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Ein reizender Sommerabend des Jahres 1790 umfloß die Fluren Helmstädts. Der botanische Garten stand blumenvoll, und durch die Zweige seiner grünenden Bäume jagten sich zwitschernde Motazillen. Ueber frischgegrabenen Beeten tanzten Mücken im heitern Schwebereigen auf und nieder. Junge Studierende lustwandelten zu zweien und dreien mit ihren Mappen unterm Arme zwischen den Beeten, diese und jene Pflanze betrachtend. Unter einer Baumgruppe in der Nähe eines gegen den Garten sich öffnenden Pavillons, der den Hörsaal bildete, stand ein frischer Knabe, welcher eine Anzahl blühender Pflanzen in der Hand hielt, um diese dem Professor darzureichen, der Sohn des botanischen Gärtners, und ringsum waren Stühle gestellt.
Immer mehr Studenten traten in den Garten, begannen Gespräche, scherzten auch wohl oder trällerten beliebte Liederweisen; Manche setzten sich auch schon an ihre Plätze, es war warm, unter den Bäumen aber erfrischend kühl.
Die Uhren der Universitätsstadt schlugen die sechste Stunde, und mit ihrem Schlage nahte dem botanischen Garten ein Mann von mittler Größe, zartem Gliederbau, strammer, doch nicht gezwungener Haltung und von raschem Gang. Er hielt den kleinen dreieckigen Hut in der Hand und trug eigenes, leicht gepudertes Haar, fein toupirt, und in weichen Wellen an den Seiten des Hauptes anliegend. Rock und Beinkleider waren von grau-grünlicher Farbe, der Busenstreif von Brüßeler Kanten war blendend weiß, ebenso waren die Manschetten, welche lang über die zartgeformtesten Hände niederhingen. An einem Finger der rechten Hand trug dieser Mann einen Ring, dessen Stein völlig die Gestalt eines runden Auges zeigte. Die Schnallen der glänzendschwarzen Schuhe blitzten im Golde der Abendsonne, und ein Kenner konnte sogleich gewahren, daß diese Strahlen nicht von Markasit oder Bergkrystallen ausgingen, sondern aneinandergereihten wirklichen Brillanten entsprangen.
Einige Bürger der Stadt, welche zufällig zu beiden Seiten der Straße, die nach dem Garten führte, entgegenkamen, gingen dem Manne nicht mit flüchtigem Gruße vorbei, sondern sie blieben gegen ihn sich wendend stehen, mit ehrfurchtvoll abgezogenen Hüten in der Hand, bis derselbe an ihnen vorüber war, er aber dankte mit freundlichem Neigen des Hauptes, mit einem heitern Lächeln und einem Blick aus den hellen lichtgrauen Augen, der voll Wohlwollen und Güte war.
Gleich darauf betrat dieser Mann den botanischen Garten.
»Der Herr Professor!« rief der Knabe mit den Pflanzen in der Hand, und alsbald gruppirten sich die Studierenden entblößten Hauptes unter den Bäumen; die, welche saßen erhoben sich, und es bildete sich ungezwungen ein Halbkreis der Zuhörerschaar, der den nahenden gefeierten Lehrer mit allen Zeichen ehrfurchtvoller Aufmerksamkeit empfing. Dieser aber grüßte mit derselben freundlichen Leutseligkeit in Blick und Geberde, gab an den Knaben das dreieckte Hütchen und das spanische Rohr, auf welchem ein kunstvoll gearbeiteter Menschen-Schädel von Silber mit beweglicher Kinnlade als Knopf befindlich war, der bei der Bewegung etwas unheimlich klapperte, – nahm auf einem Stuhle Platz, zog einige Papiere hervor, und begann mit einer hellen und milden Stimme:
»Meine Herren!
»Lassen Sie uns auch heute wieder mit gesammeltem Ernst zunächst einen Blick zu dem richten, von dessen Ehre die Himmel erzählen, die lebenden Geschöpfe zeugen und dessen Ruhm die Bäume und Pflanzen, die Blüthen und Blumen verkündigen. Wir stehen hier mitten in einem Seiner Tempel, und Sie wissen, daß in diesem Tempel ich lieber zu Ihnen rede, als in ummauerten Räumen, hier wo uns frisch und kühl der Odem der Natur, der Hauch Gottes umweht. Immer ziemt dem Jünger, dem Priester der Natur der Ausblick nach oben, und wenn ich auch nicht die Frömmigkeit über die Wissenschaft stelle, so stelle ich sie dieser doch gleich. Darin folge ich nur einem hohen Vorbilde, dem Vater der Naturwissenschaft, dem großen Ritter Carl von Linné. Linné war der frömmste Mann. Mit erhebenden Betrachtungen über Gott und dessen Allmachtschöpfungen hat er seine unsterbliche Naturgeschichte begonnen, die unübertrefflich ist, obschon sie noch bereichert werden könnte. Sie wissen indeß, meine Herren, daß ich nicht für den Druck schreibe. Aber sehen Sie hier diese theuern Schriftzüge, sehen Sie, was Linné an mich geschrieben hat.«
Dabei entfaltete der Professor ein kleines vergilbtes Octavblättchen, an dessen Stirne mit großer Schrift die Anrede über seinem Namen prangte: Viro Celeberrimo, Clarissimo, und las, den Namen überspringend: Professori Helmstadiensi eruditissimo
Carolus Linnaeus.
»Tutum est quod nomen Tuum clarissimum percellit aures meos, licet ego Tibi etiam non ignotus sim. Plurima enim narravit Fama de Tua in Botanicis summa doctrina, quam confirmarunt tot egregia specimina plantarum exsiccatarum tot nova plantarum genera. Vidi enim in collectione celeberrima genera plura a Te communicata, ex China et Madagascar per Te forte delata, de quibus nil novi, nisi quae ipse scripsisti. Wie Dein berühmter Name zu meinen Ohren gelangte, so ist es schicklich, daß auch ich Dir nicht unbekannt sei. Vieles erzählte der Ruf von Deiner großen Gelehrsamkeit im Fache der Botanik, welches mir verschiedene getrocknete Species neuer Pflanzenarten bestätigten: denn in einer sehr berühmten Sammlung sah ich die von Dir mitgetheilten, aus China und Madagaskar durch Dich mitgebrachten Pflanzen, von denen ich nichts wußte, außer was Du selbst über sie geschrieben hast..«
Die Studenten umdrängten, von ihren Stühlen sich erhebend, in dichtem Kreis den Professor; aller Blicke richteten sich auf diese werthen Schriftzüge, die jener freundlich und mit leuchtenden Augen Jedem zum nähern Besichtigen darbot, und erst als Alle das Blatt betrachtet, ließ er dasselbe in einer Tasche verschwinden. Die Studenten nahmen ihre Plätze wieder ein und der Professor fuhr fort:
»Auch Linné liebte es, wie ich es liebe, im Freien zu lehren, und im Freien, mitten in einer seiner botanischen Vorlesungen traf ihn der erste nach ihm gesendete Pfeil des dunkeln, verhüllten Boten, der früher oder später sein Geschoß nach uns Allen richtet. Wohl dann allen Denen, die im Herrn sterben, durch und in welchem wir leben, weben und sind, die nicht dahin fahren, wie eine Ratte im Mist, deren Seelen dann der Teufel in die Hölle karrt, wie im letzten Herbst die des Erzketzers, des Abtes Jerusalem in Braunschweig.«
Dieser Uebersprung vom Erhabenen zum Gemeinen, dieses unerwartete harte, schonungslose Urtheil über einen Verstorbenen, welcher als ein denkender Theolog sich allgemeinster Achtung erfreut, vergesellschaftet mit einem rohen, unästhetischen Bilde – erregte unter der Zuhörerschaft des Professors einen allgemeinen Unwillen, der auch nicht säumte, sich durch starkes Murren und Scharren laut zu äußern.
Dieß änderte aber im Gesicht des Professors nicht einen Zug des freundlich heitern Gepräges desselben. Er hielt einige Augenblicke inne, bis jenes Gemurmel und jenes Scharren aufgehört hatte, und sprach dann ruhig weiter: »Sie mißbilligen, meine Herren, was ich so eben geäußert; Sie wissen, was ich auch weiß, daß Jerusalem unläugbare Verdienste hatte, daß er Begründer des Collegii Carolini in Braunschweig wurde, daß er Erzieher des Herzogs Friedrich Wilhelm war, daß man seine Predigten gern hörte, und daß sein Tod allgemeines Bedauern hervorrief. Sie wissen aber doch – dieß werden Sie zugeben müssen – nicht alles, was ich weiß, und ich sage Ihnen, daß Abt Jerusalem ein Erzketzer war, denn er läugnete den Sündenfall. Wer aber den Sündenfall läugnet, der läugnet folgerichtig die Erlösung, und wer die Erlösung läugnet, ist ein Erzketzer. Niemand, der die Natur kennt, wie ich sie kenne, wird bezweifeln, daß die Schlange wirklich zu Adam und Eva trat und sprach. Die Sprache ward ihr dann zur Strafe genommen. Ja meine Herren, es giebt eine Schlange mit einem Menschenangesicht, ja ich kann sagen, mit einem Teufelskopf, und ich kann dieselbe jedem Herrn, der sie sehen will, in meiner Sammlung zeigen, in der ich überhaupt alles Erdenkliche zeigen kann.«
Die überraschende Kühnheit dieser letzteren Behauptung wirkte so lähmend auf alle Hörer, daß sie die Erinnerung an die erstere völlig aufhob. Keiner wußte mehr, was er denken oder sagen sollte, und wie sehr man auch an dem alten Herrn, der bereits im sechzigsten Lebensjahre stand, Wunderlichkeiten und Seltsamkeiten in Fülle gewohnt war, so hatte man so Etwas doch nie vernommen. Er aber gönnte dem Grübeln über Wahrheit oder Unwahrheit seiner Behauptung weder Zeit noch Spielraum, sondern fuhr fort zu sprechen und mit Gewandheit auf andere, wenn auch wiederum heterogene, in das botanische Collegium kaum gehörende Dinge überzuspringen.
»Glaube doch ja Keiner von Ihnen, meine Herren, daß ich irgend ein wahres Verdienst verkenne. Das sei ferne von mir. In Mühlhausen, wo ich geboren wurde und wo mein Vater die beste Apotheke besaß, daher ich auch frühzeitig für die Stoffe der Natur, ihre Kraft und Wirkung Vorliebe gewann, und mit Neigung alles In- und Fremdländische kennen lernte, war es der Rektor der Schule, Magister Gottfried Böttcher, zugleich mein Pathe, dessen Andenken ich nicht dankbar genug verehren kann. Dieser würdige Mann war es, der mich denken lehrte, und meine Gedanken richtig ordnen, später habe ich es durch eigenen Fleiß dahin gebracht, wie Sie schon wissen, stets Zweierlei zugleich zu denken. Durch jenen Mann lernte ich die Kunst, im Augenblick auf alles einen Gedächtnißvers, sei es in deutscher, lateinischer, oder jeder andern Sprache zu dichten, und ist es in der lateinischen Sprache vornehmlich die Form des Distichons, die sich dem Gedanken voll sprachlichen Wohllautes anschmiegt, wie ein schönes Gewand einer jugendlichen Schönheit. So habe ich auf jedes der zahlreichen Gemälde meiner höchstwerthvollen Bildergallerie, welche Stücke von Rafael, Giulio Romano, Correggio, Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Rubens, Lucas von Leiden und allen berühmtesten Malern aller Zeiten und Länder enthält – ein lateinisches Distichon geschrieben, zum Beispiel auf eine Venus mit dem Amor von Tizian dieses:
Cum puero Venerem pulchram pinxit Titianus
Ornans hanc tabulam peniculo Charitum.«
»Sie werden finden, daß es nicht wohl möglich ist, dieses lateinische Distichon ebenfalls als solches wort- und sinngetreu in deutscher Sprache wiederzugeben.«
»Indessen läßt sich auch in leoninischen Versen Hübsches sagen, auch zu diesen leitete mich jener wackere Rektor unserer Mühlhäuser Schule an!« fuhr der Professor fort, und wandte sich mit den Worten zu dem Knaben: »Bringe uns einmal eine Rose!«
Während der Knabe sich beeilte, dem Befehle Folge zu leisten, sprach der Professor: »Hören Sie zu, meine Herren, ich gebe Ihnen jetzt ein botanisches Räthsel in leoninischen Versen auf:
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Sunt quinque sati,
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Was ist dieß? – Sie sinnen vergebens darüber nach; ich will Ihnen das Räthsel noch einmal deutsch sagen:
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Fünf Brüder erkoren
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Während der Professor dieß vortrug und die Studenten sinnend dasaßen, war der Knabe mit einer voll aufgeblühten Rose wieder gekommen.
»Da ist ja schon die Auflösung unseres Räthsels!« nahm Jener das Wort. »Sehen Sie, meine Herren, diese fünf Kelchblätter der Rose. Zwei haben in der That jene eigenthümlichen Franzen oder Einschnitte vom Ansatz bis zur Spitze, welche die botanische Terminologie, obschon uneigentlich, einen Bart nennen könnte; es ist dieß ein artiges Spiel der Natur, das aber sicher einen weisen Zweck hat, jedoch nicht bei allen Rosenarten sich wiederholt, daher zum neuen Räthsel wird, warum die Natur oder der Schöpfer bei einer Rosenart eine Einrichtung nothwendig sand, welche bei einer zweiten und dritten Rosenart nicht nothwendig sein muß, da sie bei ihr nicht gefunden wird.«
Während er sprach, weilte der Blick des Professors öfters mit etwas stechendem Ausdruck länger als gewöhnlich auf einem der jungen Studierenden, der sich durch schlanken Wuchs und ein kluges Gesicht auszeichnete, aber äußerst einfach gekleidet war, als wolle der Lehrer erforschen, ob gerade dieser Zuhörer an dem Vortrage Theilnahme zeige. Dieser begegnete zum Oeftern die Augen nach dem Professor aufschlagend, dem beobachtenden Blick und verstand ihn vollkommen, denn er nahm dabei stets die Miene der größten Aufmerksamkeit an, obschon er sich bewußt war, daß er schon etwas von der Kunst sich angeeignet habe, deren erst zuvor der Professor sich gerühmt, nämlich zweierlei zugleich zu denken, und seine Gedanken auf labyrinthischem Flug durch die Irrgänge des botanischen Gartens betroffen hatte.
Dieß stille Mienen- und Gedankenspiel der Beiden, des Lehrers und des einen Hörers nahm indeß kein Dritter wahr, und jetzte winkte der Professor dem Knaben, und entnahm dem Pflanzenstrauße, den dieser in der Hand hielt, ein blühendes Doldengewächs mit gefiederten Blättern, welche jenen der Petersilie ähnelten, aus der zahlreichen Reihe doldentragender zweiweibiger fünfmänniger Pflanzen, die genau von einander zu unterscheiden, gründliche Kenntniß erfordert.
»Wir wollen einmal diese Pflanze bestimmen, meine Herren!« sprach der Professor. »Wir sehen eine eirund-länglich gestreifte Frucht, fructus ovato-oblongus-striatus, die Blumenblätter einwärts gebogen, die Blätter gefiedert, dreispaltig eingeschnitten, wurzelständig – ja – und die Dolden – die Blätter – nun – nun – es ist doch kein Schierling – kein Bärenfenchel – kein Kerbel – kein Kümmel – hm hm – es schwebt mir auf der Zunge – es ist – Geißfuß.«
Offenbar irrte und verwirrte sich der Professor; eine flüchtige Röthe stieg ihm ins Gesicht; die hellen grauen Augen schossen Blitze; dem scharfen spähenden Blick entging nicht das Lächeln seiner Zuhörerschaft über die unerhörte Blöße, die der gelehrte Mann sich so eben gab, denn noch nie war der Fall vorgekommen, daß er nicht auf der Stelle eine Pflanze völlig richtig zu bestimmen vermocht hätte, und diese, die er jetzt in der Hand hielt, hatte er falsch bestimmt.
Plötzlich nahm sein Gesicht den Ausdruck größter Heiterkeit an, und er sprach lächelnd:
»Nicht wahr, meine Herren, ich irre mich, welches mir doch eigentlich nie geschieht, aber nun will ich Ihnen den Grund sagen, aus dem mein augenblicklicher Irrthum entstanden ist. Schon vorhin erwähnte ich der mir erworbenen Fertigkeit, stets zweierlei zu denken, deren ich auch schon öfter gegen Sie gedachte – auch bin ich erbötig, über diese Kunst ein Privatissimum zu lesen. Als ich nun beim Beginn des heutigen Collegiums in den Garten trat, nahm ich mir vor, einmal ausnahmsweise dreierlei zu denken. Ich habe auch wirklich dreierlei gedacht, allein darüber ist der eine Gedanke auf irrige Bahn gelenkt worden, wie ein junger Mensch manchmal auf Irrwegen geht, wenn er die Wege des Lernens und des Gehorsams wandeln sollte.«
Hier fiel wieder ein scharfer Blick auf den erwähnten jugendlichen schlanken Zuhörer, und auch dieser blieb nicht unverstanden, denn jener erröthete, während der Professor ruhig fortsprach: »Die Pflanze ist eine Bibernelle und zwar nach Linné Pimpinella Anisum, bei uns Kulturpflanze, in Aegypten heimisch, die Blume giebt reichlichen Honig, der Saame ist bekannt, und nicht minder das unangenehm riechende Anisöl, mit welchem man – mit Erlaubniß zu sagen, den Vögeln die Milben und den Menschen die Läuse vertreibt.«
Ohne sich darum zu bekümmern, ob dieser allzunatürliche Nachsatz Beifall finde oder nicht, entnahm der Professor dem Strauße, den der Knabe hielt, mit Bedacht eine Pflanze mit distelähnlichem Blüthenkopf, der gerade im Aufblühen begriffen war, und sprach weiter:
»Da ich eben Aegypten als Heimath des Anises nannte, so will ich Ihnen gleich eine zweite, in diesem Wunderlande heimische Pflanze vorführen, gegen welche ich eine ganz besondere Vorliebe und Verehrung habe, indem ich ihr, neben meinem mir von Gott verliehenen reichen und umfassenden Wissen namhafte Schätze verdanke.«
»Der Kelch dieser Pflanze ist eiförmig, mit an der Spitze fast eiförmig blattartigen Schuppen geschindelt. Die Blätter sind eirund, glattrandig, sägeförmig gestachelt. Die Pflanze gehört in die Klasse der röhrenbeuteligen Phanerogamen mit gleichförmiger Vielehe. Es ist nach Linné Carthamus tinctorius, zu deutsch Saflor; die Blüthe ist höchst nutzbar als Färbekraut, oft zur Verfälschung des Safrans dienend und als solche mindestens von dem Verdienst, unschädlich zu sein, während betrügerische Teufelsbündner jenen mit ungleich schlimmeren Dingen vermengen. Der Farbestoff dieser Pflanze, die mir gewissermaaßen heilig ist, ist mit ein Bestandtheil der von mir erfundenen zur Zeit in Europa noch gar nicht in Gebrauche gebrachten einzig trefflichen und unschädlichen Schminke, die in China jetzt bereits im allgemeinen Gebrauche ist. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, meine Herren, daß man im Orient auf die verschiedensten Stoffe verfiel, sich die Haut zu malen; schon die Bibel erwähnt der Schminke öfters, die Alten malten ihre Antlitze mit Safran und Krokodilkoth – welches eigentlich nur der Auswurf einer kleinen Eidechsenart ist. Theophrast erwähnt das Rhizion, offenbar die Henna oder Alkannawurzel, Plautus führt das Purpurissimum der Römerinnen an, ohne Zweifel das Roth der Purpurschnecke. Ovid theilt ganz wunderliche Schmink-Recepte mit; Plinius empfielt das Laub der wilden Rebe; Poppea machte einen Semmelteig mit Eselsmilch an, und legte ihn auf, andere Damen versuchten das Kunststück der Hautfärbung mit Essig, noch andere mit dem Absud der Ochsenzungenwurzel. Auf meinen Reisen im Orient habe ich mein Augenmerk vorzüglich auf die Schminkmittel gelegt. Auf Sumatra bereiten die Frauen die Schminke Punguhr aus der Pflanze Dihlum, in Persien und der Türkei wird feinste Schminke aus dem Satzmehl der Iriswurzel, Iris persica, die solches sehr reichlich giebt, gewonnen, das Verfahren ist ganz leicht, ich habe viele solche Schminke selbst bereitet. Das alles ist gar nichts gegen meine Erfindung. Die meisten Schminken, auch die aus dem Iriswurzel-Amylum, haben Bestandtheile, welche die Haut nur röthen, indem sie sie reizen, fortdauernder Reiz aber muß endlich zerstören, oder sie verstopfen die Poren und erzeugen Ausschläge. Als ich nach langen Versuchen meine Schminke erfunden zu haben so glücklich war, habe ich Gott auf den Knieen dafür gedankt; sie ist völlig, aber auch völlig unschädlich, der edelste vegetabilische Purpur, Venus und Juno konnten nicht reizender blühen, als diese Schminke holde Wangen malt, sie verdient den Namen Ichor, welchen ich ihr gegeben. Ich sehe es Ihnen an, meine Herren, Sie sind begierig, diese Schminke kennen zu lernen.« –
Jetzt wurde in der Hand des Professors eine Art Kartenblatt erblickt, wenigstens hatte das hervorgezogene dünne Papptäfelchen nur die Größe des Blattes einer französischen Spielkarte. Dieses Blatt schlug sich auseinander, und zeigte den neugierig Hinzutretenden zwei glatte Flächen, welche in einem metallischen Grün erglänzten, wie die Flügeldecken eines Goldkäfers.
»Grün? Schminken sich denn die Chinesinnen grün?« murmelte mehr als eine Frage der Ueberraschung durch den Studentenkreis.
Wieder lächelte der Professor ganz heiter und nahm das Wort: »Sie vermuthen, meine Herren, weil die Töchter Hiobs sich mit Spießglanz schminkten, und die schönen Britannierinnen zu Cäsars Zeit sich ihre Gesichter himmelblau anmalten, um wahrhaft himmlischschön zu erscheinen, die Grönländerinnen sich gelb schminken, die Araber und Perser aber die schwarzen Schminkpflästerchen aufbrachten, so müßten die Damen des Reiches der Mitte auch etwas voraus haben, und sich grün schminken, dem ist jedoch nicht so. Sehen Sie!«
Jetzt netzte der Professor den zarten reinen Zeigefinger seiner rechten Hand nur wenig mit der Zunge, tippte auf das Blatt, und beschrieb einen feuchten kleinen Kreis. Wie er den Finger davon hob; erschien dessen Spitze, wie in den zartesten Purpur getaucht.
»Sie erstaunen, meine Herren, und mit Recht!« fuhr der Professor fort. »Der Kaiser von China erstaunte auch, als ich ihm diese himmlische Erfindung, meine Erfindung, mein Geheimniß zeigte. Der Kaiser war schlau, wie die meisten Chinesen es sind, dieses Schachervolk Hinter-Asiens mit seinem ewigen Stehenbleiben ohne Fortschritt – er wollte das Geheimniß haben – es sollte ein Monopol der Krone werden. Bedenken Sie, was das sagen will in einem Lande, wo Schminke so unentbehrlich ist, wie bei uns das Salz, wo die ungeschminkten Damen mit ihrer wahrhaft abschreckenden Blässe nicht zum Ansehen sind. Da fragte mich nun der Kaiser, was ich für mein Geheimniß verlange – armer Kaiser – er konnte mich nicht bezahlen – sein Schatz reichte nicht hin. Dennoch bestand er darauf, das Geheimniß zur Bereitung dieser Schminke zu erlangen, und so riß er aus seiner Krone den wundersamen Diamanten, der seines Gleichen nicht hat auf Erden, und gab ihn mir als Pfand für die Summe die ich gefordert, binnen Viertel-Jahresfrist wolle er ihn einlösen – wolle ich aber dieses Pfand nicht annehmen, so sollte ich seinen Palast nicht lebend verlassen. Ich nahm den Stein, der mich anstrahlte wie das Auge eines Zaubergeistes, ich lehrte dem Hofadepten des Kaisers die Bereitung meiner Schminke, die sofort im ganzen Reiche eingeführt wurde, und wohl in der Folge als Handelsartikel bis nach Deutschland dringen wird.«
»Meine Schminke machte den Kaiser von China reich, ich schwöre es.«
»Ein Vierteljahr wartete ich in Madagaskar, wohin ich mich von China aus begab, auf des Kaisers Botschafter, welcher kommen sollte, den Diamanten einzulösen, allein es kam kein Sendbote, und ich kehrte mit diesem Schatze, den kein Fürst Europa's zu bezahlen im Stande ist, und mit einer überaus reichen Ladung von Seltenheiten, Naturprodukten, Idolen, Waffen, Kleinodien und Wunderwerken des Orients nach Deutschland und in diese kleine Stadt zurück, wo ich als der Medicin und Philosophie Doctor, Herzoglich-Braunschweig-Lüneburgischer Hofrath, erster Professor der Arzneiwissenschaft, Chemie, Chirurgie, Pharmazeutik, Physik, Botanik und der übrigen Naturgeschichte an der Universität Helmstädt die Ehre habe, Ihnen meine Herren, ein Collegium botanicum zu lesen und guten Abend zu wünschen.«
Mit dem letzten Worte, das der Professor sprach, schlugen die Thurm-Uhren Sieben, erhob er sich vom Stuhle, empfing aus des Knaben Händen Hut und Stock und entschwand mit freundlichem Neigen des Hauptes gemessenen, doch ganz leichten Trittes dem Studentenkreise.
Wie der Professor so dahin ging auf dem kiesbestreuten Gartenpfade in der Abendsonne freundlichem Scheidestrahl, da sahen die ihm ganz erstaunt und verwundert Nachblickenden, wie die lichtgraugrünliche Farbe seiner Bekleidung jetzt schillerte, wie tyrischer Purpur oder wie vorhin das Roth der chinesischen Schminke, und jene wußten nicht, war das Wirkung des Sonnenstrahles, war es ein Zauber, oder ein Wunder des tief erfahrenen Adepten? –
In einem kühl überschatteten Rund, von blühenden Spiräen und Pfeiffenstrauch umgeben, einem einsamen Plätzchen ganz am Ende des botanischen Gartens, stand ein Arbeittischchen, und an diesem saß mit einer Näherei beschäftigt, ein blühendes Mädchen mit großen blauen Augen, goldblondem Haar und einer lieblichen ebenmäßigen Fülle des Körperbaues. Das erwähnte Haar umwallte aber keineswegs das jugendfrische Antlitz dieses siebenzehnjährigen Naturkindes in Lockenströmen, sondern es war gefesselt von einer ländlichen Haube, zu welcher auch der ganze, sehr reinliche, ja vielleicht reiche Anzug stimmte. Eine Städterin war das nicht, kein Gedanke irgend einer »Frisur« an ihr zu entdecken, weder am Kopf, noch am Kleid, und eine Einheimische war sie ebenfalls nicht, auch nicht vom Lande um Helmstädt, ganz anders, ganz fremdländisch erschien ihre Tracht.
Es war dieselbe Abendstunde von sechs bis sieben Uhr, in welcher im vorderen Theile des botanischen Gartens der gelehrte Professor sein Collegium las, darin seine Zuhörer wenn auch nicht eben viele Botanik, doch gar manches andere Wissenswerthe lernten, denn stets wußte jener Mann Belehrendes, stets Neues und oft Ueberraschendes zu sagen, stets hatte er für das was er sagte, Beweiße vor Augen zu legen, wenn irgend in der Brust eines Hörers sich ein leiser Zweifel an der Wahrheit des Gesagten regen wollte, darunter die kostbarsten Apparate und Instrumente, die merkwürdigsten Naturproducte, und hätte ein Zuhörer der heutigen Vorlesung, wenn ein völlig freier Vortrag ohne Zugrundelegung eines Collegienheftes so genannt werden kann – Wunsch und Verlangen ausgesprochen, die Schlange mit dem Menschenantlitz zu sehen, so würde das den alten Professor nicht im Geringsten in Verlegenheit gesetzt haben.
Je mehr von der bezeichneten Abendstunde dahinfloß, je mehr gab sich im Wesen der einsamen Schönen eine süße Unruhe kund, die liebliche Röthe ihrer blühenden Wangen wuchs wie die Abendröthe wächst, je weiter die Sonne hinabsinkt, fast bis zur Gluth. Sie versuchte, diesen Geist der Unruhe mit dem Zauber des Gesanges zu bannen, und sang die Strophe eines thüringischen Volksliedes mit zärtlicher Melodie und mit vollem frischen Wohlklang ihrer jugendlichen Stimme.
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»Du – Du – liegst mir im Herzen –
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Die Sängerin stockte – hatte das Lied vielleicht keine zweite Strophe, da die erste so viel, da sie alles sagte, oder ließ die Unruhe der Erwartung sie nicht weiter singen? Die Uhr war Schuld, die Thurmuhr, welche eben zu vierteln begann, und ausschlug – die siebente Stunde. Ein freudiger Schreck, das süße jungfräuliche Bangen, den Geliebten nahen zu wissen.
Und noch hatten nicht alle Uhren der Thürme Helmstädts ihre Schuldigkeit gethan, so schallten Tritte auf einem Seitengange durchs Bosket, so rief, aus dem Spiräengebüsch tretend, ein junger Mann: »Guten Abend, Jungfrau Sophie!« und erbebend, mädchenhaft verlegen, flüsterte die junge Schöne: »Guten Abend, Herr Leonhard.«
»Ach, laß den Herrn hinweg, Liebe!« bat der Jüngling, der nach der Hand des Mädchens faßte, die sie ihm schüchtern ließ. »Ich würde sagen, nenne mich bei meinem Vornamen, wenn mein Vatername nicht schöner klänge als jener.«
»Und wie heißen Sie mit dem Vornamen?« fragte Sophie, indem sie den freundlichen Blick fest auf ihren Verehrer richtete.
»Wie ein alter Studentenrock!« erwiederte Jener: »Gottfried.«
Sophie lächelte.
»Sie lachen! Ja leider ist das ein Name, bei dessen Nennung man in jedem Gesicht ein leises Zucken der Mundwinkel wahrnimmt.«
»Gott ist doch das Höchste, und Friede das Beste,« entgegnete gefühlvoll Sophie.
»Aber Gottfried nicht das Schönste!« gab der schlanke junge Mann zurück, derselbe, der als Zuhörer im Studentenkreise des botanischen Collegiums gesessen, dem des Professors forschende Blicke gegolten, dessen Gedanken zugleich bei jenes Vortrag und in diesem traulichen Winkel des Gartens geweilt hatten.
Es war wundervoll schön und still in dieser heimlichen, grünen Garteneinsamkeit. Nachdem es sieben Uhr geschlagen hatte, und die Studierenden hinweggegangen waren, verließen auch die Gehülfen und die Arbeiter die raumvolle Anlage, der Garten blieb ganz einsam. Die graue Grasmücke ließ wunderschön ihren füllereichen Gesang erklingen und in den Büschen hörte man von Zeit zu Zeit eigenthümliche Vogelstimmen, die halb wie Angstschreie, halb wie Gezänk klangen, und von jungen, im letzten Lenze erst ausgebrüteten Nachtigallen herrührten, die einander durch die Zweige jagten.
»Wer gab Ihnen den Ihnen so unlieben Vornamen?« fragte das junge Mädchen, die das Gespräch nicht stocken lassen zu wollen schien.
»Wer anders, als der alte Herr, mein Pathe, der Professor, aus dessen Collegium ich so eben komme, welchem Collegium ich beiwohnen darf, beiwohnen muß, ohne eigentlich Student zu sein; der Gebieter meines Vaters, der Erhalter unserer ganzen Familie, dem wir Alle Dank, Verehrung und Liebe schuldig sind, und sie ihm auch aufrichtig zollen, der aber doch –«
Hier stockte der junge Mann, und erröthete.
»Nun? Sie schweigen?« fragte Sophie forschend.
»Dieser wunderbare Mann weiß alles, erfährt alles, sein Blick dringt tief in das Innerste!« fuhr der Jüngling fort. »Fast möchte man sich versucht fühlen, zu glauben, die alten Märchen vom Krystallschauen und zauberischen Spiegeln, in denen der Besitzer alles erblicken kann, was er erblicken will, seien keine Märchen – hat er doch der seltsamen Instrumente so viele, deren Gebrauch nur er allein kennt. Ich will darauf wetten, liebe Sophie, er weiß bereits, daß wir uns gut sind, daß ich Dich liebe, Dich, des Gärtners Nichte, Dich, Du liebes Thüringerwaldmädchen, Dich, Du Wunderblume in diesem Garten!«
»Hören Sie auf, Herr Leonhard! Ich bitte!« rief Sophie. »Wohl bin ich ein Mädchen vom Thüringerwalde, aber nur eine einfache Wiesen- durchaus keine Wunderblume; schlicht und einfach in meinem Wesen, ein Kind der Natur, und beim guten Oheim zum Besuch. Sie sahen mich hier im Garten, näherten sich mir freundlich, flößten mir Vertrauen ein. Sie wurden mir lieb, ich Ihnen. Sie haben so schöne Talente, Leonhard, Sie zeichneten und malten mir nette Bilder, schnitten mir hübsche Sachen aus, brachten mir gute, wohlriechende Dinge in Büchschen und Fläschchen mit, die ich nie sah und roch, und wollten mir auch Schminke geben, wenn ich deren bedürfte, aber dem Himmel sei Dank, dieses Bedürfniß überlasse ich den Stadtdamen.«
»Alle diese Dinge, die Odeurs und Parfüms fertigt der alte Herr, und spendet uns gern davon,« erwiederte Leonhard. »Die Schminke, die Sie erwähnen, ist der feinste Carmin, den er erfunden hat, indem er die früher bekannte Fabrikation dieser theuern und beliebten Farbe wesentlich verbesserte. Heute zeigte er uns aber eine von ihm ebenfalls erfundene chinesische Schminke, die uns wie ein Wunder erschien, und deren Feinheit so eigenthümlich zart ist, daß sie gleichsam substanzlos erscheint, wie ein Hauch auf einem Kartenblatt, goldgrün glänzend und mit befeuchtetem Finger berührt, diesen wunderschön röthend.«
»Sie erzählen kaum Glaubliches!« sprach das junge Mädchen staunend. »Aber was Sie vorhin erwähnten, könnte mich beunruhigen – er wird Ihnen zürnen um meinetwillen – und dann auch mir, er wird meinen Oheim bewegen, mich bald wieder nach Hause zu senden – und ich werde gehen müssen und –«
Sophiens Augen wurden feucht, ihre Stimme erbebte. »Und Dein Herz wird hier zurückbleiben!« rief Leonhard ergänzend und freudig aus. »Und mein Herz, meine Liebe, werden Dir folgen über alle Fernen! Ich schwöre es Dir, Sophie, daß ich redlich streben werde, Dich zu erringen, Dich einst die Meine zu nennen. Der alte Mann liebt mich, vielleicht mehr als ich verdiene, er hat mich im Auge, mehr als ich ihm danke. Er beweißt mir das väterlichste Wohlwollen, aber er paart es mit väterlicher Strenge. Gar oft weilt sein Blick auf mir mit eigenthümlichem Ausdruck. Keines von meinen jüngeren Geschwistern darf sein Zimmer betreten, nur der Vater, die Mutter und ich dürfen darin säubern. Vater und Mutter sind treue, schlichte Menschen, sie haben keine Kenntniß von den hohen und kostbaren Dingen, mit denen der alte Herr sich umgeben hat, mit den mannichfaltigen Sammlungen, die so reichen Stoff zur Belehrung bieten. Mir aber lehrt er täglich Neues; es freut ihn, daß mein Sinn sich dem Naturstudium zulenkt. Dennoch scheint er zu mißbilligen, daß ich Jäger, Forstmann werden will. In diesem Fach, meint der alte Herr, sei zwar dereinst noch viel zu leisten, die Forstwissenschaft liege noch in der Wiege, aber es sei kein Fach für mich. Und doch muß ich jeden Sommermorgen hinaus und botanisiren, und von Zeit zu Zeit hinüber auf den Harz, um dessen Pflanzen zu sammeln und kennen zu lernen und für das Herbarium einzulegen, auch Vögel und kleine Thiere muß ich schießen und ausstopfen. Du solltest unser Naturalienkabinet sehen, liebe Sophie! Mehr als zweihundert Stücke habe ich schon mit eigener Hand ausgebalgt und ausgestopft.«
»Da wird Sie der alte Herr nicht sobald von sich lassen, und Sie werden nicht bald selbstständig zu werden vermögen!« warf Sophie offen hin, ein sehr natürliches Bedenken ohne Scheu aussprechend.
»Theures Mädchen!« entgegnete der Jüngling mit liebevollstem Blick und Ausdruck: »Geduld heißt in tausend Fällen der jungen Liebe Losungswort. Geduld und Hoffnung! In Hoffnung liegt ein hohes Glück. Die stillgenährte, geheime Liebe regt zum edelsten Streben an, sie lehrt dem Jüngling Fleiß, Ausdauer, Beständigkeit, ihr verheißungreiches Grün sei unsere Farbe. Laß uns auf einander hoffen, theure Sophie! Gieb mir das Wort der Treue, gieb mir den Kuß der Verlobung, ich schwöre Dir, daß ich alle Kräfte meines Lebens aufbieten werde, Dir nächst dem Herzen, das ich jetzt Dir biete, das Du ganz erfüllst und erfüllen wirst, auch die Hand bieten zu können. An mein treues Herz, Sophie!«
Von dem wonnevollen Zauber reiner Jugendliebe durchglüht und entflammt, sank Sophie in des liebenden Jünglings zärtliche keusche Umarmung und duldete den ersten Kuß und erwiederte ihn.
Die Sommersonne sank und ihre letzten Strahlen übergoldeten die Wipfel. Von den vollblühenden aber im Abblühen begriffenen Viburnumsträuchen fiel reichlicher Blüthenschnee auf den Rasenteppich, und die in nicht minder reicher voller Frische prangenden Blumentraubenbüschel der Akazienbäume erfüllten den Garten mit herrlichem Arom.
Die Liebenden hatten sich neben einander gesetzt, stillselig, wenige Worte auf dem Munde, um so mehr Wonne im Herzen. Sie bauten den Prachtpalast der Hoffnung herrlich auf, reizend und schön, sie lauschten dem Gesang der Grasmücke, der noch immer lieblich und melodisch aus dem Dickicht schallte, bis der Abend tiefer schattete, und sie sich zögernd trennten. – »Ach noch einen Kuß! – Und noch einen! – Und nun den letzten!« – »»Gute Nacht, mein Lieb, mein Leben!«« – »Gute Nacht Du holder Engel! Träume von mir!« –»»Schlummere süß und träume auch Du von mir! – Gute Nacht!«« – »»Gute Nacht! Und wann sehe ich Dich wieder? – Morgen?«« »»Morgen nicht! Uebermorgen!«« – »Ach – wie lange! – Nun gute Nacht!« – »»Süße gute Nacht!«« –
Der liebende Jüngling schlüpfte durch ein Pförtchen, das sich in der Nähe des traulichen Plätzchens gegen das Feld öffnete, und welches Sophiens Hand entriegelte, aus dem Garten, und Sophie ging mit ihrer Arbeit, das Herz voll alle der Seligkeit, mit welcher eine unentweihte Liebe die Menschenseele füllt, nach der Gärtnerwohnung zu.
Die Abenddämmerung war eingebrochen; der Westhimmel sandte noch einen Abglanz von schimmernden Purpurwölkchen nieder auf die Häuser Helmstädts.
Unter diesen Häusern zeichnete sich eines durch besonders alterthümliches Ansehen aus, im Aeußern sowohl, als im Innern. Mächtiger Giebel, graues Gestein, breite Steinsimse vor schmalen Fenstern, von denen die im untern Geschoß durch weit ausgebauchte, mit kunstreichem Laubwerk verzierte Eisengitter zur Abhaltung von Dieben versehen waren. Die große Bogenthüre war ebenfalls mit kunstvoller Schlosserarbeit verziert, und Griff und Klopfer waren von schwerem Bronzeguß, und zeigten einen Löwenkopf mit Ring im Rachen und ein drachenähnliches Monstrum.
War man durch diese Thüre in das Innere getreten, so fand man sich auf einem feuchtkühlen, leeren, hallenden Vorplatz, mit Steinen geplattet, durch einen Pfeiler gestützt, aus dem eine ganz kleine Thüre nach dem Hofe zu führen schien, von dem zwei runde Fenster, die mit Kreuzgitterung verschlossen waren, einiges Licht einfallen ließen. Die grauen, lange nicht geweißten, mit phantastischem grünlichem Gewölk der Schimmelbildung überzogenen Mauern wurden von mehreren Thüren unterbrochen, deren ganze Gestaltung eben auch den Charakter des Alterthümlichen aussprach. Eine dieser Thüren, zur Linken des Eintretenden, öffnete den Eintritt in den Hörsaal des alten Professors, eine gegenüber befindliche zur Rechten ließ in eine Art Empfangzimmer eintreten, welches mit reichem aber höchst altväterischem Hausrath ausgeschmückt war. Eine dritte Thüre führte zur Wohnung des Dienerpaares Leonhard; er ein alter Mann und sie eine bejahrte Frau, beide von schlichtem Aeußeren, einfachem, aber etwas welt- und leutescheuen Wesen, mit ihren Gedanken und Erinnerungen mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart wurzelnd und lebend. Die Fenster dieser Wohnung, die ziemlich beschränkt war, und nicht ausreichend für den Kindersegen, mit welchem der Himmel dieses alternde Paar bedacht, und der sich in Dachkammern behelfen mußte, gingen nach dem Hofe hinaus, der mit einem kleinen Hausgarten verbunden war – und standen offen, um die letzten Abendstrahlen und den erfrischenden Hauch der Abendkühle einzulassen in die etwas dumpfigen, sonst aber außerordentlich sauber gehaltenen Gemächer.
Auch die nach dem Garten hinausgehenden Fenster der Wohnstube des Professors mußten offen stehen, denn es zogen und zitterten aus ihnen melodische Klänge über den kleinen Hof, die sich mit den letzten Strahlen vermählten, welche ihn verklärten. Es waren Saiten-Klänge, so voll und tief, wie von einer Pedal-Harfe, wunderbar rein, bald stark und machtvoll, bald sanft rauschend, wie das Gemurmel eines Waldbaches, bald ersterbend, wie der Aeolsharfe Tönesäuseln.
