einem Schlag ist es still.

Grips' Hühneräuglein überflitzen das uferlose, zorngeschwollene Meer. An allen Gliedern spürt er eine Vorahnung dessen, was ihm blüht. Mit jener großzügigen Gleichgültigkeit gegen alles Irdische, die eine Folge seiner friedhöflichen Philosophie ist, gibt er vorausschauend seinen Geist auf. Zieht den kahlen Schädel ein, beginnt – großartig, gelassen wie der bechertrinkende Sokrates – seine Scherbengerichtsrede –:

»Tja – Leute, da glotzt ihr mich alle sozusagen wutgeschwollen an, wartet nur noch auf meine Registrantenangaben und werdet mich dann beispielsweise zu Mus zerquetschen, Leute.

Und ich bin euch deshalb nicht böse, Leute.

Ich begreife eure Aufregung, die Sorge um die gewissermaßen wahren und falschen Ruheplätze eurer Toten vollkommen; und ich muß euch beispielsweise gleich zu Anfang sagen: ich weiß sie selber nicht!«

 

Die atemlose Spannung löst sich in einem dumpfbrausenden Empörungsschrei.

Unbeirrt knüpft Grips daran an.

»Tja – Leute, jetzt seid ihr gewissermaßen empört über den Grips, Leute!

Warum –?

Weil er euch beispielsweise mit eurem dreimal heiligen Trauerschema genasführt hat, Leute!«

 

Ganze Salven Schimpfworte schwirren ihm um die Ohren, aber er ist unverletzlich.

»Hat das eurer Trauer irgendwie geschadet, Leute –? Oder habt ihr vielleicht bemerkt, daß eure Toten deshalb sozusagen weniger sanft schlummern, Leute? – Hat sich beispielsweise irgendein Toter mündlich oder schriftlich darüber beschwert, Leute –?!«

Dieser Einwand ist so treffsicher, daß sich kein Gegenlaut regt.

»Tja – Leute, und was beweist das?

Daß sozusagen eure ganzen Friedhofszeremonien erster, zweiter und dritter Klasse überflüssiger Krempel sind, Leute!«

 

Wieder ist die Logik so verblüffend, daß trotz allseitiger Entrüstung niemand das Gegenteil beweisen kann.

»Tja – Leute, und was folgt daraus, wie das Kalb aus der Kuh sozusagen, Leute –?

Daß beispielsweise euer ganzes Gehabe und Getue erster, zweiter und dritter Klasse im Leben fauler Zauber ist, wenn gewissermaßen kein Kernmark dahinter steckt. Auf das Kernmark kommt es an.

Da habe ich beispielsweise aus dem Gottesacker eine Kommune gemacht, und das Kernmark der echten Trauer hat dadurch sozusagen nicht den geringsten Knacks bekommen! – Oder könnt ihr mir gewissermaßen das Gegenteil beweisen, Leute?«

Da natürlich keiner zugeben will, er habe erster, zweiter oder dritter Klasse getrauert, sondern nur allererster, bleibt auch diese Folgerung unwiderlegt; und damit ist die Kommune auf dem Gottesacker offiziell anerkannt.

Von hier aus setzt Grips zum welthistorischen Sprung an.

Reckt den Hals, daß ihm der Justitiakranz übern Kopf auf die Schultern gerät, während ein letzter Sonnenstrahl symbolisch auf seinem Kohlrabi verschimmert –:

»Tja – Leute, und was muß ich beispielsweise notwendig daraus schließen, Leute –? Eure ganzen großmogulschen Titel und Titelchen erster, zweiter und dritter Klasse sind sozusagen auch keinen Pfifferling wert, wenn kein Kernmark dahinter steckt, Leute! Und bei wem es dahinter steckt, dem können in drei Teufels Namen die Titel und Titelchen erster, zweiter und dritter Klasse gewissermaßen höchst schnuppe sein, Leute!!«

 

Noch eine Stufe höher reckt sich der Kohlrabi, schmettert die scharfe, spitze Stimme in die maulaufgesperrte Stadt hinunter:

»Tja – Leute, und wenn sie uns allesamt höchst schnuppe sind, warum schaffen wir sie nicht ab und gründen beispielsweise eine Kommune in unserer Stadt, in der sozusagen das Kernmark des Menschen den Ausschlag gibt und nicht die Titel und Titelchen und der Geldbeutel, der sie macht, Leute!?!!«

Ein wüster Tumult bricht los.

»Hoch der Grips!«

»Grips hat recht!«

»Es lebe der Grips!«
brüllen die einen.

»Nieder mit dem Grips.«
»An die Laterne mit dem Grips!« –
brüllen die anderen.

Und man erkennt an der Physiognomie der Brüllenden sofort die Gripse und Antigripse.

 

Ein Handgemenge entsteht. Weiber kreischen entsetzt auf, Nasen bluten, Röcke gehen in Fetzen, Spazierstöcke zersplittern, zerbeulte Hüte kollern am Boden. Schließlich ist der pazifistische Teil der Stadt in die Seitengassen zerstiebt, während die Fanatiker beider Richtungen sich schreiend, fluchend, ineinander verbissen auf dem Pflaster wälzen, einen erbitterten Kampf um den Grips ihrer Stadt ausfechten.

Der hockt eingeduckt auf einem Arm der Justitia, starrt ratlos auf den Wirbel zu seinen Füßen, spürt mit aufschaudernder Gewißheit, daß sein letztes Stündlein geschlagen hat. –

 

Da naht schon im Laufschritt die gesamte Gendarmerie der Stadt. Reißt die Kämpfenden auseinander. Fordert Grips mit gezogenem Revolver auf, von der göttlichen Justitia herabzusteigen und sich der irdischen Gerechtigkeit zu stellen. –

 

Ehe der seinen persönlichen Willen kund geben kann, bricht der bronzene Arm der Justitia entzwei; Grips saust zu Boden, zerschmettert sich im Fall den Schädel.

Entsetzt starrt Grips und Antigrips, Polizist und Pazifist auf die kleine, symbolische Leiche.

*

Der Friedhof wurde geschlossen und abgesperrt. Kein Menschenfuß durfte ihn mehr betreten. Dicht daneben umzäunte man einen neuen, in dem wieder alles nach erster, zweiter und dritter Klasse geregelt war.

Die Stelle des Leichenkammerschließers wurde durch eine elektrische Schließanlage erledigt.

Trotzdem an jeder Ecke des alten Gottesackers ein breites Schild: »Friedenshain« prangte, hieß er seitdem im Volksmund »die Kommune«.

 

Als ich in die Stadt kam und nach dem Sinn dieser sonderbaren Bezeichnung fragte, wies man mich in eine kleine Kneipe dicht daneben. Im Fenster – zwischen Schnapsflaschen und Blutwürsten – hing ein Schild: »Verein für Abschaffung des dreiklassigen Bestattungssystemes e. V. In memoriam C. Grips.«

 

Als ich eintrat, fand ich einen Stammtisch biererhitzter Spießer, der gerade im Begriff war, sich in die Gruppe der radikalen Abschaffer und in die der nur auf 1. und 2. Kl. Vereinfacher – zu spalten.

 

Das war das einzige, was von Grips' Geniefunken übrigblieb.

*


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