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Während jetzt in Hamburg die Begebenheiten, die wir uns zu schildern vorgesetzt haben, einen Verlauf nehmen, der für die darin verwickelten Personen in kurzer Frist eine verhängnißvolle Entscheidung herbeiführen muß, bereitet sich auch in der Villa des Grafen Landeck am Silsersee eine jener Katastrophen vor, die, wie die Meilenzeiger an der Fahrstraße, auf dem menschlichen Lebenspfade die großen Hauptabschnitte bezeichnen, in die unsere irdische Reise zerfällt.
Wir wissen, daß Hugo unter dem Einfluß eines Dranges nach Abwechslung und Thätigkeit sich alle Tage vorsetzte, der freundlichen Villa und ihren liebenswürdigen Bewohnern Lebewohl zu sagen, und dennoch nicht dazu gelangte, diesen Entschluß zur Ausführung zu bringen. Man wird uns nicht sagen, daß dieses Hin- und Herschwanken einem so schnell entschlossenen Manne wenig gezieme; denn, um rasch zu handeln, muß ein bestimmtes Ziel in's Auge gefaßt sein. Ein solches fehlte ihm aber, und er war sich deutlich bewußt, daß das Verlangen, durch den aufregenden Einfluß schnell wechselnder Umgebungen und Erlebnisse den bittern Schmerz zu betäuben, der sein Inneres erfüllte, ein vergebliches Hoffen sei, das nie in Erfüllung gehen konnte. Ob nicht auch ein anderer Einfluß ihn zu beherrschen begann, wodurch seine Unschlüssigkeit noch vermehrt wurde, darüber vermochte er sich selbst noch keine Rechenschaft zu geben; umso mehr aber müssen wir uns eines bestimmten Urtheils darüber enthalten. Nur so viel dürfen wir behaupten: Wäre Hugo im Stande gewesen, Louise zu vergessen und die Liebe, die er von Kindheit an für sie gehegt, ungetheilt auf Amalien zu übertragen, dann hätte er ohne Rücksicht auf ihren höheren Stand, der vielleicht manchem Anderen als ein unübersteigliches Hinderniß erschienen wäre, mit der ihm innewohnenden Zuversicht und Freimüthigkeit um ihre Gegenliebe geworden. Oder hätte er in ihren Gefühlen für ihn mehr als eine bloße, noch halbkindliche Hingebung gesehen und sich zugleich sagen müssen, daß er ihre Liebe nicht im vollsten Maße erwiedern könne, so hätte er ohne Zögern einen Ort verlassen, wo sein längeres Verweilen dem jungen Mädchen nur verderblich werden konnte. Aus seinem Bleiben können wir also schließen, daß die in seinem Herzen sich bekämpfenden Gefühle noch zu sehr einander das Gleichgewicht hielten, als daß ihm ein ruhig prüfender Blick in sein eigenes Innere, noch weniger aber in das einer anderen Persönlichkeit möglich gewesen wäre.
Uebrigens hatte dieser Zustand der Unschlüssigkeit nicht so gar lange gedauert, wie der geneigte Leser vielleicht annehmen möchte, der sich, seit wir die Villa verließen, mit uns in anderen Kreisen bewegt hat, und den Zeitverlauf nach den dort erlebten Ereignissen zu ermessen geneigt sein dürfte. Diese Begebenheiten trugen sich aber ungefähr gleichzeitig zu, und seit der gefahrvollen Segeltour auf dem Silsersee, von welcher sich die zunehmende Unruhe und Gemüthsbewegung Hugo's datirte, waren noch keine vierzehn Tage verflossen. Wie kurz dieser Zeitraum auch war, er war hinreichend gewesen, um in der gegenseitigen Beziehung der beiden jungen Leute zu einander eine große Veränderung hervorzurufen. Mit jedem Tage war es ihnen schwerer geworden, einander gegenüber den heiteren, unbefangenen Ton zu treffen, der ihrer Unterhaltung früher einen so hohen Reiz verlieh, und besonders war es Amalie, die, noch unerfahren in der schweren Kunst der Selbstbeherrschung, ein oft unsicheres, schwankendes Benehmen zeigte, das bei der Innigkeit und Lebhaftigkeit ihrer Gefühle nicht selten ganz plötzlich von stiller Wehmuth zu lauter Ausgelassenheit, von sorglosem, kindlichem Sichgehenlassen zu einer übertriebenen Sprödigkeit und Empfindlichkeit übersprang und so den Schein einer Launenhaftigkeit annahm, die sonst ihrem Charakter völlig fremd war.