Das alte Paar hatte die Abendmahlzeit vollendet, die Kinder zur Ruhe gesandt, und saß im vollen Feierabendfrieden neben einander. Leonhard hatte sein grünes Sammetkäppchen abgezogen und hielt es zwischen den gefaltenen Fingern, wie beim Gebet in der Kirche, den sinnenden Blick nach außen gewendet. Lenore, die Hausfrau, in ehrbarer, steifer, altväterischer Tracht, in ihrem großgeblümten Kattunkleid so ganz in die Umgebung passend, neigte sich lauschend aus dem Fenster und flüsterte: »Horch! Der Herr spielen wieder die Laute – ach wie schön!«
Es war so. In seinem Wohnzimmer, das angefüllt und überfüllt war mit einer unübersehbaren Menge von Büchern, Geräthschaften, Instrumenten, Flaschen, Phiolen, Präparaten, Papieren, alles im buntesten Durcheinander, so daß auch auf Tischen und Stühlen alles voll stand und lag, und das Auge eines Ruhebedürftigen vergebens nach einem Raume zum Sitzen gespäht haben würde – saß auf dem einzigen noch leergebliebenen, an das Fenster gerückten Sessel, im bequemen Hauskleid, der bejahrte Mann mit den grauen Locken – und griff Accorde auf einer Laute oder Theorbe, an welcher alles ausgezeichnet und ungewöhnlich war. Das Instrument war außerordentlich groß, hatte einen zweifachen Wirbelkasten, war mit sechsundzwanzig Saiten bespannt, deren obere Chöre über die unteren frei hinweg liefen; die Wirbelkästen waren künstlich ausgeschnitzt und von Ebenholz, der Hals war mosaikähnlich mit Elfenbein und Mahagoniholz in kleinen schrägen Feldern geschacht, und am Bauche wechselten breite Mahagoni- und Elfenbeinstreifen mit einander ab. Dieses ziemlich alte Instrument besaß eine wunderschöne Resonanz, wie kaum ein ähnliches.
Der alte Herr schien sich Erinnerungen hinzugeben. Er heftete den sichern festen Blick auf die Theorbe, und während er auf ihr fortwährend keineswegs Stückchen oder Melodieen spielte, sondern nur wechselnde Accorde griff, bald volle und starke, bald zarte und schmelzende, sprach er leise vor sich hin, fast rezitirend, fast rythmisch, und der Gegenwart völlig entrückt:
»Bleibe bei mir, liebe Seele! Entfliehe nicht mit den Klängen, süße Seele meiner unsterblichen, ewig lieben Regina!«
»Stimme im Abendroth, elegischer Wiederhall aus seligen Zeiten, als Aurora den Liebenden die Purpurthore holder Lebenshoffnungen, froher Träume klingend aufthat, säusle mir Labung zu!«
»Du geliebte Laute! Du einziges und doch nicht einziges Andenken an sie, an die Unvergeßliche! Ach, sie spielte Dich mit entzückender Meisterschaft – sie sang zu Dir mit himmlischer Stimme. Dich hielt sie im Arme, als ich, ein feuriger Jüngling, zu ihren Füßen lag, und ihr glühende Liebe schwur!«
»Dich legte sie in meine Hände, ehe sie an mein Herz sank. Dich sandte sie mir, daß ich Dich stimme, da nur ich, nächst ihr, dieß konnte, denn alle die Stümper von Musikanten vermochten's nicht – und Du trugst in Deinem verschwiegenen Schoose die schriftlichen Ergüsse unserer Herzen. Die Liebe lehrte mich, Dich zu stimmen, denn in Kirchers Phonurgia und Musurgia war Deine Stimmung nicht zu finden, in unseren Herzen aber war reine Stimmung, vollste Seelenharmonie.«
»In Dich legte sie ihre schöne Seele nieder, in Deine Saiten ihre Klage; Du hast ihre Thränen getrunken! Lange ahnete niemand – niemand unsere geheime, götterselige Liebe – sie war zu hoch, zu göttlich, als daß sie irdische Dauer hätte haben können. Und als Regina mir in tiefer Verborgenheit das theure Pfand gegeben – entschwebte sie, eine Verklärte zu den Verklärten!«
»Du nur, meine Laute, die ich nach ihr Regina nenne, Du kanntest unser Geheimniß in ganzer Fülle, und Du und ich, wir weinen beide ihr nach! Du mit Klängen, ich mit Thränen.«
Tiefer dunkelte der Abend, die Klänge erstarben. Im Gemache des Professors wurde es mondhell – aber von keiner Lampe. Ein zauberhafter Schein und Schimmer durchleuchtete es seltsam und wunderbar. Er ging von einem großen Krystall aus, der ihn verstärkte. Dieser Krystall war ausgehöhlt, und seine Höhlung umschloß hermetisch einen Phosphor von der stärksten, entschiedendsten Leuchtkraft, welche durch eine geheime, keinem Chemiker der Welt bekannte Zubereitung auf das höchste und für lange Dauer gesteigert war.
Im Hause des Generalsuperintendenten Abt Henke, Vicepräsidenten des Konsistoriums zu Wolfenbüttel und ersten Professor der Theologie zu Helmstädt war Abendzirkel angesagt, und die Frau dieses Hauses überblickte mit dem Auge eines Feldherrn, der den Schlachtplan prüfend überschaut, das Feld ihrer Thätigkeit in Haus und Küche. Im Spiel- und Rauchzimmer der Männer die Kartentische, die bunten Teller mit aufgehäuften feingeschnittenen goldgelben Kanaster, die langen weißen holländischen Pfeifen, die Fidibusse, die silbernen Leuchter mit Kerzen in ausgefranzten Papiermanschetten, alles in zierlicher Ordnung. Große Steinkrüge voll starken Gerstennektars standen in einem mächtig gebauchten Kühlzuber von blankgescheuertem Kupfer, und ein Credenztisch enthielt nicht minder große Deckelhumpen von Glas mit mancher eingeschliffenen Bilder- und Laubwerkzier.
Zwei andere Zimmer waren für Herren und Frauen zur Unterhaltung bestimmt; Tische geordnet, Sessel und Sopha's passend gestellt, nirgend ein Stäubchen, die Vorhänge blüthenfrisch und blendendweiß und kunstvoll aufgesteckt. Die lange Tafel eines Nebenzimmers trug die Theetassen, volle Zuckerschaalen, Zangen, Löffel, die Bretzeln, Kuchen, Konfecte, die Torten, die Weine. Besonders auf einer dieser Torten weilte der Blick der Frau Henke mit einem gewissen schalkhaften Wohlgefallen.
Das häusliche Abendfest war eigentlich zu Ehren eines sehr lieben Besuches veranstaltet. Ein berühmter Freund der Familie, der Professor der Geschichte: August Ludwig Schlözer (damals noch nicht geadelt) war mit seiner talentreichen trefflichen Frau, und mit seiner blühend schönen, zwanzigjährigen Tochter Dorothea nach Helmstädt gekommen, um eine Zeitlang im Hause des jüngern Freundes auszuruhen von seiner unermüdlichen literarischen Thätigkeit und seinen gehaltvollen Vorträgen, in denen er für Auffassung und Behandlung der Geschichte neue Bahn brach.
Da hatten der Profanhistoriker Schlözer und der nicht minder berühmte Kirchenhistoriker Henke gar manche Idee auszutauschen, und mochten wol sich gegenseitig an einander freuen, da auch Henke nicht auf altgewohntem Wege stehen blieb, sondern mit Freiheit und Frische des Geistes vorwärts strebte, die alte Orthodoxie überflügelte, und den Kampf nicht scheute, welcher damals die Geister aus religiösem, wie nicht minder auf politischem Gebiete bewegte.
Zur Frau des Hauses trat bereits im modischsten Putz, die Freundin, der liebe Gast, Frau Schlözer. Sie trug, wie es schien, ein Bild, von einem feinen Battisttuche überhüllt, und sprach: »Hier bringe ich das Bewußte, wo stellen wir es hin? Wie übergebe ich es ihm?« – »Wir hängen es unter diesen Spiegel, lassen es aber verdeckt!« erwiederte die Henke. »Er wird schon fragen; er kann kein Bild ohne das Verlangen, es anzusehen, erblicken, und wie wird er sich freuen, wenn er erfährt, daß es für ihn bestimmt ist!«
»Wer weiß?« warf Frau Schlözer die Frage auf. »Der alte Hagestolz ist kein Frauenfreund.«
»»Und gegen uns Frauen doch viel artiger, als gegen die Männer. Nie hörte ich ihn über eine Frau ein abfälliges Urtheil aussprechen, und noch vielweniger einer von ihnen hinterm Rücken einen seiner unfeinen Ehrentitel geben, wie Hundeschwanz, Kalbsnase, Nashorn, Katzenmaul und dergleichen, mit denen er gegen die Männer, und am meisten gegen seine Collegen, die Professoren, so äußerst freigebig ist, wenn er von ihnen in Gesellschaft spricht, oder ihrer auf dem Catheder erwähnt!««
»»Das ist ja fürchterlich unsittlich! Ich bitte Dich!«« rief auf diese Entgegnung die Schlözer mit edlem Zorne aus. »Ein so geist- und kenntnißreicher Mann! Wie kann er sich so vergessen?«
»O die gelehrten, die geistreichen, die kenntnißreichen Männer können sich sehr, sehr vergessen, und noch viel weiter, wie der alte Hofrath; so weit, daß sie ihre Frauen prügeln und die Frauen Anderer lieben, das thut er wenigstens nicht, denn er hat keine Frau, und in sittlicher Beziehung ist ihm auch nicht das mindeste Ueble nachzusagen!« erwiederte Frau Henke.
»»Ich bin überzeugt,«« gab die Freundin lächelnd zurück: »daß Du im erstern Punkte nur im Allgemeinen, und nicht aus Erfahrung sprichst. Was den zweiten, besondern Punkt betrifft, so freut mich aus Deinem Munde eine Widerlegung dessen zu hören, was die böse Welt dennoch sagt.«
»»Was wäre das?«« fragte die Generalsuperintendentin gespannt, und schon bereit, den Mann, dem sie wirkliche Verehrung zollte, zu vertheidigen.
»Nun!« lachte die Schlözer: »Die böse Welt sagt eben, daß der Alte in jüngeren Jahren – vielleicht durch besondere chemische Mittel seiner Zubereitung – zur Vermehrung des reichlichen Kindersegens seines Dienerpaares nicht ohne thätige Mitwirkung geblieben sei. Er liebt nun einmal Sammlungen in Fülle.«
»»Du bist gottlos!«« strafte Frau Henke, konnte sich aber dennoch nicht enthalten, den im Geist der Zeit liegenden etwas frivolen Scherz verstohlen zu belächeln.
Das verhüllte Bild wurde an seine Stelle gebracht, während in das vordere Zimmer der Hausherr mit seinem gefeierten Gaste eintrat, und diesen nöthigte, einstweilen Platz zu nehmen. Beide wackere Männer hatten große Toilette gemacht, sie erschienen in alle dem deutschpedantischen Putz, der dem akademischen Lehrer jener Zeit an Gallatagen ziemte: die unvermeidliche Perrücke deckte ihr Haupt, die schwarzseidenen Strümpfe waren stramm gezogen, Schuh- und Knieschnallen funkelten, und die Facetten der blankpolirten Stahldegengriffe blitzten wie Diamanten. Auf dem nächsten Tische lagen neben den neuesten Nummern von Nicolai's allgemeiner deutscher Bibliothek auch jene des Moniteur, an diesem Tage mit der Post direkt von Paris angekommen, und diese letztere Zeitung war es, die sofort die ganze Aufmerksamkeit der beiden gelehrten Freunde auf sich zog, und sie zu lebhaftem Wechselgespräch veranlaßte, das nur erst der Eintritt des ersten Gastes und der bald darauf nach einander folgenden zeitweilig unterbrach. Frau Schlözer hatte die Hausfrau nur verlassen, um mit ihrer lieblichen Tochter gleich darauf wieder in die Gesellschaftszimmer zu kommen, in welche nach einander, theils allein, theils in Begleitung von ihren Frauen, erwachsenen Töchtern und Söhnen nun eintraten: der Professor Johann Benedict Carpzov, als Philolog und Kritiker berühmt, Justizrath Professor Karl Friedrich Häberlin, bekannter Publicist, damals Herausgeber des deutschen Staats-Archivs; Christoph August Bode, als Orientalist ausgezeichnet, und als Uebersetzer mehrerer biblischer Schriften genannt; dann ein auch auf einer Ferienreise in dem ihm lieben Helmstädt zum Besuch weilender akademischer Lehrer, Georg Simon Klügel, Professor der Mathematik und Physik zu Halle, Herausgeber eines Lehrbuchs über Optik und eines anderen über sphärische Trigonometrie, der, vor zwei Jahren noch Professor in Helmstädt, einem ehrenvollen Rufe nach Halle Folge geleistet hatte, und jetzt gekommen war, alte werthe Freunde und Collegen wieder zu begrüßen.
Die Ceremonie des Grüßens und Wiederbegrüßens, gegenseitigen Vorstellens, Verneigens und des Wechselns herkömmlicher Höflichkeiten und Redensarten spielte ziemlich lange, während auch noch der tüchtige Chemiker Lorenz Florenz Friedrich von Crell, Enkel des berühmten Chirurgen und Mediciners Heister, ein noch junger geistesreger Professor eintrat, welcher damals ein chemisches Archiv herausgab, das sich allseitiger Anerkennung und Theilnahme erfreute.
Einige durch Kenntniß und Sitte sich auszeichnende Studirende, als Schüler und Zuhörer Henke's künftige Lichter in der protestantischen Kirche, waren ebenfalls eingeladen, und leuchteten an den Wänden mit aller jugendlichen Schüchternheit und aller theologischen Bescheidenheit, die dem künftigen Candidaten rev. Ministerii so äußerst wohl ansteht. Die Frauen und Jungfrauen gaben Anfangs der Steifheit und Förmlichkeit des Männerkreises nicht nur nichts nach, sondern sie übertrafen ihn noch.
Eine Stunde später sah es schon ungleich gemüthlicher aus in diesem erlesenen Kreise. Die Männer saßen, stark rauchend und Bier dazu trinkend, um die Spieltische und karteten mit Eifer. Die Frauen und Jungfrauen waren um die Theetische gruppirt und die jungen Studirenden weilten in deren Nähe, ebenfalls, vielleicht um dieser Nähe Willen, Thee trinkend, und auf das Verzicht leistend, was doch zu den akademischen Lebensfreuden jener Zeit zählte: Bier, Tabak und Karten.
»Wo er nur bleibt?« flüsterte Frau Schlözer ihrer gastlichen Freundin und Wirthin zu, nachdem sich oft genug und immer vergebens bei jedem hörbaren Aufgehen der Hauptthüre ihr Blick nach dieser hingelenkt hatte.
»So pünktlich er ist in seiner ganzen amtlichen Thätigkeit,« erwiederte ebenfalls leise die Henke: »so wenig ist in Gesellschaft auf seine Pünktlichkeit zu rechnen. Er würde aus der Beichte wegbleiben, so fromm er ist, wenn ein armer Kranker gerade zur Zeit derselben seiner Hülfe dringend bedürfte. Er ist als Arzt vielfach beschäftigt – doch horch! Sieh – wenn man vom Wolf spricht, so kommt er.«
Die vordere Thüre, die in das Herrenzimmer zunächst führte, ging auf, und der Professor, von dem die Rede gewesen, trat rasch ein, grüßte gegen die Dasitzenden, die zum Theil Anstandshalber Miene machten, als wollten sie aufstehen, dieß aber auf einen Handwink von ihm unterließen, und nur der Hausherr erhob sich schnell und vertrat mit Begrüßungsformeln dem durch jenes Zimmer schreitenden Gast den Eingang in das zweite, auf welches jener mit einer gewissen Eile zuschritt, und in dessen Thüre auch schon die Frau vom Hause stand, ihn zu empfangen. Alle Damen erhoben sich grazienhaft so gut sie dieß vermochten, und ehrfurchtvoll von ihren Stühlen.
»Guten Abend! Schönen guten Abend, Herr Generalsuperintendent, Abt und College!« redete der Gekommene den Hausherrn an, ohne auf dessen förmliche Anrede zu hören, und fuhr gleich fort: »Um Gottes Willen, halten Sie mich hier nicht auf! So sehr Sie vom Geiste des Göttlichen erfüllt sein mögen, so spielen wir doch bei Ihnen keine göttliche Komödie und ich brenne nicht, im Purgatorium zu verweilen! Ein schönes Fegefeuer das, Ihre Rauchspelunke!«
Mit diesen Worten ließ der, obschon etwas altmodisch, doch höchst vornehm und gewählt gekleidete feingebaute Mann den Hauswirth zur Seite treten und schritt mit der zierlichsten und doch nicht gezierten Verneigung in das Damenzimmer, wo er sogleich zur Frau vom Hause sich wendend, das Wort nahm: »Ihre Güte möge den säumigen Gast entschuldigen! Ein dringender Fall – eine Lebensrettung – Gott sei gepriesen! Wichtig, höchst anziehend, Schade, recht Schade, daß ich ihn den verehrten Frauen nicht mittheilen kann, aber ich bitte, allseits gütigst Platz zu behalten, ich will keine Störung machen; Sie sehen, ich sitze schon selbst, nun – und Wen habe ich denn hier die Freude zu sehen? Ah, ein Gast des Hauses, Frau Professor Schlözer aus Göttingen! Meine liebwerthe Freundin und Gönnerin!« –
Bald ging der beredte Mann von dem Alltäglichen der Reden, welche insgemein Gesellschaftsgespräche einleiten, zu besonderen und anziehenden Gegenständen über. Er saß, eine Tasse Thee nach der anderen mit größtem Wohlbehagen trinkend, und das appetitliche Backwerk, welches ihm dargeboten ward, keinesweges verschmähend, lebhaft sprechend, in etwas vorgebeugter Haltung am Tische, und seine hellen Augen leuchteten und blitzten unter der hohen und breiten Stirne, von starken Brauen überschattet, nach allen Seiten hin, bald prüfend, bald schlau, bald gutmüthig. Er sprach sanft und leise, aber dennoch äußerst vernehmlich, und es herrschte eine tiefe Stille im Zimmer, wenn er sprach. Diesesmal richtete er zunächst an Dorothea Schlözer das Wort, welche von ihm und seiner reichhaltigen Münzsammlung gehört und derselben Erwähnung gethan hatte. »Sie sind also Münzfreundin, werthe Demoiselle? Das freut mich sehr! Ich vermeide gern von meiner Münzsammlung zu reden, sie bedarf nicht des Lobes, aber wenn Sie mich mit Ihren verehrten Aeltern besuchen, so will ich Ihnen die Sammlung zeigen. Sie werden erstaunen. Man findet selten bei Ihrem Geschlechte Vorliebe für die Numismatik, verbunden mit Kenntniß derselben. Die gelehrteste Münzkennerin unserer Zeit ist die alte Reichsgräfin von Bentink, das heißt, so gelehrt, als einer Frau zu werden möglich ist, sie ist eine reiche Dilettantin. Sie hat einen großartigen prunkenden Katalog ihrer Sammlung mit Nachtrag in drei Bänden drucken und sich von ihrem Lieferanten, dem Niederländer Van Damm schauderhaft anführen lassen, was mir freilich nicht begegnen kann. Abbe Eckhel in Wien hat der Dame vorm Jahre in Briefen ein Licht aufgesteckt, die sie schwerlich an den Spiegel stecken wird. Ich kann neben mir nur noch Eckhel als Münzkenner gelten lassen. Heyne, Rasche, Christ, Richter, Lengnich, alle nichts. Gute Philologen, unpraktische Münzkenner! Golz – auch nichts. Golz und Harduin, dieß sagt auch Eckhel, waren große Gelehrte, mißhandelten aber Fräulein Numismatik arg, sehr arg. Van Damm hat einen mirakulosen Folianten drucken lassen, mit dem er die Sammler bethört, Münzen darin abgebildet, die in der Welt nicht vorhanden sind! Doch ich will die verehrten Damen nicht ermüden, ich glaube die neue Münzkunde zieht Sie Alle mehr an, als die alte.«
»Gewiß, Herr Hofrath! Gewiß, Herr Professor!« riefen mehrere Zuhörerinnen – die Einzige, die gern noch mehr gehört hätte, Fräulein Schlözer, trat zurück, und die Hausfrau rief neckend: »Am anziehendsten wird die Münzkunde immer für Solche sein, welche, wie gewisse Leute, Gold machen können!«
»Aha! Gold machen! Meinen Sie mich, Werthgeschätzte? Wer sagt, daß ich Gold machen kann? Wer sagt, daß ich es nicht kann? Der Mensch kann alles, der Mensch kann was er will. Die Meisten denken, wenn sie vom Goldmachen reden, man mache es nur so aus Blei, es komme nicht hoch zu stehen. Weit gefehlt, meine Damen, das Goldmachen ist eine Arbeit, bei welcher man das Leben einsetzt. Pluto blendete den Plutos. Ich habe in Jugendtagen, als ich Chemie lernte, einmal sieben Tage und sieben Nächte vor dem glühenden Schmelzofen zugebracht, da habe ich gelernt, was der Mensch kann, wenn er will, was er kann. Die Operation erforderte, wenn sie gelingen sollte, ein stets waches Auge. Ich durfte nicht schlafen, und ich habe nicht geschlafen. Ich stellte oder setzte mich so, daß wenn ich einschlief, ich in die Gluth fiel, und der Trieb zum Leben überwand die Forderung der Natur. Nachdem jene schreckliche Feuerwache und Feuerwoche vorüber war, glaubte ich, das Augenlicht zu verlieren, so verletzt waren meine Sehnerven, so furchtbar angegriffen von dem steten Blicken in Kohlengluth und schmelzende Metalle. Aber ich erfand einen Augenstein, der die gestörte Sehkraft schnell wieder kräftigte, und der in alle Pharmakopöen aufgenommen werden würde, wenn ich ihn veröffentlichen wollte.«
»Und so wäre wirklich die Möglichkeit, durch Kunst ächtes Gold hervorzubringen, vorhanden, Herr Professor?« fragte Frau Schlözer wißbegierig.
»Sie werfen eine Frage auf, Frau Professorin!« antwortete der alte Herr, indem er seinen durchdringenden klugen Blick auf sie heftete: »welche bereits einige Jahrhunderte lang gescheidte Köpfe angelegentlich beschäftigt. Die Möglichkeit gestehe ich unbedingt zu, der Gewißheit des Gelingens aber dürften wohl nur wenige Sterbliche sich rühmen. Ich kann Ihnen Proben chemischen Goldes zeigen, ich, und Niemand weiter. Daß ich es selbst gemacht, will ich damit keineswegs sagen. Beehren Sie mich mit Ihrer liebenswürdigen Fräulein Tochter, mit dem Herrn Gemahl.«
»»Da kommt so eben mein Mann, mit dem Generalsuperintendenten, der ihn Ihnen vorstellen will!««
Der Professor erhob sich, die Vorstellung erfolgte, Schlözer sprach scherzend: »Sie scheinen ein großer Weiberfreund zu sein, Herr Hofrath, daß Sie an uns vorüber gleich in das Gynäzeum eilten, und doch sind Sie unvermält geblieben!«
»»Letzteres betreffend,«« war die rasch gegebene Antwort: »so halte ich's mit dem Apostel, der da sagte: Wer freit thut wohl, wer nicht freit, thut noch besser. Sie, Herr Professor, haben wohlgethan, Sie haben eine brave Frau, ein liebenswürdiges, ernstes, der Wissenschaft holdes Kind – was aber ersteres betrifft, so war mein schnelles Wandeln in dieses Zimmer nur eine Flucht aus jenem, denn es leidet mich nicht da, wo ich mir sagen muß: Simson, Philister über Dir!«
»»Sie schmeicheln uns aber auch gar nicht, Sie nennen uns Philister!«« rief Henke lachend aus.
»Ja mit Verlaub, Ihr seid es, Ihr Herren. Euer Tabakrauchen, Euer Biertrinken, Euer Kartenspielen ist schauderhaft philiströs. Und wenn Ihr noch so gelehrt seid, und wenn Euer literarischer Ruhm an die Hörner des Mondes anstößt – Ihr seid und bleibt Philister! Kein wahrhaft genialer Mann raucht Tabak – keine geniale Frau kann es aushalten in eines Rauchers Dunstkreis. – Viele arme Frauen freilich halten aus, duldend, leidend – sie sagen, es beeinträchtige sie nicht, sie sind unwahr aus Liebe oder aber, sie rauchen am Ende selbst, nun – dann sind sie roh. Kartenspielen – pfui – wie geistlos! – bei den Karten muß ich jedesmal an die Kartoffeln denken, es ist so eine geistige Alliteration zwischen beiden, gerade wie die Assonanz des Wortlautes – diese eine dumm machende Knolle, jenes ein dumm machendes Spiel – ächt bäurisch; dort sitzen sie tabakdampfend in der Schänke, trinken Bier, speisen Kartoffeln, und die Toffel – karten.«
Diese drastische Grobheit war mit nichts zu erwiedern, die Art und Weise des Gastes war bekannt; Henke wandte sich mit Schlözer wieder in das Männerzimmer zurück, und sagte zu Letzterem: »Lassen wir ihn, er ist nun einmal ein bizarrer Sonderling! Es kommt ihm nicht darauf an, seine besten Freunde mit einer derben Redensart ins Gesicht zu schlagen, aber er meint es nicht böse, ist Allen hülfreich, und nichts weniger als Menschenfeind, oder ein Feind der Gesellschaft. Er will aber immer nur solche Kreise, in denen er Hauptperson ist, die er unterhält, und da er dieß geistreich thut, so lassen wir ihn überall gern gewähren. Bei den Frauen zumal findet er stets ein williges Ohr, und ungleich mehr Glauben an seine Wunderdinge und Thaten, als bei uns Männern.«
Die gelehrten Freunde gesellten sich wieder dem verlassenen Cirkel zu, und es war dieser Kreis keinesweges ein so philisterhafter, als vorhin der Professor ihn bezeichnen zu wollen schien. Waren es doch lauter Männer, bedeutend in der Wissenschaft und ausgezeichnet durch Charakter und sittlichen Ernst, die diesen Kreis bildeten, die Spitzen der berühmten Hochschule und weit mit Ruhm genannte Gäste.
Neben dem nun einmal beliebten Biere, dem angewöhnten Tabakrauchen, dem angenehm zerstreuenden Kartenspiele waren es einerseits das Wöllnersche, nicht lange zuvor erschienene Religionsedikt, und die dasselbe begleitenden, den Flug geistiger und Gewissens-Freiheit hemmenden Regierungsschritte in Preußen, welche lebhaftes Gespräch hervorriefen. Zahlreiche Schriften waren schon über, für und gegen jenes Edikt erschienen, und Henke unterwarf eine nach der andern einer haarscharfen Kritik und sprach sich mit aller Gediegenheit, die ihm eigen war, über diese wichtige Angelegenheit aus.
Andererseits gaben die Ereignisse in Frankreich, die sich drängten und die Blicke von ganz Europa auf dieses Land lenkten, genug zu reden und zu denken. Man sah hell genug, um das Düsterste kommen zu sehen: eine allgemeine Staatsumwälzung mit allen ihren blutigen Gräueln und ihrem Gefolge von Atheismus, Raubsucht, Mordsucht, Communismus und toller Unvernunft. Professor Häberlin sprach, tiefer blickend, manches prophetische Wort, das später seine Erfüllung fand.
Endlich gaben auch neue Erscheinungen in Poesie und Literatur manche Anregung zu gesprächlichem Meinungsaustausch. Nicolai's Bibliothek, Wieland's deutscher Merkur, auch dramatische Zeitschriften lieferten dazu willkommene neueste Beiträge. Carpzov ließ sein kritisches Licht über die Gesellschaft strahlen, und so schwand in mannichfaltig belebter Unterhaltung die Zeit auf raschen Flügeln dahin.
Der wunderliche Professor blieb im Frauenkreise verweilend, und ließ sich's dort gar wohl sein. Sein Ring mit dem eigenthümlichen Onyx hatte die Augen einer jungen Frau auf sich gezogen. In einer gelblichen Pupille zeigte sich an diesem Ringstein eine bläuliche Iris, und in dieser ein dunkler Stern.
»Das ist ja ein wahrhaftiges Auge!« rief jene Frau.
»Es ist ein Weltauge – daheim habe ich ein ungleich Größeres!« erwiederte der Professor, zog den Ring vom Finger und hielt ihn zum Beschauen näher.
Betroffen wandte sich die Frau zurück – und erröthete. »Das ist ja nicht dasselbe!« sagte sie. »Vorhin war es ja ganz anders!«
In der That war der Stein des Ringes, oder schien dieß mindestens, ein Anderer geworden. Ein weißer concentrischer Kreis bildete jetzt die Einfassung um eine gelbliche Pupille, in der, von einem ganz zarten braunen Kreis umschlossen, ein dunkler Kern zu schwimmen schien – und die Bewundrerin des Steines traute kaum ihren eigenen Augen ob der plötzlichen Veränderung des Weltauges.
Der Professor lächelte, gab den Ring in die Hand der Dame, und im Nu war das früher erblickte Auge wieder sichtbar mit seinem schwarzen Sterne.
Der Stein ließ sich innerhalb seiner Einfassung umdrehen, dieß erklärte jetzt das Räthsel der Doppelerscheinung.
Aber er gab sogleich Anlaß zu neuem Bewundern. In dem Augenblicke, wo der Professor ihn darreichte, wurde der dunkle Stern hell, halbdurchsichtig wie edler Opal schimmernd, und die ihn umgebende Pupille wurde dunkel. »Halten Sie das Auge gegen das Licht!« sprach der Professor. »Sehen Sie, der helle Kern, das ist die Sonne, der breite dunkle Kreis ist der Raum, in dem die Planeten kreisen, der äußerste schmale helle Kreis, der diesen Raum umgiebt, das ist der Fixsternhimmel, oder – wenn Sie, lieber wollen, der Feuerhimmel, das Empyreum, und deshalb ist dieser Stein Weltauge genannt, denn wie der Mensch das Ebenbild Gottes ist, so spiegelt sich im Menschenauge das All der Welt.«
Dieses artige Experiment fesselte die ältere, wie die jüngere Frauenwelt, der Ring des Professors ging von einer schönen Hand zur anderen.
»Nein, was Sie nicht alles Schönes und Seltenes haben!« rief die Hausfrau anerkennend aus.
»Ich habe siebenzehn verschiedene Sammlungen, und in jeder Bestes, Seltenstes, Auserlesenstes,« gab der Professor zur Antwort und begann diese Sammlungen einzeln herzuzählen, während mehrere der Herren, angelockt von den Ausrufen der Verwunderung über den Ringstein, in das Zimmer traten, darin diese lebhaft gewordene Gesellschaft sich befand. Aufmerksam hörten Frau Henke, Frau Schlözer und deren Tochter zu, als ein Sammelzweig nach dem andern: Thiere, Münzen, Bilder, Kupferstiche, Bücher, Automaten, physikalische, optische, astronomische Instrumente, Kleidungsstücke und Geräthschaften berühmter Menschen, antike Steine, Ethnographika und so vieles genannt waren, und als der Professor mit seiner Aufzählung zu Ende war, rief Frau Henke triumphirend:
»Und Etwas haben Sie doch nicht, Herr Professor!«
»»Keine Sammlung von Frauen, nicht Eine!«« erwiederte sarkastisch der witzige Mann, und die Männer lachten.
»Wer möchte Ihnen das zumuthen!« versetzte die Henke. »Die meine ich nicht. Sie haben keine Broderien.«
»»Prüderieen habe ich nicht, eben weil ich keine Frauen habe,«« wortspielte der Professor: »aber Broderien kann ich aufzeigen, diese gehören zu den Bildern, und zwar zu meinen liebsten Bildern, von zarten Frauenhänden mit der Nadel gemalt.«
»»Siehst Du, liebe Freundin! Wie fein unser Herr Professor weibliche Kunstfertigkeit schätzt und beurtheilt?«« richtete Frau Henke an Frau Schlözer das fragende Wort »Mit der Nadel gemalt – kann man den Ausdruck sticken geistreicher umschreiben?«
»Schon der römische Dichter Ovid gebrauchte dieselbe Metapher,« lehnte der Professor dieses Schmeichelwort von sich ab.
»Ich besitze drei herrliche Stickereien einer Prinzessin von Braunschweig. Christi Taufe im Jordan, und noch zwei andere Stücke.«
»»Das ist Schade, da komme ich nun zu spät; mit Prinzessinnen kann ich mich nicht in die Schranken wagen.«« warf Frau Schlözer hin.
Der Professor hatte schon einigemale nach dem Spiegel und nach dem unter diesem hängenden verhüllten Bilde geblickt, und da jetzt der Blick der Sprechenden auch dorthin fiel, so nahm er mit sicherer Voraussetzung das Wort und sagte: »Den Ausdruck zu spät liebe ich nicht, erkenne ihn nicht an. Man kann zu allen Zeiten Gutes und Schönes thun und Gutes und Schönes empfangen.«
»»Ja wohl, besonders empfangen!«« unterbrach neckend Frau Henke. »Sammler lassen sich gern Schönes schenken!«
Der Professor ließ sich nicht irre machen durch die Neckerei. »Ich möchte fast wetten,« sprach er: »daß dort unterm Spiegel eine schöne Stickerei hängt, und daß Frauengüte mir dieselbe zum lieben Andenken zugedacht hat! Ich bitte, jenes Bild zu enthüllen und unserer Bewunderung Preis zu geben!«
»»Salomo der zweite mit dem Zauberring, der ihm alles sagt!«« rief Frau Henke aus, während ihre Freundin aus der Tochter Hand, die das Bild schon von seiner Stelle genommen und enthüllt hatte, dasselbe empfing.
»Nehmen Sie diese kleine Arbeit meiner Hand und Nadel, Herr Hofrath!« sprach Frau Schlözer, indem sie das Bild dem Professor darbot: »als ein Zeichen dankbaren Andenkens. Sie haben mir meinen lieben Mann durch Ihre Verordnung, die Sie, ohne ihn leidend zu sehen, mir auf meinen Brief und die Schilderung seiner Krankheit sendeten, nachdem alle Aerzte Göttingens ihn aufgaben, erhalten, gerettet. Ihre Mittel thaten ein Wunder an ihm. Sie sind selbst, was ich bildlich darzustellen, mit schwacher Kraft versucht habe.«
»»Ein Aesculap!«« wurde bewundernder Ausruf rings im Kreise der Gesellschaft laut.
Die Stickerei stellte den Gott der Heilkunde in halber Figur dar, und bildete ein 5 Zoll im Durchmesser haltendes Rund unter Glas und goldenem Rahmen. Die Arbeit war wunderbar fein und trefflich, über die linke Schulter hing ein Stück rothes Gewand, die rechte war entblößt. Die Zeichnung war vollendet schön und die Farben der Fleischtöne, des Haares und Bartes höchst natürlich ausgedrückt. Das Bild schien zu leben.
»Wie soll ich für diese große Güte und Aufmerksamkeit danken, meine vortreffliche Gönnerin und Freundin!« rief überrascht der Professor aus, indem er sich erhoben hatte, in einer Hand das Bild haltend, und mit der anderen die der lächelnden, aber innerlich von einem edlen und reinen Gefühle der Dankbarkeit bewegten Geberin küssend zum Munde führte. »Diese Kunst übertrifft, was ich bisher sah und besaß!« rief der Empfänger bewundernd aus: »dieses Bild nimmt den ersten Rang ein unter den Arbeiten ähnlicher Art! Es soll mich so lange ich noch lebe, täglich an seine treffliche Spenderin erinnern.«
»»Und gewiß auch ein Distichon erhalten?«« fragte aus dem herzudrängenden Männerkreise die Stimme Henke's.
»Ein Distichon, das versteht sich, und auf der Stelle!« rief freudig der Professor aus, zog rasch ein Schreibtäfelchen, und schrieb mit jagendem Bleistift. Im Nu war er fertig – Stille lagerte sich über den ganzen Kreis und mit seiner wohltönenden, angenehmen Stimme las er sogleich laut vor, was er geschrieben:
»Quarta Charis tabulam hanc acu Schloezeria pincit,
Docta sororum qua concitat invidiam.«
»Ach das ist ja lateinisch, das verstehen wir Frauen nicht!« riefen mehrere Damen.
»Es bleibt auch besser unübersetzt und erspart meiner Frau die Schamröthe über allzugroßes Lob!« wurde Schlözers Stimme laut.
»Siehst Du den Neid der Männer! Nicht einmal loben soll uns Jemand!« lachte Frau Henke.
»Nun meine jungen Herren!« rief Professor Carpzov: »Wer von Ihnen übersetzt den werthen Damen dieses lateinische Distichon gleich aus dem Stegreif in ein deutsches?«
Die jungen Herren, meist angehende Theologen, standen verlegen; auf des Bildempfängers Gesicht strahlte eine siegreiche Heiterkeit, und er lispelte vor sich hin: »Werden's wohl bleiben lassen.«
Aber da rief Professor Bode, der geübte Uebersetzer aus ungleich schwereren Sprachen heiter und laut:
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»Seht, der Grazien vierte, die Schlözerin, stickte dieß Bildniß,
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»Bravo! Bravo! Schön! Schön! Herrlich gesagt!« jubelten Männer und Frauen durch einander, während hohe Gluth die noch blühenden Wangen der kunstbegabten Gattin Schlözers überpurpurten.
Man schritt zur Abendtafel, die von Scherz und Heiterkeit belebt war; der Professor erhielt seinen Platz zwischen Frau Schlözer und deren Tochter und war außerordentlich vergnügt und unterhaltend. Er leerte seinen Becher mit auserlesenem Weine ungleich häufiger als jeder andere der anwesenden Männer, blieb sich aber in froher Laune völlig gleich, ohne aufgeregter zu werden, oder in freierer Rede Gedanken zu offenbaren, welche die Sitte in Schweigen zu fesseln gebietet.
Seine verehrte Nachbarin, eine große Freundin der Mäßigkeit, und dieselbe auch an ihrem Manne gewohnt, sah mit steigender Angst, wie der Professor ein Glas nach dem andern, ja eine Flasche nach der andern in behaglicher Ruhe leerte, ja sie wagte endlich die schüchterne Frage: »Lieber Herr Professor! Wird es Ihnen nicht zu viel?«
»Ihr Wohl, meine wahrhafte Gönnerin!« rief der Professor, hob vor ihr sich freundlich verneigend das gefüllte Glas mit 1783r Rheinwein, und leerte es dann auf einen Zug.
»Fürchten Sie ja nichts, ich werde nie betrunken, war es in meinem Leben nicht. Ich habe auch darin eine bevorzugte Natur, um die mich meine Studiengenossen in Jena nicht wenig beneideten; ich trank alles unter die Tische, was sich mit mir in den Trinkkampf wagte. Man muß nur keinen schlechten Wein trinken, und unser wackerer Gastfreund Henke hat, wie bekannt, einen trefflichen Keller. Er soll leben, der Edle, Er und seine brave Hausfrau!«
Dieß sagend, hatte sich der Professor den grünen Römer schon wieder voll geschänkt, klang an auf das Wohl des Freundes, und leerte wieder den Becher bis zur Nagelprobe.
»Es giebt eine Reihe schöne Künste,« fuhr der Professor zu dem ihm gern lauschenden Kreise seiner Tischnachbarn fort, »die ich stets geliebt und wohl geübt, obschon sie als solche nicht in den Handbüchern der Aesthetik stehen. Fechten, Reiten, Tanzen und Trinken. In allen habe ich anerkannte Proben gegeben, und in allen traue ich mir, noch jetzt zu leisten, was ein Jüngling leistet. Wollen Sie, wenn Sie sich nicht scheuen, gefälligst meinen Arm befühlen?« wandte der Sprecher sich an seine Tischnachbarin, indem er den zarten Arm vor sie hinstreckte. Sie that es mit einiger Schüchternheit und sprach erstaunt und überrascht: »Fest, wie Eisen!« – »»Richtig gesagt! Fest wie Eisen!–«« wiederholte der Sechziger. »Der stärkste Mann biegt mir diesen Arm nicht, wenn ich ihn nicht biegen lassen will. Ich ziehe noch den Stiefel der Luftpumpe, wenn keiner der jungen kräftigen Zuhörer in meinem physikalischen Collegium ihn mehr zu ziehen im Stande ist. Ich hebe die schweren Guerickischen Halbkugeln mit einer Hand vom Tische, was keiner der jungkräftigen Herren Studenten mir nachzuthun vermag.«
»Als ich in Neapel war« – fuhr der Professor fort, erfreut, zu gewahren, wie man allgemein auf ihn sah, auf seine Mittheilungen lauschte: »besuchte ich die königliche Reitbahn, denn das Pferd ist das edelste aller Thiere, wie es das Schönste ist, dem Menschen am nächsten, daher auch die Mythe der klugen Alten mit tiefem Sinne im Kentaur Mensch und Pferd zusammenschmolz. Da führte der Stallmeister einen wilden Neapolitaner-Hengst aus dem Stalle, der sich furchtbar bäumte und ungebehrdig stellte. Der Mann, der geschicktesten Reiter einer, vermochte gar nicht, aufzusitzen, das Pferd stieg kerzengerade in die Höhe, schlug aus, biß, war wüthend. Ich trat hinzu, und sagte: Erlauben Sie, daß ich das Pferd reite! Der Stallmeister, ein großer athletischer Mann, sah etwas verächtlich auf meine nicht hohe Gestalt, auf meinen etwas schmächtigen Körperbau, und ich sah es ihm an den Augen an, daß er dachte: Du deutscher Knirps wirst schön in den Sand fliegen. Wahrscheinlich um sich und die zahlreich um die Brüstung der Bahn gereihten Zuschauer dieses vergnüglichen Anblickes froh werden zu lassen, gab er mir die Zügel. Ich wendete das Pferd und führte es – und siehe – Staunen lagerte sich über die Menge, es folgte mir, wie ein Lamm. Jetzt ließ ich es stehen, klopfte ihm an den Hals, flüsterte ihm ein Wort zu, saß auf, gab ihm die Sporen, und hussa, da flogen wir dahin, wie zusammengewachsen die lange Arena hinauf, schnell gewendet, wieder herunter, wieder hinauf! Jubel, Beifallsturm, Händeklatschen ohne Ende. Jetzt stieg ich ab, umtost vom Jauchzen der Zuschauer: Eviva il divino Tedesco! Eviva! Eviva! – Dankend gab ich dem Stallmeister die Zügel wieder in seine Hand – der Mann stand ganz verwirrt, und ich schritt von dannen.« –
»Schon am Abende war ganz Neapel voll von der Kunde dieses Ereignisses, man zeigte mit Fingern auf mich. Il cavaliére ardito tedesco, der verwegenkühne deutsche Reiter.«
»Ja, staunen Sie nur, meine Damen und Herren; es ist, wie ich Ihnen sage, aber ich sage Ihnen auch das Geheimniß, damit Sie mich nicht für einen Zauberer oder Aufschneider halten. Das Pferd war gut, und der Stallmeister war ein Eselsschwanz. Das Pferd scheute vor seinem eigenen Schatten, und jener nahm das nicht wahr. Ich stellte es mit dem Kopfe gegen die Sonne, und wendete es so rasch und kurz, daß es gar nicht Zeit hatte seinen Schatten zu sehen; gut reiten konnte ich, und wahrlich, nie ritt ich stolzer und besser, als auf diesem Roß.«
»Am andern Morgen brachte mir ein königlicher Reitknecht das herrliche Pferd zum Geschenke, und ich übersandte der Königin eine Toilette mit Parfüms, die den Geldwerth des Pferdes dreimal aufwogen.«
Ob sich in der Gesellschaft der Zuhörer keinerlei Zweifel gegen die Wahrheit dieser Geschichte erhob, ist nicht zu sagen, laut aber wurde keiner.
