Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Uebernahme der Regentschaft in Preußen durch den Prinzen Wilhelm von Preußen, den Bruder König Friedrich Wilhelms IV., sowie der italienische Krieg hatten das Volk mächtig aufgerüttelt. Der Druck der Reaktionsjahre, der seit 1849 auf dem Volke lastete, war gewichen. Insbesondere war es die liberale Bourgeoisie, die jetzt sich politisch zu regen begann, nachdem sie während der Reaktionsjahre ihre ökonomische Entwicklung nach Kräften gefördert hatte und sehr viel reicher geworden war. Immerhin kann ihre damalige Entwicklung keinen Vergleich aushalten mit der Entwicklung, die ihr Wirtschaftssystem nach 1871 und besonders seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlangt hat.
Die Bourgeoisie verlangte jetzt ihren Anteil an den Staatsgeschäften, sie wollte nicht nur in Preußen parlamentarisch herrschen, in ihrer großen Mehrheit erstrebte sie auch eine Einheit Deutschlands unter preußischer Spitze, um ganz Deutschland politisch und wirtschaftlich zu einem von einheitlichen Grundsätzen geleiteten Staatswesen zu machen, wie das durch die Revolution von 1848 und 1849 und das damalige deutsche Parlament vergeblich versucht worden war. Dieses Bestreben kam durch die Gründung des Deutschen Nationalvereins im Jahre 1859 zum Ausdruck, dessen Präsident Rudolf v. Bennigsen wurde. Die Berufung des altliberalen Ministeriums Auerswald-Schwerin durch den Prinzregenten schwellte die Hoffnungen des Liberalismus. Das veröffentlichte Programm des Prinzregenten hätte freilich große Hoffnungen nicht gerechtfertigt, wogegen ihn auch seine Vergangenheit und namentlich seine Rolle in den Revolutionsjahren hätte schützen sollen. Aber die liberale Bourgeoisie sah eine neue Aera hereinbrechen.
Der Liberalismus ist stets hoffnungsselig, sobald ihm nur der Schein eines liberalen Regimentes winkt, soviel Enttäuschungen er auch im Laufe der Jahrzehnte erlebte. Weil ihm selbst der Mut und die Energie zu kräftigem Handeln fehlt und er vor jeder wirklichen Volksbewegung Angst hat, setzt er seine Hoffnungen stets auf die Regierenden, die ihm scheinbar oder wirklich etwas entgegenkommen. Durch den Enthusiasmus und das blinde Vertrauen, das er solchen Persönlichkeiten entgegenbringt, hofft er dieselben seinen Interessen dienstbar zu machen. Im vorliegenden Falle wurden die Blüten seiner Hoffnungen bald genug geknickt. Der Prinzregent, vom Scheitel bis zur Sohle Soldat, empfand zunächst das Bedürfnis einer gründlichen Militärreform auf Kosten der bis dahin geltenden Landwehreinrichtungen. Nach seiner Auffassung hatte sich die geltende preußische Heeresorganisation während und nach der Revolution, sowie bei der Mobilmachung im Jahre 1859 nicht bewährt. Die Verwirklichung seiner Pläne kostete aber nicht nur viel mehr Geld, sie verstießen auch gegen die Traditionen, die sich im Volke seit 1813 über die Brauchbarkeit der Landwehr gebildet hatten; außerdem wurde in der neuen Organisation die Verlängerung der Dienstzeit von zwei auf drei Jahre und für die Reserve von zwei auf vier Jahre verlangt.
Die Landwehr hatte allerdings in den Revolutionsjahren hier und da versagt, sie fühlte sich zu sehr eins mit dem Volke und war nicht ohne weiteres für reaktionäre Handstreiche zu haben, und für einen Krieg, der nicht populär war, war sie ebenfalls schwer zu brauchen. Das war es aber, was den Prinzregenten mit bewegte, sie bei der neuen Organisation nach Möglichkeit in den Hintergrund zu drängen. Als aber die Reorganisation ohne die ausdrückliche Zustimmung der Kammer, die, kurzsichtig genug, zunächst die Mittel provisorisch bewilligt hatte, definitiv eingerichtet wurde, begannen die Liberalen, die in der Zweiten Kammer die Mehrheit hatten, aufsässig zu werden. Allein der Prinzregent ließ sich nicht irre machen und reorganisierte weiter. Das rief den Konflikt hervor. Die Wahlen im Dezember 1861 verstärkten die Opposition. Obgleich die Regierung durch Gewährung liberaler Konzessionen (Ministerverantwortlichkeitsgesetz und eine neue Kreisordnung) die Kammer zu gewinnen suchte, lehnte diese jetzt die geforderten Kosten für die Heeresorganisation ab. Darauf erfolgte im März 1862 die Auflösung der Kammer, die aber das Resultat hatte, daß bei den Neuwahlen im Mai dieselbe noch weit radikaler zusammengesetzt wurde. Die Konservativen waren auf elf Mann zusammengeschmolzen.
Der Konflikt spitzte sich immer mehr zu, und der König, der keinen Rat mehr wußte, berief jetzt Herrn v. Bismarck, der preußischer Gesandter bei dem Bundestag in Frankfurt a. M. war – September 1862 – , an die Spitze des mittlerweile konservativ zusammengesetzten Ministeriums. Das war derselbe Bismarck, den schon 1849 Friedrich Wilhelm IV. als roten Reaktionär, der nach Blut rieche, bezeichnet hatte. Der Konflikt zwischen Regierung und Kammer erlangte damit seinen Höhepunkt.
In der deutschen Frage war mittlerweile ebenfalls die Bewegung in ganz Deutschland immer lebendiger geworden und schlug hohe Wogen. Der Nationalverein verlangte die Einberufung eines deutschen Parlamentes auf Grund der Reichsverfassung und des Wahlgesetzes von 1849. Zugleich sollte Preußens Rivale, Oesterreich, in Rücksicht auf seine starken nichtdeutschen Bevölkerungsteile aus diesem neuen Reiche hinausgedrängt werden. Die Mehrheit des Nationalvereins wollte ein Kleindeutschland bilden im Gegensatz zu jenen, die Deutsch-Oesterreich nicht ausgeschlossen sehen wollten und sich deshalb Großdeutsche nannten. Diese Gegensätze beherrschten die Kämpfe für die Lösung der deutschen Frage in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Daneben ging die sogenannte Triasidee, wonach neben Oesterreich und Preußen die Mittel- und Kleinstaaten eine Vertretung in der künftigen Reichsbildung forderten, die aus einem dreiköpfigen Direktorium bestehen sollte.
Den Umfang, den die Bewegung angenommen hatte, und die große Bedeutung, die sie noch erlangen konnte, veranlaßt die weitsichtigeren Liberalen, beizeiten ihr Augenmerk auf die Arbeiter zu richten und diese für ihre politischen Ziele zu gewinnen. Was sich in den letzten fünfzehn Jahren in Frankreich abgespielt hatte, die rapide Entwicklung der sozialistischen Ideen, die Junischlacht, der Staatsstreich Louis Bonapartes und seine demagogische Ausnutzung der Arbeiter gegen die liberale Bourgeoisie, ließ es den Liberalen ratsam erscheinen, womöglich ähnlichen Vorkommnissen in Deutschland vorzubeugen. So benutzten sie vom Jahre 1860 ab den Drang der Arbeiter nach Gründung von Arbeitervereinen und förderten diese, an deren Spitze sie ihnen zuverlässig erscheinende Personen zu bringen suchten.
Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hatte zwar in jener Zeit erhebliche Fortschritte gemacht, aber immerhin war Deutschland damals noch überwiegend ein kleinbürgerliches und kleinbäuerliches Land. Drei Viertel der gewerblichen Arbeiter gehörten dem Handwerk an. Mit Ausnahme der Arbeit in der eigentlichen schweren Industrie, dem Bergbau, der Eisen- und Maschinenbauindustrie, wurde die Fabrikarbeit von den handwerksmäßig arbeitenden Gesellen mit Geringschätzung angesehen. Die Produkte der Fabrik galten zwar als billig, aber auch als schlecht, ein Stigma, das noch sechzehn Jahre später der Vertreter Deutschlands auf der Weltausstellung in Philadelphia, Geheimrat Reuleaux, der deutschen Fabrikarbeit aufdrückte. Für den Handwerksgesellen galt der Fabrikarbeiter als unterwertig, und als Arbeiter bezeichnet zu werden, statt als Geselle oder Gehilfe, betrachteten viele als eine persönliche Herabsetzung. Zudem hatte die große Mehrzahl dieser Gesellen und Gehilfen noch die Ueberzeugung, eines Tages selbst Meister werden zu können, namentlich als auch in Sachsen und anderen Staaten anfangs der sechziger Jahre die Gewerbefreiheit zur Geltung kam. Die politische Bildung dieser Arbeiter war sehr gering. In den fünfziger Jahren, das heißt in den Jahren der schwärzesten Reaktion groß geworden, in denen alles politische Leben erstorben war, hatten sie keine Gelegenheit gehabt, sich politisch zu bilden. Arbeitervereine oder Handwerkervereine, wie man sie öfter nannte, waren nur ausnahmsweise vorhanden und dienten allem anderen, nur nicht der politischen Aufklärung. Arbeitervereine politischer Natur wurden in den meisten deutschen Staaten nicht einmal geduldet, sie waren sogar auf Grund eines Bundestagsbeschlusses aus dem Jahre 1856 verboten, denn nach Ansicht des Bundestags in Frankfurt a.M. war der Arbeiterverein gleichbedeutend mit Verbreitung von Sozialismus und Kommunismus. Sozialismus und Kommunismus waren aber wieder uns Jüngeren zu jener Zeit vollständig fremde Begriffe, böhmische Dörfer. Wohl waren hier und da, zum Beispiel in Leipzig, vereinzelte Personen, wie Fritzsche, Vahlteich, Schneider Schilling, die vom Weitlingschen Kommunismus gehört, auch Weitlings Schriften gelesen hatten, aber das waren Ausnahmen. Daß es auch Arbeiter gab, die zum Beispiel das Kommunistische Manifest kannten und von Marx' und Engels' Tätigkeit in den Revolutionsjahren im Rheinland etwas wußten, davon habe ich in jener Zeit in Leipzig nichts vernommen.
Aus alledem ergibt sich, daß die Arbeiterschaft damals auf einem Standpunkt stand, von dem aus sie weder ein Klasseninteresse besaß, noch wußte, daß es so etwas wie eine soziale Frage gebe. Daher strömten die Arbeiter in Scharen den Vereinen zu, die die liberalen Wortführer gründen halfen, die den Arbeitern als Ausbund der Volksfreundlichkeit erschienen.
Diese Arbeitervereine schossen nun zu Anfang der sechziger Jahre aus dem Boden wie die Pilze nach einem warmen Sommerregen. Namentlich in Sachsen, aber auch im übrigen Deutschland. Es entstanden in Orten Vereine, in denen es später viele Jahre währte, bis die sozialistische Bewegung dort einigen Boden fand, obgleich der frühere Arbeiterverein mittlerweile eingegangen war.
In Leipzig war damals das politische Leben sehr rege. Leipzig galt als einer der Hauptsitze des Liberalismus und der Demokratie. Eines Tages las ich in der demokratischen »Mitteldeutschen Volkszeitung«, auf die ich abonniert war und die der Achtundvierziger Dr. Peters redigierte, der Ehemann der bekannten verstorbenen Vorkämpferin für die Frauenrechte Luise Otto-Peters, die Einladung zu einer Volksversammlung zur Gründung eines Bildungsvereins. Diese Versammlung fand am 19. Februar 1861 im Wiener Saal statt, einem Lokal, das in der Nähe des Rosentals in einem Garten stand. Als ich in das Lokal trat, war dasselbe bereits überfüllt. Mit Mühe fand ich auf der Galerie Platz. Es war die erste öffentliche Versammlung, der ich beiwohnte. Der Präsident der Polytechnischen Gesellschaft, Professor Dr. Hirzel, hatte das Referat, der mitteilte, daß man einen Gewerblichen Bildungsverein als zweite Abteilung der Polytechnischen Gesellschaft gründen wolle, weil Arbeitervereine auf Grund des Bundestagsbeschlusses von 1856 in Sachsen nicht geduldet würden. Dagegen erhob sich Opposition. Neben Professor Roßmäßler, der Mitglied des deutschen Parlaments in Frankfurt a.M. gewesen und von seiner Professur an der Forstakademie zu Tharandt durch Herrn von Beust gemaßregelt worden war, nahmen Vahlteich und Fritzsche das Wort und verlangten volle Selbständigkeit des Vereins, der ein politischer sein müsse. Die Verfolgung von Unterrichtszwecken sei Sache der Schule, nicht eines Vereins für Erwachsene. Ich war zwar mit diesen Rednern nicht einverstanden, aber es imponierte mir, daß Arbeiter den gelehrten Herren so kräftig zu Leibe rückten, und wünschte im stillen, auch so reden zu können.
Der Verein wurde gegründet, und obgleich die Opposition ihren Zweck nicht erreicht hatte, trat sie dem Verein bei. Ich wurde ebenfalls an jenem Abend Mitglied. Der Verein wurde in seiner Art eine Musteranstalt. Vortragende für wissenschaftliche Thematas waren in Menge vorhanden. So neben Professor Roßmäßler, Professor Bock – der Gartenlaube-Bock und Verfasser des Buches vom gesunden und kranken Menschen – , die Professoren Wuttke, Wenck, Marbach, Dr. Lindner, Dr. Reyher, Dr. Burckhardt und andere. Später folgten Professor Biedermann, Dr. Hans Blum, von dem die Sage ging, daß er während seiner Studentenzeit sich auf seiner Visitenkarte als Student der Menschenrechte bezeichnet habe, Dr. Eras, Liebknecht, der im Sommer 1865 nach Leipzig kam, und Robert Schweichel. Einer der fleißigsten Vortragenden im ersten Jahre war Dr. Dammer, der später der erste von Lassalle eingesetzte Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde. Unterricht wurde erteilt im Englischen, Französischen, in Stenographie, gewerblicher Buchführung, deutscher Sprache und Rechnen. Auch wurde eine Turn- und Gesangabteilung gegründet. Ersterer trat Vahlteich bei, der ein großer Turner vor dem Herrn war und blieb, der Gesangabteilung traten Fritzsche und ich bei. Fritzsche sang vorzüglich zweiten Baß, ich ersten, den bekanntlich jeder singt, der keine Singstimme hat.