Hätten Hugo's Gedanken nicht oft in weiter Ferne verweilt bei einem anderen theuren Wesen, an welchem er, trotz der vermeintlich an ihm begangenen Untreue, mit ganzer Seele hing; hätten sie sich dagegen ausschließlich mit Amalien beschäftigt, und sich weniger der Vergangenheit, mehr der Gegenwart zugewandt; hätte er, mit einem Wort, ein unbefangenes Urtheil gehabt über Alles, was in ihm und um ihn her vorging, so wäre, was sich ihm bereits als unabweisbare Vermuthung über Amaliens Gefühle aufgedrängt, zur völligen Gewißheit für ihn geworden, und manches unzweideutige Zeugniß ihrer Liebe hätte einen unwiderstehlichen Eindruck auf ihn geübt; bei der Kälte aber, mit der er nicht selten ein solches entgegennahm, konnten unmöglich kleine Verstimmungen ausbleiben, die oft nur Stunden, aber mitunter ganze Tage lang wie trübe, die Sonne verhüllende Nebel über dem kleinen Kreise schwebten. Einzelne Beispiele von diesen Verstimmungen möge es uns gestattet sein, zum besseren Verständniß des hier Gesagten anzuführen. Für den See hatte Comtesse Amalie – wir errathen leicht, mittelst welcher Ideenverknüpfung – in letzter Zeit eine große Vorliebe gefaßt. Oft überredete sie die Eltern und Hugo zu kleinen Lustfahrten auf demselben, öfter aber streifte sie allein am Gestade umher oder bestieg das kleine Ruderboot, nahm die eigens für sie von dem ritterlichen Jacob angefertigten, höchst zierlichen Ruder zur Hand, und ergötzte sich damit, längs dem hier mit Schilf bewachsenen Ufer hinzufahren, sich irgend ein sonniges Plätzchen im Röhricht auszusuchen und sich, indem sie das Boot in eine leicht schaukelnde Bewegung setzte, auf den Wogen und zugleich in ihren Träumereien zu wiegen. Hin und wieder konnte sie auch ihrer Neigung nicht widerstehen, weiter hinauszurudern, und wenn dann ein frischer Wind über die Fläche strich, und die Wellen sich hoben und schäumend überstürzten, dann fand das muthige Mädchen einen wahren Genuß darin, ganz auf eigene Hand ein kleines Seeabenteuer zu bestehen und ihre schwachen Kräfte mit denen des gewaltigen Elementes zu messen.
So war sie eines Nachmittags – Hugo hatte ihr kurz vorher einen Strauß herrlicher Alpenrosen gebracht, der ersten, welche die Jahreszeit spendete, und sie dadurch überglücklich gemacht – wieder einmal weiter als gewöhnlich hinausgerudert, als sich plötzlich ein ziemlich heftiger Wind erhob. Er blies vom Lande her, wohin sie jetzt eifrig zurückzurudern begann, und es wurde ihr schwer, das Boot Wind und Wellen entgegen vorwärts zu treiben. Sie arbeitete mit allem Aufwand ihrer Kräfte und dennoch, so schien es ihr, kam sie kaum vom Fleck. Endlich begann sie zu ermüden, sie mußte oft innehalten und verlor dann wieder fast so viel Raum, als sie eben mühsam gewonnen hatte. Zuletzt mußte sie sich entschließen, statt nach dem Landungsplatze bei der Villa zurückzukehren, was sie als unmöglich erkannte, einer kleineren, viel näheren Bucht zuzurudern. Da plötzlich, als sie diese neu einzuschlagende Richtung in's Auge faßte, erblickte sie Hugo, der an eben dieser Bucht auf einem niedrigen Felsenvorsprunge stand und unverwandt nach ihr hinsah. Ihr Herz schwoll vor Entzücken, als sie seiner ansichtig wurde; denn nun war ja keine Gefahr für sie vorhanden, oder richtiger, wäre eine noch größere vorhanden gewesen – fast wünschte sie es – wie herrlich, von ihm daraus errettet zu werden.