Jetzt bot Fräulein Schlözer, welche die Hausfrau im Herumreichen unterstützte, dem Erzähler zu neu aufgesetztem Nachtischwein von einer kostbaren Torte an; er nahm sich gleich zwei Stücke auf seinen Teller, trank, und aß Torte mit großem, sich stets gleichbleibendem Appetit. Gleich darauf geschah ihm ein kleiner Unfall, er zerbrach aus Versehen ein Glas, und wurde darüber sehr bestürzt, denn die Furcht, es könne Jemand glauben, er sei nicht mehr taktfest, trieb ihm das Blut in das sonst so heitere, aber blasse Gesicht.
»Ich weiß nicht – ich weiß nicht –« sprach er verlegen.
»O bitte, lassen Sie den kleinen Schaden, liebster Professor! langen Sie zu; meine Torte, die ich selbst gebacken, scheint Ihnen zu munden!« ermunterte Frau Henke mit heimlichem Lächeln.
»Diese Torte!« entgegnete er. »Sie schmeckt zwar gut, aber was ist das für eine Torte?«
»Wenn Sie es nicht ungütig nehmen wollen – Kartoffeltorte.« – »»Sehen Sie, Frau Generalsuperintendentin, daß dieses Zeug dumm macht! Daß ich Recht habe! Das haben Sie mir zum Tort gethan! Warten Sie! – Hätte ich diese Torte nicht gegessen, so wäre ich nicht so ungeschickt gewesen. Ich irre mich nie! Es ging mir im Geiste vor. Ich wünsche, daß Ihnen Ihre Kartoffeltorte recht gut bekomme!«« – Man lachte sehr, der Professor lachte mit – aber ehe man sich's versah, war er verschwunden; Niemand hatte bemerkt, daß er aufstand und die Gesellschaft in aller Stille verließ. Als man es wahrnahm, schlug eben vom Thurme der nahen Kirche die Stunde der Mitternacht.
Es war eine Woche später, als der größte Theil der in jener Gesellschaft versammelt gewesenen Gäste, wie die Gastgeber selbst sich mit anderen Geladenen in dem alten Hause einfanden, das der Professor, mit Ausnahme der Familie seines Dieners, ganz allein bewohnte. Vater und Mutter Leonhard prangten im Feststaate, auch der erwachsene Sohn hatte die Aufgabe, hülfreich und gefällig die ankommenden Gäste zu empfangen und zur Treppe nach den oberen, wunderschön erleuchteten Räumen zu geleiten, wo auf dem Vorsaale der Herr des Hauses sie in Empfang nahm. Wie freudig klopfte Gottfrieds Herz, als auch der wackere botanische Gärtner, welcher dem alten Herrn gar lieb und werth war, mit seiner Hausfrau und dem lieben Besuche der Verwandtin vom Thüringerwalde eintrat, und er Sophie freundlich entgegentreten, den Mantel ihr abnehmen, den stillen verstohlenen Gruß der Liebe mit dem holden Mädchen tauschen konnte. Sophie hatte heute die ländliche Tracht ihres heimathlichen Waldortes abgelegt; sie erschien als städtische Schönheit, voll lieblicher Blüthenfrische eines Naturkindes, etwas befangen zwar durch die ungewohnte vornehme Tracht, in der sie nur eine Verkleidung erblickte, aber sich doch ganz gut in dieselbe findend und in ihr sich ohne steifen Zwang bewegend.
Eigenthümlich, seltsam, fast zauberhaft, wirkte das Betreten der oberen Räume des Hauses, in welchen sich die Gesellschaft versammelte. Ein süßer Wohlgeruch von Harzen und Balsamen des Orients in der glücklichsten Mischung, nichts Hervorstechendes, vielleicht dem einen oder dem anderen Besucher Widerwärtiges – wie etwa Moschus – füllte das ganze Haus. Wer sich aber von der Gesellschaft auf dergleichen angenehme Sinnenreizung, wie sie gewählte Gerüche hervorrufen, verstand, der fühlte doch heraus, daß das Hauptelement dieses Wohlgeruches der kostbare Ambra sei.
Zahlreiche ächt chinesische Lampen und Laternen in verschiedenen Formen verbreiteten eine magische Helle, indem sie die blendenden Flammen der Lichter in durchsichtige, buntbemalte Schirme verhüllten. Kandelaber von ganz fremdländischer Form waren auf allen Tischen aufgestellt, und Schaalen von Milchglas wie von Alabaster umschlossen auch hier des Lichtes volle Strömung. So war es hell in diesen Zimmern und Sälen und doch auch nicht hell, nicht so hell, daß das Auge mit Deutlichkeit die ganze Fülle der Gegenstände hätte überblicken können, die sich in ununterbrochener Aneinanderreihung längs der Wände auf Gestellen, Gesimsen, Consolen und in Glasschränken zusammengesellt fanden.
Für Frauen konnten schon manche dieser Gegenstände etwas Unheimliches und Schauerliches haben, Thierscelette, mumienhafte Gebilde, Misgeburten, Schlangen, Eidechsen und junge Krokodile in Spiritus, ein angeblicher Basilisk, Alraune, riesenhafte Korallen, phantastische Seegewächse, Seespinnen, Tintenfische, große Jerichorosen, ebenfalls eher wie Polypen und Medusen, als wie Kinder der Flora gestaltet, alles das und noch weit mehr, war da aufgestellt – und so war das milde Licht, das grelle Beleuchtung aller dieser Gegenstände verhinderte, auch manchen Schaden nicht sichtbar werden ließ, geeignet, allem Sichtbaren den Eindruck der Fülle und des überraschenden Reichthumes an Hervorbringungen der Natur und Kunst zu verleihen.
Welche nicht sichtbaren Schätze diese Räume außerdem bargen, das ließen zahlreiche verschlossene Schränke, Truhen, Kästchen und Kistchen ahnen; die Münzen, die Mineralien, die Edelsteine, die Gemmen und Cameen und viele andere kleinere Sammlungen.
Der Herr des Hauses war heute wieder ein ganz Anderer, wie ohnlängst. Heute gehörte er nicht einem besonderen Kreise der Gesellschaft, heute gehörte er allen, hatte für jeden freundliche Worte, wußte allen Geladenen Plätze anzuweisen, mit denen sie zufrieden waren, und Denen, die heute ihrer Gewohnheit ein Opfer brachten – denn in diesem Hause zu rauchen, Karten zu spielen, und zu diesen beiden Hochgenüssen Bier zu trinken, daran war gar nicht zu denken – Entschädigungen zu bieten, welche die Größe des Opfers weit überwogen.
Der Professor kannte die Neigungen eines jeden einzelnen seiner Gäste so durch und durch, und wußte sie so anziehend zu beschäftigen, daß er ihnen die Zeit, bis alle Geladenen voll versammelt waren, auf die angenehmste Weise kürzte. Da hatte, ehe man sich's versahe, Schlözer ein Paar unzweifelhaft ächte, durch eine beigelegte Urkunde beglaubigte Handschuhe Gustav Adolfs, von braunem, gesticktem Leder, nicht minder auch ein Bild des tapferen Schwedenkönigs, auf Kupfer gemalt, in Händen, dessen Rückseite das eigenhändig vom Besitzer geschriebene Distichon erblicken ließ:
Regum en atque ducum summus Gustavus Adolphus
Fischero pictus peniculo tenero.
Generalsuperintendent Henke hatte gleichzeitig eine der ältesten, wenigst gekannten Erstlingsschriften Doktor Luthers in der Hand, die ihm, dem gelehrten Kirchenhistoriker, überraschend neu war. Es war: Eyn geistlich edles büchlein von rechter vnterscheyd vnd vorstand. Was Adams vn was gottes kind sei. Wittenberg 1516. bey den Augustinern.
Der Philolog Carpzov sah sich nicht minder, wie Henke, gefesselt durch eine der größten Druckseltenheiten, die ihm je vor Augen gekommen; es war eine Incunabelausgabe der Reden des Cicero an Herennius, ohne Jahr, ohne Druckort, und mit Lettern gesetzt, die keiner der bekannten Officinen des fünfzehnten Jahrhunderts angehörten, und doch war es offenbar ein Druck dieses Jahrhunderts.
Justizrath Häberlin empfing ein Document zu lesen; es war das Statut eines Ordens, welchen Kaiser Matthias begründen wollte, der aber niemals in das Leben trat und dessen noch kein Historiker der deutschen Kaiser- und Reichsgeschichte Erwähnung gethan. Für den Publicisten war dieses Document anziehender, als für irgend Jemand in und außer Helmstädt.
Professor Bode sah man in der Nähe einer Alabasterlampe stehen, und angelegentlich die Blicke auf eine der kostbarsten orientalischen Handschriften richten. Es war eine etwa handbreite lange Pergamentrolle, reich mit Gold und Arabeskenmalerei verziert, am Anfange eine Anrufung Gottes und des Propheten enthaltend, und dann endlose Zahlenreihen – ein türkisch-persischer Kalender, ein Meisterstück der orientalischen Schönschreibekunst.
Der Mathematiker und Optiker Klügel betrachtete ein neues Mikroscop von einer besonderen Zusammensetzung und bisher noch nicht angewendeter Vergrößerungskraft, und der Professor, der einige Augenblicke bei ihm verweilend stand, sagte ihm: »Dieses Mikroscopium, mein hochverehrter Freund und Gönner, ist nach Lieberkühn's neuester Erfindung zwar gebaut, aber von mir verbessert. Lieberkühn's ursprüngliches, bestes Mikroscop vergrößert sechsunddreißigtausend Millionenmal, das meinige aber vergrößert vierundsechszigtausend Millionenmal.« Dem gelehrten und erfahrenen Physiker Klügel blieb der Mund vor Erstaunen offen stehen über diese kolossale Behauptung. Er sagte lächelnd: »Lieberkühn? Ueberkühn! Ich wäre schon mit der sechsunddreißigtausendfachen Vergrößerung ohne die Millionen zufrieden, geehrtester Herr Professor!«
»»Ich hoffe nicht, daß Sie an dem, was ich sage, zweifeln, mein hochverehrter Freund!«« gegenredete mit ruhigster, freundlichster Miene der Hausherr, und zog ein Schubfach, aus dem er eine dünne Druckschrift nahm. »Hier, Verehrtester, lesen Sie diese meine Dissertation von der Gebrechlichkeit des menschlichen Körpers; in ihr finden Sie den mathematischen Beweiß, daß ich die Wahrheit behaupte – einen besseren wird der Mathematiker, nicht fordern, sondern sich vom Schauen zum Glauben bekehren.«
Mit besonderer Gunst sah sich Professor von Crell beehrt. Der Professor liebte ihn, den Enkel seines dankbar verehrten Lehrers Heister. »Mein lieber Lorenz Florenz!« wurde dieser angeredet: »Wie steht es um das chemische Archiv? Ich hätte etwas für dasselbe, allein Tonnen Goldes wiegen das neue Geheimniß nicht auf. Endlich habe ich es – endlich – endlich – nach langen fruchtlosen Versuchen – ich hab's – ich hab's! Verkünde es der Welt, wenn Du willst, oder – verkünde es ihr lieber nicht, denn die Bereitung erfährt sie doch nicht.«
»»Und was, wenn ich fragen darf?«« fragte von Crell in der That gespannt, denn daß es sich hier nicht um etwas Alltägliches handle, das sah jener an den leuchtenden Augen, der begeisterungvollen Lebendigkeit des ganzen Wesens des Professors. Dieser lächelte geheimnißvoll, zog ein kleines Döschen von Dendrachat aus der Westentasche, gab es in Crell's Hand und flüsterte ihm in's Ohr: »Der lange gesuchte, endlich von mir glücklich zu Stande gebrachte grüne Carmin!« und überließ Crell seinem Erstaunen.
Dieser öffnete das Döschen, welches einen zarten grünen Farbenstaub enthielt, den die Lichtflamme nicht, wie manches andere Grün, blau erscheinen ließ, der in leuchtender Schönheit ganz das war, was der rothe Carmin ist, eine unübertreffliche Farbe, eine neue Farbe, welche die Welt der Chemiker, wie der farbebedürftigen Techniker noch nicht kannte.
Aber nicht allein den Männern wußte der mit großer Beweglichkeit durch Saal und Zimmer schreitende, bald da, bald dort erblickt werdende Gastgeber Anziehendes und Fesselndes zu geben, zu zeigen, auch die Frauen gingen nicht leer aus. Jungfrau Dorothea Schlözer, Doctorin der Philosophie, war schon in ein Kästchen herrlicher Römermünzen, in Gold und Silber ausgeprägt, ganz vertieft. Die übrigen Damen bekamen seltene Kolibris, Arbeiten der Südseeinsulaner, Künstlichkeiten aus China und Japan zu betrachten, bis die Stunde schlug, die zum Einnehmen der Mahlzeit bestimmt war.
Eine große, im schwarz gebeizten modischen Gehäuse stehende, mit Figuren verzierte Uhr verkündete diese Stunde, und kaum hatte sie ausgeschlagen, so begann in ihrem Innern ein vollklingendes harmonisches Tonstück, dessen laute und starke Klänge durch alle Zimmer vernommen wurden, so daß die verstreute Gesellschaft sich von selbst nach dem Speisezimmer, darin diese Uhr aufgestellt war, zusammenzog.
Sophie stand mit ihrer Verwandtin, deren Mann, der botanische Gärtner, – eifrig in einem der größten Folianten blätternd, welche jemals gedruckt wurden, im Hortus Eistädtensis, von allem Uebrigen abgezogen war, – an einem kleinen Bergwerk, darin niedliche Bergleute Stufen trugen, andere vor Ort saßen, noch andere karrten, wieder andere ein- und ausfuhren, bewundernd und ganz hingerissen von der Künstlichkeit dieses Kunstwerkes. Alles befand sich unter einer Glasglocke, und wurde von unsichtbaren Kräften und Triebfedern in Bewegung gesetzt, zum höchsten Erstaunen die Beschauer anregend, die so etwas noch niemals gesehen hatten. Jetzt schritt Gottfried an Sophie vorüber, flüsterte den Damen zu: »In den Speisesaal, wenn es Ihnen gefällig,« und zu Sophie gewendet: »Ich werde heute die Ehre und die Freude haben, Sie zu bedienen, welch nie gehofftes Glück für mich!«
Ein süßes Lächeln antwortete ihm. »Säßen Sie doch lieber an meiner Seite!« flüsterte Sophie nur ihm hörbar und wandte sich nur zögernden Ganges nach dem Speisesaale, wo sie einen der letzten, bescheidensten Plätze einnahm.
Gottfried und seine Aeltern versahen mit Hülfe einer ihrer älteren Töchter den Tafeldienst und thaten dieß mit so viel Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit und Sorgfalt, daß auch nicht der geringste Fehler vorfiel. Keine Brühe wurde auf irgend ein neues Damenkleid vom maaßlosen Ungeschick gegossen, kein Löffel, kein Messer und keine Gabel fiel klirrend zur Erde, es störte kein Geräusch klappernder Teller das durch des Wirthes und der Gäste sittige Heiterkeit fröhlich belebte Mahl, denn nichts fehlte, um allseitiges Wohlgefallen zu erwecken und zu erhalten. Die männlichen Gäste überboten einander im Ausbringen geistvoller Trinksprüche, die weiblichen an Liebenswürdigkeit, Schalkhaftigkeit und Grazie, und der fröhliche Gastgeber überbot sich selbst an Aufmerksamkeiten für und gegen Alle. Das junge Liebespaar, Sophie und Leonhard, sprach durch Blicke zärtlich mit einander; Leonhard wußte der Geliebten mit Taschenspielergewandtheit manches Kostbare aufzunöthigen, als die Reihe an die Zuckerbäckereien und Näschereien des Nachtisches kam, nebenbei war er mit Aufmerksamkeit bemüht, fleißig die Gläser zu füllen, dieselben auch nicht selten zu wechseln, und so kam auch ein Damenwein an die Reihe, der in hohen Stengelgläsern gereicht wurde. Der Kelch dieser Gläser war glockenförmig, wie jener einer blauen Campanulablüthe, und ruhte auf einem Stengel, der innen von weißen und rothen Spiralen durchzogen war, die um eine feine weiße Säule liefen, welche durchsichtigem Spitzengewebe glich. Die Farbe des Weines glühte im hohen Purpurroth, sein Arom war wie von einer lieblichen Frucht, und sein Geschmack süß und feurig.
»Was ist das für ein Wein, werthester Herr Professor?« fragte, nachdem sie genippt hatte und vom Duft und Wohlgeschmack überrascht worden war, Frau Schlözer.
»Welche herrliche Farbe! Wie Rubin!« rief Frau Henke und hielt ihr Glas gegen das Licht der nächsten Ampel.
»Rubin! Rubin! Ganz richtig, meine Verehrteste!« rief beifällig nickend der Gastgeber. »Was der Rubin ist unter den edeln Steinen, das ist dieser flüssige Ichor unter den Getränken! Wein aus Weinbeeren ist es aber nicht.«
»Er mundet, wie ein äußerst feiner Aquavit,« bemerkte Frau Schlözer: »und ist doch wol kein solcher, es scheint kein Spiritus in ihm enthalten.«
»Doch, hochwürdigste Frau Aebtissin!« so nannte der Professor die Generalsuperintendentin und Gattin des würdigen Abt Henke stets, wenn er in der besten Laune war: »Spiritus, oder besser gesagt Alkohol, ist in jedem geistigen Getränke, sei es Wein, sei es Branntwein, sei es Bier, enthalten, nur die Mengen und die Mischungsverhältnisse sind verschieden, wie ein und derselbe Grundstoff die edeln Steine bildet, denen aber noch dieses Urstoffes größere oder mindere überwiegende und herrschende Härte, Gewicht, Glanz und Farbe die verschiedenen Abstufungen und den verschiedenen Werth geben.«
»Solches begreift sich und ist ein Bild, das sich weiter ausführen ließe!« nahm Henke das Wort. »So geht ein sicheres Grundelement durch allen Glauben, durch alle Wissenschaft, durch alles Leben und Sein!«
»»Möchte solches die Quinta Essentia nennen, wie diesen Götternektar eine Quintessenz edler Säfte, welchem Stoffe der Natur er auch entnommen sei, wenn er nicht aus Trauben träufte!«« sprach Professor von Crell.
» Recte, carissime Laurente Flaurente!« scherzte der Professor.
»Aber nun, meine Hochverehrtesten, was ist's? Trinken Sie und rathen Sie!«
Man nippte, man schlürfte, man schwatzte wol auch ein wenig, zarte Zünglein überfuhren, blitzschnellen Schlänglein gleich, purpurne Lippen.
Die gelehrten Herren, welche des Professors liebe Gäste waren, hatten manche nicht eben wohlfeile Erfahrung gesammelt in Erprobung edler Weine, und es wurden daher verschiedene Beurtheilungen laut. Einer nannte jungen Madeira, ein zweiter Xeres, ein dritter verfiel auf Alicante, endlich rief Crell, der Chemiker, der nicht blos ungenießbare Stoffe zu prüfen verstand: »Ich hab's, ich hab's! Es ist Rivesaltes!«
Der Professor lächelte fein und warf einen sehr vertraulich verschmitzten Blick zum wackern Gaste, dem botanischen Gärtner, hinüber, der schon während des ganzen Gespräches still lächelnd vor sich hin oder von Zeit zu Zeit auf den lebendig angeregten Wirth blickte, während Leonhard d. J. bemüht war, die Vacua in den reizenden Stengelkelchgläsern wieder zu ergänzen.
»Rivesaltes!« wiederholte der Professor. »So, so! Mein wackerer Lorenz Florenz traf die Scheibe, leider aber nur das Weiße – außen herum, nicht den Punkt, nicht einmal das Schwarze. Nein, dieser Trank wächst nicht in Perpignan, und ich hatte ja schon die Ehre zu bemerken, daß dieser flüssige Rubin nicht aus Trauben gekeltert ist, so wie ich hoch und theuer versichere, daß auch nicht ein Tropfen Wein oder Alkohol oder Weingeist ihm zugesetzt worden ist. Auch ist Rivesaltes ein blanker, nicht ein rother Wein. Oder meintest Du, verehrtester Lorenz Florenz, vielleicht Ribes, den catalonischen Rothwein?«
»Ja, richtig, den meinte ich!« rief Crell aus, den die weinkenntnißreiche Ueberlegenheit des Gastgebers einigermaßen in Verlegenheit brachte, jener aber fuhr scherzend fort:
»Auch damit geschähe ein Fehlschuß! Fast möchte ich um meinen Rubin des Weltumseglers wetten, wenn – einen einzigen wackern Mann dieser verehrten Tischgenossenschaft ausgenommen – irgend einer von Ihnen, meine Herren, zu sagen weiß, wo dieser Rubin-Nektar gewachsen ist?«
»Also doch gewachsen – also keine Tinctur – keine Conditormischung aus Syrupen und weingeistigen Essenzen?« fragten sich die Herren unter einander und sannen verwundert über das Räthsel nach, das hier aufgegeben wurde, das so lieblich mundete, so purpurperlend in die Kelche floß und eben so angenehm geistig anregend zu wirken begann, wie der Schaumwein der campanischen Kreideberge.
»Es wird doch wol am besten sein, hochverehrter Herr Professor,« nahm Dorothea Schlözer das Wort: »Sie geben uns dieses mal statt eines Münzschlüssels den Schlüssel zu diesem Weinräthsel, oder zu diesem Räthselwein, und sagen uns selbst, wo derselbe wächst!«
»»Auch beliebte der geehrte Herr College einen Gegenstand als Objectum einer Wette zu benennen, das uns allen sonder Zweifel noch gänzlich fremd ist, will sagen den Rubin eines Weltumseglers!«« sprach Abt Henke.
»Sollt ihn sehen, sollt von ihm hören! Ist ein Kronjuwel meiner Sammlungen!« rief der Professor, überblickte mit blitzenden Augen die ganze Zahl seiner Gäste und fuhr lächelnd fort: »Ich sehe schon, ich behalte meinen Rubin! Aber ich bitte, Liebste, trinken Sie, trinken Sie, wenn mein Rubin Ichor Ihnen mundet, absonderlich Sie, verehrteste Frauen und Demoiselles, auch Sie dort, schalkhafte Demoiselle Sophia aus Benshausen, vom Thüringer Walde, und lassen Sie sich, wenn Sie sich vermählen, von Ihrem gütigen Oheim, der dort an ihrer grünen Seite sitzt, als Hochzeitgeschenk von unserm Nektar ein Fäßlein spenden, nebst der Zauberformel, mittelst welcher gütige Gaben der Mutter Hertha sich durch Einsicht und richtiges Erfassen der Naturkräfte in solche liebliche Süssigkeiten leicht verwandeln lassen.«
Sophie erröthete, und Leonhard erröthete im Stillen mit, denn alle Blicke lenkten sich jetzt ihr zu; der botanische Gärtner lachte herzlich über den Scherz, und der Professor rief in der muntersten Laune:
»Soll ich es sagen, soll ich es sagen, wo dieser Purpur rubineus potabilis wächst, dieser flüssige Karfunkel, dieser Herzichor der alten Erdenmutter Eostar?«
Alle riefen: »Ja! Ja! Bitte, sagen Sie es uns! Wir errathen es doch nicht!«
»Nun denn!« rief der Wirth und hob sein Glas zum Trinken: »aber zuvor – bitte – trinken Sie erst noch einmal, Sie trinken mir hernach am Ende nicht mehr, wenn ich es gesagt habe, denn der lieben Deutschen Art und Gewohnheit ist, das Einheimische zu verachten und das Fremde, tauge es auch den Teufel nicht, hoch zu verehren und theuer zu bezahlen, und es könnte ja vielleicht dieser Ribes – ein Landsmann sein!«
Alle schwiegen, alle lauschten – jeder Blick hing an des Professors Munde.
»Nein – ich sage es nicht!« sprach dieser.
»O wie häßlich! – Das ist garstig – Herr Professor! Bitte! bitte!« klangen die Stimmen der Frauen und Jungfrauen durch einander.
»Ich sage, daß ich es nicht sage!« fuhr der Professor heiter fort. »Ein Anderer soll es sagen. Dort unser lieber Freund, der Priester Flora's und Pomona's. Liebster Gärtner, sagen Sie uns, wo dieser Ribes gewachsen ist?«
»»Im botanischen Garten der löblichen und berühmten Julia Carolina, der Universität Helmstädt!«« rief der am untern Ende der Tafel sitzende Gärtner mit sonorer Stimme, und ein endloses Staunen der Gäste folgte seinem Ausrufe.
»Und die benedeite Pflanze, der er entstammt?« fragte der Professor weiter.
»» Ribes rubrum Linnaei: die Johannisbeere!«« antwortete jener.
»Also doch Ribes! Warst auf guter Fährte, lieber Lorenz Florenz!« spöttelte sarkastisch der Professor; alles lachte und nippte mit neuem Wohlbehagen vom geistigen Safte der deutschen Beere, dem angemessener Zusatz von Wasser und Zucker durch das Mittel der weinigen Gährung ohne einen Tropfen von Farbestoff, Wein- oder Weingeistzusatz zu diesem herrlichen Getränke, namentlich für Frauen, die das Süße lieben, wenn es nicht fad ist, erhoben hatte.
Daß der Professor seinen Gästen mit dieser Eröffnung eine große Ueberraschung bereitete, darf nicht befremden. Zu jener Zeit war man noch bei weitem nicht auf dem Standpunkte angelangt, den chemische Processe und technische Fortschritte der späteren Zeit errangen. Kaum wußte man wirkliche Weine richtig zu behandeln, und die sogenannten Fruchtweine waren noch gar wenig bekannt. Es galt daher noch leicht als ein köstliches und werthes Arcanum, was jetzt jeder Gartenbesitzer übt, falls er daran Gefallen hat, sich einen Trank zu bereiten, der bei festlichen Anlässen und namentlich bei Frauen-Gesellschaften, durch Frische und Lieblichkeit und würzigen Wohlgeschmack den von Weinfabrikanten künstlich zusammengebrauten Lünel, Tavel, Malaga, (aus Rosinenbrühe, Zucker und Weinsteinsäure) oder künstlichen Xeres und Madeira und dergleichen nicht nur weit übertrifft, sondern auch ungleich wohlfeiler, und – was das wichtigste – der Gesundheit zuträglicher ist.
Der gastliche Wirth der anwesenden Gesellschaft war indeß weit davon entfernt, aus ökonomischen Rücksichten seinen Geladenen den im Verein mit dem befreundeten Kunstgärtner erzeugten Nektar als ein Surrogat aufzudringen; er sorgte vielmehr dafür, daß durch manche kostbare Sorte ausländischer Nachtischweine jeder Geschmack und jede Vorliebe befriedigt werden konnte, und wirkte nach allen Seiten dahin, daß jeder und jede nach eigenem Belieben und eigener Neigung genieße und sich der Stunde freue, die zum Genusse vergönnt war.
Als allmählich die Ausrufe der Verwunderung sich stillten, und die Lobpreisungen des köstlichen Trankes verrauschten, rief Crell: »Aber carissime Theofriede, den Rubin! den Rubin!«
Der freundliche und zur Unterhaltung seiner Gäste auf das angelegentlichste bemühte Wirth entnahm jetzt aus der Reihe seiner größeren und kleineren Kästchen, deren jedes entweder eine Natur- oder Kunstseltenheit in sich schloß, eine Dose von Heliotrop, deren tiefgrüne Färbung mit zarten blutrothen Punkten und feinem Geäder von gleicher Farbe gleichsam besprengt schien, und deren Einzeltheile, Boden, Seitenwände und Deckel in Gold gefaßt waren.
»Ich werde die Ehre haben, Ihnen, meine Hochverehrtesten, jetzt ein Juwel zu zeigen, welches neben seinem eigenthümlichen auch einen geschichtlichen Werth hat, indem dasselbe das Besitzthum eines Mannes war, dessen Andenken hoch verehrt und werth gehalten wird, und diese Werthhaltung auch verdient, obschon ich für meine Person diesen Mann aus ganz anderen Gründen bewundere, als aus welchem Grunde ihn die Welt verehrt.«
»Indem ich Sie im Geiste fragen höre, welchen Grund ich meine? so wird es genügen, Ihnen mitzutheilen, daß dieser Mann es war, der zuerst nach Europa aus Amerika jene beliebte Knolle brachte, welche man fälschlicher Weise eine Frucht zu nennen sich gewöhnt hat, die jedoch mit einer wirklichen Frucht höchstens nur das gemein hat, daß sie eine Schaale besitzt, anderer schaalen Eigenschaften nicht zu gedenken. Mit einem Worte, ich meine den Admiral und Ritter Sir Francis Drake.«
Indem der Sprecher jetzt den Deckel der Heliotropdose aufklappte, zeigte sich in derselben auf Baumwollenwatte liegend ein glattgeschliffener Stein von der Form und Größe eines Taubeneies, der, von der höchsten Reinheit, den Glanz der ihn bestrahlenden Kerzen in glühender Karfunkelpracht nach allen Seiten zurückwarf. Dieser Stein war am oberen dünneren Ende von einem gravirten Goldplättchen überdeckt, durch das ein Oehr in den hochwerthvollen Rubin eingebohrt und befestigt war, damit derselbe, an silberner Schnur hängend, zur freien Zierde eines schönen Halses, einer Brust, oder wenn man wollte, einer reinen Stirne, ja selbst einer Krone dienen konnte.
»Sie erblicken, meine Hochverehrtesten,« fuhr der Besitzer dieses Juwels fort, indem er sein Kleinod den Augen seiner Zuhörer und Zuhörerinnen der Reihe nach möglichst nahe brachte und es auch wendete, damit es nach allen Seiten betrachtet werdet »einen Edelstein ersten Ranges, und erlauben mir, nachdem Sie denselben genügend betrachtet haben, Ihnen dessen Geschichte zu erzählen.«
Der Stein fand allseitige Bewunderung und nachdem er von allen Anwesenden beschaut worden war, stellte sein Eigenthümer die fein geschliffene und polirte Heliotropdose mit aufgeschlagenem Deckel so, daß der Rubin allen Gästen sichtbar blieb, vor sich hin, wandte sein feines, stets ein wenig satyrisch lächelndes, und dennoch so äußerst wohlwollend ausgeprägtes Antlitz seinen Gästen zu, und sprach:
»Sie erblicken auf der Goldplatte, welche das spitze Ende dieses Karfunkeleies bedeckt, die Namen und die Jahrzahl Francis Drackh, York, 1590. eingegraben und diesem gegenüber eine Weltkugel und ein Schiff, beides die Wappen jenes berühmten Mannes, aus dessen vielbewegtem Leben Ihnen einiges nähere mitzutheilen ich die Ehre haben werde. Nicht leicht bewährte der Sinnspruch: Audaces oder Audentes Fortuna juvat: das Glück begünstigt die Kühnen, sich so glänzend an irgend einem in der Weltgeschichte berühmten Namen.«
»Als im Jahre eintausendfünfhundertundsechsundsiebenzig Sir Francis Drake mit drei von ihm auf eigene Kosten bemannten Fregatten den irischen Rebellenführer Mac-Filoney bekämpfen half, aber der Führer der gegen Irland und die aufwieglerischen Grafen von Northumberland und Westmoreland gesendeten Armee, Walter Devereux, Graf von Essex, in Folge der fahrlässigen und nachlässigen Unterstützung des Heeres und der Flotte, deren Schuld sein Nebenbuhler, Graf Leicester, trug, vor Kummer – Andere sagen an Gift – gestorben war, kehrte auch Drake nach England zurück. Der Sohn des verstorbenen Grafen, Robert Devereux, Vicomt von Herfort und Graf Essex, der berühmte und später erklärte Günstling der Königin Elisabeth, wandte Drake innige Neigung zu, und war nicht ohne Antheil an der Wißbegierde, welche die Königin zeigte, Drake persönlich kennen zu lernen, denn auf den Muth und die Mittel eines so kriegerisch gesinnten und unternehmenden Mannes ließen sich mancherlei Pläne bauen.«
»Die wichtige Stunde schlug, in welcher Francis Drake, eingeführt durch den Geheimerath und Vicekämmerer Sir Christoph Hatton, vor seiner Königin das Knie beugte. Elisabeth empfing den Helden mit herablassender Huld und Gnade, und gebot ihm, ihr das wichtigste aus seiner Lebensgeschichte vorzutragen. Drake gehorchte und sprach ohngefähr folgendes: Ich bin im Jahre fünfzehnhundertundfünfundvierzig zu Tavistock in der Grafschaft Devonshire als Sohn eines Predigers geboren, welcher Protestant wurde, und nach Kent flüchtete, wohin er mich mit sich nahm. Später wurde mein Vater Lector und dann Schiffsprediger bei der königlichen Flotte. Ich empfand frühzeitig Neigung für den Seedienst, und mein Vater gab mich bei einem Schiffsherrn in die Lehre, welcher Kaufmannsgüter nach Irland, Frankreich und Seeland führte. Ich lernte den Dienst zur Zufriedenheit meines Herrn, und da dieser allein, ohne Familienbande stand, vererbte er mir, als er starb, sein Schiff. Ich setzte eine Zeitlang das Geschäft eines Kauffahrers fort, allein als ich mein achtzehntes Jahr zurückgelegt hatte, sehnte mein Geist sich nach größerer Thätigkeit und ins Weite; ich war der Kanalfahrten zwischen Großbritannien und Irland, zwischen England, Frankreich und Holland müde, daher verkaufte ich mein Schiff und begab mich in den Dienst eines Verwandten, Kapitain Hawkins, der nach Biscaya handelte, und mir das Amt des Schiffszahlmeisters anvertraute. Wir machten einige Jahre lang glückliche Fahrten, und im Jahre fünfzehnhundertundsiebenundsechzig betheiligte sich Kapitain Hawkins bei der Flotte, die zu Plymouth ausgerüstet und deren Lauf nach Amerika bestimmt wurde, bei welcher ich dann selbst ein Schiff zu führen bekam! Leider war dieses Unternehmen nicht vom Glücke gekrönt; im Hafen von Vera Cruz wurden wir von den Spaniern heftig angegriffen, und ich namentlich verlor mein ganzes Besitzthum und mußte dem Himmel danken, mit dem Leben davon zu kommen. Ich schwur dafür den Spaniern ewige Rache, und fand mich bald an der Spitze von siebenzig gleichgesinnten und entschlossenen Männern und Jünglingen, die als kühne Piraten mir folgten. Nach manchen Kreuzungen an den westindischen Küsten, mit deren Einzelnheiten ich die Geduld Ihrer königlichen Majestät nicht ermüden will, sah ich mich als Führer zweier Schiffe, mit denen ich zuerst Nombre de Dios angriff, welches sich jedoch nicht behaupten ließ; besser gelang ein Zug gegen spanische Kaufleute zu Lande im Gebirge bei Vera Cruz, wo wir so reiche Beute machten, daß wir nur das Gold mit uns nehmen konnten, das Silber aber verscharren mußten. Hierauf wandt' ich meinen Rachezug gegen die Stadt Vera Cruz selbst, in deren Bai mir so übel mitgespielt worden war. Ich vernichtete der dortigen Kaufmannschaft für zweimalhunderttausend Pfund Sterling Waaren durch Feuer, und belud unsere Schiffe mit so vieler Beute, als sie nur immer zu tragen vermochten. Einestheils war nun mein Racheschwur erfüllt, ich kehrte nach England zurück und weihete meinen Muth dem Dienst Ihrer königlichen Majestät gegen Allerhöchst-Ihre Feinde.«
»»Ihr seid ein kühner und tapferer Mann, Sir Francis Drake!«« sprach die Königin: »und Wir werden nicht vergessen, was Wir Euch schulden. Ihr sagt, Sir Drake, Euer Racheschwur gegen die Spanier sei theilweise erfüllt worden; ist Euer Gefühl der Rache nicht gänzlich gestillt?«
»»Nein, Majestät!«« erwiederte der kühne Freibeuter. »So lange ich athme, werde ich die Spanier hassen und bekämpfen und ich wünschte nur, ich könnte das mit den ausreichendsten Mitteln!«
»»Wol sind die Spanier Englands geschworene Feinde und werth, daß wir sie bekämpfen. Aber England ist gegenwärtig mit Spanien nicht in Krieg verwickelt. – Auf welche Weise wolltet Ihr den Kampf beginnen, Sir Drake, wenn Wir uns entschlössen, Euch die gewünschten Mittel zu gewähren, ohne daß Wir dabei genannt würden?««
»Ich würde die Spanier da angreifen, Majestät, wo sie sich eines Angriffes gar nicht versehen, wo sie keine oder doch nur sehr wenige Schiffe zur Vertheidigung haben; ich würde durch die von Magellan entdeckte Meerenge in die Südsee einfahren, und von jener Seite die spanischen Besitzungen in Westindien beunruhigen. Auf diesem Zuge bin ich gewiß, Ihrer königlichen Majestät neue Inseln zu entdecken, neue Länder zu erobern, und die Flagge Englands auf Gebiete zu pflanzen, die noch kein Fuß eines Europäers betreten hat. Eine Entdeckungsreise würden Ihro Majestät durch allerhöchstdero gnädigste Unterstützung fördern, und die Kriegsangelegenheiten würden meine, mir nicht gebotene Privatunternehmung sein.«
»»Euer Muth ist groß, Eure Pläne sind kühn und weit ausgreifend; Wir wollen unsern Staatsrath versammeln,«« erwiederte Königin Elisabeth: »und vernehmen, was sich Unsererseits zur Ausführung Eurer Pläne und vorhabenden Entdeckungsreisen thun läßt«.
»Mit einem reichen Gnadengeschenke wurde der tapfere Seemann von seiner Königin entlassen. Was er an hohen und ruhmreichen Thaten in Folge dieser Unterredung vollbrachte, ich darf voraussetzen, daß es meinen hochverehrten Gästen bekannt sei, und will es daher nur im Fluge berühren, um nach so weitem Abschweif wieder auf den eigentlichen Gegenstand meiner Mittheilung, diesen Rubin zu kommen.«
»Im Herbste des Jahres fünfzehnhundertsiebenundsiebenzig segelte Drake mit fünf von der Königin ausgerüsteten Schiffen, die mit sechzehnhundert Soldaten und Matrosen bemannt waren, aus dem Hafen von Plymouth.«
»Es bedurfte einer Fahrt von neun Monaten, bevor Drake die Straße Magellans erreichte, durch welche er fuhr, allein nicht ohne großen Kampf mit widrigen Stürmen, und nicht ohne den Verlust mehrerer Schiffe. Die Eroberungen, welche Drake auf diesen Fahrten für sich zu machen im Sinne gehabt, machte er nicht, aber der Erdkunde eroberte er neue, vor ihm noch unbekannte Länderstrecken und Inseln; er entdeckte das Cap Horn, bis er nach mancher Irrfahrt, und der größeren Zahl der ihn begleitet habenden Schiffe beraubt, den Küsten von Chile und Peru entlang segelte, wo er nach Lima zu, vom Glücke mit reichen Erfolgen gekrönte Streifzüge auf dem Festlande unternahm, auch manches spanische Schiff gewann und eine unermeßliche Beute von Gold, Silber und Juwelen sich aneignete.«
»Immer nordwärts steuernd, nahm er von einem ausgedehnten Landstriche für England Besitz und nannte denselben Neu-Albion, auch wurde er der Entdecker einer Gruppe von sechszehn bisher noch unbekannten Inseln, die er nach dem Namen seiner Königin nannte. – Da Francis Drake die Durchfahrt nach dem atlantischen Ocean, welche er zu finden hoffte, nicht fand, so segelte er, nachdem er das Schiff ausgebessert und zu langer Fahrt geschickt gemacht hatte, südwestwärts nach Ostindien, erreichte im September fünfzehnhundertneunundsiebenzig die Molukken, und erst am dritten November des darauf folgenden Jahres den Hafen von Plymouth, warf aber bald darauf im Hafen Deptfort Anker, und ruhte aus von den unbeschreiblichen Mühen seiner Weltumsegelung.«
»Im April des Jahres fünfzehnhundertundeinundachtzig wurde dem Weltumsegler die große Auszeichnung zu Theil, daß die Königin Elisabeth sein Schiff mit ihrem Besuche beehrte, und seine Bewirthung annahm. Elisabeth schlug Francis Drake höchst eigenhändig zum Ritter, und verlieh ihm zum Wappenzeichen Schiff und Erdglobus, wie wir beides auf diesem Goldplättchen zierlichst eingegraben finden.«
Der Erzähler machte eine Pause und gab nochmals die Heliotropdose mit ihrem kostbaren Inhalte im Kreise seiner Gäste herum, während er von seinem Sessel sich erhob, und aus einer, auf einer Tafel nebenan liegenden, mit lauter Brustbildern berühmter Personen angefüllten Mappe eines dieser Bilder, das bereits absichtlich obenauf lag, nahm, um seinen Gästen dasselbe ebenfalls vorzuzeigen. Es war das Bild des Weltumseglers im Harnisch mit herausgelegtem Kragen, ein Oval zwischen kriegerischen und nautischen Emblemen, zur Linken des Dargestellten das Ritterschild mit dem symbolischen Schiffe, vor ihm beide Hemisphären als Planigloben dargestellt; im Rande Namen und Titel mit der Jahrzahl 1598, darunter das Audentes fortuna juvat und das Zeichen des Stechers, Crispin von Passe, endlich unter dem Rande sechs lobpreisende lateinische Hexameter.