An der Spitze des Vereins stand ein vierundzwanzigköpfiger Ausschuß, in dem der Kampf um den Vorsitz entbrannte. Roßmäßler unterlag gegenüber dem Architekten Mothes, aber die Opposition arbeitete planmäßig weiter. Bei dem ersten Stiftungsfest Februar 1862 hielt Vahlteich die Festrede, die ausgeprägt politisch war. Er forderte das allgemeine Stimmrecht. Bei der Neuwahl des Ausschusses wurde auch ich in denselben gewählt. Meine Sehnsucht, öffentlich reden zu können, war bei den häufigen Debatten im Verein rasch befriedigt worden. Ein Freund erzählte mir später, daß, als ich zum ersten Male einige Minuten sprach, um einen Antrag zu begründen, man sich an meinem Tisch gegenseitig angesehen und gefragt habe: Wer ist denn der, der so auftritt. Da im Ausschuß verschiedene Abteilungen für die verschiedenen Verwaltungsfächer gebildet wurden, wurde ich in die Bibliothekabteilung und die Abteilung für Vergnügungen gewählt. In beiden wurde ich Vorsitzender. Die Wahl des Vereinsvorsitzenden, die wieder der Ausschuß vorzunehmen hatte, rief dieses Mal einen heftigen Kampf hervor. Viermal wurde gewählt, ohne für einen Kandidaten ein Mehr erzielen zu können. Stets war Stimmengleichheit vorhanden. Schließlich unterlag wieder Professor Roßmäßler gegen Architekt Mothes mit einer Stimme, weil dieser sich selbst gewählt hatte. Die Opposition trug jetzt den Kampf in die Generalversammlung, die am Karfreitag 1862 stattfand. Der Verein hatte damals über fünfhundert Mitglieder. Die Opposition stellte wieder ihre alte Forderung auf, den Verein zu einem rein politischen zu machen und den Unterricht aus demselben auszuschließen. Nach einem heftigen, vielstündigen Redekampfe, an dem auch ich mich beteiligte, unterlag sie gegen eine Mehrheit von drei Viertel der Stimmen. Hätte die Opposition geschickter operiert, hätte sie verlangt, daß zeitweilig politische Vorträge über Zeitereignisse gehalten und darüber Diskussionen veranstaltet werden sollten, sie hätte glänzend gesiegt. Aber daß man den Unterricht aus dem Verein verbannen wollte, der für die große Mehrheit der jüngeren Mitglieder das größte Interesse hatte, reizte diese zum Widerstand. Ich selbst nahm an der Buchführung und Stenographie teil. Einige Tage vor jener entscheidenden Versammlung hatten sich Fritzsche und Vahlteich eifrig bemüht, mich zu ihnen hinüberzuziehen. Ich konnte ihnen nicht folgen.
Die Opposition schied nunmehr aus und gründete den Verein Vorwärts, der im Hotel de Saxe sein Hauptquartier aufschlug. Der Wirt in diesem Lokal war der in den Reaktionsjahren gemaßregelte ehemalige Pfarrer Würkert. Dieser hatte eine eigene Methode, Aufklärung zu verbreiten und dabei auch sein Geschäft zu machen. Er veranstaltete allwöchentlich Vorträge, die er selbst hielt, über alle möglichen Thematas, wie die Geburts- und Todestage berühmter Männer, politische Tagesereignisse usw. An solchen Abenden war sein Lokal gedrängt voll. Da machte es denn einen eigenartigen Eindruck, wenn Würkert, der soeben noch unter den Gästen sich bewegt und diesem und jenem ein Glas Bier verabreicht hatte, auf dem Treppenpodest Platz nahm, der vom oberen in das untere Lokal führte, und von dort allen sichtbar seinen Vortrag hielt. Nicht im Gegensatz, sondern vielmehr in Ergänzung der Zusammenkünfte im Hotel de Saxe stand die Restauration zur Guten Quelle auf dem Brühl, ein damals eben gebautes großes Kellerlokal, dessen Wirt der Achtundvierziger Grun war. In der einen Ecke jenes Lokals stand ein großer runder Tisch, der der Verbrechertisch hieß. Das besagte, daß hier nur die ehrwürdigen Häupter der Demokratie Platz nehmen durften, die zu Zuchthaus oder Gefängnis verurteilt worden waren oder die man gemaßregelt hatte. Oefter traf beides zu. Da saßen Roßmäßler, Dolge, der wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand zum Tode verurteilt worden war, nachher zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wurde und dann acht Jahre in Waldheim gesessen hatte. Zu den »Verbrechern« gehörten weiter Dr. Albrecht, der in unserem Verein Stenographie lehrte, Dr. Burckhardt, Dr. Peters, Friedrich Oelkers, Dr. Fritz Hofmann, Gartenlaube-Hofmann genannt, usw. Wir Jungen rechneten es uns zur besonderen Ehre an, wenn wir an diesem Tisch in Gesellschaft der Alten ein Glas Bier trinken durften.
Die Leiter des Vereins Vorwärts begnügten sich aber nicht mit ihren Vereinsversammlungen, sie trugen die Agitation in die Arbeiter- und Volksversammlungen, die sie von Zeit zu Zeit einberiefen, in welchen Arbeiterfragen und Tagesfragen erörtert wurden. Diese Erörterungen waren noch sehr unklar. Man diskutierte über eine Invalidenversicherung der Arbeiter, über die Veranstaltung einer Weltausstellung in Deutschland, über den Eintritt in den Nationalverein, wobei man verlangte, daß dieser den Jahresbeitrag von 3 Mark auch in Monatsraten erhebe, damit die Arbeiter beitreten könnten. Weiter forderte man das allgemeine Stimmrecht für die Landtagswahlen und ein deutsches Parlament, das sich der Arbeiterfrage anzunehmen habe. Ferner wurde die Einberufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses diskutiert, auf dem die aufgetauchten Forderungen debattiert werden sollten. Die Frage der Einberufung eines Arbeiterkongresses tauchte fast gleichzeitig auch in den Berliner und Nürnberger Arbeiterkreisen auf.
Um die Vorbereitungen hierfür zu treffen und weiter nötig werdende Arbeiterversammlungen einzuberufen, wurde ein Komitee niedergesetzt, in das neben Fritzsche, Vahlteich und anderen weniger bekannt gewordenen Arbeitern auch ich gewählt wurde. Neben den Arbeiterversammlungen, die von unserer Seite ausgingen, berief die örtliche Leitung des Deutschen Nationalvereins öfter Volksversammlungen, manchmal mit Rednern von auswärts, Schulze-Delitzsch, Metz-Darmstadt usw., ein, in denen die deutsche Frage, die Gründung einer deutschen Flotte, der mittlerweile sehr akut gewordene preußische Verfassungskonflikt, die schleswig-holsteinsche Frage usw. erörtert wurden. Man ersieht schon aus der Aufzählung dieser Thematas, daß das politische Leben in Leipzig in jener Zeit ein außerordentlich reges war und uns in Atem hielt. Ein sehr beliebtes Thema in den von den Liberalen einberufenen Volksversammlungen waren auch die Erörterungen über die Verfassungszustände in den Einzelstaaten, ganz besonders in Sachsen, Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt. In zweiter Linie folgten Mecklenburg und Bayern. Die Herren v. Beust (Sachsen) und Dalwigk (Hessen-Darmstadt) waren ganz besonders Gegenstand heftiger Angriffe. Zu diesen gesellte sich Herr v. Bismarck, als dieser im September 1862 an die Spitze der preußischen Regierung trat.