Die Anschau dieses Bildblattes diente der Gesellschaft zu angenehmer Augenweide, und der Berichterstatter nahm, als kaum dasselbe den Kreis der Versammelten durchwandert hatte, sogleich wieder das Wort:
»Auf's neue zog nach der Rast von einigen Jahren der kühne Seeheld aus, die Spanier ernstlicher zu bekämpfen. Er befehligte jetzt eine Flotte von dreiundzwanzig Kriegs- und Kauffahrteischiffen, an deren Bord sich zweitausend dreihundert Mann Soldaten und Matrosen befanden, und landete zunächst auf Jamaica, dessen Hauptstadt San Jago er verheerte und ausplünderte; ein gleiches Loos traf San Domingo, ebenso Cartagena, wo Drake zweihundertundvierzig Kanonen davon führte und unermeßliche Beute gewann. Dann überfiel er Sanct Augustino in Florida, zerstörte die Festungswerke dieser Stadt und raubte und plünderte, so viel als nur immer möglich war.«
»Wiederum nach England zurückgekehrt, das sich nunmehr im offenen Kriege mit Spanien befand; ernannte die Königin Elisabeth ihren Ritter Sir Francis Drake zum Befehlshaber einer Flotte von dreißig Schiffen und sandte ihn gegen den Feind. Drake suchte die spanische Flotte im Hafen von Cadiz auf, und verbrannte den dritten Theil derselben. Zum Viceadmiral erhoben und nur unter dem Befehle des Großadmirals von England, Lord Howard, stehend, zerstörte Drake mit diesem im Jahre fünfzehnhundertachtundachtzig auf der Höhe von Dünkirchen die berühmte unüberwindliche Armada fast gänzlich. Drake's Name war so gefürchtet, so zum Schrecken der Spanier geworden, daß ein spanisches Schiff alsobald die Segel strich und sich ohne Gegenwehr gefangen gab, als der Kapitain eines englischen Schiffes ihm durch das Sprachrohr den Namen Francis Drake zurief.«
»Doch genug von dem merkwürdigen und heldenmüthigen Manne, dem Plymouth eine herrliche Wasserleitung und Europa die Einführung der vortrefflichen, in der That unschätzbaren Kartoffeln verdankt« – dieß sprach der Erzähler mit einem Ausdruck unverkennbaren lächelnden Spottes – »ich komme nun auf das von ihm hinterlassene Kleinod zurück, für welches ich schon viel zu lange Ihre gütige Aufmerksamkeit in Anspruch genommen habe. Wo und wann Drake in dessen Besitz gelangte, ist unbekannt geblieben, jedenfalls dürfen wir annehmen, daß der Name York, der sich neben dem des Weltumseglers auf dem Goldplättchen befindet, nicht nach England, sondern nach Amerika deutet, wohin nach seinen großen Siegen Drake abermals mit achtundzwanzig Schiffen, die er und sein alter Lehrer, Freund und jetziger Verbündeter, John Hawkins zum Theil selbst ausgerüstet hatten, zum Kriege gegen Spanien gesegelt war.«
»Wie nach dem lateinischen Sprüchworte: habent sua fata libelli – Bücher ihre Schicksale haben, so hat am Ende alles bestehende auf Erden sein Schicksal, und vorzugsweise haben solche werthvolle Kleinode, wie das vorliegende, häufig sehr seltsame Geschichten. Bisweilen ruhen sie lange in todten Truhen, bisweilen auch wandern sie rasch von Hand zu Hand, und ihre Geschichte muß oft ganze Zeiträume überspringen.«
»Dieser gegenwärtige kostbare Rubin zierte als Breloque den Hut des Weltumseglers lange Zeit und bis zu demselben Tage, es war der zwölfte November des Jahres fünfzehnhundertundfünfundneunzig, an welchem Drake seinen Freund und Gefährten Hawkins durch den Tod verlor, den eine feindliche Kugel ihm entriß. Und kein Unglück kommt allein. Kummervoll saß der Held auf dem Verdeck und beklagte den Verlust des alten treuen Freundes, als, eben wie sein Schiff aus dem Hafen von Porto Rico zu segeln begann, eine Kanonenkugel einen sehr unzarten Besuch an Bord abstattete. Es krachte – der Held stürzte mit Gepolter zu Boden, im jähen Falle flog ihm der Hut vom Kopfe und über Bord. Die bestürzte Mannschaft umringte den Gefallenen, der aber rasch emporsprang, und zur Freude seiner Getreuen sich völlig unverletzt zeigte. Die Kanonenkugel hatte wunderbarer Weise den Befehlshaber nicht versehrt, aber der Hut war fort – er tanzte schon ziemlich weit vom Schiffe auf den bewegten Wellen.«
»Besser der Hut fort, als der Kopf! Lebte nur Hawkins noch!« rief der unerschrockene Held und bedeckte sein Haupt mit dem Hute des ersten besten Matrosen.«
»Spanische Schiffer fischten den Hut auf, gewannen das Kleinod, verkauften es um ein Spottgeld an einen Juden in Porto Rico und aus dessen Händen wanderte zu immer höheren und höheren Preisen dieser herrliche Rubin von einer Hand in die andere, bis er nach Verlauf einiger Jahre in den Besitz des Sultans Muhammed des dritten gelangte, jenes elenden Regenten, der gleich beim Antritt seiner Regierung seine neunzehn Brüder ermorden ließ, um von ihnen unbedroht zu bleiben. Im Schatze der Sultane ruhte der Stein mehrere Jahrzehente, wenn er nicht einen oder den anderen der muselmännischen Turbane schmückte, bis die Huld des Sultan Muhammed des vierten diesen kostbaren Rubin dem neuernannten Hospodar der Moldau, Stephan dem fünfzehnten, schenkte. Dieser schmückte seinen Fürstenhut mit dem Kleinod, und trug des Sultans Gabe selbst dann noch, als er, gereizt durch die nichtswürdige Behandlung eines Pascha's, mit seinem Heere, das er gegen die Polen führte, in offener Feldschlacht zum Feinde überging, und dadurch den Türken eine blutige Niederlage bereiten half. Andere Woiwoden der Moldau traten nun an Stephan's Stelle, keiner aber vermochte sich lange zu behaupten. Demetrius Kantakuzeno, Stephans erster Nachfolger, hielt sich nur drei Jahre; Anton Rosetta, der nächstfolgende, wurde noch schneller durch den Hospodar Dukas verdrängt; als dieser letztere aber mit einem Heere zur Belagerung Wiens aus dem Lande marschirt war, brach Stephan mit einem Polen-Heere verwüstend in die Moldau ein, nahm einige Zeit darauf Dukas selbst gefangen und schleppte ihn nach Warschau. Der Sultan sandte dem abgefallenen und treulosen Woiwoden nun ein Heer entgegen, das ihn aus der Moldau drängte, und mit dessen Hülfe Demetrius Kantakuzeno wieder eingesetzt wurde. Stephan mußte flüchtig werden, und wandte sich nach Kronstadt in Siebenbürgen. Er rettete nichts außer – nebst einiger geringen Baarschaft, seinen Fürstenhut mit dem kaum bezahlbaren Rubin. Bald mangelten ihm alle Mittel zur ferneren Erhaltung; auch ward ihm, der eine Zeitlang unerkannt als Privatmann zu Kronstadt gelebt hatte, die Kunde, daß sein Aufenthalt erforscht und er seiner Freiheit und seines Lebens nicht mehr sicher sei. Da entdeckte er sich einem redlichen Manne, der ihm bei leichter Krankheit ärztlich beigestanden hatte, dem wackeren Doctor Schröter. Dieser Mann war der Sohn des aus Salzungen im Sachsen-Meiningenschen stammenden berühmten Wilhelm von Schröter, welcher Geheimrath und Kanzlar des Herzogs Ernst des Frommen zu Sachsen-Gotha war, vom Kaiser Leopold geadelt und nach Wien berufen wurde, wo er indeß, im Finanzfach thätig, sich zahlreiche Feinde durch die von ihm bewirkten, zum Theil drückenden Finanzverordnungen zuzog, die ihm endlich im Jahre sechszehnhundertunddreiundsechzig gewaltsamen Tod bereiteten. Dem Sohne, der sich dem Studium der Arzneikunde gewidmet hatte, ward durch dieses Geschick der fernere Aufenthalt in Wien verleidet, und er ließ sich in Kronstadt als ausübender Arzt nieder. Seinem Einflusse bei reichen Einwohnern der Hauptstadt Siebenbürgens gelang es, eine nicht unerhebliche Summe baaren Geldes aufzubringen, um welche der gewesene Hospodar seinen Fürstenhut verpfändete, und mit dessen Zurücklassung derselbe nach Podolien flüchtete, wo er bald darauf verstarb, ohne daran denken zu können, seine Kleinodien, deren noch viele andere, obschon weit minder werthvolle, als der Rubin, das Juwelenschild, oder die Agraffe jenes Hutes bildeten, wieder eingelöst zu haben.«
»Der reichste Mann zu Kronstadt war damals der Stadtrichter, ein Herr von Plecker, welcher, dem Doctor Schröter als seinem Hausarzte innigst zugethan, das meiste Geld auf das kostbare Pfand des gewesenen Hospodars dargeliehen hatte. Da nun dieses Pfand verfallen war, und die übrigen Theilhaber ihr Geld nebst Zinsen zurückverlangten, und sich am Pfande schadlos zu halten wünschten, so kam zwischen allen Theilhabern ein vortheilhafter Vergleich zu Stande, indem jene mit anständigen Summen in zufriedenstellender Weise abgefunden wurden, und der Stadtrichter blieb alleiniger Besitzer des Fürstenhutes Stephans des fünfzehnten, vormaligen Hospodars der Moldau.«
»Herr von Plecker starb nach mehreren Jahren, und hinterließ nur eine einzige Tochter als Erbin seines gesammten nicht unbeträchtlichen Vermögens, welche alsbald der Angelpunkt zahlreicher Anbeter wurde, denn der triviale Volkswitz: Geld, Mädel, ich hab' dich lieb! behauptet zu allen Zeiten seine Geltung. Fräulein von Plecker war so klug, lediglich bei der Wahl eines Gatten der Neigung ihres Herzens zu folgen, und so wählte dieselbe statt siebenbürgischer Gespane, edler Szekler, sächsischer oder walachischer Grafen, die sich ihr huldigend zu Füßen legten, einen einfachen kaiserlich-königlichen Lieutenant, der ihr Herz gewonnen hatte, des Namens von der Heyden, welcher ein Bruder oder naher Verwandter jenes berühmten Heinrich Sigismund von der Heyden aus Schacksdorf in der Niederlausitz war, der sich durch die heldenmüthige dreimalige Vertheidigung Kolbergs gegen die Russen während des siebenjährigen Krieges auszeichnete. Leider aber war diese Wahl der liebenswürdigen Besitzerin des Rubins des Weltumseglers für sie selbst insofern dennoch eine unglückliche, als der Ruf Bellona's kurz nach der Vermählung des jungen Paares den Lieutenant von der Heyden nach Schlesien rief, wohin seine Gemahlin ihm folgte. Nur zu bald wurde sie Wittwe; in der für Oesterreich so unglücklichen Schlacht bei Leuthen raffte eine preußische Kugel den jungen Krieger Oesterreichs hin. Die Wittwe erlitt zu diesem herbsten aller Verluste noch manchen anderen durch den Krieg; unbesonnen hatte sie ihr ganzes Vermögen flüssig gemacht, und alle Bande gelöst, die sie an Kronstadt und an Siebenbürgen fesselten; sie blieb in Breslau wohnen, wohin sie sich, um ihrem Gemahl möglichst nahe zu sein, gleich Anfangs gewendet hatte, lebte nun in einer vom Lärme der Waffen fast ohne Unterlaß durchtobten Stadt, und kam fast um ihr ganzes reiches Besitzthum. Dieß führte den Entschluß herbei, sich des todten Schatzes zu entschlagen. Frau von der Heyden zertrennte den Hut des Hospodars, und veräußerte zunächst die kleineren Steine, wobei ihr den verrufene Münzjude Ephraim willig und auf seinen Vortheil bedacht, die Hand bot, derselbe, der die deutschen Länder mit sieben Millionen Thalern schlechten Geldes überschwemmte. Es war in der That die ungünstigste Zeit, Kleinodien hohen Werthes zu verkaufen, allein Frau von der Heyden wollte und brauchte nun einmal statt derselben baares Geld, selbst mit Verlust, um dann in Wien ein ruhigeres Unterkommen zu suchen, und vom Ueberrest ihres wenn der Rubin leidlich gut verkauft wurde, noch immer namhaften Vermögens zu leben. So gedieh es dahin, daß die junge Wittwe, welcher ihr Vater den Rubin als sein werthvollstes Besitzthum noch auf dem Todbette genannt, und sie vor Verschleuderung gewarnt hatte, in jenes verzeihliche Schwanken fiel, dem rathlose Frauen so leicht verfallen, indem sie nun den Stein, so gern sie denselben verwerthet gesehen hätte, überschätzte, und von fabelhaften Summen träumte, die sie dafür zu erlangen hoffte, und dieß noch dazu zu einer Zeit, in welcher jedermann mit Aengstlichkeit das baare Geld zu Rathe hielt, und die stets wache Sorge, wie es in kriegerischbewegten Zeiten zu geschehen pflegt, jede nicht nothwendige Ausgabe zu scheuen gebot. Indessen wurden briefliche Verhandlungen da und dort angeknüpft und es erfolgten auch von einer und der anderen Seite her Gebote, die aber alle nicht annehmlich befunden wurden. Der gewinnsüchtige Agent Ephraim that zuerst ein Angebot von eintausend Species Dukaten, welches natürlich viel zu geringfügig befunden wurde, denn das wäre eine Summe von etwa fünftaufendfünfhundert rheinischen Gulden gewesen; auch wollte er diesen Kaufpreis in Raten zahlen, und es war sehr gut, daß Frau von der Heyden auf dieses niedrige Gebot nicht einging, denn mit einem zu Breslau auffliegenden, von den in die Stadt vom Feinde geworfenen Granaten entzündeten Pulverthurme flog auch Ephraim mit in die Lüfte. Ein besseres Gebot that bald darauf der reichste Juwelier zu Frankfurt am Main; er bot in runder Summe zehntausend Gulden rheinisch, doch auch dieses Anerbieten fand Ablehnung, und mit Recht, denn es war viel zu gering. Noch höher verstieg sich der überaus reiche Fürst Radzivil, Karl Stanislaus, obschon sein Gebot seinem Reichthume einestheils, und dem Werthe des Steines anderntheils ganz unangemessen war; er bot fünfzehntausend Kaisergulden. Endlich langte ein Gebot aus Sankt Petersburg an; Kaiser Peter der dritte wollte den Stein in die Kleinodienzahl seiner Czaarenkrone einreihen; er ließ zehntausend Silberrubel, etwa siebenzehntausendfünfhundert rheinische Gulden bieten. Schon war die Eigenthümerin entschlossen, um diesen Preis sich von dem werthen Kleinod zu trennen, da nicht wahrscheinlich schien, daß von irgend einer Seite her ein höheres Gebot erfolgen werde, und es war nur ein Glück für sie, daß sie sich nicht übereilte, sonst wäre sie um den Stein und höchstwahrscheinlich auch um das Geld gekommen, denn es erfolgte die Ihnen allen bekannte tragische Katastrophe, die der ohnehin so kurzen Regierung jenes jungen Czaaren sein schnelles Ende machte.«
Aufmerksam lauschten Hörer und Hörerinnen den Mittheilungen ihres gütigen Wirthes; dieser machte jetzt abermals eine Pause, und ließ auf's neue Erfrischungen des Nachtisches darbieten, und die Krystallbecher mit den feinsten Desertweinen wieder füllen. Er selbst betrachtete mit sichtbarem Wohlgefallen den Stein, und da er wahrnahm, daß alle Gäste mit der gespanntesten Aufmerksamkeit der Fortsetzung seiner Mittheilungen entgegen hofften, die nun das überraschende Ende finden mußten, nahm er von neuem das Wort:
»In dieser Zeit, meine Hochverehrtesten, war es just, daß ich von meiner Reise nach Indien und China wieder nach Europa zurückkehrte. Ich hatte den Weg vom schwarzen Meere längs der Donau durch Ungarn und Oesterreich genommen, und wandte mich durch Schlesien meiner geliebten nördlicher gelegenen Heimath allmählich wieder zu. Meine aus dem Morgenlande mitgebrachten Schätze ließ ich durch sichere Beförderung bedeutender Handelshäuser gehen, und führte zu mehrerer Sicherheit nur weniges Gepäck und einiges wenige an Diamanten und Perlen bei mir. In Breslau hörte ich von dem Wundersteine reden, den die junge Wittwe eines gebliebenen österreichischen Officiers besitzen sollte, und der bereits im Munde des Volkes gleichsam mythisch geworden war. Ich ließ bei Frau von der Heyden anfragen, ob sie die Geneigtheit haben wolle, meinen Besuch anzunehmen, und erhielt gern die gewünschte Erlaubniß und Einladung. Die junge Wittwe war sehr liebenswürdig, und ich gewann ihr Vertrauen durch Mittheilungen über meine Reisen, so wie durch Vorzeigung mancher in Europa seltenen Kleinigkeiten, die ich zu mir gesteckt hatte. Ich brachte die Rede endlich auch auf ihren Rubin, sie schien dieß jedoch nicht gern zu hören, wurde verlegen, und statt die Bitte, mir denselben zu zeigen, zu erfüllen, zeigte sie sich mißtrauisch, gab vor, sie habe den Karfunkel zu größerer Sicherheit einem Kassebeamten der Regierung als ein Depositum übergeben, legte mir aber gegenwärtiges Bildchen des Juwels vor, das, wie sie sagte, den Rubin ganz treu darstelle.«
Bei diesen Worten zog der Erzähler eine farbige Handzeichnung hervor, und zeigte dieselbe seinen Gästen, und diese mußten sich selbst gestehen, daß die Zeichnung bezüglich der Größe des Steines und aller Zubehör äußerst treu sei, freilich konnte sie das Feuer und die durchsichtige Purpurgluht des Rubins nicht wiedergeben.
»Mir genügte dieses einfache Bildchen einstweilen völlig,« – fuhr der Erzähler fort, als seine Gäste die kleine Zeichnung genügend beschaut hatten: »ich hatte solcher Steine wohl schon einige gesehen, wenn auch nicht von so außergewöhnlicher Größe, und noch weniger von einer geschichtlichen Merkwürdigkeit, wie dieser Rubin. Daß ich den Werth des Steines schon nach dem Abbilde anerkannte und ihn nicht unterschätzte, erheiterte sichtlich die Besitzerin. Ich erzählte ihr, daß ich die größten und reinsten Rubinen, auch von der Größe eines Taubeneies und doch nicht völlig so groß, wie der ihrige, in der russischen Czaarenkrone mit eigenen Augen gesehen habe, und nannte eine Werthsumme, die eine hohe Gluht der Freude auf den Wangen der Eigenthümerin hervorrief, denn jedenfalls übertraf dieselbe die Gebote, welche bisher erfolgt waren, und die ich nicht kannte – voraussetzend, daß ihr Stein völlig rein, durchsichtig, hochkarmoisinroth, nicht etwa amethystfarbig, und ohne Chalzedonstreifen oder diesem Stein ähnelnden Flecken sei. Frau von der Heyden fragte befangen: Wer wird diesen Preis in den jetzigen Zeiten zahlen? worauf ich desto unbefangener erwiederte: Ich, meine Gnädige, Ihr unterthäniger Diener.«
»Sie scherzen mit mir, mein Herr? fragte sie fast unwillig und ich konnte ihr diese Frage nicht übel nehmen. Ich sah mit meiner kleinen, unscheinbaren Gestalt, und in meinem einfachen Anzuge – ich trug nicht einmal einen einzigen Ring am Finger, freilich nicht aus, wie ein Mann, der Juwelen kaufte, welche würdig waren, die Krone des mächtigsten aller Herrscher zu zieren. Frau von der Heyden ersuchte mich, am anderen Tage wieder zu kommen, an welchem ich den Stein sehen sollte. Ich gestehe Ihnen, meine verehrtesten Damen, daß ich diesen Tag und die bestimmte Stunde kaum erwarten konnte; mein Herz schmachtete nach dem Stein und seinem Besitz, wie das eines Liebenden nach seiner Geliebten. Ich benutzte sogleich die mir übrige Zeit, eine genügende Anzahl kleiner Diamanten in baares Geld umzusetzen, um den Handel kurz und bündig abzuschließen. Endlich schlug die ersehnte Stunde; ich eilte nach der Wohnung der glücklichen Besitzerin eines so werthvollen Schatzes, und fand sie meiner harrend. Es war ein würdiger Mann, derselbe Beamte vielleicht, von dem sie gesprochen, bei ihr, und ich konnte diese Vorsicht nur billigen, denn es wäre gewagt und unklug gewesen, wenn sie als wehrlose, allein wohnende Frau, einem ihr ganz unbekannten und fremden Manne den Stein hätte zeigen wollen. Der Rechtsbeistand der Dame fragte mich, ob ich wirklich Lust habe, den Rubin käuflich zu erwerben, und ob ich dabei bliebe, die Summe zu erlegen, die ich der Besitzerin am gestrigen Tage genannt?«
»Wenn der Stein so ist, wie ich mir ihn denke, – antwortete ich: so hoffe ich, sein glücklicher Besitzer zu werden.«
»Frau von der Heyden war bewegt; ich sahe wol, daß es ihr nahe ging, sich von dem letzten Andenken an ihren seligen Vater zu trennen; allein der Stein war und blieb ein todtes Kapital; was ich dagegen bot, war ein Vermögen, von dessen Abzins eine Wittwe ganz anständig leben konnte.«
»Ich sah den Stein, und mein Herz schlug stärker – ich zitterte vor Freude, seine Pracht und Schönheit übertraf meine kühnsten Erwartungen. Ich ersuchte den Freund der Besitzerin, ein rechtsgültiges Kaufinstrument darüber aufzusetzen oder aufsetzen und dasselbe gerichtlich beglaubigen zu lassen, daß der Stein im wohlbedachten Kaufe gegen die benannte Summe in baarem Gelde oder Banknoten mein Eigenthum geworden sei, und es wurde dieses Geschäft zu allseitiger Zufriedenheit glatt und rund abgemacht, wobei ich nicht unterließ, sowol dem Herrn, wie der Dame, als Andenken noch eine Brillantbusennadel von nicht geringem Werthe zu verehren.«
»Dieses ist« – so schloß der Erzähler seinen Bericht: »die Geschichte des vorliegenden Rubins, an dessen Anblick ich mich stets erfreut, und mein Herz erfrischt habe, wenn es matter schlug. Nie bereute ich den Ankauf, der ohngeachtet der Höhe meines Gebotes und meiner Bezahlung doch ein sehr günstiger und höchst billiger war. Ich gebe Ihnen einen Maasstab. Dieser Rubin wiegt einhundertundsiebenundzwanzig Karat. Bei dem Pascha des Sandschaks Wisapur im Ejalet Rumili sah ich zwei Rubinen, deren größter nur einundfünfzig Karat wiegt, und sechzigtausend Thaler geschätzt wird; darauf läßt sich wol ein Vers machen und mein Kauf war – nicht ungereimt.«
Der freundliche Wirth verneigte sich bei diesen seinen letzten Worten ungemein artig gegen seine Zuhörer und Zuhörerinnen, klappte den Deckel der Heliotropdose zu, legte das Bildchen nebst dem des Weltumseglers in die Mappe, und stellte die Dose wieder in die Reihe jener Kästchen, die er kurz zuvor aus einem verschlossenen Raritätenschreine hervorgeholt hatte, damit sie zur Unterhaltung seiner Abendgesellschaft beitrügen.
Der Eindruck, den die vorgetragene Erzählung des gelehrten Professors bei seinen Gästen gemacht hatte, war zwar ein verschiedener, aber im Ganzen doch ein sehr angenehmer und anregender. Aufs neue hatte man Anlaß gehabt, über die Mittel zu erstaunen, die ihm zu Gebote standen. Manche dachten im Stillen, und namentlich war dieß bei Leonhard und bei Sophien der Fall, wie vielleicht weniger als ein Zwölftheil jener Summe, die für den kostbaren Rubin verausgabt worden, hinreichend sein würde, ihnen ein dauerndes Lebensglück zu begründen, während der Stein so jahraus jahrein als todter Schatz bei anderen todten Schätzen ruhe, niemand nütze, niemand erfreue, als nur den Eigenthümer durch die Besitzesfreude. Die Männer der Wissenschaft begannen ein Gespräch über die Edelsteine, deren Natur und Wesen und über die Möglichkeit, sie künstlich nachzuahmen, eine Möglichkeit, welche man mehr bestritt als zugab, denn man war in der Technik der Behandlung und Verfertigung farbiger Glasflüsse noch nicht weit über Kunkels Bestrebungen und Lehren gekommen. Bald genug ergriff der Professor das Wort mit gewohnter Derbheit, die er nie zu offenbaren unterließ, wo es galt, irrige Behauptungen zurecht und zurückzuweisen.
»Der Mensch kann alles, was er will!« tönte der Lieblingsspruch ohne dessen Nachsatz von den Lippen des Professors. »Er kann auch Edelsteine hervorbringen, wenn er will, aber keine solchen, wie die Affenschwänze von Chemikern, die sich einbilden, wenn sie eine Purpurfritte mit Glas zusammengeschmolzen, sie hätten einen Rubin gemacht. Gefärbte Glasflüsse können nur Hasenfüße künstliche Edelsteine nennen. Es sind kaum Steine, geschweige Edelsteine. Ein solches Produkt darf in nichts von dem durch die Natur hervorgebrachten unterschieden sein; es muß an Härte dem natürlichen gleichen, es muß unschmelzbar sein im gewöhnlichen Feuer, es muß Topas ritzen, muß in Stahl einschneiden, und auch an Farbe dem Urbilde vollkommen gleichen.«
»»So weit sind wir freilich noch nicht,«« warf Crell hin: »das kann niemand.«
»»Niemand? Lorenz Florenz?«« fragte mit seinem heiteren und gleichsam triumphirenden Blicke der Gastgeber. »Und wenn ich es dennoch könnte? Wenn ich es Dir sogar sagte und lehrte? Gäbe einen trefflichen Artikel für Dein chemisches Archiv! Aber was hilft es, wenn ich Dir sage: Nimm Sal Ammoniakum, salzsauren Kalk, Alaun und Goldpurpur, und schmilz es durcheinander – mit allen Deinen Feuern kochst Du keinen Edelstein zusammen. Du mußt vom Teufel etwas höllisches Feuer leihen, oder es Dir, ein zweiter Prometheus, unmittelbar von der Sonne herunterholen.«
»»Sie erwähnten, verehrtester Herr Professor,«« nahm jetzt Frau Henke das Wort: »vor Kurzem, als wir die Ehre hatten, Sie bei uns zu sehen, gegen meine Freundin Schlözer, des chemischen Goldes, und versprachen uns, Proben desselben zu zeigen. Sie wissen, Frauen sind neugierig! Dürften wir bitten?«
»»Die geehrten Damen haben zu befehlen!«« entgegnete der Professor, und zog seine Börse, entnahm dieser mehrere Goldstücke und legte sie neben einander auf einen reinen Dessertteller, den er der Generalsuperintendentin reichte.
»Das sind gangbare Goldstücke, das ist ächtes Gold!« nahm diese betrachtend das Wort.
»Allerdings,« bestätigte mit etwas scoptischem Ausdrucke der Professor. »Unächtes Gold ist ein Unding, es giebt kein unächtes, auch das chemisch bereitete Gold ist ächtes, denn Gold kann nur Gold sein. Aber ich versichere Sie auf mein Wort, daß diese Pistole mit der Jahrzahl siebenzehnhundert und sechzig aus chemischem Golde geprägt ist, und die übrigen sind aus natürlichem in der Erde gewachsenen Golde.«
Frau Henke reichte den Teller mit den Goldstücken ihrer jungen Freundin, der Demoiselle Schlözer, mit den Worten: »Mein Auge vermag keinen Unterschied zu entdecken, vielleicht findet Ihr numismatischer Scharfblick denselben heraus. Doch ich glaube, was ich sehe, da unser gütiger Wirth es uns versichert.«
»»Selig sind, die glauben und nicht sehen!«« rief der Gemahl der Sprecherin von seinem Platze zur Hausfrau hinüber, ebenfalls nicht ohne einen Anflug gutmüthiger Satyre.
»Was soll aus der Welt werden,« spöttelte dagegen der Professor: »wenn selbst die hohe Geistlichkeit sich dem Unglauben hingiebt, die von uns Naturhistorikern doch unbedingten Glauben fordert? Die Naturwissenschaft hält sich nicht an den Glauben, sie ist ihrer Sache gewiß. Dieß wird mit jedem Jahrzehent der Folgezeit einleuchtender zu Tage treten. Glauben Sie mir, verehrteste Anwesende, daß ich gründlicher als irgend ein Lebender die Geschichte der Alchymie studirt habe, und daß ich, als wahrer und ächter Scheidekünstler, das Wahre in ihr vom Falschen, die Aufrichtigkeit vom Betrug, die Kunst von der Charlatanerie zu scheiden weiß. Es würde mir ein leichtes sein, Ihnen in einer Kaffeetasse ein adeptisches Experiment vorzumachen, und vor Ihren Augen Blei in Gold sich scheinbar verwandeln zu lassen, aber ich bin kein Constantini, der vergoldete, statt in Gold zu verwandeln, kein Meyer, der jenem nur nachahmte, kein Schröder, der das Naturgeheimniß unter mystische Schleier, Rosenkreuzereien und maurerische Symbolik hüllte; von den zahlreichen Adepten Englands will ich gar nicht reden, es ist bei all' ihren Versuchen doch wenig mehr herausgekommen als Rauch und Geld durch die Schornsteine ihrer Laboratorien, und der bedeutendste und wohlhabendste derselben, Doctor Price, endete, von seinen treulosen Freunden aufgegeben, durch Selbstmord. Ich kenne Semler in Halle, und seinen Goldsamen, sein philosophisches Luftgold, ja wohl Luftgold, denn alles lief auf elende Betrügereien hinaus. Ich kenne die ganze Literatur der Alchymie, von den Griechen und den Arabern an bis auf Wieglebs alchymistische Schriften, aber ich kenne nur wenige wirklich ächte Adepten, darunter meine ich Benjamin Jesse und Sehfeld nebst einem Dritten, dessen Namen ich – verschweige. Die Geschichte Jesse's und seines Zöglings ist völlig entstellt in das Publikum getragen worden, ich kenne sie genauer als irgend ein Sterblicher, und könnte sie mittheilen. Aber für heute dürfte diese Erzählung, welche einem kleinen Romane gleicht, zu lang sein, wie sie auch zu ernst ist, und ich halte für besser, daß wir des Tages letzte Stunde heiter beschließen. Darum wollen wir statt des Klanges chemischen Goldes lieber die mit lieblichen Weinen gefüllten Becher und mit denselben vermählt, die edlen und reinen Klänge der Musik vernehmen. Ich bitte, meine Verehrtesten, nach jener Uhr Ihre Blicke zu richten, welche ebenfalls, wie so vieles andere, was Sie in meiner Umgebung erblicken, ein Werk meiner Erfindung ist; ich war es, der ihre Einrichtung deren Verfertiger, Herrn Droz, angab.«
Die Gäste des Professors folgten seinem Winke, und gewahrten das erwähnte Kunstwerk auf einem gegen die Fensterwand gerückten, aber gänzlich frei stehenden und unbehangenen Tische in Form einer einfachen Stutzuhr, von der Höhe einer Elle, welche ein Glassturz verdeckte, der sie von allen Seiten sichtbar erblicken ließ. Diese Uhr zeigte eine unrichtige Stunde, und man gewahrte an ihrem ruhenden Perpendikel, daß sie stand.
Wie die Blicke aller Gäste nun auf diese Uhr gerichtet waren, hob der Professor von seinem Sitze aus den Arm, und streckte den Zeigefinger in gerader Linie gegen die Uhr aus, dann zog er eine Linie durch die Luft, ähnlich dem Circumflex über manchen griechischen Sylben, und in diesem Augenblicke begann der Perpendikel sich zu bewegen, sich von selbst in Schwung zu setzen, und die Uhr begann wohllautend zu vierteln und dann auszuschlagen. Deutlich sah man, wie der Minutenzeiger vorwärts eilte, wie der Stundenzeiger gemachsam über die ihm gebotene Strecke weiter rückte, und so oft der Professor jenes Luftzeichen wiederholte, so oft schlug die Uhr und die Zeiger rückten von Stunde zu Stunde vorwärts, bis die Uhr mit der wirklichen Zeit im richtigen Gleichklange war, und jener seine Zeichengebung unterbrach.
Staunen ergriff alle Gäste, ja manche Frauen überlief ein leiser Schauer, denn was sie sahen, grenzte an dämonische Einwirkung.
»So, nun wäre die Uhr in Gang gebracht,« nahm der Professor das Wort, der die bisherige Fingerbewegung schweigend und mit ernster Miene gemacht hatte: »nun wollen wir auch hören, ob sie nicht ein wenig musikalisch ist? Ich hielt bisher meinen Zeigefinger in gerader Richtung nach dem Mittelpunkt, von dem die Bewegung der Uhrzeiger ausgeht. Das musikalische Organ aber hat diese Uhr zur rechten Seite außerhalb des Mittelpunktes, man könnte von ihr sagen, sie habe das Herz auf der rechten Stelle. Geben Sie Acht, jetzt deute ich nach jener Richtung, ein wenig abwärts, auf das Zifferblatt, mache das Zeichen einer ganzen Note in die Luft – und –«
»»Sie spielt!«« rief es leise, als in dem Augenblicke, in welchem der Professor ausführte, was er sprach, eine reizende melodienvolle Musik im Innern der Uhr erklang, welcher die Gäste mit Entzücken und stiller Verwunderung lauschten.
Als das Musikstück, eines der beliebtesten jener Zeit, beendet war, wurden Ausrufe laut: »Wie ist das möglich? Wie geht das zu? Das ist Zauberei!«
»Es geht alles natürlich zu, meine Hochverehrtesten,« antwortete der Professor. »Die Uhr ist mein folgsames, mein gehorsames Kind – und stünde ich einige hundert Schritte von ihr, sie würde und sie müßte schlagen, oder spielen, je nach meinem Willen. – Sie nennen das Wort Zauber! Streng genommen giebt es keinen Zauber, oder jede sichtbar oder unsichtbar wirkende Naturkraft müßte so heißen. Sympathie und Antipathie, Anziehung und Abstoßung vermögen wir unserem Willen dienstbar zu machen. Elektriecität und Magnetismus sind die großen Gewalten, in denen noch eine Fülle zur Zeit unbenutzter Kräfte schlummern. Nehmen Sie an, daß bei diesem Spielwerke magnetische Kraft im Spiele sei, so haben Sie das richtige gefunden, und werden nicht so grausam sein, mich für einen Zauberer auszuschreien, der ich nicht bin und nicht heißen möchte, so sehr ich Freude daran habe, allem nur erdenklichen sogenannten Zauber auf den Grund zu kommen. Daher ist mir auch alles bekannt, was irgend durch physikalische Kräfte hervorgebracht und geleistet werden kann, und nicht minder das, was die Mechanik, diese geheimnißvolle Arachne, in unnachahmlichen Meisterwerken schuf, an denen schon in früher Jugend meine Seele Gefallen fand und nach denen meine glühendsten Wünsche sich richteten.«
»»Sie meinen Ihre bewunderungswürdigen Automaten,«« nahm Klügel das Wort, der Mathematiker und Physiker: »jene Automaten, von denen alle Welt spricht, an deren Anblick wir gern uns auf's neue erfreuten, da zumal vielleicht einige Anwesende dieselben noch gar nicht zu schauen Gelegenheit hatten!«
»»Ja, diese meine ich,«« bestätigte der Professor, und zum Zeichen seiner Willfährigkeit, den Kreis seiner Gäste noch eine Weile zu erfreuen, obschon es bereits spät in die Nacht geworden war, winkte er seiner Bedienung, durch Beseitigung überflüssiger Tischgeräthschaften Raum auf der Tafel zu verschaffen, nur die Gläser für die feineren Weine und die Flaschen, welche dieselben enthielten, nebst allerlei Zuckergebackenem zum Naschwerk für die Frauen, mußten auf der Tafel bleiben, und der gastliche Wirth ging seinen Besuchern im Genusse der ersteren mit einem übervortrefflichen Beispiele voran, nebenbei neckte er seine Tischnachbarin, die Frau Generalsuperintendentin Henke, indem er zu ihr sich wandte: »Es thut mir nur leid, daß ich Sie, hochwürdige Frau Aebtissin, nicht mit so delikater Torte bewirthen kann, wie Sie mich bewirthet, aber ich habe meine Weingläser zu lieb, als daß ich mich selbst zum Toffel machen möchte, der sie zerbricht, wie mir mit einem Ihrigen bei Ihnen geschah.«
Frau Henke, gewohnt, nie auf einen Scherz die Antwort schuldig zu bleiben, erwiederte sogleich: »Sie haben sich bereits trefflich für meine Torte durch Ihren Wein gerächt, denn dieser macht mir, wie ich spüre, einen solchen Sturm im Kopfe, daß ich nicht dafür stehe, bei Ihnen mich desgleichen Versehens des Zerbrechens eines Glases noch schuldig zu machen.«
Der Professor lächelte heiter, spöttelte: »Das geschieht Ihnen recht!« und winkte Leonhard zu sich, der sich bemühte, Sophien manche Artigkeit leise zuzuflüstern, indem er jenem heimlich Aufträge ertheilte, worauf derselbe sich sogleich aus dem Zimmer entfernte und in ein anstoßendes schritt. Der Professor aber konnte nicht unterlassen, mitzutheilen, was freilich der Mehrzahl seiner Gäste nichts neues mehr war, wie er nämlich in den Besitz der berühmten Automaten gelangt sei.
»Der Mensch kann, was er will, er kann auch erlangen, was er will,« begann jener seinen Vortrag. »Ich war ein Knabe von kaum zwölf Jahren, als der berühmte Mechaniker Jacques de Vaucanson aus Grenoble, der mit drei von ihm gefertigten größeren und mehreren kleineren Automaten vom Jahre siebenzehnhundertachtunddreißig an ganz Europa durchreiste, und bereits auch in den meisten Hauptstädten, Universitätsstädten und Residenzen Deutschlands gewesen war, auf dem Wege von Göttingen nach Erfurt meine Vaterstadt Mühlhausen berührte. Schon die Nachricht von seiner Ankunft und einer beabsichtigten Schaustellung seiner Merkwürdigkeiten war mir eine hohe Freudenkunde, und ich konnte kaum Tag und Stunde erwarten, bis mein Vater zu dem Wundermanne ging, den derselbe von allen Honoratioren der Stadt zuerst besucht und ihn eingeladen hatte, ihn mit den Seinen unentgeltlich so oft zu besuchen, als es ihm gefällig sei, denn mein Vater, der Besitzer der Rathsapotheke, war Rathsmann, und als solcher mit der Polizeidirektion der freien Reichsstadt betraut. Mit Staunen sah ich die Meisterwerke automatischer Kunst, und es mochte keck genug klingen, daß ich den Meister fragte, wie hoch er dieselben im Preise halte? Mit spöttischem Blicke fragte der Franzose zurück, ob ich vielleicht geneigt sei, ihm seine Automaten abzukaufen, worauf ich ganz ernst erwiederte: Ich muß diese Kunstwerke haben! Der Künstler lachte herzlich, aber mein Vater lachte nicht im mindesten, sondern er gab mir eine derbe Ohrfeige, für die nach seiner Ansicht höchst vorlaute Aeußerung. Ich verließ beschämt und weinend das Zimmer, konnte aber nicht unterlassen, dem Künstler mit unterdrückter Stimme und trotzig zuzurufen: Die Automaten müssen doch mein sein! Nie verlor ich wieder diese Kunstwerke aus den Gedanken, es vergingen zwanzig Jahre, und nach deren Verlauf waren die Automaten mein Eigenthum, denn, wie ich immer sage: Der Mensch kann, was er will.«
»»Oder mit andern Worten,«« rief Abt Henke aus: »Was einer in der Jugend wünscht, das hat er im Alter die Fülle.«
»»Und dieß ist leicht erklärbar, obgleich jeder der beiden Aussprüche anscheinend paradox klingt,«« bemerkte Bode: »denn was ein tüchtiger und begabter Mensch mit allem Eifer wünscht und wonach er mit allen Seelenkräften strebt, das wird er in den meisten Fällen durch Willenskraft, Beharrlichkeit und Ausdauer erreichen. Im Orient finden wir das durch den Spruch ausgedrückt: »Wer in den Acker seiner Jugend die Körner des Eifers säet, wird im Alter die Frucht der Ehre, des Reichthums und der Freude ernten.« –
Leonhard war mittlerweile in die Thüre getreten und hörte die letzten Reden mit Aufmerksamkeit an, bis es ihm ziemend erschien, hervorzutreten und das zu zeigen, was ihm herbeizuholen geboten war. Es war eine große buntgefiederte Ente, welche alsbald auf die Tafel gesetzt ward, wo sie ein Weilchen in ruhiger Haltung sitzen blieb. Mittlerweile hatte Leonhards Schwester zwei Gefäße hereingebracht, in deren einem sich Wasser und Flußsand befand, im anderen ein Gemengsel von Hafer, Roggen- und Gerstenkörnern, und näherte sich damit der Tafel. Der Vogel war so schön und kunstvoll gemacht, daß man ihn in der That für einen natürlichen halten konnte, und Sophie widerfuhr auch wirklich dieser kleine Irrthum, als die Ente jetzt beim Erblicken der Gefäße begann, den Kopf und den Hals zu bewegen, und aufstand. Die Ente hob den Kopf, streckte den Hals, begann mit den Flügeln zu schlagen, und wackelte, äußerst natürlich schnatternd, einige Schritte auf der Tafel vorwärts, den Gefäßen entgegen. Man konnte dieses wahrhafte Kunstwerk nicht ohne Staunen sehen, welches Staunen noch mehr gehoben wurde, als man wahrnahm, wie der Vogel begierig mit seinem Schnabel in das Gefäß mit den Körnern fuhr, diese zum Theil heftig aus einander warf und sich dabei mit Lust an ihnen zu sättigen schien. Dann aber zog die Ente ihren Kopf und Hals aus dem ersten Gefäße zurück, um alsbald mit beiden mit nicht minderer Hast in das Wassergefäß zu tauchen und mit dem Schnabel auf das natürlichste dermaßen im Sande zu putteln, daß das Wasser davon getrübt wurde, worauf dieselbe, getrunken habend, wieder mit den Flügeln schlug und schnatterte. Kurze Zeit darauf entfiel ihr etwas weiches grünliches, das chemischer Untersuchung nicht bedurfte, und nach noch einer Weile war die Ente sogar so gütig, ein Ei zu legen, welches zur Prüfung seiner Frische der Professor sogleich den Händen der Frauen übergab, die an demselben eine natürliche Wärme fühlten, und indem sie es gegen das Licht hielten, bestätigen mußten, daß das Ei ein frisches Entenei sei. Um aber noch besseren Beweiß zu führen, zerbrach der Professor das Ei in eine Tasse, welche die Bedienung ihm darreichen mußte. Die Gäste sahen, wie der Professor den Dotter vom Weißen des Eies in die Obertasse that, und letzteres in die Untertasse ablaufen ließ, die beiden Hälften der Schaale aber auf einen Teller legte, und dann an seiner Serviette seine feinen Finger reinigte. Sodann gab er an Frau Schlözer die Obertasse, damit sie auch nunmehr den Dotter prüfe, doch als dieselbe sich anschickte, dieß zu thun, entfuhr ihr ein leiser Schrei und sie hätte fast die Tasse fallen lassen, denn in derselben befand sich nichts weniger als der Dotter eines Enteneies, sondern ein ganz goldgelber Kanarienvogel, welcher sich erhob, auf den Rand der Tasse hüpfte, einigemale piepte, und dann zu allgemeiner höchster Verwunderung auf das herrlichste zu schlagen begann, gleich wol war auch dieser Vogel kein natürlicher, sondern ein automatisches Kunstwerk; er bewegte aber sein Köpfchen mit den dunkeln Augen gar anmuthig, sträubte die Federn am Halse während des Gesanges täuschend wie ein lebender Sänger der Canaren und machte nach Beendigung seines Liedchens drei artige Verbeugungen, worauf Leonhard ohne Verweilen nach dem Vogel griff und ihn aufbewahrte. Die Ente hatte sich wieder in ihre bequem ruhende Stellung begeben, in welcher sie anzufassen und an den Flügeln zu streicheln, der Professor Jedem vergönnte, und da fühlte man denn, daß der Leib des Vogels aus Messing- und Kupferblech bestand. Sein höchst kunstvoller und bewunderungswürdiger innerer Bau wurde nicht enthüllt. Vorsichtig mußte Leonhard das Kunstwerk vom Tische heben, das seine Schuldigkeit so accurat und zufriedenstellend a priori und a posteriori gethan hatte, und es sorgsam wieder von dannen tragen.
»Sehen wir nicht auch Deinen Flötenspieler, Verehrtester?« fragte Professor Crell seinen älteren Freund, dieser schüttelte aber leise das Haupt und sprach: » Ne quid nimis. Diesen ein anderesmal. Er ist so einzig, daß man ihn allein sehen muß, ohne vor- und nachher noch Eindrücke von anderen Gegenständen zu empfangen. Der Flötenspieler, welchen Vaucanson, sein Verfertiger, auf das erschöpfendste beschrieben hat, befindet sich im Gartenhause, und kann heute Abend uns füglich nicht mehr Gesellschaft leisten.«
»»Es ist spät, es wird gleich Zwölfe schlagen!«« sprach Frau Henke, blickte die Freundinnen an und erhob sich zum Aufbruch. Diesem gegebenen Zeichen leisteten alle Anwesenden Folge, während der Gastgeber immer noch zum Bleiben nöthigte, und trotz seiner sechzig Jahre zugleich auch noch von allen der munterste schien, auch ziemliche Lust zeigte, noch ferner seinem trefflichen Weine gemüthlich zuzusprechen, wenn nur irgend einer seiner Gäste oder einige sich entschlossen hätten, zu bleiben.
»Lorenz Florenz, was läufst Du denn wie ein Springhase? Herr Professor Klügel – Herr Professor Schlözer, Herr Collega Bode, Herr Collega Carpzov – so verweilen Sie doch noch – ich erzähle Ihnen die Geschichte meines Flötenspielers.«
Crell lachte laut und rief sehr heiter: »Herr Bruder, ich muß Dir offen gestehen, ich höre lieber Deinen Flötenspieler Flöte blasen, als Dich seine Geschichte erzählen, das heißt die ausführliche Beschreibung seiner Triebwerke, seiner Räder, Axen, Spindeln, Ketten –«
»»Seiner Fäden, seiner Blasebälge, Rollen, Blätter, Ventile!«« unterbrach Carpzov eben so spottlustig und munter gelaunt.
»Seiner Hebel, seiner Gelenke, seiner Windröhren, seiner Lippen, die dem Wind einen größeren oder kleineren Ausgang gestatten, seiner Walzen« – mischte sich Bode spottend ein, und Henke vollendete mit Gelächter: »seiner Klaviatur, seiner Stahlschnäbel, seiner Schrauben ohne Ende, wie die Geschichte von ihm!«
»»Die Geschichte,«« begann Crell nochmals mit unbarmherzigem Spotte: »die so klassisch ist, ganz homerisch, zum Beispiel die unsterbliche Stelle: durch den Hebel, welcher den Wind aus den unbeschwerten Blasebälgen hinleitet, mache ich den schwachen Wind nach, den der Mensch in solchem Falle giebt.«
»»Bei alledem«« lenkte Klügel ein: »ist und bleibt der Flötenspieler doch ein unübertroffenes, vielleicht sogar unübertreffbares Kunstwerk, das dem menschlichen Erfindungsgeiste alle Ehre macht.«
»»Wär' ich ein regierender Herr,«« scherzte jetzt Justizrath Häberlin, der bisher geschwiegen hatte: »so bestellte ich mir bei Vaucanson eine ganze Hof-Kapelle solcher Virtuosen – sie bleiben Cölibatäre, sie haben nicht eine hungernde und darbende Familie zu ernähren und zu versorgen, sie trinken nicht Bier, nicht Wein, rauchen nicht Tabak, sie begnügen sich damit, von Zeit zu Zeit mit ein wenig Oel eingeschmiert zu werden.«
»»Halt!«« rief jetzt der Wirth: »Jetzt bestätigt sich mir, wer der Verfasser der Satyre ist, die ich vor mehreren Jahren erhielt; sie machte damals einiges Aufsehen, und ist jetzt vergessen. Man hielt allgemein Lichtenberg oder Kästner für deren Verfasser, und sie ist geistvoll genug, um einem dieser beiden unserer witzigen Zeitgenossen zugeschrieben werden zu können. Die Satyre kann den Ursprung aus der Feder eines Publicisten nicht verläugnen.«
»»Ich kenne sie nicht, und bin folglich nicht deren Verfasser«« – entgegnete Häberlin: – »möchte sie aber wol vernehmen.«
»Wenn die Herren geblieben wären, oder bleiben wollten – würde ich sie mittheilen!« bat und verhieß der Wirth, doch Henke und Schlözer wollten die Frauen nicht allein gehen lassen, und so wurde dem Professor das Versprechen abgenommen, demnächst den Flötenspieler zu zeigen, und die Satyre dabei mitzutheilen.
Während sich nun alle Gäste auf eben so höfliche als feierliche Weise von dem gütigen Wirthe, der sie so angenehm und mannigfaltig unterhalten, verabschiedeten, fand Gottfried Leonhard Zeit, mit seiner angebeteten Sophie noch einige vertrauliche Worte zu wechseln, und besonders wiederholte er ihr die vorhin aus dem Munde würdiger Männer vernommenen: »Was man in der Jugend wünscht, und wonach ein tüchtiger Mensch mit allem Eifer strebt, das erringt er in den meisten Fällen zuversichtlich. So werde auch ich mit aller Fülle meiner Liebe, und mit allem Eifer treuer Zärtlichkeit danach streben, deine Hand, meine angebetete Sophie, zu erringen.« Sophie drückte die Hand des Geliebten mit Wärme und Innigkeit, und schloß sich dann dem Vater zum Heimgange an. Von den Thürmen Helmstädts hallten die Schläge der Mitternachtstunde.
Ein reiner Herbstabend sank über die Fluren Helmstädts; in seinen Strahlen schimmerten die vergoldeten Doppelkreuze auf den Thürmen der zahlreichen nachbarlichen Klöster und Abteien, deren ungewöhnliche Anhäufung innerhalb eines so kleinen Landstrichs bezeugte, welch einen fruchtbaren Boden jene gesegnete Flur in jeder Beziehung enthalte. Diese Klöster standen wie Wächtercitadellen rings um die protestantische Universitätsstadt. Nordwestlich lag das Kloster des heiligen Ludger, über welches der nächste Weg unmittelbar nach der eine kleine Strecke weiter nordostwärts gelegenen Cistercienser-Abtei Marienthal führte, von wo aus in nicht langer Zeit das Stift Walpke zu erreichen war. Nordostwärts erhob die Deutschordenscomthurei Sublingenburg ihre stattlichen Gebäude, von welcher das Kloster Königslutter gar nicht fern lag, unmittelbar aber in Helmstädts Nähe prangte das Münster Unser Lieben Frauen-Berg malerisch am Fuße des Corneliusberges, der schier einzigen Anhöhe weit und breit, von welcher der Anblick auf die Stadt und die mit zahlreichen Ortschaften übersäete Landschaft ein wahrhaft reizender war. Wenn der Blick von diesen Höhen weiter westwärts flog, so gewahrte man hinter einer ausgedehnten kräuterreichen Waldstrecke, die der Elm heißt, am Horizonte die Thürme von Salzdahlum und dahinter die Bastionen und Kirchen Braunschweigs und Wolfenbüttels, und etwas südwestlicher als Wolfenbüttel gelegen, vordem hügeligen Walde die Asse, die Trümmer der alten Asseburg. Helmstädt etwas ferner als die erstgenannten, im Süden, ragte wieder ein Kloster, St. Lorenz, von reichen ihm zinsenden Amtsdörfern umgeben, und wenn auch gegen Osten hin kein Klosterbau weiter sich zeigte, so erinnerte doch das Dörfchen Mariaborn am flachen, stillen Gestade der Aller auch mit daran, daß hier im Dienste der Jungfrau Maria und der alten Kirche der Krummstab, in ein paradiesisches Fruchtgefilde eingestoßen, zum lebenvollen grünenden Wunderbaume geworden sei, unter dessen Schatten sich's gut wohnte oder doch gewohnt hatte.
Inmitten so zahlreicher klösterlicher Umgebung, wenn auch nicht mehr in allen diesen Klöstern die Glocken zur Hora oder Mette oder zum feierlichen Hochamt riefen, hatte sich die deutsche Wissenschaft ihren blühenden Thron erbaut, pflegte den Fortschritt, beförderte die Aufklärung; und die protestantische Theologie unter dem Vorsitze eines Henke vor allen lehrte das Wort Gottes lauter und rein, während neben jener die ernste Themis nicht minder würdige Pflege fand, aber auch jede andere Wissenschaft je nach dem Standpunkte, den sie in jener Zeit einnahm, zur Geltung gelangte.
Eine zahlreiche Studentenschaft, die sich frei, behaglich und gemüthlich fühlte, und gleich jeder anderen deutschen Hochschule das academische Leben in vollen Lichtern und tiefen Schatten, besonders vielen Schlagschatten abspiegelte, belebte die kleine Stadt und half den Wohlstand derselben in erfreulicher Weise vermehren.
Die Beete des botanischen Gartens waren mit blühenden Herbstblumen überfüllt, freilich war die Flora damals keine so reich, wie in der Jetztzeit; das Ausland spendete den deutschen Gärten noch nicht alljährlich neue Prachtblumen, noch gab es auch keine verwirrenden Systeme; das vollkommen ausreichende und befriedigende Alpha und Omega der botanischen Wissenschaften war der Ritter Karl von Linné, und alles was da blühte und grünte in dem weiten Bereiche des treulich vom akademischen Gärtner gepflegten botanischen Gartens, das war in Linnés Pflanzensystem nach seinen Classen, Ordnungen, Gattungen und Arten enthalten und auffindbar. Höchstens hatten spätere Herausgeber, wie unter anderen Johann Andreas Murray, die Entdeckungen neuerer Reisenden benutzt, und die von Thunberg bekannt gemachten japanischen Pflanzennamen beigefügt.
An diesem Abende fand kein botanisches Collegium statt, es war Ferienzeit, doch war der Garten nicht unbesucht. Des Gärtners Knabe sprang freudevoll durch die Gänge; der junge Leonhard, in dem ersterer einen Gönner verehrte, der hinwiederum, ohne dieß gerade merken zu lassen, die Gunst des Knaben suchte, hatte ihm nicht nur ein schönes Bildchen gemalt, sondern ihn auch mit einem sauber ausgestopften Seidenschwanze erfreut, dessen er in einem Vorholze des Harzes habhaft geworden war.
Leonhard selbst wandelte ernst und sinnend in der Nähe des Buschwäldchens, in welchem das laubenartige Rund von anmuthigen Ziersträuchergebüschen gebildet, sich befand, das so oft ein Zeuge zärtlicher Gefühlsergüsse und Liebesbetheuerungen gewesen war. Jetzt sanken im Abendwehen schon gelbgefärbte Philadelphus- und Spiräenblätter leise auf Tisch und Bank, und der Sumachbaum streckte seine gefingerten und gefiederten Blätter brennend roth aus; die Natur bereitete sich zum Abschied vom heitern Grün vor, zum Abschied von der milden Sonnenwärme, und manches Leben in ihr sank bereits ersterbend hin, wie jene Blätter, oder zeigte in seiner Verfärbung das Bild jener Verwandlung, die allem Leben bevorsteht. Zu dieser stillen Vorbereitung stimmten die feierlichen Klänge ferner Glocken, die über die weiten sonnenbeglänzten Ebenen sich hinschwangen, und zu diesem Ernst stimmte des Jünglings Inneres so ganz, so ganz, denn auch in ihm kämpfte der Schmerz naher Trennung von der Seele, an die sich die eigene Seele liebend schmiegte.
»Sie scheidet, Sophie geht« begann der Jüngling ein schmerzliches Selbstgespräch: »sie geht und nimmt all' mein Gefühl, all' mein Leben mit sich fort. Und ich darf ihr nicht folgen, darf ihr nicht nachziehen in – ihre Heimath, drüben, jenseits der Berge meines lieben Harzes. Und ich – was soll ich noch hier, wenn Sophie nicht mehr hier verweilt? Welchen Zweck hat hier mein Leben? Sie zu erringen, ist mein fester Wille, und wenn des Pathen Sprüchwort sich bewährt: der Mensch kann was er will, so wird Sophie mein, muß sie mein werden.«
»Der Herr Pathe freilich wird mich nicht ziehen lassen wollen. Er mißbilligt meine Liebe – er gönnt mir kein Glück, und ich soll nie etwas anderes sein als sein Reitknecht, sein Jäger, sein Blumist, sein Mineraloge, stets nur der Vogelsänger, der Blumenpflücker, der Steinausleser und Zuschlepper – was frommt mir das? Er hat mir Wohlthaten erzeigt – ich kann es nicht leugnen, er hat meinen Eltern möglich gemacht, mich den höheren Schulecursus durchlaufen zu lassen, mich für den Besuch der Hochschule vorzubilden, sed cui bono? Ich bin doch nicht akademischer Bürger, bin nicht Student, bin nicht immatriculirt, bin nicht für voll angesehen von den Commilitonen, bin kaum Famulus, bin Handlanger, Packesel, Farbenreiber, und so an meines Vaters Stelle geschoben, weil dieser alt und zitterig geworden. Als Bedienter stehe ich, wenn Gäste im Hause sind, hinter den Stühlen und warte auf, wie ein Pudel. Mich wundert nur, daß ich nicht, wenn der Vaucanson'sche Flötenspieler seine langweiligen veralteten Stückchen pfeift, als Automat dazu tanzen muß.«
Leonhard redete sich mehr und mehr in jene verbitterte Stimmung hinein, die alles düsterer und schwärzer sieht, als es wirklich ist, und diese Stimmung in ihm glich so in der That einer Walze im Innern eines automatischen Spielwerkes, die unaufhaltbar fortrollt und sich umschwingt, bis die Kette ihres treibenden Mechanismus abgelaufen ist. Ob der Professor nicht doch einen Zweck mit ihm, und eine bestimmte Zukunft für ihn im Auge hatte, das wußte er nicht; ob jener ihm nicht mit einer Liebe umfaßte, die verborgen bleiben mußte, das ahnete er nicht, nur daß der alte Herr sich seiner als eines willenlosen Geschöpfes zu mechanischen Handreichungen bediente, das wollte er nicht länger ertragen.
»Was frommt es mir, daß ich freien Zutritt zu den dreizehn bis vierzehn Collegien habe, die allwöchentlich zu lesen, der Herr Pathe beim Beginn jedes neuen Semesters am schwarzen Bret anschlägt?« setzte Leonhard den heftigen Erguß seiner drängenden Gedanken für sich fort. »Dabei lerne ich erst recht nichts, will sagen: nichts rechtes. Zu den Privatissimis hab' ich keinen Zutritt, zu den Collegien der übrigen Herren Professoren, über die sich der Herr Pathe nur stets lustig macht, ebenfalls nicht. Seine überzahlreich angekündigten Vorlesungen über fast alles erdenkbare kommen nie sämmtlich zu Stande. Am meisten könnte ich beim Herrn Pathen als Mediciner gewinnen, aber Mediciner mag ich nun einmal nicht werden; für die Naturwissenschaft habe ich wol regen Sinn, aber mehr für deren praktische Ausübung, als für ihre Theorien. Jäger, Forstmann, möcht' ich werden und davon will der Herr Pathe nichts wissen, und spricht in seiner derben Weise, alle Jäger wären Hirschnasen oder Sauschwänze, und ich taugte zu keinem. Er möchte aus mir einen Chemiker machen, obgleich er schon hundertfach Ursache hatte, über mein Ungeschick zu verzweifeln, wenn ich Phiolen zerstieß, Retorten zerbrach, und die Schmelztiegel umschmiß, daß ihr Inhalt ins Feuer sich ergoß – wenn ich die Kolben-Vorlagen an die Retorten schlecht lutirte, oder die Hitze unterm Sandbad so wenig mäßigte, daß das Destillat überstieg, die Vorlagen zerschmetterte und das ganze Laboratium mit Dampf und Qualm, Gestank und Feuer und braunem Residuum erfüllte. Ich will die schönen Thiernamen oder Namen schöner Thier mir nicht vorsagen, die mir bei solchen Gelegenheiten als Ehrentitel an den Kopf geworfen wurden – item – ich habe zum Chemiker weder Geduld, noch Geschick, nicht einmal zum Farbenlaboranten, denn auch darin hab' ich's bereits ganz verschüttet, als ich ohnlängst auf ein Pfund der übertheuern Cochenille, nachdem ich sie mit eifrigster Mühe zum feinsten Pulver zerrieben, oder sie, wie wir zu sagen pflegen, alkoholisirt hatte, statt des vorschriftmäßigen Zusatzes von Natrum, einen Zusatz von Nitrum goß, und nach langem Kochen, Hoffen und Harren aus der Mischung, anstatt Carmin zu werden, ein Quark und der Teufel los wurde. Sehr wenig fehlte, so hätte der Herr Pathe mich geprügelt, und verdient hätte ich's eigentlich auch gehabt, aber die große Gewalt, die er über sich selbst hat, hielt ihn von einer solchen handgreiflichen That zurück. Er zankte nicht einmal, er warf mir nur das ganze Präparat auf den Rock, und sagte: »Laufe blau an, Du Animal brutum, du Schwanz eines ungeschickten Esels, der es nicht einmal zur simpeln Schamröthe, geschweige zum animalischen Kermespurpur bringt! –«
Der Knabe kam wieder auf Leonhard zugesprungen, und rief ihm zu: »Das Bäschen kommt sogleich, Herr Leonhard – ich traf Sophiechen weinend an, es thut ihr so weh, wieder von uns fort und nach Hause zu müssen, und wahrlich, auch uns allen thut es leid, und Ihnen gewiß auch, Herr Leonhard!«
»»Ja wohl, ja wohl, sehr leid, mein kleiner Christian, ja leid, o recht leid!«« versetzte Leonhard dem unschuldigen, gemüthlichen Knaben, dieser aber sprang schnell von dem schmerzlich berührenden nahen Abschiede auf einen selbstsüchtigen Wunsch über, und warf die Frage auf: »Aber mein guter Herr Leonhard, wann erfüllen Sie mir denn einmal Ihr gütiges Versprechen, mir, wenn der Herr Professor gerade nicht zu Hause, Ihr Naturaliencabinet zu zeigen? Ich sähe es doch gar zu gern, es muß wunderschön, es muß prächtig sein!« Diese Frage und die Erinnerung an ein allerdings in guter Stunde etwas unbedacht gegebenes Versprechen brachte Leonhard in einige Verlegenheit, und er antwortete: »Eigentlich, lieber Christian, hat der Herr Professor das strengste Gebot erlassen, Niemandem ohne seinen Willen und ohne sein Beisein die Sammlung zu zeigen – indeß, weil ich es Dir versprochen habe, und Du gewiß nichts anfassen, auch verschweigen wirst, was Du gesehen, will ich Dir nächstens die Freude machen, und die Naturaliensammlung Dir zeigen, mindestens die ausgestopften Thiere, die Vögel, die Seespinnen, Krebse, Fische und Conchylien Die kostbaren Mineralien freilich sind eingeschlossen.« – »»Die Schlange mit dem Menschenkopf, die möcht' ich vor allem sehen. Ist sie sehr groß?«« drängte der Knabe weiter.
»Was weißt Du von solcher Schlange?« fragte Leonhard verwundert.
»»Ei!«« versetzte Christian, wichtig thuend: »war ich doch dabei, als der Herr Professor im Sommer den Studenten im botanischen Collegium von dieser Schlange sprach, und anführte, daß er sie besitze, und sie bei ihm zu sehen sei. Man hat doch auch Ohren! Oh – ich habe ein sehr gutes Gedächtniß. Sie waren ja damals mit im Collegium, Herr Leonhard. Wissen Sie denn nicht mehr, wie ich die Rose hergeben mußte, und wie der Herr Professor sagte:
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Sunt quinque sati,
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et caetera? Ich habe mir das ganz wohl gemerkt, und das Räthsel allen meinen Schulkameraden mitgetheilt. Es ist sehr hübsch, und keiner hat es errathen und zu lösen vermocht.«
»»Ei, in der That, welch ein vortreffliches Gedächtniß der kleine Botaniker hat!«« schmeichelte Leonhard dem Knaben. »Was gedenkst Du denn einmal zu werden, Christian?«
»»Nun?... ein Professor, auf alle Fälle!«« erwiederte, mit der Zuversicht jugendlicher Hoffnung und Strebelust der wackere Knabe, und Leonhard war dadurch unwillkürlich wieder an den Spruch erinnert: Der Mensch kann, was er will, er kann werden, er kann schaffen, er kann leisten, er kann aufbauen, er kann zu Grunde richten, was er will. Ja selbst der unbewußte Wille des Menschen vollbringt nicht selten solche That, leider aber mehr im zerstörenden, als im gestaltenden Sinne. »Nehmen Sie mich nur recht bald einmal mit in die Sammlung, werther Herr Leonhard« – bat wiederholt der Knabe. »Es ist mir dabei nicht blos um die Gegenstände aus den Reichen der Natur, es ist mir auch um die aus dem Reiche der Kunst zu thun, und die Bilder und Oelgemälde, auf denen jedes, wie ich vernommen habe, der Herr Professor ein von ihm selbst gedichtetes lateinisches Distichon mit eigener Hand geschrieben haben soll.«
»»Allerdings, es ist so, wie Du sagst!«« entgegnete Leonhard; »doch weiß ich nicht zu beurtheilen, inwieweit die Latinität unseres gelehrten Herrn Professors jener eines Virgilius, Horaz, Ovid oder sonstigen römischen Dichters nahe kommt, oder fern steht. Dichter ist er auf jeden Fall, denn er beschäftigt sich auch mit deutscher Poesie und hat in verschiedenen Almanachen Proben der Eingebungen seiner Muse einrücken lassen, welche nicht ungenießbar sind.«
Der Knabe lächelte, und erwiederte: »Herr Leonhard, was Sie mir da eben sagten, ist ein grausames Lob. Es kommt mir eben vor, wie der Schnitt mittelst der Schere des Obergartengehülfen, wenn dieser den Taxus stutzt, daß er hübsch die Form eines Pilzes beibehält, und sich nicht einfallen läßt, Baum sein zu wollen.«
Sophie nahte den Sprechenden mit verweinten Augen. Ihr Nahen unterbrach alsbald das Gespräch der Beiden, doch säumte Christian nicht, noch ein mal zu wiederholen: »Also, Herr Leonhard! Ich halte Sie beim Wort! Recht bald, möglichst bald führen Sie mich ein in das Heiligthum und zeigen mir die Herrlichkeiten, je mehr, je lieber!«
Leonhard nickte freundlich die gewährende Zusage, und eilte seiner Sophie entgegen, welche langsam und ernst den Gang zwischen Astern, und vielen gelbblühenden Kindern der Herbstflora entlang und in Leonhards Nähe schritt. Christian aber, fühlend, daß er bei dem Pärchen überflüssig sei, verlor sich im Buschwerk, um nach reifen Haselnüssen herumzuspähen, oder die großen luftvollen Blasenschoten des Fasanenstrauchs durch leisen Fingerdruck lautschallend platzen zu machen.
Das Ach und Oh schmerzlicher Scheidestunden fühlte wol schon die Mehrzahl der Leser; dasselbe auszumalen, ist nicht wohlgethan. Noch einmal nahmen die Liebenden Platz in jenem Raume, der so oft im Laufe des nun verflossenen glücklichen Sommers den Austausch ihrer Empfindungen vernommen und die Versicherungen treu ausdauernder Liebe gehört hatte.
Die wehmuthvolle Stimmung in beider Gemüthern ließ weder Sophie noch Leonhard zu vielen Worten kommen; sie hatten sich auch bereits ausgesprochen über ihre nächste Zukunft und über die Hoffnungen der späteren, nur das eine drückte noch schwer auf den Herzen beider, was denn eigentlich Leonhard beginnen wolle, solle und müsse, um auf möglichst kürzestem Wege zu dem Ziele selbstständiger Stellung zu gelangen, die sich so einträglich zeigen müsse, daß sie eine Familie mit bescheidenen Ansprüchen ernährte? In Leonhards Innerem war schon ein Plan gereift, allein er hatte bisher gezögert, denselben Sophie mitzutheilen, da er sich ihrerseits keiner Billigung dieses Planes vertröstete, obschon derselbe, gutes Glück und Gelingen vorausgesetzt, recht wohl zum erwünschten Ziele führen konnte.
»Mein lieber theurer Freund!« sprach Sophie, nachdem sich die Liebenden traulich, wie sie gewohnt waren, neben einander gesetzt hatten: »es ist nun einmal das alte Lied, das wir singen müssen: Scheiden und meiden thut weh! Die Vergißmeinnicht im Garten, wie die auf den Wiesen verblühen und welken dahin. Ich habe diese Blumen dauernder in diese Perlenbörse eingestickt, nimm sie zum Andenken – und – Leonhard – vergiß mein nicht!« – Unaufhaltsam brachen Thränen aus des gefühlvollen Mädchens Augen, und bethauten das zarte Geschenk eines liebenden Herzens. Leonhard nahm die Börse an sich, küßte von ihr Sophiens Thränen auf, und sprach: »Nimm meinen Herzensdank, geliebtes Mädchen! Auch ich war bedacht, Dir ein Andenken von meiner Hand zu geben, noch ist es nicht ganz vollendet – es ist auch – ein Vergißmeinnicht.«
»»O bitte, sage was ist es?«« drängte Sophie, durch ihre Thränen lächelnd, mit der verzeihlichen Neugierde einer Liebenden, für die alles Werth hat, auch die kleinste Gabe, wenn sie nur aus des Geliebten Händen kommt.
Der Knabe hatte mittlerweile seine Lust am Geknall der Blasenschoten gebüßt, war an jenes nach außen in die Feldflur führende Gartenpförtchen, das von innen ein starker hölzerner Riegel verschlossen hielt, gelangt, hatte dasselbe entriegelt und war hinausgeschlüpft, um einen Hamster, der sich mit dick vollgepfropften Backentaschen aus einem Sattel Erbsenfeldes nach seinem Bau zu begeben im Sinne hatte, zu verfolgen und wo möglich, diesen zu fangen oder doch zu erlegen, was indeß nicht so leicht gelang, denn der Hamster war sehr flink auf seinen Beinen, und als er gewahrte, daß er verfolgt wurde, suchte er sich zu retten, so gut er konnte.
Leonhard sah sich von Sophien's zärtlichen Fragen so lange bedrängt, bis er endlich sprach: »Nun denn, wenn Du's denn durchaus wissen mußt, was ich Dir zum Andenken bestimmt habe, so vernimm es schon heute: es ist mein Bild, das ich selbst zu malen versucht habe, peniculo trepido – würde mein Herr Pathe dazu schreiben: mit zaghaftem Pinsel, doch hoffe ich, es soll mir ähnlich sein, soll an das Urbild Dich erinnern, soll Dir jeden Tag und zu jeder Stunde, in der Du es des Anschauens würdigst, wiederholen, wie lieb Du mir bist, wie treu ich Dir sein will.«
»»Wie gut und lieb Du bist und mir bist!«« rief Sophie gerührt aus, und neigte mit leisem Schluchzen ihr Haupt an Leonhards Brust, und Leonhard umfing sie sanft, und bedeckte ihre reine Stirne, ihren blühenden Mund mit zärtlichen Küssen.
Es klappte am jetzt entriegelten, sonst stets verschlossenen Gartenpförtchen, es nahten eilige leichte Schritte, wer hätte es sein sollen, als der Knabe Christian? denn der akademische Gärtner pflegte um diese Zeit in dem nahen Dörfchen Duckstein neben anderen Bierphilistern gesellschaftliche Unterhaltung zu finden, und die Arbeiter kamen nicht in den Bereich jenes traulichen Gebüsches, hatten wol auch bereits Feierabend gemacht – aber auch der Knabe sollte die Liebenden in solchem zärtlichen Einverständniß nicht finden, und beide endeten ihre süße schmerzliche Umarmung – doch nicht so schnell, daß der plötzlich vor ihnen Stehende nicht alles gewahrt hätte, was hier zu gewahren war.
Dieser vor Leonhard und Sophien stehende, plötzlich in das Rundel getretene, gänzlich unerwünschter Störer war keineswegs Christian – dieser haschte noch nach dem flüchtigen Hamster – es war der Professor.
Mit einem unaussprechlich kalten, keineswegs erzürnten, aber über alle Maaßen sarkastischen Blick, welcher dem höchstverlegenen Pärchen vorkam wie der fesselnde Blick einer Klapperschlange – starrte der so plötzlich Eingetretene, der von einem Krankenbesuche auf einem nahe gelegenen Dorfe kommend, den Feldpfad verfolgt, und unverhofft das Gartenpförtchen nur angelehnt gefunden hatte, wodurch sich ihm ein ungleich näher führender Richtweg bot – die Liebenden an, und sprach dann zu Beiden: »Ein schöner Abend, der heutige, schön, sehr schön! Wünsche noch viel Vergnügen!«
Mit diesen Worten glitt der Fußgänger, leichten Trittes, wie er gekommen, vorüber, und ging durch den Garten, um beim Ausgang nächst der Wohnung des Gärtners die Straße zu gewinnen.
Sophie war zum Tode erschrocken, Leonhard weniger. Als sie ihm ihre schmerzlichen Befürchtungen mittheilte, daß er Verdruß haben werde, sagte er: »Ich bin auf alles gefaßt, meine Liebe; ein Verdruß muß kommen, damit ich eine begründete Ursache finde, davon zu gehen, und mein Glück anderswo zu suchen, denn hier blüht es mir nimmer von dem Tage an, an welchem Du aus Helmstädt scheidest, Sophie. Morgen um diese Stunde bringe ich Dir das versprochene Bild. Nimm es gütig auf, bewahre es treu und denke meiner dabei mit Liebe. Und schlafe wohl! lebe wohl! O Gott – ich habe keine Worte mehr!«
Noch einen Scheidekuß und wieder eine schnelle Unterbrechung. Christian kam, an seiner Hand hing Blut, und auf seinen Wangen hingen einige Thränen. Er hatte den Hamster, aber nicht lebend. Das Thier hatte seine Freiheit theuer verkauft, und seinen Verfolger und Fänger furchtbar in den Finger gebissen, so heftig, daß dieser sein Taschenmesser zog und den Hamster tod stach. So mischte sich beider Blut – und als er in der Erregung, die ihm Kampf und Sieg verursacht, vor die Beiden trat, wurde ihm weder Lob noch Mitleid zu Theil, sondern die salbungvolle Rede: »Dir ist ganz recht geschehen! Wer hieß Dich denn hinaus auf das Feld laufen? – Und das Gartenpförtchen aufsperren? – daß Hasen und – alle Welt hereinlaufen konnten! Warte, wenn das Dein Vater wüßte!«
Bestürzt und kleinlaut bat Christian: »Liebe Sophie, Du wirst es doch dem Vater nicht sagen? Ich will es niemals wieder thun!«
»»Was hilft uns das? Just heute hättest Du es nicht thun sollen! – Gehe nur hin – ich werde Dir keinen Verdruß beim Vetter machen.««
Leonhard schied, und ging mit sorgenschwerem Herzen nach Hause. Er fürchtete von Seiten des Gebieters einen sehr übeln Empfang, und suchte nach Gründen der Entschuldigung, nach Worten, mit denen er etwaige ungerechte Vorwürfe abzuweisen versuchen wollte, dabei war ihm jedoch keineswegs wohl zu Muthe.
Aber der Professor war ganz heiter, wie immer, wenn er die Wege seines Berufes gegangen oder geritten war, nach Hause gekommen, hatte nach Leonhard nicht gefragt, seiner nicht begehrt, zumal er beim Aus- und Ankleiden nie eine Hülfeleistung annahm, und das drückte Leonhard um so schlimmer, auch lag ihm nun die Besorgniß die ganze Nacht über wie ein Alp auf der Seele, und bedrückte und quälte ihn im Halbschlummer und in wirren Träumen. Einmal mußten seine Angelegenheiten doch zur Sprache kommen, und da wäre ihm lieber gewesen, es wäre gleich geschehen, denn schlimmer als das schlimme Ereigniß ist vor einem solchen die Furcht in der Menschenseele. Fromm erzogen, wie die Jugend jener Zeit noch es wurde, und an dem Herrn Pathen, wie an den alten Aeltern ächte und gerechte Beispiele wahrer christlicher Frömmigkeit vor Augen habend, nahm endlich Leonhard seine Zuflucht zum Gebet, und er konnte dieß, da er sich keines Bösen bewußt war. Sein Sinn war rein und redlich, seine Liebe war ehrbar und züchtig, und hatte sich in der Sitte strenger Schranke gehalten. Daß er liebte – das konnte kein Vergehen sein. Und so goß ein frommer Trostspruch des Psalmisten Frieden in des Jünglings unruhevolle zagende Seele: »Befiel dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen.«
Leonhard erhob sich frühzeitig vom Lager, der helle Herbstmorgen verscheuchte seine am gestrigen Abende und in der Nacht gedrückt gewesene Stimmung, wie es häufig geschieht, daß nach Nächten, deren Gedankenbilder uns mit Sorgen quälten, der Morgen neuen Muth, neue Hoffnung bringt. Der Morgen ist der Frühling des Tages und im Frühling hofft das Menschenherz so gerne.
Der Jüngling hatte schon alles besorgt, was ihm oblag; in kurzer Zeit begann das erste Collegium, und zwar über Chirurgie, welches Leonhard nicht mit hörte, daher blieb ihm Zeit, jetzt an die Vollendung seines Bildes für die geliebte Sophie zu gehen, welches in der That recht gelungen und auch getroffen war, so daß es nur noch weniger Pinselstriche zur völligen Vollendung bedurfte.
Mit einem male ging die Thüre zur Dachstube, welche Leonhard inne hatte, auf, und herein trat in vollem Putz, frisirt, gepudert, mit den feinen Busenstreifen von Brabanter Spitzen, den breiten Manschetten, der brocatnen Weste, Stahl-Degen an der Seite, blitzende Ringe an den Fingern, den Schuhen mit blitzenden Diamanten, und in seiner Haltung straff und stramm, wie nicht hochgewachsene Leute sich häufig zu halten lieben – der Professor.
Leonhard konnte ein leises Erschrecken nicht bergen, denn das war noch nie geschehen: es war etwas ganz außerordentliches und außergewöhnliches, daß der Herr Pathe des Jünglings Zimmer betrat.
» Bon jour, Monsieur!« war die kurze, trockne, von einem satyrischen Lächeln begleitete Anrede, während Leonhard sich in äußerster Verlegenheit vom Stuhle erhob, und demüthig grüßte.
»Ei! Wir sind ja schon recht fleißig – laß doch sehen!« fuhr der Professor fort, und betrachtete neugierig das Bild – ja er empfand über dasselbe eine herzinnigliche Freude, die er aber kund zu geben sich wohl hüthete, vielmehr flogen seine scharfen Blicke prüfend bald vom Bilde zum Urbilde, bald von letzterem zurück auf das Bild, und es entstand dadurch eine lange Pause, die für Leonhard, in welchem tausend einander widerstreitende Empfindungen kämpften, äußerst peinlich wurde, und ihn bald blaß, bald roth machte. Daß er kein Wort zu sagen vermochte, war in dieser Lage natürlich. Endlich brach der Professor das Schweigen und sprach mit vernichtendem Spott: »Ah! Ah! Sehr schön! Mosje Gottfried-Narcissus, oder Narcissus Gottfried Leonhard – die Ohren nur ein wenig höher gezogen, so wäre ein neumodischer Faunus fertig, von der Art, die des Müllers Säcke trägt. Immer Allotria! Immer allerlei, aber nicht das nützliche Allerlei, was die gute alte Perrücke, der Pastor Ephraim Goeze in Quedlinburg schreibt.« –
Leonhard blickte tief beschämt zu Boden, er sah das Gewitter im vollen Anzuge.
»Doch ich sehe mit Wohlgefallen,« fuhr mit plötzlich mild werdender Stimme der Professor fort: »daß Du gleichwohl nicht ganz ohne Pietät bist, mein lieber Pathe, Du hast es gut gemeint, Du wolltest mir mit dem Bilde eine heimliche Freude machen, und um Dir nicht Deine Freude zu verderben, nehme ich diese Anfängerarbeit als einen Beweis Deines kindlich dankbaren Gemüthes an, auch habe ich in diesem Augenblicke für dieses Dein Brustbild schon ein Distichon entworfen. Höre zu:
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Peniculo tenero pictor Helmstadius ipsam
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Leonhard fühlte all' sein Blut erstarren – der Pathe nahm ihm das für sein angebetetes Mädchen bestimmte Bild ohne weiteres, denn was ersterem gefiel, das war dieser gewohnt sich anzueignen, wobei er alle Schwierigkeiten überwand und niederwarf, und wenn erst auf ein Bild das unvermeidliche Distichon gedichtet war, so war nicht daran zu denken, es dem neuen Besitzer wieder zu entreißen.
Dennoch faßte Leonhard den Muth zu solchem Beginnen, obschon mit geringer Hoffnung auf glücklichen Erfolg.
»Dieses Bild – verehrtester Herr Pathe – ist – ist –« begann der verlegene Jüngling zu stammeln.
»Ist kein Meisterwerk, weiß das, sehe das – thut nichts,« entgegnete lächelnd der Professor. »Keiner kommt als Meister zur Welt; müssen alle lernen – müssen alle einmal Anfänger sein. Du weißt, daß ich besonderen Werth darauf lege, in meiner Gemäldesammlung von allen hervorragenden Künstlern mindestens ein Bild aus ihrem Beginn, ihrer Erstlingepoche zu besitzen, dann eines aus der Zeit ihrer höchsten Kunstblüthe, und endlich wo möglich noch eines aus ihrer letzten Zeit. Noch bist Du kein Maler, aber Anlagen hast Du; Du kannst noch ein Maler werden.«
»»Aber dieß Bild – ist – ist nicht –««
»Ist nicht vollendet –« ergänzte unerbittlich der Professor: »sehe das, sehe das ganz ohne Brille, die ich, wie Dir sehr wohl bekannt ist, niemals trage und niemals brauche. Es fehlen hier, und hier – und – hier noch einige Lichter – hier unterm Kinne dieser leichte Schatten muß etwas tiefer werden. Das ist sogleich geschehen!« Mit diesen Worten nahm der Professor Leonhard den Pinsel aus der Hand, fuhr damit in die Farben auf der Palette, und sprach, indem er einige flüchtige Striche that, selbstgefällig vor sich hin: » Anch' io sono pittore!« während Leonhards Herz erzitterte, einmal über den in Aussicht stehenden Verlust des Bildes, dann durch die Sorge, sein Pathe werde dasselbe absichtlich oder unabsichtlich gründlich verderben, denn dessen Bewegung und Pinselführung in Kreuz- und Querstrichen über das Gemälde hin, ließen dieser Befürchtung wirklich Raum geben.
Diese letztere Besorgniß rechtfertigte sich indessen nicht. Wie der Professor den Pinsel hinlegte und sich erhob, war das Bild täuschend ähnlich, hatte vollen Ausdruck und konnte, wenn sich auch die Anfängerarbeit in der etwas steifen Anlage und Zeichnung nicht verkennen ließ, doch als Versuch eines jungen Dilettanten selbst einen Kennerblick aushalten, und der Professor rief: » Dignus, dignus eris Lenardo da Vinci, Gottfréde!« Würdig, Gottfried, wirst einst Leonhard's da Vinci Du werden!
»Bester Herr Pathe! Ich bitte Sie um des Himmelswillen, enden Sie Ihren unbarmherzigen grenzenlosen Spott!« rief Leonhard gemartert aus. »Dieß schlechte Bild taugt nicht für Ihre Sammlung, auch fällt mir nicht ein, ein Maler werden zu wollen, damit hätte ich früher anfangen, hätte gründlichen Unterricht im Zeichnen erhalten müssen! – Meine in Ihrem Laboratorium erfrorenen Finger und Hände, die mir in jedem Winter von neuem aufspringen, eignen sich schlecht für feine Pinselführung. Auch sehe ich nur noch gut in die Ferne; für die Nähe hat der Blick in Ihre Feuer mir die Sehkraft geschwächt und abgestumpft. Treiben mußte ich stets alles mögliche, lernen habe ich wunderwenig gekonnt. Doch Gott sei Dank, ich bin gesund, bin frisch und kräftig, hoffe mit Gottes Hülfe noch durch die Welt zu kommen, mein gestrenger Herr Pathe, wenn ich auch durch diese Welt meinen ehrlichen obschon abgeschmackten Namen Gottfried Leonhard und nicht den eines Leonhard da Vinci trage.«
Des Jünglings erwachende Heftigkeit steigerte sich zum Zorn, zum Selbstvergessen, der Stachel des grausamen Wortspieles hatte ihn in innerster Seele verwundet.