Es war richtig, in den erwähnten Klein- und Mittelstaaten waren nach der Niederwerfung der Revolution Verfassungsbrüche und Oktroyierungen aller Art vorgekommen, aber nicht minder in Preußen. Außerdem hatten diese Klein- und Mittelstaaten ihre verbrecherische Tätigkeit nur unter dem Schutze Preußens und Oesterreichs – die hierin ein Herz und eine Seele waren – ausüben können. Gleichwohl behandelten die Liberalen der verschiedenen Schattierungen in ihren öffentlichen Angriffen die Klein- und Mittelstaaten viel schlechter als zum Beispiel Preußen. Und doch war es Preußen gewesen, das die Revolution niedergeworfen und es neben den Oktroyierungen im eigenen Lande an Gewalttaten gegen die Revolutionäre nicht hatte fehlen lassen. Ich erinnere nur an die Verurteilung Gottfried Kinkels zu lebenslänglichem Zuchthaus, an die Erschießung von Adolf v. Trützschler in Mannheim und Max Dortü in Freiburg i.B., an die Erschießungen in den Kasemattengräben in Rastatt, an die furchtbaren Grausamkeiten, die das preußische Militär nach der Niederwerfung des Maiaufstandes in Dresden an den gefangenen Revolutionären begangen hatte. Auch waren die Zustände Preußens in den fünfziger Jahren unter der Herrschaft des Systems Manteuffel so, daß sie jeden halbwegs freidenkenden Mann zur Empörung aufstacheln mußten und Preußen in Deutschland und im Ausland aufs schlimmste diskreditierten. Auch der im Zuge befindliche Verfassungskonflikt suchte seinesgleichen in Deutschland vergeblich. Mir, der ich damals als ein in der Politik noch unerfahrener junger Mann gelten mußte, fiel dieses Messen mit zweierlei Maß bald auf. Und dieses wurde namentlich von den sächsischen Liberalen und Demokraten praktiziert. Allerdings war das System des Herrn v. Beust, das dieser mit Zustimmung des Königs Johann in Sachsen inszeniert hatte, wegen der volksfeindlichen Maßnahmen und Bedrückungen aller Art und insbesondere durch die grausame Behandlung, die die politischen Gefangenen im Zuchthaus zu Waldheim erlitten hatten, ganz besonders und mit Recht verhaßt. Im Waldheimer Zuchthaus waren nicht weniger als 286 Maigefangene, darunter 148 Arbeiter untergebracht worden, von denen schon bis zum Jahre 1854 34, also 12 Prozent, gestorben waren. Ueber 42 der Gefangenen war das Todesurteil ausgesprochen worden, die dann zu lebenslänglichem Zuchthaus »begnadigt« wurden. In der Strafanstalt Zwickau waren 286 politische Gefangene, darunter 239 Arbeiter, eingesperrt worden; das Landesgefängnis Hubertusburg hatte 70 politische Gefangene beherbergt.
Im Zuchthaus zu Waldheim saß unter anderen auch August Röckel, Musikdirektor in Dresden, ein Freund Richard Wagners und des berühmten Baumeisters Semper, denen beiden die Flucht gelungen war. Röckel war wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Begnadigung, Anfang 1862, nachdem er 11-½ Jahre im Zuchthaus zugebracht – er war mit dem Rechtsanwalt Kirbach in Plauen der letzte der begnadigten Zuchthäusler, weil beide sich weigerten, ein Gnadengesuch einzureichen – , veröffentlichte er 1865 über die Vorkommnisse im Waldheimer Zuchthaus ein Buch, betitelt: Die Erhebung in Sachsen und das Zuchthaus zu Waldheim, dessen Inhalt in Sachsen und Deutschland einen Schrei des Entsetzens hervorrief. Ich war einer der eifrigsten Verbreiter von Röckels Buch, ich setzte über 300 Exemplare ab, selbstverständlich ohne persönlichen Vorteil, was nicht hinderte, daß ich in der Koburger Arbeiterzeitung als Anhänger Beusts verdächtigt wurde.
Unter den in Waldheim Mißhandelten war es Kirbach, den ich zwanzig Jahre später als Kollege im sächsischen Landtag persönlich kennen lernte, wohl mit am schlimmsten ergangen. Er war keiner von denen, die im Zuchthaus zu Kreuze krochen; ihm ließ der Zuchthausdirektor Christ einen sogenannten Springer zwischen den Füßen anbringen. Dieses war eine etwa einen Fuß lange Eisenstange, die mit Fußschellen zwischen den Knöcheln befestigt war. Wollte Kirbach gehen, so mußte er springen, daher der Name Springer. Bei dieser Prozedur wurden Haut und Fleisch an den Knöcheln zerrieben, und da Kirbach nicht nur furchtbare Schmerzen litt, sondern auch gefährlich erkrankte, mußte ihm nach einiger Zeit der Springer wieder abgenommen werden. Politisch entwickelte sich später der ehemalige Revolutionär, wie so viele andere, zum Nationalliberalen, doch hegte er in einem Winkel seines Herzens noch immer demokratische Neigungen. Er war der einzige unter den Nationalliberalen, der im sächsischen Landtag für unsere Anträge auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts stimmte.
Eine ganz andere politische Entwicklung nahm Kirbachs Zuchthausgenosse August Röckel. Als das Jahr 1866 die politische Krise über Deutschland brachte, stellte sich Röckel auf die Seite seines früheren Feindes v. Beust und ging, als Beust in Oesterreich Kanzler wurde, mit ihm nach Wien, um ihm Preßdienste zu leisten.
Was aber immer für Zustände in Preußen herrschten, die Liberalen sahen in ihm den Staat, der allein die deutsche Einheit, wie sie sich dieselbe dachten, durchführen konnte und sie vor einer Herrschaft der Masse zu schützen vermochte. Daher war es ihre Taktik, die Mittel- und Kleinstaaten nach Kräften herunterzureißen, damit der Staat des deutschen Berufs, was in ihren Augen Preußen war, in um so günstigerem Lichte erschien. Die Aera Bismarck stand zwar dieser Mythe sehr im Wege, aber man erklärte sie für eine vorübergehende Erscheinung, und dann werde Preußen erst recht im liberalen Glanze erscheinen. Herr von Bismarck war aber eine Realität ersten Ranges, und er kannte auch die Liberalen, von denen er sagte: Mehr als sie mich hassen, fürchten sie die Revolution, was durchaus richtig war. Indes gerieten die Leidenschaften immer mehr in Glühhitze. Wer in den Versammlungen am heftigsten auf Bismarck losschlug und die bedenklichsten Drohungen laut werden ließ, der konnte auf den stürmischsten Beifall rechnen. Selbst in manchem Liberalen erwachte die alte revolutionäre Leidenschaft, so in Johannes Miquel, der zehn Jahre früher mit Karl Marx in Verbindung gestanden war und selbst in den sechziger Jahren seine Beziehungen zu ihm noch nicht ganz abgebrochen hatte, der sich als Kommunist und Atheist bekannt und seine Hilfe zur Organisierung von Bauernaufständen angeboten hatte. Jetzt drohte er dem König von Preußen mit dem Schicksal der Bourbonen, man werde die Arbeiter gegen die Hohenzollern aufrufen, wenn sie keine Vernunft annehmen wollten. Eine solche Aeußerung fiel von ihm im privaten Kreise gelegentlich der Generalversammlung des Deutschen Nationalvereins in Leipzig. Nahezu dreißig Jahre später war Johannes Miquel, als Herr von Miquel, Finanzminister eines Hohenzollern und war ihm selbst die mittlerweile sehr zahm gewordene nationalliberale Partei, zu deren Gründern er gehörte, noch zu liberal.
Indes mochten auch an Bismarcks Ohren solche Drohungen gedrungen sein – die blutigsten Drohungen durch anonyme Briefe sind wohl schon Mode gewesen, ehe es sozialdemokratische Führer gab, die solche gelegentlich dutzendweise empfangen haben – , denn er hat später öffentlich zugestanden, daß er nicht für unmöglich gehalten, das Schicksal Straffords zu teilen, der als Minister Karls I. von England hingerichtet worden war. Er habe daher als sorgsamer pater familias auf alle Fälle sein Haus bestellt.
Aber auch vom König ging in jener Zeit das Gerücht, daß er infolge der fortgesetzten Aufregungen an Halluzinationen leide und fürchtete, daß ihn das Schicksal der Bourbonen erreichen werde. Bestätigt wurden jene Gerüchte durch eine spätere Veröffentlichung, die der verstorbene preußische Landtagsabgeordnete von Eynern als persönliche Mitteilung Bismarcks bezeichnete. Danach habe Bismarck ihm erzählt: Als er 1862 zum Minister ernannt worden sei, wäre er dem König bis Jüterbog entgegengefahren und habe denselben in größter Niedergeschlagenheit angetroffen. Die badischen Herrschaften, von denen der König gekommen, hätten den Konflikt mit dem Landtag für unlösbar gehalten und ihn zum Einlenken zu bestimmen gesucht. Der König habe zu ihm gesagt: »Minister sind Sie geworden, aber nur, um das Schafott zu besteigen, was auf dem Opernplatz für Sie errichtet wird; ich selbst, der König, werde nach Ihnen an die Reihe kommen.« Der König hoffte zweifellos, ich würde ihm diese Dinge ausreden, – sagte Bismarck – , ich tat aber das Gegenteil, weil ich meinen ehrlichen und gegen jede erkennbare Gefahr mutigen Mann kannte. Ich sagte ihm, die beiden Fälle hielte ich augenblicklich vielleicht für nicht ganz ausgeschlossen – aber wenn sie eintreten sollten, was sei dann Großes daran gelegen, sterben müßten wir alle einmal, und es sei gleichgültig, ob ein bißchen früher oder später. Er sterbe dann, wie es seine Pflicht sei, im Dienste seines Königs und Herrn, und der König sterbe dann in Verteidigung seiner heiligen Rechte, was auch seine Pflicht sei gegen sich selbst und gegen sein Volk. Man brauche ja nicht gleich an Ludwig XVI. zu denken, der sei ja unangenehm gestorben, aber Karl I. habe einen höchst anständigen Tod erlitten, einen solchen, der ebenso ehrenvoll gewesen wie der auf dem Schlachtfelde.
»Als ich« – erzählte Bismarck weiter – »derart den König als Soldaten an sein Portepee faßte, wurde er noch ernster und dann wurde er sicher, und ich reiste mit einem vergnügten, kampfesfrohen Manne nach Berlin hinein.«
Diese Vorgänge zeigen, was die Liberalen hätten erreichen können, wenn sie die Lage auszunützen verstanden. Aber sie fürchteten bereits die hinter ihnen stehenden Arbeiter. Bismarcks Wort: wenn man ihn zum Aeußersten dränge, werde er den Acheron in Bewegung setzen, jagte ihnen einen heillosen Schrecken ein.
In der Tat hat denn auch Bismarck alle Register gezogen, um Herr der Situation zu werden; seine Werkzeuge nahm er, wo er sie fand. Er hätte sich mit dem Teufel und seiner Großmutter verbunden, fand er einen Vorteil dabei. So zog er August Braß, den Chefredakteur der damals großdeutschen »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung«, in seine Dienste, obgleich dieser früher roter Demokrat gewesen war und das hübsche Lied gedichtet hatte:
Wir färben rot, wir färben gut, Wir färben mit Tyrannenblut!
Er hatte auch nichts dagegen einzuwenden, daß Braß Liebknecht von London und Robert Schweichel von Lausanne als Redakteure an die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« berief. Weiter gelang es Bismarck, neben Braß im Jahre 1864 Lothar Bucher, den alten Demokraten und Steuerverweigerer, zu gewinnen, dessen großes historisches Wissen und gewandte Feder er sich dienstbar machte. Bucher war es auch, der im Auftrag Bismarcks 1865 den Versuch machte, Karl Marx als Mitarbeiter für den preußischen Staatsanzeiger zu gewinnen, wobei er die Freiheit haben sollte, ganz nach Belieben zu schreiben, propagiere er selbst den Kommunismus.
Die Methoden, nach denen Bismarck jetzt zu regieren versuchte, hatte er Louis Napoleon abgeguckt, der es meisterhaft verstanden hatte, die bestehenden Klassengegensätze für sein System auszunutzen, und zwar sogar unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts. Es zeigte sich bald, daß auch Bismarck versuchte, die Arbeiterbewegung in seinem Interesse gegen die liberale Bourgeoisie auszunutzen. Sein Helfer in diesen Dingen war der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener, dessen Kenntnis der sozialen Fragen und seine Schlauheit ihn als den geeigneten Mann erscheinen ließen.
Ende August 1862 hatte eine Arbeiterversammlung in Berlin ebenfalls beschlossen, einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß, und zwar nach Berlin einzuberufen. Das veranlaßte das Leipziger Komitee, sich mit den leitenden Persönlichkeiten der Berliner Bewegung in Verbindung zu setzen, um eine Vereinbarung wegen der Einberufung des Kongresses zu erzielen. Man wünschte der besseren geographischen Lage wegen Leipzig als Kongreßort. Anfangs Oktober kam als Berliner Vertreter der Maler und Lackierer Eichler nach Leipzig zu einer Besprechung, der auch ich als Mitglied des Komitees beiwohnte.
Diese Besprechung fand in der Restauration Zum Joachimstal in der Hainstraße statt. Eichler ging gleich aufs Ganze. Er führte aus, daß die Arbeiter von der Fortschrittspartei und dem Nationalverein nichts zu erwarten hätten. Die Mehrzahl der Komiteemitglieder teilte auf Grund der gemachten Erfahrungen diese Ansicht. Weiter fuhr Eichler fort: er habe die Gewißheit – und damit entpuppte er sich nach unserer Ansicht als Agent Bismarcks – , daß Bismarck für die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu haben sei und auch bereit wäre, die nötigen Mittel (60 000 bis 80 000 Taler) zur Gründung einer Produktivgenossenschaft der Maschinenbauer herzugeben.
Zu jener Zeit bildeten die Maschinenbauer die Elite der Berliner Arbeiter und galten als die eigentliche Leibgarde der Fortschrittspartei. Die Ausführungen Eichlers riefen eine stundenlange Debatte hervor, deren Endergebnis war, daß das Komitee, mit Ausnahme Fritzsches, sich gegen Eichler erklärte. Es fällt auf, daß Eichler Ideen propagierte, wie sie sechs Monate später Lassalle in seinem Antwortschreiben an das Leipziger Komitee entwickelte, nur daß Lassalle einen demokratischen Staat als Begründer der Produktivassoziationen mit Staatshilfe forderte.
In jenen Tagen war der Name Lassalles uns unbekannt, obgleich er schon im April jenes Jahres öffentlich einen Vortrag »Ueber den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« gehalten hatte, der später und bis auf den heutigen Tag unter dem Titel »Arbeiterprogramm« erschienen ist. Auch hatte er in demselben Jahre seine Vorträge über Verfassungswesen gehalten. Daß diese Vorgänge uns unbekannt blieben, lag wohl daran, daß keiner von uns Berliner Zeitungen las. Wir bezogen unsere Kenntnisse über die Tagesereignisse aus der Leipziger Presse, namentlich der demokratischen »Mitteldeutschen Volkszeitung«, und was diese nicht brachte, blieb uns fremd. Es waren eben noch rückständige Zeiten.