Der Professor veränderte bei diesem wilden Ausbruch verletzten Gefühles seines Pathen, in dem jedes Wort einen Vorwurf gegen ihn enthielt, keine Miene; er sprach ohne Zorn, aber ernst, gehalten: »Wer gab Dir diesen Vornamen? Wer anders als ich, als ich Dich christlich aus der Taufe hob, und für Dich dem Herrn Gelübde opferte? Wohl Dir, wenn Du diesen Namen ehrlich und stets mit Ehren führst, wenn er Dich Bescheidenheit lehrt, wie er selbst bescheiden klingt, und Dich warnt, nicht stets oben hinaus und nirgend an zu wollen. Deine Vorwürfe, die Du mir machst, will ich nicht gehört haben, denn wenn ich sie gehört hätte, könnte ich sie Dir nicht verzeihen Was Du von Deiner Sehkraft sagst, ist dumm. Ich war Dir gestern Abend nahe genug, und Du hast mich doch erkannt und bist vor meinem unverhofften Anblick erschrocken, und warum erschrocken? Das wirst Du am besten wissen. Du sagst, Du habest nur wenig gelernt, und darin sagst Du die Wahrheit, aber Du hast nichts lernen wollen und so werden Deine alten Aeltern die alte Wahrheit inne werden, welche lautet: Wer seinem Vater und seiner Mutter nicht folgen will, der muß dem Kalbfelle folgen!«
»»Das eben will ich! Herr Pathe!«« entgegnete Leonhard, der all' seinen Muth jetzt zusammennahm. »Ich gehe nach Braunschweig und lasse mich bei den Schützen des Herzogs anwerben.«
Dieser Trotz überraschte ein wenig den alten Mann, aber er ließ sich nicht aufbringen. »Ziehe hin!« – sprach er: »jeder Mensch ist seines Glückes Schmied, manche stoßen auch ihr Glück von sich, oder treten es mit Füßen! Bethörter Jüngling! Ich hatte es wahrlich gut und wohlmeinend mit Dir im Sinne, ich wollte Dein Glück begründen – nun kreuzt meine Pläne Dein Eigensinn total, gehe bald – gehe morgen, gehe heute noch, ich halte Dich nicht – im Gegentheil – hier hier hast Du Reisegeld, nimm es für Dein Bild, das ich zum Andenken behalten will, aber nicht geschenkt, weil ich sehe, daß auch dazu Dir der rechte gute und dankbare Wille fehlt.«
Leonhard berührte die starke Geldrolle nicht, daher sie der Professor auf den Tisch legte, er sprach bebend:
»Herr Pathe – das Bild – ist nicht mein, ich kann es unmöglich –«
»Gewiß, es ist nicht Dein – es ist mein! – Du kannst es unmöglich – zweimal verwerthen. Horch! Die Stunde schlägt, mein Privatissimum, das ich einer Anzahl hier zurückgebliebener Mediciner auf deren Bitten lese, beginnt – mit Gott, Monsieur – Rekrut! Lasse Er Gutes von sich hören!«
Der Professor behielt das Bild in der Hand und trug es alsbald aus dem Zimmer. Leonhard war wie vernichtet, alle seine Empfindungen wogten im furchtbaren Kampfe. Als ein Sklave erschien er sich, der blindlings gehorchen mußte; sein Bild, das Werk seiner fleißigen Hand, mit Liebe empfangen, mit Liebe vollendet, seiner Liebe geweiht und bestimmt – eine fremde, kalte Hand trug es von dannen – ein Mann, der ihn von Jugend auf beherrscht, setzte seiner Macht, welche lange Gewöhnung und die Abhängigkeit des alten Dienerpaares von ihm jenem eingeräumt, die Krone herzlosester Willkür auf, und entführte ihm das für Sophie bestimmte Andenken. Wie sollte Leonhard nun bei dieser sich rechtfertigen? Welches andere Gegengeschenk sollte er der Scheidenden bieten? Und warum, warum nahm der Pathe ihm das unbedeutende Brustbild, das nicht den mindesten künstlerischen Werth hatte, für ihn ja unmöglich Werth haben konnte, der seine Sammlung mit Werken wo nicht von doch nach den größten Meistern geschmückt hatte, die je gelebt. – Oder hätte das Bild am Ende doch einigen Werth? flüsterte die künstlerische Eitelkeit. Fand nicht der für unfehlbar geltende, mindestens dafür in Umlauf gesetzte Kennerblick und das Urtheil des alten Herrn als Orakel im Gebiete der Kunst doch etwas ganz besonderes an dem Bilde? Wie viele hundert Kleinigkeiten besaß nicht der Professor, die der Unkundige recht wol für nichts achten, und für unbedeutend ansehen mochte, und wie hoben sich alle diese Dinge zu einem fabelhaften Werthe, wenn der Professor sie zur Hand nahm, wenn er sie zeigte, wenn er sie erklärte! Wie – wenn nun dem Anfänger gelungen wäre, vielleicht in einzelnen Zügen, was der alte Herr zu würdigen verstand? –
Immer nachdenkender wurde Leonhard – er begann jetzt, das Distichon zu zergliedern, dessen Inhalt er sich wol eingeprägt hatte.
»Hm, hm! Peniculo tenero« begann Leonhard sein Selbstgespräch: »mit zartem Pinsel. Zwar wandte der Herr Pathe diesen Ausdruck mehr als einmal an, so unter anderen auf dem kleinen Gustav-Adolph-Bildchen von Fischer, das bei der Sammlung hängt, welche dem Schwedenkönige allein gilt, bei dem herrlichen Christuskopfe von Albrecht Dürer auf Holz, und bei dem Rundbildchen aus Japan, das die ganze Holdseligkeit japanischer Physiognomien erblicken läßt, doch sehr fein gemalt ist. Außerdem aber, bei den übrigen Bilder-Distichen, bediente er sich dieses Ausdruckes nicht, folglich muß in meiner Pinselführung doch etwas liegen, das ihn anzieht, nie würde er sonst meinem geringen Pinsel dasselbe schmückende Beiwort geben, mit dem er das Bild eines Albrecht Dürer ehrte!« –
» Helmstadius pictor« – grübelte Leonhard weiter: »wieder ein ehrendes Zugeständniß – es ist hier in Helmstädt dermalen kein Maler vom Fach, der akademische Zeichnenlehrer – nun den nennt der Herr Pathe stets einen Schweineborst-Pinsel und er darf ihm nicht wieder über die Schwelle, seit er gleich über das beste Stück unserer Sammlung, die Weiber von Weinsberg, von Giacomo Robusti genannt Tintoretto – eine helle Lache aufgeschlagen und ausgerufen: »Wie in aller Welt soll der wälsche Maler Tintoretto dazu gekommen sein, eine deutsche Sage zu malen, und wie sollte ein solches Bild, wäre es wirklich von diesem großen Meister, nach Helmstädt kommen? –«
» Expressit« – auch diese Redeform giebt zu denken. Er sagte nicht einfach pinxit – malte, sondern expressit – drückte aus – das Wort soll zu verstehen geben, daß Ausdruck in dem Bilde ist – und nun endlich der Schluß – dieser kann mich nicht beleidigen. Tiro: Anfänger – das ist ja hier ein Lob, er hätte auch auctor, Urheber sagen können – aber er sagte tiro, das ist ein junger Mann, der im Begriff ist, in die Welt zu treten – ha – aber« – unterbrach plötzlich Leonhard, sein Selbstgespräch erschreckend: »kannte er denn schon meinen stillen, ganz geheim gehaltenen Entschluß? Sagte er deshalb tiro? – Tiro hieß ja Cicero's Freigelassener – und tiro heißt – o verruchte Teufelstücke, in ein Wort gebannt, wie ein Galgenmännlein in die Phiole – tiro heißt auch – ein Rekrut! Schändlich! Schändlich! – Und das juvenis gratus – ein dankbarer Jüngling, dazu! Welch ein schneidender empörender Hohn!«
Leonhard unterbrach die Reihe seiner grübelnden Gedanken mit einem Ausruf, der einem grimmigen Aufschrei sehr ähnlich war, und eilte aus dem Zimmer. Es wühlte wie Dolche in seinem Innern; er war kaum noch seiner Sinne mächtig, wußte kaum was er that. Der Aufgeregte stürmte hinunter in die Wohnstube seiner Aeltern – und erschreckte das alte Paar und die jüngeren Geschwister durch sein verstörtes Aussehen, seine Heftigkeit – er kündigte ihnen an, daß er sie verlassen wolle, verlassen müsse, und lachte der alten Mutter in's Gesicht, als diese zitternd und händeringend ausrief: »Aber Leonhard, um Gottes Willen, was wird denn der Herr Pathe dazu sagen?«
»»Was wird er sagen, Mutter? Nichts wird er sagen, er hat schon gesprochen, hat gesagt, ich solle gehen, lieber heute als morgen – hat mir Reisegeld gegeben – da, schau her! Verflucht sei sein Reisegeld!««
Grimmig brach Leonhard die Geldrolle mitten entzwei und warf beide Hälften in die Stube, daß ringsum die blanken Speciesthalerdrittel zum Theil mit dem Gepräge des wilden Mannes, zum Theil mit dem des springenden Rosses über die Dielen rollten.
Mitten in diese Scene maßloser Leidenschaftlichkeit schnitt das gellende Geräusch der Hausglocke, die stark und heftig angezogen wurde. Eines der Kinder sprang hinaus, zu sehen, wer da sei, während ein Druck auf eine Feder von der Stube des alten Leonhard aus bereits die Thüre geöffnet hatte, und in die kühle Hausflur trat ein Lakei in goldstrotzender Livrée, ein Billet mit fürstlichem Siegel in der Hand, draußen aber stand ein Staatscarosse mit dem Wappen des regierenden Herzogs von Braunschweig, Karl Wilhelm Ferdinand, bespannt mit vier dampfenden und stampfenden Rappen, denen der Hof-Kutscher wärmende Decken überwarf und Brot gab. Der herzogliche Lakei fragte mit Hast nach dem Professor, der alte Leonhard theilte ihm mit, daß dieser jetzt ein Collegium lese, ohne ihm merken zu lassen, daß sich das Auditorium im eigenen Hause des gelehrten Mannes und gesuchten Arztes befinde, und jener bestand darauf, augenblicklich seine Botschaft zu vollziehen, den Brief von Serenissimi höchsteigenen Händen ohne den mindesten Verzug abzugeben, »denn,« so berichtete er: »Ihre Durchlaucht, die gnädigst regierende Frau Herzogin Auguste sind plötzlich erkrankt, Höchstdero Leidmedicus liegt selbst an der Gicht darnieder, und die übrigen Herren Doctorens der Residenzstadt – nun ich sage weiter nichts, kurzum, Serenissimus verlangen für Höchstdero durchlauchtigste Gemahlin den ärztlichen Beistand Höchstihres Hofrathes, des Herrn Professors; die Kutsche ist da, wir haben auf Tod und Leben fahren müssen, sind die fünf starken Meilen richtig in fünf Stunden gefahren, denn die Wege sind gut, und haben in Gemlingen, wie in Königslutter andere Pferde vorlegen lassen. Also rasch, Alter, rasch und citissime! Es ist Gefahr im Verzuge, und Serenissimus erwarten uns mit dem Herrn Hofrath Glock Ein Uhr im grauen Hofe.« (Name des vormaligen Residenzschlosses).
»Sogleich, sogleich!« entgegnete der alte Leonhard, nahm das Handbillet des gnädigsten Herrn und entzog sich den Blicken durch ein Pförtchen, das in den Garten führte.
So gern der Professor und mit der größten Bereitwilligkeit zu jeder Stunde Kranken und Hülfe Begehrenden willfährig war, eben so ungern unterbrach er seine Vorlesungen, und nur der dringendste Nothfall konnte ihn zu Ausnahmen bewegen. Für einen solchen war Leonhard unterwiesen, außerhalb des Auditoriums, dessen Fenster nach dem Garten gingen, ein Zeichen zu geben, welches der Professor von seinem Catheder aus leicht gewahren konnte.
Dieser hatte die Zuhörer seiner Vorlesung über Chirurgie um sich versammelt, und war gerade bei der Lehre von den Amputationen menschlicher Gliedmaßen, jedoch längst von dem Hauptthema abgesprungen; er befand sich mit der Fülle seiner Erinnerungen auf Madras, wo er ein chirurgisches Abenteuer erlebt haben wollte.
»Denken Sie, meine Herren, welche Amputation des Daumengelenkknochens mir damals gelang, und wie überraschend die göttliche Vorsehung es fügte, daß gerade ich ausersehen ward, das Leben eines jungen Nabobsohnes zu retten. Unser nach China bestimmtes Schiff lag im Meerbusen von Bengalen; ich hatte lange Weile, ich ritt über die lange Brücke, die den Meleapur mit neunundzwanzig Bogen überspannt, spazieren; bald hatte ich die sogenannte schwarze Stadt, Pettah, mit ihrer Palastpracht und ihrem Hüttenschmutz und ihrem Gewimmel von nahe an einer Million Einwohner aller Farben, aller Glaubensbekenntnisse und mit aller ihrer Entsittlichung hinter mir, und athmete reinere Luft auf meinem Ritte längs der prächtigen Landhäuser, von prangenden Ziergärten umgeben, wogegen die herrlichsten Villen englischer Lords und italienischer Marchesi und Grafen nur Hundelöcher sind. Ich gedachte, mir solch ein hindostanisches Paradies einmal recht in der Nähe anzusehen, und reite in den offenen Thorweg der ersten besten Besitzung hinein – springen auf einmal zwei Tiger, jeder so groß wie ein Pferdefüllen mir entgegen, mein Roß scheut und bäumt sich kerzengerade, und obschon ich fest im Sattel saß, so konnte die Sache doch übel auffallen, da erscholl aber mit einemmale, als ich so eben meinen Jatagan gezogen hatte, um dem ersten der Tiger, der auf mich los springen würde, den Kopf vom Rumpfe zu schlagen, eine männliche Stimme, welche den beiden Tigern zurief: Zemire! Azor! Wollt ihr gleich kuschen, ihr Sakramentsbestien! Auf diesen Zuruf erschrak das Tigerpaar und schlich geduckt nach dem Hause zurück. In einer von Palmen umschatteten und von Senninsro- und Magusa-Reben dicht umsponnenen Laube, welche nicht minder prachtvolle Nemuri- und Riotsjosträucher mit ihren herrlich duftenden Mirabolanen- und Trompetenblumen umblüheten – saß der Herr dieses Paradieses und dieser Tiger, welche dort gezähmt werden, und als Hofhunde – eigentlich sollte ich Hofkatzen sagen, herumlaufen, wobei ihnen immer so viele natürliche Wildheit gelassen wird, daß sie, wenn sie von ihrem Gebieter an jemand gehetzt werden, diesen auf der Stelle zerreißen und zerfleischen. Ein solches Verfahren kommt uns, meine Herren, allerdings sehr grausam und unmenschlich vor, allein dort ist es nöthig, und hat seinen großen Nutzen, da es außerordentlich viel schlechtes Gesindel in jenem Lande giebt, und die Justiz mit den Mitteln civilisirter Staaten dort in keiner Weise durchdringen kann, vielmehr immer einer schrecklichen indischen Gottheit gleichen muß, deren Anblick schon sofort vernichtet. – Ich stieg vom Pferde und ging auf die Laube zu, in der ich nun einen äußerst dicken Mann sitzen sah, welcher aus einem kostbaren Nargileh dampfte und sich von zwei braunen gazellenäugigen Sklavinnen Kühlung zufächeln ließ. Plötzlich ruft mich der Nabob an, indem er das lange Rohr seiner Pfeife fallen läßt: Ja um Gottes Willen, Gottfried, wo in aller Welt kommst denn Du her, und zu uns nach Indien?« –
»Ich falle vor Erstaunen aus den Wolken, mich hier in Ostindien erkannt und freundlich begrüßt zu sehen, denn der Nabob breitete mir beide Arme entgegen, aufstehen konnte er aber nicht ohne Hülfe anderer, dazu war er zu fett; schon vorhin hatte ich mich verwundert, daß er mit seinen Tigerkatzen ein so verständliches Deutsch sprach, und daß die Bestien das auch so gut verstanden. Jetzt erkannte ich meinen Mann, es war ein Universitätsfreund von mir, aus Langensalza, war ein ganz fideler Bruder Studio gewesen, und hatte ganz fabelhafte Schicksale erlebt, war nach Indien gesegelt, hatte das Glück gehabt, einer Nabobstochter zu gefallen, und hatte, indem er diese Huldin heirathete, selbst den angenehmen und höchst vorzüglichen Stand eines Nabobs erwählt. Mein Freund Nabob fragte mich erst nach meinen Wünschen in Bezug auf leibliche Erquickung und dann nach meinem Ergehen und Plänen, und ließ alle Leckereien Indiens auftragen, doch auch nicht minder Producte des geliebten deutschen Vaterlandes, Braunschweiger Mumme, Würzburger Steinwein, westphäl'schen Schinken und Pumpernickel. Als er vernahm, daß ich ausübender Arzt und Chirurg sei, hatte er eine ausnehmende Freude, denn sein junger Schwager hatte an demselben Morgen das Unglück gehabt, von einem Panther, mit dem er sich im Scherze herumbalgte, und den er zum Zorne reizte, furchtbar in die Hand gebissen zu werden, und lag im Wundfieber im Innern des Hauses. Sogleich verfügte ich mich zu diesem jungen Herrn, sah die Gefahr in der er schwebte, denn ohne eine sichere und schnelle Operation würde in ganz kurzer Zeit der Brand zu der Wunde getreten sein, und dann hätte die ganze Hand, wo nicht gar der Arm amputirt werden müssen, und dergleichen ist in jenem heißen Klima stets lebensgefährlich, zumal auch die ostindischen Chirurgen völlig unwissende und ungeschickte Elephantenschwänze sind.«
»Ich ließ ohne Verzug den jungen Nabob so viel Opium rauchen, bis er einschlief, und nahm in aller Schnelle und ganz ohne Gehülfen die Operation vor, sechs Negersclaven mußten den Patienten halten. Es war furchtbar, wie die Zähne des Pantherthieres in den Knochen der Hand gewüthet hatten, fast kein Gelenke war ganz geblieben. Ich trennte die Weichtheile mittelst des doppelten Zirkelschnittes, denn des Lappenschnittes bediene ich mich nie, weil er nichts taugt, und nur unnütz vermehrten Blutverlust nach sich zieht, comprimirte die Arteria perforans posterior mit dem Turniket, und stillte die Blutung mittelst der Torsion.«
»Hier sehen Sie, meine Herren, diesen Daumen des jungen Hindu nebst Daumengelenkknochen, und allen anhangenden Venen, Nervensträngen und Membranen in Spiritus. Ich setzte an dessen Stelle dem von mir Geretteten einen künstlichen Daumen ein: Die Genesung erfolgte rasch, die Freude war unbegrenzt, und ich wurde mit Geschenken fast erdrückt; ich sollte in Madras bleiben, alles Glück und alle Genüsse des Lebens mit meinem Landsmanne aus Langensalza theilen, er wollte mir ein prächtiges Haus in Neu-Madras bauen lassen – doch ich schlug das alles aus, denn ich hatte noch eine höhere Sendung zu erfüllen, und« –
Jetzt gewahrte der Professor seinen alten treuen Diener außen im Garten am Fenster, eifrig Zeichen gebend, und das Handbillet mit dem großen Siegel in die Höhe haltend, ohne daß die tiefer sitzenden Studenten etwas davon gewahrten und verstand augenblicklich, um was es sich handle. Er sprach daher: »Meine Herren! Sie haben vorhin das heftige Lauten der Hausschelle gehört. Mir ahnet, daß es gilt, ein hochgestelltes Menschenleben zu retten; erlauben Sie mir, für heute – da ohnehin es in wenigen Minuten acht Uhr schlagen wird, diese paar Minuten vor dem Glockenschlage zu schließen, obschon dieß, wie sie alle wissen, ganz gegen meine Gewohnheit ist. Allein mir sagt mein Genius – Sokrates hatte vollkommen recht, daß er jedem Menschen einen Genius zusprach – daß höchste Eile dringend von Nöthen ist, und daß wol bereits die Rosse bereit stehen, die mich für heute aus Helmstädt entführen, jedenfalls westwärts. Das nächste mal werde ich die Ehre haben, mit der weiteren Erklärung der Ablösung von Händen und Füßen oder deren Einzeltheilen fortzufahren.«
Die Studenten staunten nicht wenig, als sie das Haus verließen, vor demselben die herzogliche Carosse zu finden, und bewunderten die Sicherheit, mit welcher dieses Ereigniß der Professor ihnen als eine Ahnung verkündet hatte.
Der Professor eilte in sein Zimmer, schrieb hastig ein Billet, beauftragte den alten Leonhard dasselbe sofort durch eines seiner jüngeren Kinder bestellen zu lassen, nahm seinen Mantel um, steckte eine Phiole mit Flüssigkeit zu sich, nebst einigen anderen medizinischen Präparaten, rief dem alten Leonhard noch zu: »Ich denke spät Abends wieder hier zu sein!« und bestieg die Kutsche, die gleich darauf mit ihm von dannen rollte.
Gottfried der Jüngere sah den Pathen nicht ohne ein freudiges Gefühl von dannen fahren, und dachte: Jetzt ist es Zeit!
Leonhard enteilte dem Hause, und nahm seinen Weg stracks nach dem botanischen Garten: Er wollte dem Knaben des Gärtners heute dessen so lange gehegten Wunsch erfüllen und ihm dieß sagen, dabei sich womöglich bei Sophie entschuldigen, und ihr erzählen, wie es ihm ergangen, zugleich auch noch um eine Abschiedsstunde bitten, denn ihre Abreise war auf den morgenden Tag festgesetzt. Traf er Sophiens Oheim, so wollte er diesem mittheilen, daß der Pathe nach Braunschweig gefahren sei.
Es ging ihm auch alles nach Wunsch, schon auf dem Wege begegnete ihm Christian, der mit vielen Büchern beladen, in die lateinische Schule ging, und Sophie lustwandelte im Garten, da der Morgen hell und schön war, um noch einmal für ihre Erinnerungen bleibende Eindrücke zu empfangen, und sich die in Helmstädt verlebten heitern und frohen Tage und Stunden noch einmal lebendig in das Gedächtniß zurückzurufen. Den Knaben bestellte Leonhard in das Haus des Herrn Pathen, gleich nach Beendigung der Lehrstunden, wo seinem Wunsche Erfüllung werden sollte, und seinem Mädchen nahte sich der Liebende mit schmerzlichen Gefühlen und bot ihr den Morgengruß mehr befangen als freudig. Auch in ihr blitzte die Freude, den Geliebten zu solch ungewohnter Morgenstunde zu erblicken, durch die Wolkenschatten der Wehmuth.
»Ach meine theure Sophie,« begann Leonhard: »mir ist unerhörtes begegnet; das für Dich bestimmte Andenken hat mir mein Herr Pathe genommen – ich kann nicht anders sagen, als geradezu genommen. Alle mein Widerstand und meine Einreden waren vergeblich, und daß ich Dir es bestimmt, es für Dich gemalt habe, das konnte ich ihm doch nicht sagen. Verzeihe mir, beste Sophie – ich male noch einmal das Bild und sende oder bringe Dir es, darauf darfst Du Dich verlassen.«
»Es thut mir weh, das Andenken mir entzogen zu sehen, auf das ich mich gefreut hatte« – nahm Sophie das Wort. »Es ergeht auch uns, wie es gewöhnlich geht, Trübes kommt zu Trübem.«
»»Die eigenmächtige, herrische Behandlung, die mir bisher mein Herr Pathe widerfahren ließ, hat ihren Endpunkt erreicht«« – sprach Leonhard weiter. »Du scheidest, Sophie, und auch ich werde scheiden. Doch Du sollst bald von mir hören. – Und der heutige Tag ist ganz mein, mein Peiniger ist nach Braunschweig an den Hof abgeholt worden. – Wann treffe ich Dich noch einmal, zu welcher Stunde hier im Garten, an unserm trauten Plätzchen? Und wie reisest Du? Begleitet Dich jemand?« drängte in liebender und unruhevoller Hast Leonhard Frage an Frage zusammen.
»Ich mache hernach einige Besuche zum Abschied bei den Familien, die ich hier näher kennen lernte,« entgegnete Sophie: »und will mich für den Abend ein halbes Stündchen frei machen, gegen sechs Uhr will ich im Rondel sein. Wie ich reise? Sehr einfach; zur Begleitung ist Niemand da. Der Vetter hat jetzt im Herbst vollauf zu thun. Christian darf die Schule nicht versäumen, der gute Junge begleitete mich sonst von Herzen gern. Der Vetter läßt mich mit dem Gartengeschirr bis Halberstadt fahren; der alte Jacob macht den Kutscher, da bin ich in guter Huth. In Halberstadt kehre ich bei Postmeister Meier ein, mit dessen Frau wir verwandt sind, und fahre dann mit der Postkutsche den langen Weg über Quedlinburg und Eisleben nach Erfurt, und von da über Arnstadt nach Hause. Ja, guter Leonhard – Du kannst Dir recht was einbilden auf Dein Mädchen, daß es so weit her ist.«
Sophie lächelte wehmuthvoll zu ihrem Scherz, während ihr die Augen voll Thränen standen.
Die Liebenden wandelten während ihres Gespräches durch die blühenden Gartengänge, die im vollen Schmucke der Herbstflora standen, und fanden den günstigen Moment, an geeigneter Stelle zu einem flüchtigen, doch liebezärtlichen Kuß, worauf Leonhard zurückging. Wie dieser sich dem Gartenausgange nahete, flatterte eine kleine Mädchengestalt aus der Gärtnerwohnung, die vor ihm den Ausgang gewann, und in der er sein jüngstes Schwesterchen, ein Kind von zwölf Jahren erkannte. Daher rief er ihr nach: »Lottchen! Lottchen!«
Das Kind hörte ihn und stand. »Was hast Du hier außen zu thun, Lottchen? Suchtest Du vielleicht mich?«
»Nein Gottfried!« entgegnete das Kind. »Ich trug nur ein Briefchen vom Herrn Professor an den Herrn Gärtner.«
»»Ein Briefchen? Hierher?«« – Es fiel ihm auf, und war ihm nicht lieb; das hätte er ja auch besorgen können, wenn der Vater ihm das Briefchen gegeben. Der Vater konnte aber freilich nicht wissen und nicht ahnen, daß der Herr Sohn, der sich am Morgen in den Augen des alten Paares keinesweges liebenswürdig gezeigt, schon so zeitig einen botanischen Ausflug machen werde. Der Herr Pathe wird dem Herrn Gärtner schriftlich angezeigt haben, was ich demselben mündlich sagen wollte, dachte Leonhard und beruhigte sich bei diesem Gedanken, auch hatte er wichtigeres zu thun und zu denken, denn sein Entschluß stand fest – er wollte von dannen, den Pathen vorerst nicht wiedersehen, die Heimath meiden, in die Welt gehen auf gutes Glück, im Kriege sich etwas versuchen, denn Krieg war entbrannt, Frankreich forderte ihn heraus durch seine heillose Revolutionswirthschaft, die bereits drohend genug sich gestaltete, und rasch allen ihren Gräueln und Schrecknissen entgegenreifte.
Zu Hause angekommen, begann Leonhard sofort sich so zu rüsten, wie er gewohnt war, seine Naturaliensammelgänge auf das Harzgebirge anzutreten. Da auch der Harzwald, wie der Thüringerwald, ein Conglomerat von vielerlei Landestheilen größerer und kleinerer Staaten war, und herzoglich Braunschweigische, kurfürstlich Sächsische, gräflich Stolbergische, fürstlich Anhaltische und Schwarzburgische Grenzen sich mannigfach berührten, so hatte Leonhard für das Bereisen dieser Gegenden einen guten Paß in Händen, einiges Geld hatte er sich ebenfalls gespart, und die am Morgen so verächtlich behandelte Rolle von seinem Herrn Pathen gedachte Leonhard auch wieder zu Gnaden anzunehmen, und sich mit derselben auszusöhnen. Da er bei diesen Gängen am besten als Jäger reiste, so war sein Anzug einfach, aber gut und dauerbar. Eine Jagdtasche war geräumig genug, einige Wäsche, Pulver und Schroten nebst sonstigem Bedarf zum ausbalgen von Thieren, zum zeichnen und dergleichen zu umfassen, dazu eine erprobte Flinte, ein Weidmesser mit Genickfang, eine wasserdichte Kopfbedeckung, und der junge Weidmann war fertig.
Während Leonhard in seiner Stube packte, ordnete, manches verschloß, manches vernichtete, auf oder in manches zurückzulassende seinen Namen schrieb, berathschlagte das alte Ehepaar drunten über des Jünglings raschen und wie es schien tollkühnen Entschluß – und war in Sorgen um ihn, obschon nicht so sehr, wie manches andere Vater- und Mutterherz unter ähnlichen Umständen gewesen sein würde. Das hatte freilich seine gewichtigen Gründe, die aber der Welt verborgen bleiben mußten.
»Er wird schon wiederkommen, wenn er auch fortstürmt,« bemerkte der alte Leonhard: »Er ist an's Brod gewöhnt.«
»»Und wenn er nicht von selbst kommt, wird der Herr Professor ihn schon zu rufen wissen!«« setzte Frau Leonhard hinzu. »Aber man kann zuletzt doch nicht wissen – gieb Acht, Alter, das wird sehr übles Wetter werden, wenn der Herr Professor zurückkommt, und der Gottfried fort ist!«
»»Da mag er denn selbst zusehen,«« tröstete der Alte: »Wir sind es nicht, die ihn gehen heißen, noch weniger können wir ihn halten. Vielleicht ist seine Drohung, davon zu laufen, auch nur ein Schreckschuß. Und zuletzt – was können wir machen?«
So spricht nicht Aelternliebe, so spricht die Gleichgültigkeit der Miethlinge. –
Christian kam, läutete an, fragte nach Gottfried und eilte auf dessen Zimmer.
»Nun?« fragte der Knabe, als er die Reiseanstalten erblickte. »Was soll denn das bedeuten?«
»Eine Excursion – auf den Harz,« antwortete Gottfried und fragte seinerseits zurück: »Dein Vater hat heute durch meine kleine Schwester Lottchen ein Briefchen vom Herrn Professor empfangen. Hat er nichts darüber gesagt?«
»»Ich weiß es nicht, Herr Leonhard!«« antwortete Christian.
»»Ich komme aus der Schule, meine Bücher liegen unten, ich mochte nicht erst nach Hause, da Sie so gütig waren –««
»Nun gut, so wollen mir einen Gang mit einander in das Kabinet machen – vielleicht das letztemal, daß ich diese Räume betrete« – fügte er nur für sich hinzu, und begab sich, von Christian gefolgt, in die Zimmer des mittleren Stockwerkes, darin die zahlreichen Naturaliensammlungen, Kunstwerke, Seltenheiten und Wunderlichkeiten aller Art in mannichfaltiger Gruppirung, und nichts weniger als nach irgend einem Systeme aufgestellt, ja oft aufgehäuft und aufgeschichtet waren. Es war daher keinesweges leicht, hier den Cicerone zu machen, nur der Professor selbst vermochte dies mit seiner überwältigenden Weise zu dociren, zu überzeugen und seinen Anführungen eine Glaubwürdigkeit beizulegen, die alle Zweifel unbedingt ausschloß.
Christian staunte mit offenem Munde, als er sich in das sonst so streng verschlossene Heiligthum versetzt sah, welches so vollkommen den Forderungen an eine große Sammlung, wie man sie noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts liebte und pflegte, entsprach. Daß die Thiere oder die Mineralien nach irgend einer wissenschaftlichen Folge aneinander gereiht gewesen seien, daran war nicht zu denken. Bei den Schmetterlingen staken an Nadeln kleine Seepferdchen, Buschspinnen und große scheusliche Scorpione bunt durch einander. Neben der seltenen Wendeltreppe lag das Haifischei, und der fossile Zahn des Sauriers war als Glossopetra dem Belemnit gesellt, neben dem das Straußenei und die mit gravirten Verzierungen indischer Landschaften überdeckte Nautilusschnecke an Fäden schwebend hing. In ein schönes weißes Papiernautilusgehäuse hatte dessen nächster Nachbar, ein roher scharfkantiger Magnetstein, ein großes Loch gestoßen, und von der Seespinne waren, eine Folge argen Milbenfraßes, die Beine abgefallen. In einer stattlichen Kokosnuß hatte eine Mausmutter ihr Wochenbette jedenfalls schon mehr als einmal gehalten. Der große Vogel Strauß schien nebst anderem ausgestopften Geflügel förmlich in der Mauser begriffen, und die kleinen Affen, Eichhörnchen, Vampyre, und sonstige Nagethiere, die keineswegs in Glaskästen standen und durch nichts gesichert waren, härten sich stäubend, wenn nur ein Lufthauch sie berührte. Gut nachbarlich hing der Bogen und Köcher der nordamerikanischen Rothhaut mit dem Fetisch des Kaffers, der aus einer Schildkrötenschale bestand, an welcher eine Schnur schwarzer Korallen befestigt war, neben einander, gleich daneben konnte man den perlengeschmückten Schaamschurz einer Südseeinsulanerin neben der schlotternden gegerbten Haut eines kleinen Samojeden sammt Schädel an der Wand hängend erblicken. Neben dem riesigen Stoßzahn eines Narwal stand ein nicht minder riesiger Fächer aus Palmblättern künstlich verziert, und ein noch größeres Glied des Wallfisches leistete einem chinesischen Regenschirme trauliche stumme Gesellschaft. Korallen, Madreporen, Milleporen, Seegewächse, lange Zöpfe der Brunnenröhren-Rhyzomorphe, für welche man zu jener Zeit kaum einen Namen hatte, schmückten ganze Wände.
»Ich muß mich darauf beschränken, lieber Christian, Dich nur auf das wichtigste dieser Sammlung aufmerksam zu machen, damit Du einen Gesammtüberblick derselben gewinnst!« begann jetzt Gottfried seine Ciceronerolle, nachdem er den ersten Eindruck den Knaben hatte still in sich aufnehmen lassen. »Einzelnes Betrachten könnte uns tagelang beschäftigen. Am besten ist es daher, Du fragst mich nach dem, was Du vorzugsweise gern zu sehen wünschest, und ich zeige es Dir, falls es nicht bei den Gegenständen sich befindet, welche der Herr Professor unter strengem Verschluß hält, und zu denen wir nie die Schlüssel in die Hand bekommen.«
»Bitte, zuerst die Schlange mit dem Menschenkopf!« erwiederte lebhaft der Knabe, denn seit jenem botanischen Collegium hatte diese, von dem Professor gegen die Studenten erwähnte Schlange die lebhafte Phantasie Christians fast immerwährend beschäftigt, und ließ ihm keine Ruhe, zumal sein Lehrer der Naturgeschichte, den er um eine solche Schlange befragt hatte, ihn auslachte, ja ausschalt, daß er an solchen Aberwitz nur im entferntesten denken und glauben könne. Jene Schlange in der Schöpfungsgeschichte sei der Teufel gewesen, der die Urmutter Eva zum Sündenfalle gereizt, und es stehe mit Nichten in der heiligen Schrift, daß jene Schlange einen Menschenkopf gehabt, das sei nur eine Phantasie der Maler, und die Tertianer sollten sich um ihren Cornelius Nepos, um Lange's griechische Grammatik, Cellarius Wörterbücher und um vernünftige Naturgeschichten, nicht aber um Schlangen mit Menschenkopfen bekümmern.
Dieser pädagogische Verweis hatte, wie so viele tausendfache pädagogische Verweise erst recht das Gegentheil dessen bewirkt, was er bewirken sollte. Christian hielt den Professor für einen ungleich gelehrteren Mann, als seinen Lehrer in der Naturgeschichte, traf auch mit dieser Ansicht nahe genug an's Ziel, und glaubte fest an die Schlange mit dem Menschenkopf, während seine Phantasie diesen Kopf sich völlig in natürlicher Größe dachte.
Gottfried Leonhard führte Christian zu einem Schranke, auf welchem in langen Reihen Zuckergläser aller Größen standen, die mit Spiritus gefüllt und mit Thierblase zugebunden waren, beides mindestens sein sollten, allein das Maas des Spiritus war sehr ungleich in diesen Gläsern, welche die Weingeistpräparate, Misgeburten, Monstra, Gliedmaßen, Amphibien und sonstige Merkwürdigkeiten enthielten; hie und da hatten die Milben kleine Löcher in die Blase gefressen, welche der Spiritus benutzt hatte, aus denselben treulos zu entweichen, und da hingen nun viele Präparate ganz vertrocknet und verschrumpfelt und mumienhaft, und von gräulichem Aussehen form- und gestaltlos in den Gefäßen, wie arme Sünderseelen. Gottfried zeigte nach einem Glase, hob es vom Gestelle; es war noch ziemlich mit Spiritus gefüllt, und in ihm befand sich eine etwas über zwei Fuß lange Schlange von gelblicher Farbe der Schuppen, mit von einander in Zwischenräumen abstehenden dunklen Querbändern.
»Das ist sie? So klein ist sie?« rief der Knabe mit dem bitteren Gefühle völliger Enttäuschung, worauf ihm Leonhard erwiederte: »Ja, lieber Kleiner, es ist nur eine junge. Wie groß sie wird, das kann man so eigentlich nicht wissen; die im Paradiese war jedenfalls ein ausgewachsenes Exemplar; sieh Dir aber einmal ihren Kopf recht an, ob er nicht aussieht, wie der eines Teufels?«
Der Kopf der Schlange, von der Größe einer wälschen Nuß, sah in der That erschreckend häßlich aus; über den Augen starrten zwei nach hinten ein wenig gekrümmte Hörnchen empor; im übrigen blieb der Einbildungskraft freigegeben, sich ein Menschen-, ein Teufels- oder ein Baffomethaupt unter dieser häßlichen Mißbildung zu denken, und Leonhard sprach belehrend:
»Diese Schlange heißt Kerastes, Hörnerträger, war schon den alten Griechen wohl bekannt und wohnt in Aegypten, jedenfalls wird sie auch in der schönen Gegend des Paradieses gewohnt haben. Herodot erwähnt dieselbe und die Aegyptier bildeten sie häufig ab.«
»»Ach, ich dachte ihr Kopf wäre so groß, wie ein Menschenkopf, oder doch wenigstens wie ein recht großer Apfel!«« klagte Christian mit schlechtverhehltem Unwillen, Leonhard aber setzte das Gefäß wieder an seinen Platz und sagte:
»Es thut mir leid, aber ich kann sie nun einmal nicht größer machen, als wie sie ist.«
Christian begriff das logische in dieser überzeugenden Versicherung, und gab sich gern daran, ohne fernere Fragen aufzuwerfen, anderweite Gegenstände zu betrachten, deren Fülle fast verwirrend wirkte. Dort hing ein Krokodil, dort ein Armadil; der ausgestopfte Seehund war mit rothen gezackten Lederstreifen allerliebst umgürtet, und streckte eine Zunge von rothem Tuche dem Beschauer entgegen. Das Kalb mit zwei Köpfen, die Ziege mit vier Hörnern schauten ernsthaft von ihren Gestellen herab. Verschiedene Schildkröten leisteten nachbarlich nicht minder verschiedenen Seefischen Gesellschaft, und auf Geweihen des Elchs, des Rennthiers, verschiedener Antilopen ruhte die gezahnte Waffe des Sägefisches; daneben gähnte der drohende Rachen des Hay's. Es mangelte nicht am »stachlichen Rochen und des Hammers gräulicher Ungestalt«.
Da prangten altgermanische oder keltische Streitbeile noch als Donnersteine; aus Asbest konnten ewige Lampendochte und unverbrennliche Handschuhe vorgezeigt werden; Dentriten und geschliffene Landschaft- und Ruinenmarmorstücke waren neben gelbglitzernden Fischabdrücken in schwarzgrauen Schiefern zahlreich zur Schau gestellt; Adlersteine, Stalaktiten und Ammonshörner galten als sogenannte »Naturspiele«, denen eine reiche Anzahl der Behringerischen Pseudoversteinerungen zugesellt war. Bei Prachtexemplaren der Jericho-Rose lag Sturmius Tractat über dieselbe; ein Kasten mit zahlreichen Abtheilungen enthielt die wunderlichstgeformten Samen und kleinen Früchte ost- und westindischer Gewächse, darunter auch Krähenaugen und Elephantenläuse, Mirabolanen und Coloquinten. Vom Bilsenkraut, Schwarzkümmel und anderen Pflanzen zeigten sich in Glaskästen sauber gearbeitete Skelette; die Mandragorawurzel war zur Alraungestalt geformt, und stellte Männlein und Weiblein dar.
Leonhard machte seinen jungen Freund auf ausgezeichnete Exemplare des Rhinoceroshornes aufmerksam, deren einige zu Bechern ausgedreht waren, auf Elennklauen, von welchen man Schnupftabaksdosen verfertigt, auf Bezoarsteine, die man vergoldet hatte. Indianische Vogelnester, Ambra, Bernstein, Spermaceti und große Krebssteine wurden in bunter Reihe gezeigt und ihre verschiedenen nützlichen Eigenschaften genügend erklärt. Ein Basilisk fehlte dieser weit berühmten Sammlung eben so wenig, wie die Tarantel, bei welcher ein Notenblatt mit der »Melodie« der Tarantella lag, nach deren Takte die von der giftigen Spinne Gebissenen tanzen mußten, um sich zu heilen.
Der ganzen großen und überreichen Sammlung war anzusehen, daß sie zusammengebracht war, nicht um Naturgeschichte in ihr und durch sie zu studiren, sondern das Wunderbare in den Gebilden der Natur zu zeigen und anstaunen zu lassen, wenn auch die Kunst gar manchen heimlichen Antheil an diesen sonderbaren Gestaltungen hatte. Denn die Kunst blies eine Eidechse zum Basilisken auf, die Kunst setzte der gehörnten Schlange Hahnensporen in die Kopfhaut, die Kunst bildete aus Mandragora und Allermannsharnisch-Wurzeln die beliebten Alraune. Als das Kabinet anzulegen begonnen wurde, stand es noch gar mißlich um die wissenschaftliche Naturkunde; man war noch nicht allzufern von der Zeit, in welcher deutsche Gelehrte die Gräber-Urnen unserer heidnischen Vorfahren für Naturspiele oder für Gebilde der Erdzwerge hielten; man glaubte noch, daß auf einer Pflanze in Ostindien ein Lamm wüchse, und daß der Alb-Schoß, Hexenpfeil oder Belemnit, (versteinerter Seeigel-Stachel) von den Sternen niederfahre.