Eichler hatte, als er mitteilte, Bismarck sei eventuell für die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu haben, nur einem Gedanken Ausdruck gegeben, der damals schon namentlich von dem Geheimen Oberregierungsrat Hermann Wagener öffentlich propagiert wurde. Man dachte dabei an eine Oktroyierung desselben, von der Auffassung ausgehend: ist das Dreiklassenwahlrecht im Mai 1849 oktroyiert worden, so kann es auch durch eine königliche Verordnung wieder beseitigt und ein neues Wahlrecht oktroyiert werden. Den Liberalen, die in ihrer sehr großen Mehrzahl nicht für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht schwärmten, war diese Aussicht höchst fatal, und Herr v. Unruh, einer ihrer Hauptführer, gab ihrer Besorgnis auch öffentlich Ausdruck. Ihre Abneigung gegen das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht versteckten die Liberalen damals hinter der Erklärung, diese Forderung sei während des Verfassungskampfes nicht opportun, erst müsse der Kampf mit dem Ministerium Bismarck zu Ende sein, ehe man an eine Aenderung des Wahlrechts denken könne. Daß zu jener Zeit die konservativen Demagogen sich für Einführung des demokratischsten aller Wahlrechte ins Zeug legten, wohingegen sie heute die entschiedensten Gegner desselben sind, hatte seinen zulänglichen Grund. Napoleon III., der nach dem Staatsstreich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht in Frankreich wieder einführte, das die honette Republik nach der Junischlacht durch ein schlechteres Wahlrecht ersetzt hatte, war mit demselben ausgezeichnet gefahren. Natürlich unter obligater Einwirkung durch die Staatsgewalten auf die Wähler. Es gab anfangs unter sechshundert Delegierten nur sieben Oppositionsmänner, alle übrigen waren kaiserliche Mamelucken. Erst 1863 stieg die Opposition auf 38 und 1869 auf 110 Köpfe.
Umgekehrt hatte in Preußen das Dreiklassenwahlrecht, das man geschaffen hatte, um eine gefügige Kammer zu besitzen, jetzt eine scharf oppositionelle geliefert, so kam man auf den Gedanken, das Napoleonische Beispiel nachzuahmen.
Eine andere Frage ist: Wie kam die Idee der Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe in die Kreise der Konservativen? Und da scheint es, daß Lassalle schon im Jahre 1862 diesen Gedanken in seinem Kopfe bearbeitete und seinen Gedanken seiner Freundin und Vertrauten, der Gräfin Hatzfeldt mitteilte, von der dann die Idee in die konservativen Kreise getragen wurde, noch ehe Lassalle sie öffentlich formuliert hatte. Später, als Vahlteich Sekretär Lassalles geworden war, entdeckte dieser, welch zweideutige Elemente Lassalle um sich hatte. Dasselbe nahm Liebknecht wahr, der Lassalle vor seiner Umgebung und speziell vor Bismarck warnte, worauf Lassalle antwortete: Pah, ich esse mit Herrn von Bismarck Kirschen, aber er bekommt die Steine. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Geheimrat Wagener Eichler den Plan mit den Produktivgenossenschaften als Plan Bismarcks suggerierte, noch ehe Bismarck selbst sich damit beschäftigt hatte. Nachträglich kommen mir die Memoiren des Geheimen Oberregierungsrats Hermann Wagener (Erlebtes) zu Gesicht, in denen er mitteilt, daß er mit Lassalle und der Gräfin Hatzfeldt und anderen Häuptern der Sozialisten (Schweitzer?) in Beziehung gestanden habe. Danach hat er also höchst wahrscheinlich von Lassalle selbst dessen Programmgedanken kennen gelernt und bei Eichler verwendet. Klarheit über die Rolle Eichlers und die Beziehungen Bismarcks zu Lassalle erfolgte im September 1878 bei Beratung des Sozialistengesetzes, als ich auf jene Vorgänge zu sprechen kam. Ich klagte damals Fürst Bismarck an, daß er jetzt die Sozialdemokratie zu vernichten trachte, die er einstmals für seine politischen Zwecke zu benutzen versucht habe. Ich wies zunächst auf den Fall Eichler hin und die Angebote, die dieser in seinem Namen uns im Leipziger Komitee gemacht habe; ich führte weiter an, daß durch Vermittlung eines Hohenzollernprinzen (vermutlich Prinz Albrecht, Bruder des Königs) und der Gräfin Hatzfeldt Lassalle mit ihm (Bismarck) in Verbindung gekommen sei, daß seine Unterhaltungen mit Lassalle öfter stundenlang gedauert und eines Tages sogar der bayerische Gesandte abgewiesen worden wäre, der Bismarck sprechen wollte, als Lassalle bei ihm war.
Fürst Bismarck nahm darauf am folgenden Tage, den 17. September, im Reichstag das Wort. Ich hatte irrtümlich gesagt, daß die Verhandlungen zwischen Eichler und dem Leipziger Komitee schon im September, statt erst im Oktober stattgefunden hätten. Daran knüpfte Bismarck an, um nachzuweisen, daß er solche Aufträge nicht könne gegeben haben, da er erst am 23. September ins Ministerium eingetreten sei. Wohl sei ihm erinnerlich, daß Eichler späterhin Forderungen an ihn gestellt für Dienste, die er ihm nicht geleistet habe. Im weiteren gab er zu, daß Eichler im Dienste der Polizei gestanden und Berichte geliefert habe, von denen einige zu seiner Kenntnis gekommen seien. Diese hätten sich aber nicht auf die sozialdemokratische Partei bezogen, sondern auf intime Verhandlungen der Fortschrittspartei und, wenn er nicht irre, des Nationalvereins.
Damit war erwiesen, wie begründet unser Verdacht im Komitee gegen Eichler gewesen war. Im übrigen bestritt Fürst Bismarck, daß er 60 000 bis 80 000 Taler für eine Produktivgenossenschaft habe hergeben wollen. Er habe keine geheimen Fonds gehabt, und wo hätte er das Geld hernehmen sollen? Das sagte derselbe Mann, der im April 1863 in der Kammer geäußert hatte: die Regierung werde, wenn es ihr nötig erscheine, mit oder ohne Bewilligung der Volksvertretung Krieg führen und das Geld dazu nehmen, wo sie es finde – und jahrelang die Staatsausgaben ohne Zustimmung der Kammer machte. Auf die ihm von mir vorgehaltenen Beziehungen zu Lassalle äußerte er: Nicht er, sondern Lassalle habe den Wunsch gehabt, mit ihm zu sprechen, und er habe ihm die Erfüllung dieses Wunsches nicht schwer gemacht. Er habe das auch nicht bereut. Verhandlungen hätten zwischen ihnen nicht stattgehabt, was hätte Lassalle als armer Teufel ihm auch bieten können? Lassalle habe ihn aber außerordentlich angezogen, er sei einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen gewesen, mit denen er je verkehrt habe, er sei auch kein Republikaner gewesen: die Idee, der er zustrebte, sei das deutsche Kaisertum gewesen. Darin hätten sie Berührungspunkte gehabt. Lassalle sei in hohem Grade ehrgeizig gewesen, und ob das deutsche Kaisertum mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der Dynastie Lassalle abschließen solle, das sei ihm vielleicht zweifelhaft gewesen, aber monarchisch sei er durch und durch gewesen. Dieser Erklärung folgte im Reichstag große Heiterkeit.