»Es sind hier allerlei artige Sachen,« erklärte Leonhard, und zog von den Schiebefächern eines Mineralienschrankes ein Fach nach dem andern zur Besichtigung aus. »Hier sind alle Arten von gesiegelten Erden, denen die verschiedensten Bilder und Zeichen aufgedrückt sind; diese sind indische, von den Braminen gesiegelt, diese arabisch, diese türkisch, diese altgriechisch. Besonders war die Lemnische Siegelerde, von der Insel Lemnos, sehr beliebt; hier sind altchristliche aus den Katakomben Neapels, mit dem Christusbilde, dem Vera Ikon, daraus das Veronika-Bild geworden; diese hier gehören Böhmen, diese Schlesien, diese jüngsten dem sächsischen Erzgebirge an, man braucht diese Erden als Heilmittel.«
Das Schubfach fuhr zu, ein anderes wurde aufgezogen. »Hier siehest Du Roggensteine, hier Kümmelsteine vom Pilatusberge, hier Erbsensteine, und zwar sind dieß deutsche, dieß arabische, Pica bethlehemitica genannt. Mancherlei alte, zum Theil wunderliche Sagen knüpfen sich an diese Steingebilde. Hartherzige Menschen säeten Erbsen auf Aecker, welche von Unterdrückten verwünscht wurden, und dann steinerne Erbsen trugen, statt der natürlichen. Selbst die Jungfrau Maria soll bei Bethlehem einem groben Bauernlümmel die Ehre solcher Verwünschung angethan haben. Man zeigt den Erbsenacker bei Bethlehem noch heute. Hier ist Ingwer-Stein, welcher der getrockneten Zingiber-Wurzel täuschend ähnlich ist, daneben liegen Gebilde, zuckerkandirten Mandeln und Pistaziennüssen ähnlich, welche man Confect von Tivoli, ihrem Fundort, nennt. Diese kleinen strahlenförmigen Sternsteinchen heißen Bonifaciuspfennige, man findet sie an der Sachsenburg bei Oldisleben, und trägt sich mit der Sage, es sei heidnisches Geld gewesen, das Bonifacius verwünscht, weil das Volk, welches er habe bekehren wollen, mit Steinen nach ihm geworfen habe. Dieses hier sind Spangensteine, von denen die alte Schloßfeste und Stadt und Amt Spangenberg im Hessenlande ihre Namen tragen, weil sie dort sich vorzugsweise finden. Dieses hier sind Würfel-Steine, welche die Natur aus einer Wiese bei Baden in der Schweiz, im Aargau hervor- und zu Tage bringt, die deshalb auch die Würfelwiese heißt. Die Edelsteine hält der Herr Professor unter Verschluß, sonst solltest Du herrliche Sachen sehen, geschnittene Gemmen und Intaglio's, wie der Herr Pathe sie nennt, und alle Sorten geschliffener prächtiger Edelsteine.«
»»Auch den großen Diamanten?«« fragte Christian mit merklicher Wißbegierde.
Leonhard mußte diese Frage belächeln. »Den Diamanten, mein Knabe, habe ich selbst noch niemals gesehen, mein Vater sah ihn auch noch nicht, und ich zweifle fast, daß irgend jemand in Helmstädt denselben sah. Auch haben der Herr Professor des Diamanten gegen uns noch niemals eine Erwähnung gethan, und man hört nur bisweilen in der Stadt fabelhafte Erfindungen von selbem Steine erzählen, wie man es denn hier überhaupt sehr liebt, sich mit allerlei müßigem Schnickschnack über meinen Herrn Pathen zu unterhalten.«
»»Ja«« bestätigte der Knabe ernsthaft und wichtig: »die Leute sagen, Ihr Herr Pathe mache Gold und habe die Goldtinctur, nach welcher die alten Adepten immer gesucht haben, glücklich gefunden, mittelst deren er jedes unedle Metall in edles zu verwandeln im Stande sei.«
»»Dummes Gerede von den Leuten«« – murrte Leonhard:– »das dumme Volk wird nie gescheidt. Binde ihm auf, der Teufel sei ein Eichhörnchen, so glaubt es, und mache ihm weiß, es brauche keinen König oder Herrn, und könne sich selbst regieren, so glaubt es erst recht, und regiert, wie jetzt in Frankreich der Anfang gemacht ist, auf Teufelsmanier darauf los. Doch was gehen uns diese Possen an? Sieh, hier stehen die Vögel, die ich meistens selbst ausgestopft habe, ja auch selbst gefangen oder geschossen, die siehe Dir recht an, Du findest weit und breit nicht eine so zahlreiche Sammlung. Den merkwürdigsten Vogel freilich kann ich Dir nicht zeigen, der wird vom Herrn Pathen im strengsten Verschluß gehalten.«
»Und welcher ist das?« fragte der Knabe gespannt.
»Die Ente ist's, das wundersame Automat von Vaucanson, welche wie lebend erscheint.«
»»Schade, daß ich sie nicht sehe, ich habe vieles von ihr erzählen gehört; es mag wol auch manches übertrieben sein«« – entgegnete Christian; aber Leonhard belehrte ihn: »»Nichts ist übertrieben, alles, was man von der Ente sagt, ist wahr; sie übertrifft jede Erwartung.««
Leonhard setzte nach Betrachtung und Erklärung des ornithologischen Theiles der Naturaliensammlung, in welchem er am besten bewandert war und in der That gute Kenntnisse besaß, seine Unterweisung fort. Die ausländischen Vögel waren zwar auch vertreten, doch nicht in so überwiegender Anzahl, und zum Theil in einem Zustande der Erhaltung, der eben kein Zustand der Erhaltung war. Am besten waren noch die Colibris, einige Paradießvögel und einige Papageien erhalten, minder schön stellten sich ein Huhn mit zwei Köpfen, und ein anderes mit vier Beinen dar, so wie ein stattlicher Haushahn mit einem Hühnerschwanze, neben denen ein Kästchen mit angeblichen Hahneneiern stand, neben denen deren Frucht, ein leibhafter Basilisk. Dergleichen gehörte im vorigen Jahrhundert noch eben so unerläßlich in ein berühmtes Naturalienkabinet, wie heutzutage ein Ichtyhosaurus. »Aber eine noch ganz andere Merkwürdigkeit findet sich hier« – sprach Leonhard weiter zu dem Knaben: »hier siehst Du in Spiritus einen leibhaften kleinen jungen Hund, welcher in einem Hühnerei entstanden und ausgebrütet worden ist. Daneben steht das Huhn, welches das Ei gelegt hat. Schade, daß der kleine Dächsel nicht am Leben geblieben ist. Das Dokument, welches die Wahrheit dieser Thatsache bestätigt, liegt dabei, der Fall hat sich in Magdeburg zugetragen.«
Es war eine völlige Traum- und Zaubersphäre, in welcher Leonhard den Sohn des botanischen Gärtners einführte, und dieser gab sich willig den mannigfachen und seltsamen Eindrücken hin, welche alle diese Gebilde auf sein empfängliches Gemüth machten. Daher verfehlte auch ein sogenannter Rattenkönig, der aus vierzehn mit den Schwänzen unlösbar in einander geschlungenen jungen Ratten bestand, so wenig seine Wirkung, als ein angebliches Exemplar von den fabelhaften Altdorfer Mäusen, die aus faulem Holze entstanden sein sollten. Muscheln und Schnecken, Meersterne und Seeigel waren in Ueberfülle vorhanden; und den Knaben belustigten viele Figuren, welche völlig aus kleinen Muscheln zusammengesetzt waren, eine holländische Mosaik, die häufig an phantastisch-tolle Laune grenzte. Perlenmutter und Iris-Schaalen gab es in allen Größen zu sehen, auch sonstige monstrose Gebilde und innere wie äußere Abnormitäten, welche meistens eine Geschichte hatten. Als vorzüglichste derselben zeigte Leonhard dem Knaben den Schädel eines Holländers, und machte darauf aufmerksam, daß dieser Schädel von außergewöhnlicher Größe sei. Die Hirnschaale ließ sich abheben und zeigte in ihrer inneren Höhlung deutlich das plastische Bild eines Hahnes.
Leonhard vermied, auf die Geschichte dieses besonders merkwürdigen Stückes der Sammlung näher einzugehen, und bemerkte nur im Allgemeinen: »Der vormalige Besitzer dieses Schädels, wenn ich so sagen und man den Menschen als Eigenthümer seines Kopfes rechtlich betrachten darf, hieß Herr Antonius von Frankenstein, lebte und starb hier zu Helmstädt, und wurde hier anatomirt.«
Noch gab es ganz andere Wunderdinge zu betrachten; Kämme von Elfenbein, von uralter Arbeit; eines desselben sollte sich die Jungfrau Maria bedient haben, und derselbe aus dem Kirchenschatze des benachbarten Marienstiftes durch Bestechung und das Opfer einer großen Geldsumme in diese Sammlung gekommen sein.
»Diese Dornen sind aus Christi Dornenkrone, sie entstammen einem Reliquienschreine im Sanct Ludgerikloster.«
Fast nahete das Ende der dem Knaben vergönnten Zeit, und er hatte noch nichts gesehen von der Gemäldesammlung; dem Kupferstichkabinet, der überreichen Bibliothek, obschon einige Zimmer des geräumigen Hauses durchwandelt waren, dessen ganzes mittleres Stockwerk die Sammlung füllte, nächstdem daß auch noch im unteren Stock, im Arbeitszimmer des Professors und in den an dasselbe stoßenden Räumen alles und alles voll lag, hing, lehnte, oder stand. Nur ein Blick konnte noch vergönnt werden in das Zimmer der mathematischen und physikalischen Instrumente, das völlig der Werkstätte eines Magus glich, und mit all seinen Rädern, Röhren, Hebeln, Kurbeln, Ketten, Flaschenzügen einestheils an Folterkammern, anderntheils mit seinen Glasgeräthen, Glocken, Phiolen, Kolben, Glaskugeln und dergleichen an ein chemisches Laboratorium erinnerte.
Da standen oder lagen in der Mehrzahl Electrisirmaschinen und Luftpumpen mit allem Zubehör von Leidenschen Flaschen, Electrophoren, Conductoren, Empolen und den Guerickeschen Kugeln in verschiedenen Größen; metallene Heronsbrunnen, gläserne Säulen mit Cartesianischen Teufelchen, Aeolipilen, Windbüchsen, Barometer und Anemonoscope, letztere auch eine Erfindung Otto's von Guericke. Modelle verschiedener Taucherglocken waren eben so wol vorhanden und ausgestellt, als solche von Luftschiffen. Hohl- und Brennspiegel, überhaupt alle und jede optischen Geräthe waren vertreten – und noch so manches andere, aber die Mittagsstunde schlug und der Knabe mußte enteilen, schon auf die Gefahr hin, Schelte wegen zu spätem Kommen zu empfangen, wie gerne er auch auf das Mittagsessen an diesen ihm so günstigen Tage verzichtet hätte. Gleichwohl brachte er noch seine hastige Frage an Leonhard: »Wo ist das Bild mit Amor und Venus, das der Herr Professor damals im botanischen Collegium erwähnte? Das, dessen Distichon anfängt: Cum puero Venerem.« –
Willig öffnete Leonhard ein anderes Zimmer, in welchem eine große Anzahl Bilder die Wände bedeckte, und zeigte das zu sehen gewünschte Gemälde, auf welchem Aphrodite dem Meere entsteigend, dargestellt war, welches aber, trotz seiner Schönheit, dem Sinne des Knaben nicht zuzusagen schien, daher sein Blick nach flüchtiger Betrachtung sich auf ein neben jenem hängendes Bild lenkte, vor dem er freudig ausrief: »Ha, Amor und Psyche, die schöne Mythe!« – Mit festem Blicke die holden Göttergestalten sich tief einprägend, verweilte Christian nur eine volle Minute vor diesem Bilde, und enteilte dann, Leonhard dankend, mit geflügeltem Schritte. Alles Merkwürdige und alles Wunderliche, was der Knabe geschaut, trat schnell in den Hintergrund, aber in leuchtender Klarheit standen die holdseligen Gestalten von Amor und Psyche tief und lebendig eingeprägt vor seiner Seele. –
Leonhard verschloß sorglich alle Räume, die er mit dem Knaben betreten hatte, aß mit seinen alten Aeltern und den jüngern Geschwistern zu Mittag, zeigte sich beruhigt und freundlich, und es leuchtete aus seinen Augen jener Strahl zuversichtlicher Hoffnung, die ein Jünglingsherz erfüllt, in welchem der Drang lebt, sich selbst etwas in der Welt zu versuchen, und das frohe Bewußtsein, demnächst aus einer beengenden Sphäre in eine erweiterte und freiere zu treten. Der Soldatenstand, dem Leonhard aus freiem Willen sich zu widmen gedachte, verhieß nun allerdings von Freiheit kein sonderliches Maaß, aber daran dachte Leonhard nicht, daß er ein Band zerriß, um dafür in die Kette der starrsten Subordination sich freiwillig schlagen zu lassen. Vergebens erschöpfte sich noch einmal das alte Ehepaar in den treuesten Warnungen, Gottfried bestand auf seinem Sinne, ordnete noch mancherlei an, gab manche Aufträge, vertheilte an die jüngeren Geschwister allerlei kleine Habseligkeiten, die er nicht mit sich nehmen konnte, und des Aufhebens nicht werth hielt, Naturalien, Zeichnungen, Bilder, Schnitzeleien, und sonstige Erzeugnisse einer genialen Geschicklichkeit, die Gottfried eigen war, und sagte, indem er vom Tische aufstand: »Ich wünsche euch Allen das beste Wohlergehen, hoffe auch nicht auf immer zu scheiden, und denke: wir sehen uns wieder. Wir wollen daher auch nicht groß Abschied nehmen. Denkt, ich mache meine gewöhnliche Harzreise, und bleibe nur ein wenig länger aus, wie sonst.«
Den Rest des Nachmittags verbrachte Leonhard in der eigenthümlichen Spannung und Unruhe des Gemüthes, die jeden befällt, der sich zu einem langen Scheiden anschickt, der alles gepackt und geordnet hat, nun keinerlei Geschäft mehr beginnen mag, aber auch zu nichts weniger, als zu beschaulicher Ruhe gestimmt ist. Leonhard wäre am wohlsten gewesen, sogleich zu gehen, zumal die schönsten Septembertage mächtig in die Freiheit der Natur lockten, aber er wollte die Passiflore des Abschiedkusses seiner geliebten Sophie doch noch pflücken.
Endlich schlugen die Glocken der Thürme Helmstädts halb sechs Uhr und Leonhard eilte nach dem botanischen Garten, süßschmerzlicher Gefühle voll, und dabei doch zugleich von einem ahnungsvollen Bangen bedrückt, das er seinem Abschiedweh in Rechnung brachte. Leonhards häufiges Erscheinen im botanischen Garten fiel niemand und zu keiner Stunde auf, denn er mußte sehr oft für seinen Pathen Pflanzen und Blumen verschiedener Art nach Hause holen, und der academische Gärtner hatte ihm die Vollmacht ertheilt, da derselbe die Ueberzeugung hatte, daß jeder Mißbrauch vergönnter Erlaubniß fern blieb, selbst an den verschiedenen Standorten ohne vorherige jedesmalige Meldung und Anfrage das nöthige an blühenden Exemplaren abzuschneiden. Heute suchte Leonhard nur eine Blume, und – suchte sie vergebens. Das Rondel war leer – auf der Bank war ein Papier mit einer Stecknadel befestigt, und bewegte sich im Fächeln der Abendluft. Leonhard erfaßte dasselbe. Mit Bleistift standen darauf die flüchtigen Worte geschrieben:
Lebe wohl! Ich muß von hinnen – Wiedersehen! Ewige Liebe!
Als Unterschrift war ein Herz gezeichnet, und in das Herz ein S.
Leonhard starrte das Blatt an, und wußte sich's kaum zu deuten. Da ward im Laubengang hastiger Schritt eines Nahenden vernommen, Christian war es, der alsbald mit den Worten grüßte: »Ach, guten Abend, Herr Leonhard! Da sind Sie ja! Das Bäschen hat mir noch viele schöne Empfehlungen an Sie aufgetragen. Sie sollten bisweilen an sie denken, sagte Sophiechen.«
»Wie, Christian? Sophie ist schon abgereist?« fragte Leonhard auf das schmerzlichste bewegt, und zitterte leise.
»Wie ich heute nach Hause kam,« begann Christian unaufgefordert zu erzählen: »stand unser Gartenrollwägelein vor der Thüre, über welches der alte Jacob die Plane aufspannte, und auf dem er den Sitz festschnallte. Der Vater war übel genug gelaunt, und schalt mich wegen meines langen Außenbleibens, Sophiechen hatte geweint und weinte von neuem als sie mich sah, und gewahrte, daß auch mir trübes widerfuhr. Es sollte sogleich gegessen werden, ich hatte aber keinen Hunger, und die andern hatten, wie mir schien, auch keinen; Sophiechens Gepäck war schon in der unteren Stube, in der wir aßen, draußen führte ein Gartenknecht die Pferde am Fenster vorbei, und Jacob spannte an. Ich fragte, ob ich nicht wenigstens ein kleines Stückchen mitfahren dürfe, und erhielt nur mit Mühe diese Erlaubniß. Sophiechen nahm unter vielen Thränen vom Vater Abschied, und schluchzte noch lange und gab mir lange keine Antwort, als ich fragte, warum sie so plötzlich ihren Entschluß, morgen früh abzureisen, geändert habe, und heute fahre. Endlich sprach sie: Der Vetter, Dein Vater, lieber Christian, will es so; das Geschirr muß morgen bei guter Zeit zurück sein, weil es gebraucht wird.«
»Nach einer Weile sagte Sophiechen: Heute Abend gegen sechs Uhr wird der junge Herr Leonhard kommen, er wird nach dem Rondel gehen, mir Lebewohl sagen wollen – da sage ihm – es thue mir sehr leid, keinen Abschied von ihm haben nehmen zu können, ich lasse ihn noch recht herzlich grüßen. Er solle mich nicht vergessen, solle bisweilen an mich denken. – Und wenn er fragt, weshalb ich so plötzlich aufbrechen mußte, so sage ihm, ich vermuthe, daß daran niemand Schuld sei, als sein Herr Pathe, denn mein Herr Vetter hat heute Vormittag vom Herrn Professor ein Paar Zeilen empfangen, die haben den Vetter böse gemacht, wie ich glaube – sagte Sophiechen – und da hat er gesagt, es sei besser, ich reise lieber heute als morgen ab. – Ich fuhr mit bis nahe an Warbergen, und lief dann eilend zurück.« –
Leonhard hörte dumpf und stumm und mit gemarterter Seele diesen Bericht des Knaben an, dann faßte er dessen Hand und sprach ernst: »Lebe wohl, guter Christian! Gott erhalte Dich gesund, gut und fleißig. Sage auch Deinem Vater meinen Empfehl, und ich ließe ihm wünschen, recht wohl zu leben!«
»Wollen Sie denn auch gleich fort? Haben Sie auch solche Eile?« fragte der Knabe bekümmert, und Leonhard antwortete aus gepreßter Brust: »Ja, Christian! ja – lebe wohl!« –
»Auch das noch, auch noch um die letzte, schmerzliche Süßigkeit des Abschiedkusses bestohlen!« knirrschte Leonhard, indem er dem Garten enteilte. »Nun denn – bin ich nicht reisefertig, habe ich nicht Geld in der Tasche und einen guten Paß? Koste es was es wolle, werde daraus was da wolle, ich will zeigen, daß andere Leute nicht allein einen Kopf haben!«
Mit raschen Schritten ging Leonhard nach dem Hause des ersten Pferdeverleihers der Universitätsstadt, eilte, nachdem er sich ein gutes Pferd gemiethet, nach seiner Wohnung, raffte rasch alles nöthige zusammen, warf die Jagdflinte über den Rücken, griff nach einer Reitpeitsche, schnallte Sporen an, und verließ sogleich sporenstreichs das Haus, ohne sich länger, als zu einem flüchtigen Händedruck des alten Ehepaares Zeit zu lassen, und dem kleinen Lottchen, der unschuldigen Botin eines Uriasbriefes, einen Kuß zu geben – die anderen Kinder waren abwesend und schritt jenem Hause wieder zu, aus dem schon ein Diener einen gesattelten Schimmel führte. Mitten in der Straße saß Leonhard auf, ritt im gewöhnlichen Schritt nach dem Thore, setzte nach einer Weile auf der Straße nach Halberstadt zu in raschem Trab ein, unterbrach diesen, auf Wiesen hinjagend, mit gestrecktem Galopp, mäßigte dann zu passender Zeit den Schritt des Rosses, klopfte es an den Hals, und sagte: »Es thut mir leid, guter Kerl, aber ich kann Dir nicht helfen, armer Schimmel, warum bist Du ein Gaul, ein unglückseliger Pferdephilistergaul geworden?« – »Ei, ei Herr Pathe – so heimtückisch – nun – Sie sollen nicht vergebens mich reiten gelehrt haben, ich denke Ihnen Ehre zu machen!«
Trocken waren die Wege, eben die Flur, es ritt sich gut durch den allmählig niedersinkenden Abend. Die Strahlen der untergehenden Sonne fanden nur einen einzigen Höhenpunkt, den sie vergolden konnten, es war der Hügelberg Hiese, der sich über dem Amtsorte Jerxheim erhob. Jerxheim war die kleinere Wegehälfte zwischen Helmstädt und Halberstadt, allein Jacob mußte dort anhalten, um seine Pferde rasten, sie etwas fressen zu lassen, und sie zu tränken, denn es folgte nun eine gar öde, einsame und unheimliche Wegstrecke, und erst in Halberstadts Nähe kamen wieder bedeutendere Ortschaften.
Gegen vier Uhr Nachmittags war Jacob, der seine Pferde niemals übertrieb, mit Sophie wohlbehalten in Jerxheim eingetroffen, hatte ein wenig abgespannt, ein Fütterchen gegeben, sich gelabt, so gut ers konnte, und das liebe Mädchen, seine Schutzbefohlene, sich selbst, ihren trüben und schmerzlichen Gedanken und der tödtlichen Langeweile überlassen, die das Gefühl erregt, längere oder kürzere Zeit in einem ländlichen Gasthause und an einem Orte verweilen zu müssen, der nicht das mindeste anziehende bietet, und selbst die leiblichen Erquickungen so schlecht, wie nur immer möglich. Mit Grauen sah Sophie dem Einbruche der Nacht schon jetzt entgegen, und einer lange dauernden trostlosen Fahrt, denn Jacob hatte bereits voraus gesagt, daß im großen Bruch, dem man nun nahe war, die Wege sehr schlecht wären, und schwerlich vor neun, ja halb zehn Uhr Halberstadt zu erreichen sein werde. Es floß noch manche stille Zähre aus des Mädchens schönen Augen, die Trennung that Sophien gar zu weh; sie blickte auf viele heitere und schöne Stunden zurück, und auch jener Abend, mit ihrem Oheim im Hause des Professors zugebracht, gehörte zu den Glanzpunkten in ihrer Erinnerung, von denen sie in der Heimath viel zu erzählen gedachte. Wie viel des Herrlichen hatte sie da gesehen und gehört, wovon sich in ihrem ländlichen Heimathorte Niemand etwas träumen ließ, denn damals war der jetzt königlich preußische Amtsflecken Benshausen nichts mehr und nichts weniger, als ein Thüringer Walddorf, durch das der Thalbach in großer Gemüthlichkeit ungefaßt mitten hindurch seinen Weg nahm, vor dessen Bauern- und Fuhrmannshäusern die Düngerstätten bedeutenden Rang und Raum in Anspruch nahmen, und dem nächst dem Fuhrwesen und aus diesem letzteren emporblühenden Weinhandel nur noch unerheblicher Feldbau und einiger Betrieb von Hammerwerken seine Nahrungszweige lieferten – während er jetzt einen der reinlichsten und heitersten Orte bildet, viele städtische Häuser zählt, durch ihn eine belebte Hochstraße führt, eine Posthalterei und mehrere Gasthäuser daselbst sich befinden, denn die Fortschritte, welche im Laufe des letztverflossenen Viertel-Jahrhunderts Ort- und Landesverschönerung gemacht haben, sind ganz außerordentlich. –
Es war schon fünf Uhr vorüber, als das Rollwägelein, unter dessen Plane Sophie auf schwankendem Sitze geschaukelt wurde, und an diesem Schaukeln merken konnte, daß der Weg schlechter wurde – aus Jerxheim abfuhr. Die Sonne hing am Westhimmel wie eine matte Scheibe, denn der Tag war warm gewesen, der Abend aber wurde zeitig kühl, und aus dem großen Bruch stieg Nebel in Fülle auf. Vom Dorfe Amtshessen bis gen Oschersleben oder noch weiter, von der Ilse im Westen bis zur Bode im Osten erstreckte sich in Stundenbreite und in einer langen Ausdehnung von vier deutschen Meilen das Moor- und Sumpfgebiet des großen Bruchs, durch welches der stille trübe Jerebach so leise und melancholisch hindurchzog, daß kein Beschauer desselben zu sagen vermochte, ob er ost- oder westwärts rinne. Er rinnt aber ostwärts und fällt bei Oschersleben in die Bode.
Wie es im Jahre 1790 und lange nachher mit den deutschen Straßen beschaffen war, werden sich bejahrte Leser noch gut zu erinnern wissen; da von Helmstädt nach Halberstadt noch keine Hauptstraße führte, so war eben jeder Weg von Ort zu Ort ein Feldweg, auf dem sich bei trockenem Wetter leidlich gut und rasch fortkommen ließ, und auf dem man bei schlechtem Wetter und wenn es geregnet hatte, nur äußerst langsam und beschwerlich von der Stelle kam, besonders auf Wegestrecken, welche durch Moorgegenden und über Moräste führten. Ein Glück noch für den Wagenlenker, wenn er gut wegekundig war, denn es kreuzten sich die Wege und Furthen mannichfach in solchen Strecken, an Wegweiser war oft nicht zu denken, hie und da ein alter Grenzpfahl, oder ein Betstock aus katholischer Zeit, ein Weidenstock, oder auch ein Steinkreuz zur schaurigen Erinnerung an eine an dieser Stelle verübte Mordthat, das waren die Gegenstände, nach denen der topographische Sinn eines Kutschers sich richten mußte. Jacob kannte den Weg indeß sehr gut und war denselben oft gefahren; gleichwol war ihm nicht lieb, daß der Nebel über dem großen Bruch immer dichter wurde. Die Sonnenscheibe wurde erst rosenroth, dann blutroth, dann braun, und dann war sie ganz weg, und der Blick Jacob's reichte kaum drei Schritte über die Länge seiner Pferde hinaus, welche jetzt nur Schritt für Schritt gingen, denn der Weg war voll Schmutz und Wasserrinnen und der weiche Boden des Moorgrundes hing sich hemmend an die Räder. Diese Wegstrecke war furchtbar öde, es begegnete keine menschliche Seele; bisweilen ragten dunkle Gestalten im Nebel, die lange Arme ausbreiteten, Erlkönigen mit Familie gleich, und entschwanden wieder dem Blick – alte Weiden und Rüstern. Im Binsengeröhrig schnatterten, dem folgenden Tage gutes Wetter verkündend, muntere Frösche, die sich ungemein glücklich und behaglich fühlten, und in einem Freistaate zu leben träumten, bis ihr langbeiniger König, der Storch, gestelzt kam, und einen der quakenden Republikaner nach dem andern aufgabelte und ganz wohlgemuth verschlang.
Die Aufregung des Tages, die Einsamkeit und das einförmig ermüdende der langsamen Fahrt hatten Sophie abgespannt, sie saß gegen die Abendkühle warm in ihren Mantel gehüllt, und war sanft eingeschlafen. Jacob nickte auch von Zeit zu Zeit ein wenig, denn er hatte in Jerxheim sich mächtiglich gegen die häßlichen Nebel des großen Bruches in Schnapps gestärkt, und war kein Jüngling mehr. Von einem Ruck jählings erwachend, machte Jacob die unliebe Entdeckung, daß ihm im Schlummer die Peitsche entfallen war, ein Werkzeug, nirgend nöthiger als auf solchem Wege. Was nun thun? Ein Blick in den Wagen belehrte Jacob, daß Sophie schlief. Sollte er sie wecken, ihr die Zügel so lange zu halten geben, bis er die Peitsche gefunden? Denn die Peitsche mußte er auf alle Fälle wieder haben. Oder sollte er das Geschirr ruhig halten, und Sophie schlummern lassen? Garten- und Baugeschirrpferde pflegen insgemein lammfromm zu sein, nie ein Uebriges zu thun, nie durchzugehen, oder davon zu laufen, und wohin hätten sie denn hier laufen sollen, da sie ja nicht sehen konnten, denn jetzt war der Nebel bereits so dicht, daß Jacob selbst die Köpfe des Gespanns von seinem Kutschersitze aus nur in matten Umrissen zu erblicken vermochte, freilich zugleich eine trostlose Aussicht auf das Wiederfinden der verlorenen Peitsche.
Das Wägelein stand, Sophie schlief, die Pferde verschnauften, und hingen die Köpfe, Jacob verschwand in dem Nebel, wieder in der zurückgelegten nördlichen Richtung. –
Als Leonhard nach einem scharfen Ritte von anderthalb Stunden Jerxheim, und den dortigen Krug erreichte, war es bereits halb acht Uhr, und die Abenddämmerung überhüllte schon die Fluren im Bunde mit dem Nebel, der wie eine Wand über dem nicht mehr fernen Bruche stand. Leonhard trank hastig ein Glas Rum, ließ in Eile seinem Klepper ein Stück altes Schwarzbrod mit Branntwein getränkt, darreichen – und dann jagte er dem Bruch entgegen, sprengte beim Dörschen Gevensleven über eine Knüppelbrücke, welche die Jere überspannte, und gewann den Weg, den Jacob eingeschlagen hatte, und den man mit dem Namen eines Dammes beehrte.
Jacob rannte, den Blick stets suchend an den Boden geheftet, rückwärts, und murmelte Flüche über seinen Verlust zur allerungünstigsten Zeit, über des Krugwirthes Schnapps, der ihn schläfrig gemacht, über die ganze dumme Fahrerei, wie er die Reise nannte, die nur aus Eigensinn zu so später Zeit am Nachmittage anbefohlen worden sei, und gewahrte nicht, daß ein schäbiger Wandergesell so eben hinter einer hohlen Weide hervortrat, der auch in der Schenker Jerxheim gerastet, mit Jacob ihn ausfragend sich unterhalten hatte, und dann eine Weile vor ihm aufgebrochen und desselben Weges gezogen war. Dieser Wanderer war ein Mann von weniger als Mittelgröße, aber von mittleren Jahren, trug ein soldatisches Schnurrbärtchen, eine Mütze von Seeotterfell, einen Rock von Beidermann, ein schlappes Ränzel, zerrissene Stiefeln und in der einen Hand einen ungeheuer knotigen Wachholderstock, in der andern Hand aber eine etwas frisch beschmutzte, sonst nagelneue Peitsche.
Stärker schattete das Abenddunkel; Sophie, welche tief und fest geschlafen hatte, erwachte aus einem schönen Traume, besann sich mühsam, daß sie in des Vetters Rollwägelein sitze, und wunderte sich, daß dieses Wägelein stille stand, so wie darüber, daß es schon so dunkel war, und rief mit klarer Stimme: »Jacob! Jacob! Wo sind wir denn jetzt?«
Jacob antwortete nicht, nur die Pferde schnaubten. »Jacob! Jacob! Wo ist Er denn?« – Keine Antwort – und zum Tode erschrak Sophie. »Was ist das?« Sie blickte aus dem Umhange des Wagens – sie fühlte den feuchtkalten Nebel – sie sah sich in der nebeldüstern Oede, auf einem Wagen, dessen Pferde ohne Lenker standen – allein – verlassen – ein wehrloses Mädchen. Was war geschehen? Warum war Jacob von den Pferden gegangen? Was sollte mit ihr werden? –
Das erste, was Sophie that, war, daß sie nach den Zügeln faßte, die Jacob an den Kutschersitz eingehängt hatte, das zweite war, daß sie ihre Stimme rufend erhob, und »Jacob! Jacob!« laut in die starre Nebelnacht hinausschrie – klopfenden Herzens, mit unsäglichem Bangen, mit Thränen der Angst in den schönen Augen. Keine Antwort – kein Wiederhall – Jacob war weit vom Wagen weg, er hörte nicht, er brannte darauf, seine verlorene nagelneue Peitsche, die einen ganz weißen Stiel hatte, bald wieder zu finden – wol aber traf der angstvolle Ruf ein anderes Ohr, nämlich das jenes verdächtig genug aussehenden Wandergesellen, der seine Schritte beflügelte, so gut dieß im schlammigen Kothe des sogenannten Dammes möglich war, und in dessen Seele schlimme Gedanken rege wurden.
»Hei, das könnte ja einen guten Fang geben! Der Tölpel, der vorhin an mir vorbei schoß, war am Ende der Kutscher jener Jungfer, der in Jerxheim hielt, und der die Peitsche sucht, die ich gefunden und aufgehoben habe. Du Narr, Du kannst lange laufen! Die Jungfer ist allein – sie schien guter Leute Kind – sie hat sicher Geld und schöne Kleider bei sich – sie schreit – frisch auf, Stöffelchen, mache Deinen Schnitt. Der liebe Herrgott bescheert Dir unverhofft ein leckres Abendbrod.«
Sophie rief, bis die steigende Angst ihr die Stimme erstickte und sie in eine fieberhafte Bewegung gerieth, plötzlich aber verstummte sie im jähen Schreck, als eine fremde Mannesstimme dicht neben ihr laut ward, und zu ihr hinauf rief:
»Was schreit denn die Jungfer, wie wenn sie am Spieße stäke? Gleich schweige sie still! Gebe Sie, Jungfer, einem armen Wanderburschen einen Zehrpfennig – gebe Sie, was Sie bei sich, hat! Geschwind! Allons! Gleich gebe Sie Ihr Bündel her, oder ich jage die Pferde sammt Ihr und Ihrer schlechten Karrete vom Damme in den Bruch hinein, da kann sie dann ein paar hundert Jahre als Irrwisch brennen, ehe Sie erlöst wird! Geschwind, tut'ßwit!« – Zermalmender Gedanke, der wie ein Blitz auf das arme Mädchen fiel – sie war in der Hand eines Räubers. Noch einmal kreischte sie lauten Hülferuf zum verschleierten Himmel auf, dann raubten ihr Schreck und Angst die Besinnung – sie war in der Hand Gottes. –
Jacob stand unschlüssig und erschöpft, ausschnaufend, er gab sein fruchtloses Suchen endlich auf, und wollte umkehren – da trabte es durch den Nebel, klatschte und patschte Rosseshuf im Schmutze des Dammwegs; da saußte eine hohe Reitergestalt, die Gestalt eines Jägers – prasselnd an ihm vorüber auf schnaubendem Rosse, dessen Haut hell durch die Finsterniß schimmerte – und Jacob schlug ein Kreuz – der Schimmelreiter erschien ihn als der Spuk des wilden Jägers, als der im Volksmund lebende gespenstige Wode, – und hoch über ihn in Lüften ertönte gleichzeitig der Heerschnepfen Trompetenstimme, und bullernd antworteten Rohrdommeln im Schilf und Geröhrig des weiten Bruches. »Gott sei bei uns, der Hackelberg und seine gräuliche Tut-Osel – und dort reitet er hin – allmächtiger Gott! Meine Pferde werden scheuen, sie werden vom Damm in das Moor springen – und Jungfrau Sophie! – Hilf heiliger Gott! Was habe ich gethan?!«
Der alte Mann rannte jetzt keuchend zurück – zitternd vor Angst, Furcht und Erregung. –
Sophiens Angstschrei war kaum verhallt, so war der Reiter, der wie der schnelle Reiter Tod in der norddeutschen Volkssage ritt, und mit scharfem geübten Auge vorwärts durch das Dämmerlicht des nebelgrauenden Abends blickte, hart an Jacobs Geschirr, und gewahrte, wie eine dunkle Gestalt am Rollwägelein in die Höhe kletterte, mit der einen Hand sich oben am vordersten Reifen hielt, mit der andern den Knotenstock hoch hob, und sich anschickte, in das innere des Wägeleins aufs gerathewohl hineinzuschlagen und die hülferufende Stimme verstummen zu machen.
Wie ein Blitz war Leonhard hart am Wägelein, drückte sein schnaubendes Pferd dicht an das rechte Vorderrad, auf dem des Raubgesellen Fuß noch haftete, führte mit der Peitsche einen äußerst nachdrücklichen Hieb auf dessen Kopf, der ihn die Seeotterfellmütze alsbald abschlag, und einen zweiten, der ihn empfindlich genug traf, und packte dann mit der kräftigen Linken den Gauner am Rockkragen, riß ihn mit erschütterndem Ruck zurück, hielt ihn einen Augenblick in zappelnder Schwebe und warf ihn dann mit aller Heftigkeit in den Koth des Dammes nieder, daß dem Männlein alle Rippen krachten, und hören und sehen ihm verging, das sehen schon deshalb, weil sein Angesicht sich unmittelbar mit einer Pfütze vermählte, deren Schmutzwellen ihm hoch über dem Kopfe zusammenschlugen.
Das alles war das Werk einiger Augenblicke – und jetzt rief Leonhard, nachdem ein rascher Umblick ihn belehrt, daß der Straßenräuber keine weiteren Spießgesellen habe: »Sophie! Theuerste Sophie!«
Die Gerufene antwortete nicht – ihr raubte noch die Ohnmacht Besinnung und Sprache, sie war starr und bleich und kalt auf ihrem Sitze zurückgesunken, und es trat nach dem Akt heftigster Erregung eine wahrhafte Todtenstille ein, denn auch der Niedergeworfene regte kein Glied mehr, auch ihm stockten die Sinne, und die Pferde zitterten nur und hielten sich ebenfalls still. Leonhard gewahrte jetzt, daß der Kutscher fehlte, denn in jenem Manne, an dem er in der tiefen Dämmerung vorübergeritten war, hatte er nimmermehr Jacob vermuthen oder erkennen können, ja er hatte ihn kaum wahrgenommen, daher rief auch er jetzt mit lauter Stimme in die Dunkelheit: »Jacob! Jacob!«
Jacob war indeß durch den beschleunigten Lauf wieder in den Bereich gelangt, innerhalb dessen er eine rufende Stimme wol vernehmen konnte; er vernahm Leonhards Stimme, und wäre beinahe vor Schreck in die Knie gesunken, denn da einmal durch die Fasern seines Gehirns das Gespenst des wilden Jägers jagte, und der Aberglaube mit allen seinen Schrecknissen ihn überwältigte, so erinnerte sich Jacob, der vor Zeiten im flandrischen Lande sich umgetrieben, der Sagen, die das Volk sich dort von einem zum ewigen jagen verwünschten Manne erzählte, der, nachdem seines Vaters Fluch und Verwünschung ihn getroffen, nie mehr nach Hause kam, und mit dem Rufe Jakko, Jakko – zur Herbstzeit durch die Nebelnächte und durch öde Büsche und Brüche brauste. Denn wo sonst hätte eines Mannes Stimme herkommen sollen an diesem Abende, und auf diesem Wege, welche Jacob rief? – Dennoch lief Jacob angstgepeinigt des Weges fort, so schnell er konnte, die Sorge um Sophie, um seine Pferde trieb ihn vorwärts.
Und in dem Augenblicke, in welchem Jacob sich hastig dem Wagen näherte und sein Geschirr als dunkle Gestalt vor sich stehen sah, gewahrte er einen bleichen Schimmer, der ihm den Wagen, die Pferde, den Reiter und einen an der Erde liegenden Mann erkennen ließ, und hörte noch einmal den lauten Ruf Jacob, auf den er alsbald mit »Holla! Hier!« antwortete – worauf Leonhard ihn anrief: »Aber zum Henker, Jacob! Warum bleibt er nicht bei Seinen Pferden? Warum läßt Er Schiff und Geschirr hier im Dunkel, und die arme Jungfer Sophie in Noth und Verzweiflung?«
Rasch war Leonhard vom Pferde gesprungen, und herrschte Jacob zu, eine Laterne anzuzünden, wenn er eine bei sich habe, denn der Lichtschimmer von vorhin war nur eine meteorische Erscheinung gewesen, und bald vorüber geflackert, während Leonhard sich nach dem niedergestürzten Räuber bückte, welcher allerdings den Hals gebrochen zu haben schien, und ihn aufzurütteln versuchte.
Die Stimme des Geliebten rief Sophie wieder in das Leben, und als sie aus der Betäubung ihrer Sinne sich losrang, und sie auch Jacob wieder sprechen hörte, fühlte sie ihr Herz schnell erleichtert, die bange Furcht verschwand – ihr Entsetzen von vorhin kam ihr wie ein schreckhafter Traum vor.
Jacob hatte in der That vorsorglicher Weise eine Wagenlaterne mitgenommen, langte diese von ihrer Stelle und begann Feuer zu schlagen, und bereit gehaltenen Schwefelfaden zu entzünden, während Sophie jetzt laut wurde, und abermals rief: »Jacob! Ist Er denn da?«
»Jawol bin ich da, liebe Jungfer!« erwiederte Jacob, »und da ist auch noch jemand, der – der –«
»Theure Sophie!« unterbrach Leonhard: – »wundere Dich nicht, mich hier zu sehen! Dein guter Engel sandte Dir mich nach, zu rechter Zeit kam ich Dir als Helfer, ein Schurke wollte Dir Gewalt anthun und Dich berauben! Hierher leuchten, Jacob! Hierher! – Wollen doch sehen, ob der Bursche noch Odem hat, oder nicht?«
Während Jacob mit der brennenden Laterne sich näherte, riß Leonhard mit kräftiger Faust den Strolch in die Höhe, der jetzt auf seinen Füßen stand, aber vom Schmutz über und über entstellt, einen gräulichen Anblick bot. Er zitterte heftig, und vermochte kein Wort hervorzubringen. Jetzt erblickte Jacob über des Gauners Rücken hängend nach Art, wie die Metzgergesellen ihre Peitschen tragen, die von jenem aufgehobene neue Peitsche, seine, Jacobs Peitsche, und über ihn kam der Berserkergrimm eines Kutschers, dem nicht leicht sein Sterblicher widersteht. – Auf den Strolch stürzen, ihm die Peitsche entreißen, und mit ihr auf das unbarmherzigste auf jenen losschlagen, unbekümmert, wohin er immer treffe, war das Werk weniger Augenblicke, und dieses schlagen begleitete eine Fluth schaudererregender Schimpfworte. Leonhard fühlte nichts weniger als zartes Mitleid mit dem Gaudieb, der gegen Sophie Hand und Stock erhoben, vielmehr riß er den Knotenstock des Gesellen an sich, und bearbeitete mit Jacob im Bunde jenes Rücken aus das allerfühlbarste, während das Männlein Cetermordio schrie, und sich seiner Angst und seiner Schmerzen keinen Rath wußte.