Die burschikose Art, wie Bismarck Lassalle zum Monarchisten stempelte, bedarf keiner Widerlegung, sie wird auch durch Lassalles Schriften und Briefe widerlegt. Immerhin war die Rolle Lassalles Bismarck gegenüber eine höchst eigenartige. Gestützt auf sein sehr hohes Selbstgefühl und seine unabhängige soziale Stellung glaubte er, mit Bismarck wie von Macht zu Macht verhandeln zu können, noch ehe er eine Macht hinter sich hatte. Wie das Spiel schließlich ausgegangen wäre, darüber braucht man sich den Kopf nicht zu zerbrechen, da der Tod Lassalles, Ende August 1864, ihn als Partner beseitigte.
Bismarck bestritt ferner in jener Rede, daß zwischen ihm und Lassalle der Gedanke einer Oktroyierung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts erörtert worden sei. Ich konnte ihm das Gegenteil nicht beweisen, glaubte aber den Worten Bismarcks nicht. Hier ist mir Lassalle maßgebend, der in seiner Verteidigungsrede vor dem Staatsgerichtshof in Berlin, 12. März 1864, öffentlich sagte: »Und so verkünde ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte, es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen – und Herr v. Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert.« Lassalle konnte ganz unmöglich eine solche Sprache führen, wäre nicht in seinen Unterhaltungen mit Bismarck die Oktroyierung des allgemeinen, direkten Wahlrechts in Betracht gezogen worden. Wie schon angeführt, wurde dieser Gedanke, und zwar immer wieder, in konservativen Kreisen sehr ernst erörtert, und er fand im liberalen Lager vollen Glauben. Außerdem war Bismarck, der gegen die Beschlüsse der Kammer verfassungswidrig regierte und im Juni 1863 wider Recht und Gesetz die berüchtigten Preßordonnanzen erließ, nicht der Mann, der vor einer Oktroyierung eines Wahlsystems zurückgeschreckt wäre, wenn er sich Nutzen davon versprach. Zudem wäre ihm eine solche Oktroyierung von den bisher politisch entrechteten Massen in Preußen nicht übelgenommen worden.
Welchen Charakter die Unterhandlungen Lassalles mit Bismarck angenommen hatten, dafür sprechen zwei Briefe Lassalles, die erst viel später veröffentlicht wurden, hier aber am besten ihren Platz finden.
Lassalle schrieb an Bismarck:
Exzellenz! Vor allem klage ich mich an, gestern vergessen zu haben, Ihnen noch einmal ans Herz zu legen, daß die Wählbarkeit schlechterdings allen Deutschen erteilt werden muß. Ein immenses Machtmittel! Die wirkliche »moralische« Eroberung Deutschlands! Was die Wahltechnik betrifft, so habe ich noch gestern nacht die gesamte französische Gesetzgebungsgeschichte nachgelesen und da allerdings wenig Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr allerdings wohl in der Lage, Ew. Exzellenz die gewünschten Zauberrezepte zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröckelung vorlegen zu können. An der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht im geringsten zu zweifeln.
Ich erwarte demnach die Fixierung eines Abends seitens Ew. Exzellenz. Ich bitte aber dringend, den Abend so zu wählen, daß wir nicht gestört werden. Ich habe viel über die Wahltechnik und noch mehr über anderes mit Ew. Exzellenz zu reden, und eine ungestörte und erschöpfende Besprechung ist bei dem drängenden Charakter der Situation wirklich unumgängliches Bedürfnis.
Der Bestimmung Ew. Exzellenz entgegensehend, mit ausgezeichneter Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster
F. Lassalle.
Berlin, Mittwoch 13.1.64, Potsdamer Straße 13.
Und weiter:
Exzellenz! Ich würde nicht drängen, aber die äußeren Ereignisse drängen gewaltig, und somit bitte ich, mein Drängen zu entschuldigen. Ich schrieb Ihnen bereits Mittwoch, daß ich die gewünschten »Zauberrezepte« – Zauberrezepte von der durchgreifendsten Wirkung – gefunden habe. Unsere nächste Unterredung wird, wie ich glaube, endlich von entscheidenden Beschlüssen gefolgt sein, und da, wie ich ebenso glaube, diese entscheidenden Entschlüsse unmöglich länger zu verschieben sind, so werde ich mir erlauben, morgen (Sonntag) abend 8-½ Uhr bei Ihnen vorzusprechen. Sollten Ew. Exzellenz zu dieser Zeit verhindert sein, so bitte ich, mir eine andere möglichst nahe Zeit bestimmen zu wollen. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ew. Exzellenz ergebenster
F. Lassalle.
Sonnabend abend (16.1.64), Potsdamer Straße 13.
Herr v. Keudell, der um jene Zeit im Auswärtigen Amt beschäftigt wurde und von dem Verkehr Bismarcks mit Lassalle wußte, behauptete, Bismarck habe den Verkehr mit Lassalle abgebrochen, weil letzterer immer zudringlicher geworden sei. Der letzte der vorstehend abgedruckten Briefe spricht für eine solche Auffassung. Auf alle Fälle war dieser Verkehr Lassalles mit Bismarck, wie so manche seiner anderen Handlungen im Jahre 1864, sehr bedenklich und konnte nur gewagt werden von einem Manne wie er. Leider hat er mit diesem Verkehr und seinem sonstigen Auftreten gegen das Ende seines Lebens anderen, die keine Lassalles waren, ein Beispiel gegeben, das zum Betreten von Abwegen ermunterte. Darüber später.
Bezeichnend ist in Bismarcks Rede vom 17. September 1878 auch die Art, wie er sich mit den Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe, zum Entsetzen der Liberalen, abfand. Nachdem er zugestanden, daß er öfter stundenlange Unterhaltungen mit Lassalle gehabt und immer bedauert habe, wenn diese zu Ende gewesen seien, fuhr er fort: »Er gebe zu, daß er mit Lassalle auch über die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossenschaften gesprochen, das sei eine Sache, von deren Zweckmäßigkeit er noch heute überzeugt sei.« Diesen Gedanken spann er dann weiter aus. Die Bewilligung von 6000 Talern aus der Schatulle des Königs an die Weberdeputation aus dem Reichenbach-Neuroder Kreis zwecks Errichtung einer Produktivgenossenschaft spricht auch dafür, daß ihm jedes Mittel recht war, einen Keil zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zu treiben, um nach dem Grundsatz »teile und herrsche« sich in der Macht zu halten.
Ich bin in der Schilderung der Ereignisse dem Gange der Dinge etwas vorausgeeilt.
Kurze Zeit nach Eichlers Anwesenheit in Leipzig reisten Fritzsche, Vahlteich und Dolge als Delegierte nach Berlin, um sowohl mit den Führern der Berliner Arbeiter wie mit denen der Fortschrittspartei und des Nationalvereins über die obenerwähnten Punkte zu verhandeln. Daß der deutsche Arbeiterkongreß erst Anfang 1863 und dann nach Leipzig berufen werden sollte, darüber einigte man sich rasch. Ebenso über die Tagesordnung des Kongresses, aus der der Punkt »Abhaltung einer Weltausstellung in Berlin« gestrichen wurde. Eichler war mit anderen Arbeitern im Sommer 1862 Besucher der Londoner Weltausstellung gewesen, zu der der Nationalverein und eine Anzahl Gemeindevertretungen Arbeiter geschickt hatten. Im ganzen besuchten etwa fünfzig Arbeiter unter Führung von Max Wirth die Londoner Ausstellung. So war die Idee der Berliner Weltausstellung entstanden.