»Um Gottes Willen, hört auf, den Menschen zu schlagen!« rief Sophie zwischen diesen Lärm, sie mußte aber ihren flehenden Ruf einigemale wiederholen, ehe ihr endlich Folge geleistet wurde, und der so hart und heftig, wenn schon nicht unverdient Mißhandelte war nahe daran, umzusinken.
Endlich erfolgte rasche Verständigung, Sophie erzählte, welche entsetzliche Angst sie ausgestanden, welche Reden jener freche Dieb an sie gerichtet, und es regnete ein gutes Theil Scheltworte gegen Jacob ob seiner Dummheit, vom Geschirr wegzulaufen, wie gegen den Räuber ob seiner Keckheit aus Leonhards Munde, wobei manches Wort unterlief, was Leonhard als ein unfreiwillig dargebotenes Pathengeschenk von dem Herrn Professor aufgeschnappt hatte.
»Wir wollen Dich lehren, Wagen und Leute auf offener Straße anfallen – Gauner! Warte nur, es soll Dir schon noch besser kommen!« zürnte Leonhard und fesselte die Hände des armseligen Männleins mit einem Riemen an den Schweif seines Pferdes, dann erst, als er dieß in aller Schnelle vollbracht, eilte er zu Sophie, diese zu beruhigen, dann saß er auf, Jacob bestieg ebenfalls seinen Sitz, und die Reise ging weiter. Es war über den Aufenthalt fast acht Uhr geworden, und eine geraume Wegstrecke lag noch zwischen dem Damme, an dessen Ende man sich jetzt befand, und Halberstadt. Bald traten aus dem Nebel, der sie einhüllte, einige Bauernhütten, die das unscheinbare Oertchen Klein-Dedeleben bildeten, an welchem vorüber der Morast des Weges seine furchtbarste Tiefe erreichte, und nur Schritt vor Schritt gefahren und geritten werden konnte. Bald indeß ward auch Groß-Dedeleben erreicht, wo der Weg schon wieder besser wurde, und je weiter man sich aus dem Bereiche des großen Bruchs entfernte, um so mehr schwand die Nebelatmosphäre, man konnte freier athmen, mehr erkennen, endlich blitzten Sterne am nächtlichen Herbstabendhimmel, der rein und wolkenlos über dem kleinen dompropsteilichen Städtchen Dardesheim hing, dessen Lichter durch das Dunkel grüßten. Dort war ein gutes Gasthaus und ein Amt, und Leonhard wollte diesem Amte den gefangenen Straßenräuber übergeben, der erbärmlich schnaufend hinter dem Pferde hertrabte, und sprach diesen Vorsatz gegen Jacob laut aus. Jacob schüttelte den Kopf und widerrieth das. »Solches macht uns nur langen Aufenthalt und Weitläuftigkeiten. Wollen wir in Dardesheim bleiben, und wollen Sie morgen die Jungfer Elster nach Halberstadt geleiten, so habe ich nichts dagegen, soll ich aber heute noch Halberstadt erreichen, so dürfen wir hier uns kaum eine Viertelstunde verweilen, denn obschon der Weg gut ist, so geht es doch bis Athenstedt zum Huy hinauf immer bergan. Auf dem Amt, wo jetzt niemand mehr sitzt und auf uns wartet, kämen wir ohne langweiliges Verhör, Protocolle unterschreiben, zuletzt gar Eidschwüre, nicht los, und zuletzt lassen sie den Galgenstrick doch laufen, denn er hat ja noch nichts gestohlen. Ich thät' ihn noch einmal gehörig durchledern, den Cujon, und mit einem Tritt absolviren, von Rechtswegen – laufe hin, Gaudieb, und laß Dich hängen, wo Du selbst willst!«
Jacob's Rathschlag war durchaus nicht formell juristisch, noch weniger im Sinne der ultrahumanen Gegner der Prügelstrafe, aber er war einleuchtend praktisch, und wurde unterstützt durch das Flehen des Gefangenen, der zu Leonhard emporrief: »Ich bitte Sie um Gottes Willen, gnädiger Herr – machen Sie mich los! Ich halte den Marsch nicht länger aus! Seien Sie barmherzig! Ich bin kein Dieb, ich habe ja gar nicht rauben wollen, ich wollte ja nur hören, warum die Jungfer in dem Wagen so schrie! Lassen Sie mich frei, übergeben Sie mich nicht dem Amt! Sie haben mich hart genug gestraft! Ich glaube, es ist mein letztes!«
Der erbärmliche ächzende und jammervolle Ton, in welchem der Gauner redete, forderte zum Mitleid auf, Leonhard war unschlüssig, was er thun sollte, Sophie's Bitte gab den Ausschlag. »Lieber Leonhard!« rief sie aus dem Wägelein. »Laß den schlechten Menschen laufen! Hier in Dardesheim bleibe ich auf keinen Fall, ich muß heute Abend noch in Halberstadt eintreffen. Thue mir es zu Liebe!«
Innerlich widerstrebend, fügte sich Leonhard Sophiens Bitte, stieg vor dem Städtchen vom Pferde, bat Jacob zu leuchten, und knüpfte die Fessel los. Der Mensch sah allerdings zum Erbarmen und sehr übel zugerichtet aus. »Du magst hinlaufen, und zwar ohne die nochmalige wohlverdiente Tracht Prügel!« sprach Leonhard: »aber Dein Gesicht will ich mir merken! Hüte Dich, mir jemals wieder zu begegnen. Dein Gesicht merkt sich gut, Du vermaledeiter langfingeriger Eselsschwanz, der Du bist!«
Der schon fast Befreite richtete einen halb zagenden, halb trotzigen Blick auf Leonhard; er erwiederte nichts, aber in seinem Inneren flammte tödtlicher Haß auf, und er prägte sich Leonhard's Züge tief und fest in seine Seele. Mit verstellter Demuth sprach er endlich: »Bitte, gnädiger Herr, geben Sie mir auch meinen Stock zurück – er ist ein Andenken von einem guten Kameraden!«
»»Der Teufel ist Dein guter Kamerad, suche Deinen Diebsknittel im Bruch, in den ich ihn geworfen habe!«« gab ihm Leonhard zur Antwort: »und hüte Dich, ich warne Dich nochmals, mir wieder in den Weg zu laufen, sonst schieße ich Dich Knall und Fall todt!«
Schreck zuckte über des Strolchs Gesicht – er eilte, sich den Blicken seines Ueberwinders zu entziehen – er sprang hinter eine Hütte am Wege.
»Wer weiß, ob ich wohlthat, den Vagabunden frei zu lassen« – murrte Leonhard zweifelnd vor sich hin.
»»Es wäre ihm doch nichts geschehen«« – beruhigte Jacob: »und ich dächte, wir hätten ihm Denkzettel und Wegzehrung reichlich genug gegeben, auch ihm das Diebsgelüst so gehörig eingetränkt, daß er lange genug an den heutigen Abend denken wird.«
Vor dem Gasthause zu Dardesheim hielt Jacob an, eine Erquickung nach so viel schreckhafter Erlebniß that Sophien dringend Noth. Liebevoll half ihr Leonhard vom Tritt, und hob sie in seinen Armen herab, sie zärtlich küssend, sorgte auch alsbald für alles erwünschte, und gab Jacob Auftrag, vom Wirth eine Wage und Stränge zu leihen, und sein Pferd mit anzuhängen, damit man um so schneller das Ziel erreiche, er selbst wolle mit Sophie den Sitz im Wagen theilen.
Alles erfolgte rasch, und in möglichst kurzer Frist ging die Reise weiter. Die Liebenden koseten traulich über das erlebte Abenteuer, und Leonhard sprach mit tiefem Gefühl: »Wie immer mein Herr Pathe manches gegen mich verschuldet haben mag, eines danke ich ihm doch, und werd' es ihm lebenslänglich danken, er lehrte mich fest an Gott und dessen allwaltende Vorsehung glauben. Daher drängte es mich Dir nach, geliebte Sophie, eine höhere Eingebung war es, die mich erfaßte, die mich trieb, Dir nachzueilen, zu Deinem Schutze, zu Deiner Rettung! Ich hätte mich ja sonst damit begnügen können, daß wir am Morgen schon halb und halb Abschied genommen, hätte mit meinem Schmerz, Dich nicht noch einmal zu sehen, ringen und ihn überwältigen können. Alles mußte so kommen, wie es kam, an diesem heutigen, so verhängnißvollen Tage. Der Herr Pathe mußte mir das Bild nehmen, ich mußte durch ihn zu dem Entschlusse gereizt werden, mich reisefertig zu machen, und sein Haus zu verlassen; er mußte nach Braunschweig an den herzoglichen Hof befohlen werden, damit mir freie Zeit blieb, vollends alles zu ordnen – ja – es mußte so kommen, wir sollten beide durch Schmerz und Angst gehen, um uns noch einmal einander innig anzugehören, den letzten Kuß ungestört uns küssen, und uns ewige Liebe zu schwören unter diesen ewigen Sternen, deren Klarheit so golden über dem Bergwalde, über dem Flachlande und der ganzen schlummernden Erde ruht. Gott war mit uns, er wird es auch ferner sein!«
Sophie war tief bewegt; sie schmiegte sich liebevoll und zärtlich an den Geliebten, und flüsterte: »Wie freue ich mich Geliebter, daß Du so gut und so fromm bist. Ja, – im schrecklichsten Augenblicke, den ich je erlebt, sandte er Dich mir als Retter zu – und wem lieber als Dir, möcht' ich meine Rettung danken? Gott und Dir! Welches Opfer aber bringt mir Deine treue anhängliche Liebe, die sich mir am heutigen Abende so hochherzig offenbart. Was gedenkst Du zu thun? Wohin gedenkst Du?«
»»Das will ich Dir sagen, mein theures Mädchen!«« erwiederte Leonhard. »Ich nehme heute vor Halberstadt Abschied von Dir, und übernachte dort im ersten besten Gasthofe. Gern begleitete ich Dich weiter, und mindestens bis Quedlinburg, allein Deine Verwandten in Halberstadt dürften dieß mit Argwohn wahrnehmen.« –
»»Gewiß, das geht nicht an!«« seufzte Sophie.
»Jacob hängt mein Pferd morgen, wenn er nach Helmstädt zurückfährt, an seinen Wagen und übergiebt es dem Vermiether, und ich schlage mich in den Harz, sammle Naturalien und wende mich dann nach Braunschweig, wo ich sie verkaufe. Das fernere wird Gott fügen, Du sollst von mir Nachricht empfangen.« –
Der Huy-Wald breitete seinen grünen Mantel zur Linken um den Berg, den die Straße emporzog, und einzelne Bäume waren auch auf die rechte Seite des Weges getreten. Jacob hatte seinen Sitz verlassen, um die Strecke, so lange es bergan ging, gehend zurückzulegen, damit es den Pferden leichter werde; sein Auge sah fleißig voraus, und es war leicht, beim Schimmer des sternenhellen Abends schon in einiger Entfernung irgend welche Gestalten zu unterscheiden.
Mit einem male begann Jacob zu den Insassen des Rollwägeleins hinauf zu sprechen: »Hören Sie, Herr Leonhard, geben Sie ein wenig Obacht! Da vor uns her geht ein Kerl der gerade so aussieht, wie unser Spitzbub vom Bruch, wenn's nicht ein Kröppel ist, deren es hier um Dardesheim herum abscheulich viele giebt. Der Kerl geht bald rechts, bald links – ich glaube auch, er hinkt – bisweilen steht er still, als gucke er sich nach uns um. Mit dem Kerl ist's nicht geheuer – der Huy ist ohnehin eine vertracte Passage!«
»»Nehm' Er einmal die Laterne, Jacob,«« antwortete Leonhard: »sie blendet mich, und gehe Er damit hinter den Wagen. Wir werden gleich sehen.«
Wie Jacob die Laterne nahm, fragte Sophie: »Was ist das, Leonhard, ein Kröppel?«.
»Kröppel, meine Liebe« – antwortete Leonhard, während er ganz ruhig sein Jagdgewehr schußfertig vor sich nahm, das alte Pulver wegblies und frisches auf die Pfanne schüttete, dann mit dem Nagel des Daumens am ohnehin scharfen Steine des Schlosses leise auf- und abfuhr, ein fast untrügliches Mittel, ein Gewehr mit dem früher üblichen Feuerschloß nicht versagen zu lassen, und sein Blick in das Abenddunkel hinaus und bergempor spähete: – »Kröppel heißen hier zu Lande die Zwerge oder Erdkobolde, von denen das Landvolk sich mit allerhand abergläubischen Sagen trägt. Am Smannsborn und in den Felshöhlen des Huy-Waldes sollen diese Geisterlein zahlreich wohnen, der dort oben aber ist keiner, das ist ein Geist von Fleisch und Bein, und wenn er unser Männlein von Bruch her sein sollte und Böses gegen uns im Schilde führt, so mag er sich wol hüten, daß er nicht noch schlimmer als da drunten in die Brüche kommt.«
Das Wesen, was da immer bergempor vor dem Rollwägelein in einer Entfernung von etwa 30 bis 40 Schritten herwandelte, verführte allerdings einen seltsamen Gang, dem eines Trunkenen in etwas ähnlich, und hinkte dabei beträchtlich. Leonhards Falkenauge nahm auch wahr, daß der vermeintliche Kobold von Zeit zu Zeit sich bückte und Steine aufhob, die er dann wieder nieder- oder auch nach Stämmen und Stöcken warf, gleichsam um sich eine der Gesundheit dienliche Bewegung zu machen.
»Jacob, halte Er die Zügel fest in der Hand!« rief Leonhard nicht eben laut: »damit, wenn es etwas geben sollte, die Pferde nicht scheuen – mein Klepper ist ohnehin in Helmstädt ein wenig verschrieen, weil er schon mehr als ein Dutzend Studenten, die sich einbildeten, sie könnten reiten, derb abgeworfen hat. Und die Laterne, dächte ich, könnten wir wieder auslöschen.« –
»Nicht doch! Jacob! Nicht doch!« rief Sophie ängstlich, und zu Leonhard sich wendend, sprach sie: »Wenn es was geben sollte, sagst Du? Um des Himmels Willen! Was kann es denn geben?«
»»Sei nur ruhig, liebe Sophie,«« bat Leonhard, und wandte ihr sich liebevoll zu. »Jacob hat Furcht vor den Kröppeln, ich nicht – doch schadet nicht, auf der Hut sein; die Nacht ist keines Menschen Freund, und was einer, der so närrisch, wie jener Kerl, auf der Straße nachtwandelt, im Schilde führt, das kann man so eigentlich nicht wissen.«
Leonhard sprach dieß, sich nach Sophieen wendend; als er wieder vor sich hin auf die Straße blickte, war sie leer. Ein Felsvorsprung mit Gebüsch deckte den unheimlichen Wanderer, der mit wuthkochendem Herzen jetzt den Rollwagen erwartete.
Es war tiefstill im Walde, kein Lufthauch bewegte die Wipfel; Leonhards Blick sah aber dennoch sich die obersten Zwiesel des Gebüsches regen, die jenen Felsen deckten und gegen den Horizont sich scharf abschnitten, ein Zeichen, daß ein Wesen dahinter sich barg, dessen Berührung die schlanken und zarten Sommerlatten beben machte, und wandte sein Auge nicht von jenem Punkte, je näher er demselben kam.
Jacob hatte auf Sophiens Wunsch die Laterne brennen lassen und trug dieselbe in der Hand; mit einem male bewegten sich jene Wipfel heftiger, es rauschte droben, ein gut gezielter Steinwurf zerschmetterte die Laterne und verlöschte das Licht. Jacob schrie auf, ein zweiter Stein kam von jener Stelle gesaust, nahm die Richtung nach dem Sitz im Wagen, prallte aber an einem der Reifen ab, über welche das Plantuch gespannt war.
»Hoho, Geselle!« knirschte Leonhard, flüsterte: »Erschrick nicht, liebe Sophie!« und schlug an. Wieder flog ein Stein, der Leonhards Mütze streifte, indem knallte der Schuß, Sophie schrie laut auf, die Rehposten, mit denen Leonhards Jagdflinte geladen war, hagelten rauschend in jenes Gebüsch, aus dem ein seltsamer Aufschrei wie von einem Rehbock erscholl und eine dunkle Gestalt kollerte von der Höhe einen jenseitigen Abhang hinab in das tiefe Waldesdickigt, nachdem sie einen mächtigen Satz gethan und dadurch noch einmal auf einen Augenblick sichtbar geworden war.
»Um Gottes Willen, Leonhard! Was thatest Du? Du hast nach einem Menschen geschossen!« rief Sophie an allen Gliedern bebend aus.
»Nothwehr, liebe Sophie,« entgegnete Leonhard sehr ruhig. »Freut mich nur, wenn er eins abbekommen hat; oder sollte ich warten, bis seine Steine Dich trafen? Dieser nichtswürdige Kerl wollte es ja gar nicht anders haben. Es wird ihm wol ein Posten in die Lunge gefahren sein, ich hörte es an der Art seines Schreies, tod ist er aber nicht, darum beruhige Dein Gemüth, theures Mädchen.«
»Setze Er sich auf, Jacob!« rief Leonhard dem Wagenlenker zu, der ebenfalls vor Schreck und Furcht zitterte und bebte. »Wir sind gleich auf der Höhe, und dann rollen wir rasch nach Halberstadt hinab. Am Thore, wenn das Weg- und Geleitgeld gezahlt wird, hängt Er mein Reitpferd wieder ab, ich gehe in den Gasthof neben der Post – morgen früh ist Er so gut, das Pferd mit hinüber nach Helmstädt zu nehmen.«
Bald konnten von der Höhe einzelne Lichter aus den Häusern Halberstadts erblickt werden; eine riesige Schattengestalt stieg der mächtige Dom empor, die Thürme der lutherischen Collegiatstiftskirche und der fünf katholischen Klöster streckten sich wie dunkle Nadeln aufwärts zum Sternenhimmel, und der Silberfaden des Flüßchens Holzemme schlängelte sich blitzend durch die Gründe, über denen ein leichter Duftschleier gebreitet lag.
Bald vergaßen die jungen Liebenden auch das jüngste Abenteuer; die Minuten waren jetzt kostbar, es gab noch so manches zu besprechen, manchen Hoffnungstraum zu wecken und zu nähren, der bittere Augenblick des Scheidens trat mit jedem Schritte der Rosse näher. Noch einmal Schwüre der Treue, und das Angelöbniß von Seiten Leonhards, alles aufzubieten, was ihm möglich sei, um den Lebenswunsch zu erlangen, den er sich zum Ziele gesetzt, und der so sehr bescheiden war, der nicht höher sich erstreckte, als ein Förster zu werden. Er verstand mit beredter Zunge Sophien das Lebensglück eines Försters mit allen Farben der Idylle zu malen, und Sophie verstand ihn vollkommen, theilte so ganz seine Neigung, denn das im Schooße einer waldigen Gebirgsgegend aufgeblühte Mädchen kannte ja das Jägerleben, wie zu ihrer Zeit dasselbe war; kein Theil ihrer Heimath war ohne eine Försterei, im eigenen Heimathorte wohnte sogar ein Oberförster, der in den Augen aller Bewohner eine beneidenswerthe und auch in der That beneidete Stellung einnahm.
Und so mußte denn endlich herzlich und schmerzlich geschieden sein, unter tausend guten Wünschen und Segnungen, vielleicht für eine lange, lange Zeit – vielleicht, wenn das Verhängniß es so grausam fügen sollte, auf immer: »Noch einen Kuß! Lebewohl! Vergiß, vergiß mein nicht!« –
Der Professor war zur rechten Zeit im herzoglichen Residenzschlosse zu Braunschweig angekommen, der regierende Herzog empfing ihn leutselig und verbindlich; die hohe Kranke, zu welcher der berühmte Arzt alsbald beschieden ward, Auguste, geborene Prinzessin von Wales, war allerdings einem scheinbar bedenklichen Zustande verfallen, einem sie öfters heimsuchenden, gefahrdrohenden Halsübel, doch erkannte des Hofrathes Blick sogleich, daß dieser Zustand kein lebensgefährlicher sei, und nachdem von ihm ein höchst einfaches Mittel verordnet worden, denn die Herzogin hatte gegen das Einnehmen von Arzeneien einen unüberwindlichen Widerwillen – besserte es sich so augenscheinlich, daß der ganze Hof hoch erfreut war, und die Tafel ungleich heiterer abgehalten werden konnte, als Tages zuvor. Daß der Helfer aus beängstigender Sorge zur herzoglichen Tafel gezogen wurde, war eine selbstverständliche Sache.
Der Hofkreis war ein ziemlich zahlreicher und belebter. Der regierende Herzog Carl II. zu Braunschweig, mit seinem ganzen Namen Carl Wilhelm Ferdinand, stand in der Glorie des Kriegers, in der Reife der Jahre, in der Würde des Vaters und im Rufe eines treulichst für das Wohl seines Landes bemühten Fürsten als eine kraftvolle männliche Erscheinung in Mitten seines Hofes. Noch lebte die ehrwürdige Herzogin Mutter, Philippine Charlotte, Tochter König Friedrich Wilhelm's I. von Preußen, der appanagirte Oheim, Prinz Ferdinand, der von seinem Lustschlosse Vechelde in die Residenz gekommen war, um dem fürstlichen Neffen bei dem erschreckenden Krankheitsfall tröstend nahe zu sein. Herzog Ferdinand war ein mittelgroßer, ziemlich wohlbeleibter Mann von schlichtem, mehr bürgerlichem als fürstlichem Aeußeren, aber ein Mann, in dessen wohlwollenden Zügen das reinste Menschenthum, ein seelenvolles Gemüth und alles das sich klar abspiegelte, was die Sprache mit dem leider nicht deutschen Worte Humanität auf das erschöpfendste bezeichnet. Des Herzogs Bruder, Prinz Friedrich August, war nicht anwesend, sondern weilte auf einer Herbstreise mit seiner Gemahlin Friederike, der Erbtochter des Herzogs Carl Christian Erdmann von Würtemberg auf den schlesischen Besitzungen zu Oels. Der Erbprinz Carl, im glücklichen Brautstande lebend, befand sich am Hofe Wilhelm's V. von Holland, mit dessen Tochter Friederike er sich noch im October desselben Jahres vermählte. Prinzessin Caroline, voll Jugend und Lebenslust, die spätere Gemahlin des Königes Georg IV. von Großbritannien, und durch ihre Schicksale mehr als zu bekannt geworden, that was sie konnte, sich den Fesseln der Hofetikette zu entziehen, und machte ihren alternden Damen viele trübe Stunden. Ihr ganzes Wesen athmete Natur, zumal wenn es ihr gelang, sich zwanglos gehen lassen zu dürfen. Sie zählte bereits zwei und zwanzig Jahre, und konnte sich noch wie ein ächter jugendlicher Wildfang gebehrden; wenige Jahre später wurde sie in das englische Ehejoch gespannt, das zur bittersten Quelle ihres Unglückes wurde. Prinz Georg, 21 Jahre, Prinz August, 20 Jahre, und Prinz Friedrich Wilhelm, 19 Jahre alt, welcher letztere, obschon der jüngste, doch von der Vorsehung ausschließlich berufen war, den tausendjährigen Welfenstamm fortzupflanzen, waren anwesend. Prinzessin Caroline, welche von ihrer erlauchten Frau Mutter die Neigung geerbt hatte, eine Unterhaltung mit Fremden nur durch Fragen zu führen, eine höfische Sitte, die nur zu leicht zur Neugier einestheils, zur Klatschsucht anderntheils die ihr nachahmenden in niederen Kreisen verleitet, richtete manche Frage an den Helmstädter Hofrath, deren große Natürlichkeit diesen bisweilen wirklich in Verlegenheit setzte, und es schien sie wenig zu berühren, wenn ihr Vater ein wenig kriegerisch rauh ihr solches Benehmen mit soldatischer Derbheit verwieß.
Das Auge des Hofrathes und Professors weilte während der Tafel, wenn er nicht gerade in die Unterhaltung mit der Tischnachbarschaft gezogen war, oft auf einem Schlachtgemälde, das ihm gegenüber an der Wand des Saales hing, der Herzog nahm dieß wahr und fragte leutselig: »Er möchte gewiß gern wissen, lieber Hofrath, was dieses Bild darstellt? Er soll ja selbst ein großer Freund und Sammler von Gemälden sein. Was meint Er von dem Bilde da?«
»»Euer Durchlaucht halten zu Gnaden,«« entgegnete der bilderkundige Mann: »ich meine, daß der Maler seine Sache so gut gemacht hat, daß das Bild sich jedem treuen Unterthan, der die Ehre und das Glück gehabt hat, Euer Durchlaucht zu sehen, von selbst erklärt. Euer Durchlaucht sind ja selbst der kommandirende Reiter in Mitten des Bildes, der das Regiment von Behr ermuthigt, Höchst-Ihnen gegen eine Batterie der Franzosen zu folgen und diese zu nehmen. Es ist die Schlacht bei Hastenbeck, in welcher Euer Durchlaucht heldenmüthig den Feind zurückwarfen und dem Herzoge von Cumberland die Ehre des Tages retteten!«
»»Wahrhaftig Doctor!«« rief der Herzog mit einem Gefühle freudiger Erinnerung: »Er hat ein scharfes Auge und ist in allen Stücken gut bewandert. Es war damals ein heißer Tag und die verdammten Franzosen machten uns viel zu schaffen.«
»»Die Franzosen, durchlauchtigster Herzog,«« entgegnete der Hofrath: »werden, wie es sehr deutlichen Anschein hat, Deutschland und Europa auch künftig noch sehr viel zu schaffen machen.«
»»Das weiß Gott, das ist ein trübes Kapitel!«« bestätigte der Herzog. »Ich schlüge gern drein in die gottverfluchte Wirthschaft da drüben, und ich schlage auch noch einmal drein, ich sehe es kommen! Schade um das schöne Land, schade um seine guten Köpfe, sie werden sich aneinander aufreiben. Doch zu etwas anderem! Er ist ja ein berühmter Alchymist, Hofrath. Unseres in Gott ruhenden Herrn Vaters Liebden haben auch einiges verlaborirt, ich glaube sogar, Er hat dabei geholfen, und unseres Herrn Oheims Liebden, Herr Herzog Ferdinand, sahen bisweilen den grünen Löwen der spagyrischen Weisheitküche lieber, als unseren Wappenwelfen.«
Herzog Ferdinand lächelte gutmüthig zu dieser Bemerkung des regierenden Neffen und sprach: »Was thut man nicht, um schlechten Finanzen aufzuhelfen? Ich habe nicht nach Goldmacherei gestrebt, ich habe nur den Stein der Weisen gesucht.«
»»Und ihn gefunden, Durchlaucht!«« fügte der Helmstädter Hofrath schmeichelnd hinzu.
»Im Tempel Salomonis!« spöttelte, nur der nächsten Umgebung vernehmlich, der regierende Herr.
»Andere könnten diesen Stein auch finden, wenn sie nur ernstlich suchen wollten!« – äußerte der fürstliche Oheim.
Der Oberhofmarschall, Freiherr von Münchhausen, der nicht Maurer war, wie Herzog Ferdinand von Braunschweig, wollte diesem auch etwas angenehmes sagen, und sprach: »Nicht wahr, Euer Durchlaucht: der Wunderstein, von dem Höchstdieselben sprechen, heißt Weisheit, Stärke, Schönheit?«
»»Nein, mein lieber Oberhofmarschall,«« versetzte mit ungemeiner Bonhommie, in die sich aber doch eine reichliche Zuthat von Satyre mischte, Herzog Ferdinand: »er heißt Sparsamkeit, und deshalb ist er so schwer zu finden, besonders an den Höfen.«
Dieser Stich des gutmüthigen alten Herr gab allen etwas zu schmecken, was minder mundete, als die Leckereien des Nachtisches, denn die Finanzverhältnisse des Herzogthums befanden sich zum Theil noch immer in einer großen Spannung, an welcher aber keineswegs der regierende Herzog die Schuld allein trug.
»Ja ja, Hofrath, wenn wir Gold machen könnten, schön wäre es!« rief lachend der Herzog. »Wenn wir es nur mindestens bis zum Rufe brächten, diese Kunst zu können!«
»»Bis vor nicht langer Zeit kannten wir nur die Kunst, das Gold aufzulösen – und ließen wir es nicht in Rauch aufgehen, wie die Adepten, so verdestillirten wir es in allen möglichen anderen Experimenten«« erläuterte Herzog Ferdinand mit großem Freimuth: »Wir bauten Seide, ohne dabei welche zu spinnen, wir bauten Kanäle, denen hernach nichts fehlte, als das Wasser; wir wollten die Ocker von Wolfenbüttel bis Braunschweig schiffbar machen, um Dielen darauf zu flößen, wir hielten auf ein Ländchen von siebenzig Quadratmeilen sechzehntausend fünfhundert Mann Truppen, von denen fünftausend stets im Lande und unter Waffen standen; wir unterstützten das Theater jährlich mit siebenzigtausend Thalern; unser Land war krank, sehr krank.« –
»»Da wurden unser durchlauchtigster regierender Herr und Herzog des Landes Arzt«« – nahm der Hofrath die Rede auf. »In höchsten Händen wurden Muth und Vertrauen zur Goldtinctur! – Ja, Euer Durchlaucht! HöchstSie kamen in der That in den Ruf, Gold machen zu können. Mit einem Fonds von fünfmalhunderttausend Thalern kündigten Höchstdieselben eine Million Thaler Staatsschulden, und befestigten das tief gesunkene Vertrauen aufs neue und dauernd.«
»»Lassen wir das!«« gebot der Herzog, der es nicht liebte, seine Verdienste um das Land und die durch ihn eingeführten Verbesserungen durch weise Sparsamkeit sich lobend in das Gesicht sagen zu lassen. »Es hat manches geschehen müssen, was Vielen nicht lieb war, was Vielen Anstoß erregte, was uns harten Tadel zugezogen hat, besonders von Seiten der Herren Gelehrten, wie Er einer ist, Hofrath. Die Herren Gelehrten schreiben zu viel, verwirren den Unterthanen nur die Köpfe, wie der Lessing gethan hat mit seinen Wolfenbüttler Fragmenten.«
»»Mich trifft der Vorwurf des Vielschreibens nicht, gnädigster durchlauchtigster Herr!«« erwiederte mit feinem Lächeln der Professor. »Ich lasse nichts drucken, habe auch in der That keine Zeit zur Schriftstellerei, meine Collegien, meine Kranken, meine Sammlungen« –
»Er hat große Sammlungen!« unterbrach der Herzog den Hofrath. »Ist ein kostspieliges Steckenpferd und nutzt wenig. Ich bin ganz sicher auch von Ihm laut oder doch im Stillen getadelt worden, daß ich der Wolfenbüttler Bibliothek nicht mehr als zweihundert Thaler jährlich ausgesetzt habe, aber lieber Hofrath, das ist für unsere Zeit und unsere Verhältnisse schon vieles Geld. Es giebt der Ansprüche solcher Art für Wissenschaftsanstalten allzuviele. Dem hiesigen Museum gebe ich auch alle Jahre zwanzig Thaler!«
»»Zwanzig Thaler! Durchlaucht!«« rief der Hofrath aus und es stieg eine leichte Röthe auf sein sonst blasses Gesicht. »Euer Durchlaucht belieben gnädigst zu scherzen! Mit zwanzig Thalern bestreite ich für mein kleines Museum nicht den Spiritus für die Naturalien, die in Weingeist aufbewahrt werden müssen.«
»»Das ist Seine Sache, lieber Hofrath!«« versetzte der Herzog; nicht ohne Spott: »Er ist dafür auch reicher als alle Fürsten zusammen! Seinen Diamanten kann kein Potentat der Welt bezahlen!«
»»Das ist eben mein Unglück, Durchlaucht!«« entgegnete der Professor. »So nützt mir materiell dieß ungeheuer werthvolle Besitzthum gar nichts, nur die geistige Freude fällt die Wagschaale.«
»»Es sind todte Kapitalien«« – entgegnete wieder der Herzog: »mit denen man sich nicht überhäufen muß. Ich lege auf solche Sammelsurien keinen Werth, deshalb habe ich auch die alten werthvollen Rüstungen aus unserem Zeughaus verkauft, denn unsere Soldaten brauchen und tragen dergleichen doch nicht mehr. Hab' ein schönes Stück Geld daraus gelöst, und es nützlich angelegt. Es ist freilich ein Unterschied, ob einer ein Privatmann und ohne Familie ist, oder ein Landesherr, der für sechs eigene Kinder und für das Wohl von zweihundertdreißigtausend Landeskindern zu sorgen hat. Der Privatmann mag spielen mit Sammlungen, Liebhabereien, Curiositäten, raren und kostbaren Büchern, Münzen und dergleichen, sofern er dazu Zeit und Geld hat, ein regierender Fürst soll dieß nicht; seine Sorgfalt, sein Thun und Trachten gehört nicht dem Einzelnen, sondern dem Ganzen, seiner Regierung, seinem Volke, seinem Lande!«
»»Gewiß der löblichste Grundsatz, gnädigster Herzog!«« pries der Hofrath: »aber die Wissenschaft hat doch auch ihre Ansprüche, ihre Rechte, und die Institute derselben, ich rede nicht von Naturalien- und Münzkabinetten, ich meine unter anderen unsere Julia Carolina, gehören mit zum Volke, wie zum Lande, sind dessen geistige Pulse, sind die Horte und Herde der Aufklärung.«
»»Aufklärung!«« spottete der Herzog nach. »Spielt Er denn aus dieser weiten Gaukeltasche? Ist Sein Laborantenherd in seiner lateinischen Küche denn ein Hort und Herd der Aufklärung? Ich sollte meinen, au contraire, im Gegentheil!«
»»Aha, ich merke woher diese Luft weht, Euer Durchlaucht. Stracks aus der Helmstädter Aula! Man verläumdet mich, man beschuldigt mich, weil ich Geheimnisse habe, im Besitze von Geheimnissen bin, die ich allerdings nicht an die große Glocke schlage, nicht Jedermann auftische, – ein Gegner der wahren, nicht der sogenannten Aufklärung zu sein. Ein solcher bin ich aber mit nichten, gnädigster Herr, schon als Erfinder muß ich dem Fortschritte huldigen, vom neuen, nicht vom alten, kann ich nur gewinnen, nur vom neuen muß ich lernen. Ich bereite Farben, die mir mit Golde aufgewogen werden, das ist meine Kunst, Gold zu machen; aber sie ist nicht ganz leicht, ja sie ist oft sehr schwer. Es giebt eine erstaunlich leichte Weise, zu demselben Ziele zu gelangen, und zu noch ungleich billigeren Preise Gold zu machen.««
Die Blicke des Hofkreises an der fürstlichen Tafel richteten sich jetzt allzumal auf den Sprecher, neugierdevoll, mancher Blick sogar goldgierdevoll.
»Nun?« fragte der Herzog gespannt.
»Schade, daß Privatpersonen diese Kunst nie oder doch nur in sehr beschränkter Weise ausüben können und dürfen, sie ist ein Prärogativ der Kronen, ein Regal – ich meine Papiergeld« erwiederte der Hofrath nicht ohne Spott.
»Ah! Er zielt auf die französischen Assignaten, Hofrath!« versetzte der Herzog: »welche die sogenannte französische Nationalversammlung heiter decretirt und der schwache König genehmigt hat, gleich dreihundert Millionen Francs! Unsinn! Offenbarer Betrug – und sie werden schon sehen, wie weit dieser Schwindel reicht. Ich gebe keinen Quark dafür. Nein, vor solcher Spitzbubengeldmacherei, die das ganze Volk betrügt, Tausende an den Bettelstab bringt, behüte uns unser Herrgott in Gnaden! – Doch auf etwas anderes zu kommen, wieder auf Seinen Diamanten, hat Er diesen wirklich, wie man hört, vom Kaiser von China erhalten?«
»»Wirklich und in der That, Euer Durchlaucht,«« antwortete der Professor mit fester Zuversicht. »Ich weiß recht wol, daß diese Angabe bezweifelt wird, daß Unerfahrene von einem Kiesel reden, allein ich kann den Leuten so wenig aufzwingen, an die Wahrheit zu glauben, als vor ein Paar Jahren die Holländer, welche sich Patrioten nannten, sich daran zu glauben gewöhnen konnten, daß Euer Durchlaucht sie an der Spitze von fünfundzwanzigtausend Mann gehörig klopfen und zu Paaren treiben würden. Der Glaube muß den Menschen handgreiflich kommen, und vom Schauen, sonst glauben sie nicht. Mir glaubt man nicht, weil es zur Zeit etwas so ungewöhnliches ist, daß ein Deutscher nach China gelangt, und weil vor den Kaiser von China zu gelangen, allerdings seine besonderen Schwierigkeiten hat. Ersteres wird später sicher ganz anders werden, letzteres vielleicht auch. Wenn ich nicht fürchten müßte, Euer Durchlaucht zu langweilen, so würde ich in der Kürze berichten, wie es gekommen, daß ich so außergewöhnliches im Reiche der Mitte zu erreichen vermochte.«
»»Ich glaube es wird allen Anwesenden anziehend sein, einen solchen Bericht zu vernehmen,«« sprach der Herzog, und somit war der Befehl gegeben, das erzählende Wort zu nehmen.
»Mit Uebergehung aller zeitraubenden Präliminarien« begann der Hofrath seine Erzählung: »habe ich die Ehre, unterthänigst zu bemerken, daß meine Reisen mich im Jahre siebenzehnhundertzweiundfünfzig nach Portugal geführt hatten, wohin ich durch den königlichen Hof von Neapel empfohlen war. Ich lernte zu Lissabon den höchst unterrichteten Pacheco e Sampayo kennen, welcher sich damals eben vorbereitete, als portugiesischer Gesandter nach China zu reisen, und mir den schmeichelhaften Antrag machte, ihn auf seinem Schiffe zu begleiten. Eine solche Gelegenheit hätte sich mir wol nicht leicht zum zweitenmale geboten. Die Absicht der Gesandtschaft galt der Hauptsache nach allerdings Handelsinteressen, doch sollte nebenbei versucht werden, den Christenverfolgungen, welche einige Jahrzehntelang in China wütheten, steuern zu helfen, und auch den über alle Maaßen eiteln Chinesen eine andere Meinung von den Europäern beizubringen. Alle Nationen, die bisher mit China Handelsverbindungen angeknüpft hatten, oder dieß doch versuchten, Russen, Holländer, Engländer, Franzosen und andere, hatten den Weg der Darbringung großer Geschenke in Form eines Tributes gleichsam, eingeschlagen, um sich dadurch günstige Wege zu bahnen. Portugal sandte zwar auch Geschenke, denn ohne solche wäre gar nichts ausgerichtet worden, allein der Gesandte erhielt den besonderen Befehl, sie nur als Gaben freundlicher und achtungsvoller Aufmerksamkeit zu überreichen, und keineswegs als Tribut. Auch ich versah mich auf den wohlgemeinten Rath des Gesandten reichlich mit verschiedenen Gegenständen europäischer Kunst, hauptsächlich nahm ich eine ganze Kiste voll einfacher und zusammengesetzter Mikroskope mit, die ich unter meiner Leitung und nach eigener Angabe fertigen ließ, dann Hohl- und Brennspiegel, polimorphische Apparate, Cartesianische Teufelchen und dergleichen. Auf der Reise, die lange genug dauerte, benutzte ich die Zeit, mich in der chinesischen, wie in der portugiesischen Sprache so gründlich zu befestigen, daß ich an Ort und Stelle als Dolmetscher die wichtigsten Dienste zu leisten, mich befähigte. Ueber diese Reise, die Ankunft zu Macao, die Freude der Einwohner der dort bereits befindlichen portugiesischen Niederlassung, welche durch die Mandarinen in aller Art bedrückt wurde, so wie diese auch streng verboten hatten, einen Chinesen im Christenthume zu unterweisen – davon ließe sich ein großes Buch schreiben. Pacheco e Sampayo sprach mit den Mandarinen gleich aus einem ganz anderen Tone, als sonstige Europäer mit diesen langzopfigen Dünkelmännern gesprochen haben mochten, auch war er ein hoher stattlicher Mann, von vornehmster Haltung und mit einem Sprach-Organe begabt, daß es immer war, wenn er sprach, als murre ein Löwe, oder rolle ein mäßiger Donner.«
»Joseph Emanuel, mein König und Herr, und Pombal, dessen großer Minister, so sprach der Gesandte zu den chinesischen Mandarinen: sendet mich in Euer Land, dem unser Land noch niemals irgend einen Tribut entrichtet hat, um seine Huldigung dem Kaiser von China als ein freier, von keinem Herrn der Welt, außer vom höchsten Herrn des Himmels und der Erde, abhängiger Monarch Europa's freiwillig darzubringen, begleitet von einigen sehr werthvollen Geschenken, um deren Annahme mein König bittet.«
»Die chinesische Förmlichkeit bebte nun freilich vor Schreck, als der Gesandte erklärte, daß sein Auftrag ausdrücklich dahin laute, nur Seiner chinesischen Majestät selbst, dem glorreichen Kien-Long diese Gaben und die ehrfurchtsvollen Begrüßungen seines Monarchen zu Füßen legen zu wollen, zu dürfen und zu müssen. Tausend Einwendungen wurden gemacht, tausend Einwürfe – allein sie kümmerten den Gesandten nicht, er brachte die Mandarinen zur Verzweiflung. Es gedieh endlich dahin, daß der Magistrat der Stadt Macao sich ins Mittel schlug, und an den Senat der Stadt Canton schrieb, und dieser vermittelnd eintrat, auch alle nöthigen Erlaubnißertheilungen auswirkte.«
»Unsere Reise von Macao nach Peking, abgesehen von der etwas sehr lang dauernden Küstenfahrt von Macao bis in den Meerbusen von Petscheli und durch die Fluthen des Hoang-Hay oder gelben Meeres, auf dem Strome Pei und dann zu Lande bis zur großen Reichshauptstadt und Kaiserresidenz glich nicht nur, wie man zu sagen pflegt, einem Triumphzuge, sondern sie war ein solcher. China hatte dergleichen noch nie gesehen; ein zahlreiches Gefolge von Malaien und Negern, das unsere Geschenkekisten trug oder fuhr, die ehrenvolle Begleitung zahlreicher Mandarinen, entgegenkommende Magistratspersonen, chinesische Soldaten, und dazu der unaufhörliche Schall von riesigen Gongs und Tamtams, welcher ringsum die Luft erzittern machte, das fremde Land, das sich millionenfach herbei drängende wimmelnde Volk – es war betäubend. Wir saßen in den kostbarsten Tragsesseln, und durchzogen so stundenlang die unermeßliche Stadt, ehe der ungeheuere Kaiserpalast mit seinen wundersamen Bildwerken, seinen Porzellanthürmen, seinen riesigen, goldenen Drachenzierden unserem staunenden Auge sichtbar wurde.«
Ende des ersten Theils.