Die Verhandlungen mit den Führern der Liberalen befriedigten die Leipziger Delegierten sehr wenig, wie sie das unverhohlen nach ihrer Rückkunft bei ihrer Berichterstattung mitteilten. Anfang 1863 hielt der Nationalverein seine Generalversammlung in Leipzig ab. In einer preußischen Stadt sie abzuhalten, durfte er nicht wagen, trotzdem er für die preußische Spitze arbeitete. Schulze-Delitzsch sprach am 3. Januar in einer großen Versammlung im Tivoli, im jetzigen Volkshaus der Leipziger Arbeiter, eine Umwandlung, die damals kein Mensch für möglich gehalten hätte. Hier richtete Dr. Dammer an Schulze-Delitzsch das Ersuchen, sich zu äußern über das Verhältnis des Nationalvereins zu den Arbeitern. Schulze antwortete unter anderem, daß die Arbeiter sich allerdings um Politik kümmern sollten, aber, fuhr er fort, der Arbeiter, der so schlecht gestellt ist, daß er von der Hand in den Mund lebt, hat der Zeit und Sinn, sich um öffentliche Angelegenheiten zu bekümmern? Nein, wahrlich nicht! Die Befreiung aus dieser Armseligkeit des Daseins sei für jeden Volksfreund und für Deutschland ganz besonders eine große nationale Aufgabe. Und rechte Arbeiter, die ihre Ersparnisse dazu verwendeten, ihre Lage zu verbessern, »die begrüße ich hiermit im Namen des Ausschusses als geistige Mitglieder, als Ehrenmitglieder des Nationalvereins«.
Diese Rede machte in den Kreisen der radikalen Arbeiter böses Blut, sie zeigte, daß der Nationalverein sich die Arbeiter als Mitglieder fernhalten wollte, darum lehnte er die Zahlung von Monatsbeiträgen ab. Als dann kurz nach jener Versammlung eine neue Deputation nach Berlin ging – Dr. Dammer, Fritzsche, Vahlteich – , blieb diese über die Gesinnung der maßgebenden Persönlichkeiten gegenüber den Arbeitern nicht mehr im Zweifel. Da war es der junge Ludwig Löwe, der Gründer der bekannten Waffenfabrik Ludwig Löwe & Co., der die Deputation zu Lassalle führte. Hier fanden die drei, was sie suchten: Verständnis für ihre Forderungen und bereitwilliges Entgegenkommen. Mit Lassalle wurde verabredet, daß der Arbeiterkongreß weiter hinausgeschoben werden solle, bis er (Lassalle) seine Ansichten über die Stellung der Arbeiter in Staat und Gesellschaft in einer besonderen Broschüre niedergelegt habe, deren Verbreitung das Leipziger Zentralkomitee übernehmen solle.
Ich möchte hier bemerken, daß der Wandel bei den maßgebenden Personen in der Leipziger Bewegung äußerlich sich ziemlich rasch vollzog, und man ihnen deshalb gegnerischerseits den Vorwurf der Wankelmütigkeit und Unklarheit machte. So war noch im November 1862 in einer großen Arbeiterversammlung auf Antrag Fritzsches beschlossen worden, ein Komitee für die Gründung eines Konsumvereins niederzusetzen. Und Anfang Februar 1863, also zu einer Zeit, in der man bereits mit Lassalle in Verbindung stand, berichtete Fritzsche über eine Reise nach Gotha und Erfurt, über die dortigen Konsumvereine und beantragte die Gründung eines solchen für Leipzig. Einen Beschluß hierüber verhinderte Vahlteich, der erklärte, das Zentralkomitee habe die Frage bereits in Erwägung gezogen. Das war von ihm sehr klug gehandelt, denn es hätte sich merkwürdig ausgenommen, einen Konsumverein in Leipzig zu einer Zeit zu gründen, in der Lassalle bereits über seinem Antwortschreiben saß, in dem er bekanntlich die Konsumvereine als vollständig wertlos für die Hebung der Lage der Arbeiter hinstellte.
Auch Vahlteich war um jene Zeit noch in vergleichsweise friedlicher Stimmung. Ende 1862 veröffentlichte er in der Leipziger »Mitteldeutschen Volkszeitung« einen langen polemischen Artikel gegen Angriffe, die gegen das Zentralkomitee erhoben worden waren, in dem er ausführte: daß die Pflicht gegen die zu erstrebende Zukunft der Arbeiter gebiete, die höchste Mäßigung zu beobachten. Dagegen ging Vahlteich in dieser Erklärung schon über Lassalle, der noch von einem Arbeiterstand sprach, hinaus, indem er den Satz aufstellte: Einen besonderen Stand bilden die Arbeiter nicht, aber eine durch die faktischen Verhältnisse geschaffene Klasse. Mit dem Erscheinen des Lassalleschen Antwortschreibens trat allerdings eine vollständige Frontveränderung der Führer ein. Ihnen daraus einen Vorwurf zu machen, wäre verfehlt. In gärenden Zeiten treten Gesinnungswandlungen rasch ein. Der Denkprozeß wird beschleunigt. Drei Jahre später, als Deutschland der Katastrophe von 1866 entgegeneilte, erging es mir und vielen meiner damaligen Gesinnungsgenossen ganz ähnlich. Die rasche Wandlung von einem Saulus zu einem Paulus vollzieht sich auch ohne Wunder immer wieder.
Ich war Anfang November 1862 aus dem Zentralkomitee ausgeschieden. Meine Stellung im Gewerblichen Bildungsverein nahm meine Zeit, meine Kraft und mein Interesse im höchsten Maße in Anspruch. Da ich Abend für Abend, falls nicht eine Arbeiterversammlung oder eine Komiteesitzung mich abhielt, im Verein zubrachte, lernte ich die Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder besser kennen als die Vorsitzenden des Vereins. So wurde ich bald der fleißigste Antragsteller in den Ausschußsitzungen und Monatsversammlungen. Meine Anträge konnten fast regelmäßig auf Annahme rechnen. Dadurch wurde mein Einfluß ein großer. Zu jener Zeit war ich aber noch Arbeiter, das heißt ich mußte von morgens 6 bis abends 7 Uhr an der Drehbank stehen mit Unterbrechung von im ganzen zwei Stunden für die Einnahme der Mahlzeiten. So wurde meine allzu große Tätigkeit nach verschiedenen Richtungen auch zu einer Geldfrage. Außerdem erschienen mir die im Komitee und in den Versammlungen gepflogenen Debatten sehr unklar und zwecklos, dadurch wurde mir der Austritt aus dem Komitee erleichtert.
Am 6. Februar 1863 hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit Vahlteich. Dieser war für den Vorwärts, ich für den Gewerblichen Bildungsverein Delegierter beim Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins. Bei dem gemeinschaftlichen Essen hielt Vahlteich eine provokatorische Rede, in der er in alter Weise ausführte, daß die Arbeiter wohl politische und humanitäre Bildung sich aneignen, nicht aber auch Elementarbildung pflegen sollten. Diese letztere den Arbeitern zu gewähren sei Sache des Staates. Er brachte auf die erstere ein Hoch aus. Das rief mich auf den Plan. Ich polemisierte gegen ihn und brachte ein Hoch auf die allgemeine Bildung aus. Unser Auftreten machte natürlich keinen erfreulichen Eindruck, aber auf die Vahlteichsche Provokation konnte ich nicht schweigen, um so weniger, da der Dresdener Verein die gleichen Ziele verfolgte wie der unsere.