Aber er sollte sehen, wie stark, wie beherzt sie sei, wie sehr sie durch eigene Kraft und eigene Geschicklichkeit der Gefahr zu trotzen im Stande wäre. Sie fühlte jetzt keine Ermüdung mehr und griff wieder kräftig in die Ruder. Ihre Wangen glühten, freudig strahlten ihre Augen, während sie das kleine Boot allen Hindernissen zum Trotz schnell vorwärts trieb. Wo war jetzt die Entmuthigung, die schon ihr Herz zu beschleichen begonnen hatte? Seine Blicke ruhten ja auf ihr; er würde sie loben, vielleicht auch ein wenig bewundern, wie sie ihn damals bewundert hatte, als er für ihre und der Ihrigen Rettung seine ganze Kraft aufbot.
So näherte sie sich rasch der Bucht. Das Wasser war hier ruhiger, denn die Heftigkeit des Windes wurde von der hohen Küste gebrochen, und pfeilschnell flog jetzt das leichte Fahrzeug dahin, während ihr Herz in Erwartung der freudigen, anerkennenden Worte, die er ihr nun bald zurufen würde, jubelte; denn gewiß, er war um sie besorgt gewesen und jetzt hoch erfreut, sie außer Gefahr zu wissen. Aber kein lauter Beifallsruf begrüßte sie, und als sie ihm nun so nahe war, daß sie in seinen Zügen den Ausdruck seiner Empfindungen lesen konnte, sah sie darin nur kalten, strengen Ernst.
»Wollen Sie zu mir in's Boot kommen,« rief sie ihm zu, als sie unter den Felsen hinfuhr, auf welchem er ruhig und unbeweglich stand, »und mir helfen, die Landungsbrücke zu erreichen, denn meine Kräfte sind erschöpft.«
»Streichen Sie, Comtesse,« entgegnete er, »jetzt nur noch ein wenig steuerbord! – Nun werfen Sie mir das Tau zu!«
Amalie that, wie er ihr geheißen; noch immer glaubte sie, daß er in das Boot steigen würde, so bald er es an das Ufer gezogen hätte.
»Steigen Sie aus, Comtesse Amalie,« sagte nun aber Hugo kurz, »reichen Sie mir die Hand.«
»Wollen wir denn nicht nach der Landungsbrücke zurückkehren?« fragte erstaunt und verletzt das junge Mädchen.
»Nein,« entgegnete er in einem entschiedenen Tone, »der Wind ist zu heftig und binnen weniger Minuten kann er zum Sturm anwachsen. Steigen Sie also aus. Das Boot können wir hier anbinden, und Jacob soll es später zurückrudern.«
Amalie stieg nun mit Hugo's Hülfe aus dem Boot, und dieses wurde an den Stamm einer jungen Kiefer, die hier aus einer Spalte des Gesteins emporgeschossen war, befestigt.
»Sie gehen ohne Zweifel nach Hause, Comtesse?« fragte Hugo.
Ein kurzes »Ja« war die Antwort.
»Wollen Sie mir erlauben, Sie zu begleiten?«
Amalie neigte bejahend den Kopf und sie schritten schweigend neben einander her. Ach, wie verschieden mochten die Gefühle, die ihr Herz jetzt durchtobten, von denjenigen sein, die es noch vor wenigen Augenblicken vor wonnigem Schauer erbeben ließen?
»Ich halte es für meine Pflicht, Comtesse Amalie,« begann endlich Hugo nach langem Schweigen mit wohl sanfter aber fester Stimme »Sie ernstlich vor diesen Ruderfahrten zu warnen. Sie sind zwar heute in keiner Gefahr gewesen; aber hätten Sie um eine Viertelstunde später die Landungsbrücke verlassen, oder wären Sie um fünf bis sechshundert Ellen weiter hinausgerudert, so hätte eine Gefahr eintreten können, der Sie nicht gewachsen sind; denn Sie sind so wenig eine Amazone wie Sie vermuthlich nach dem zweifelhaften Ruhme dürsten, eine solche zu werden.«
Also das war es, was er ihr zu sagen hatte? Er war also nicht im mindesten um sie besorgt gewesen, hatte gar keine Gefahr erblickt, da sie doch selbst einer solchen entronnen zu sein glaubte? Statt Freude über ihre Rettung, äußerte er nur Verdruß über ihre Unvorsichtigkeit und ihre Unweiblichkeit, statt ihre Kraft und Umsicht zu loben, hatte er für sie nur Warnungen, sich künftig nicht auf ihre eigenen geringen Hülfsmittel zu verlassen; ja, harte Rügen hatte sie hören müssen, als sei sie noch ein Kind, dem gute Lehren zu geben jedem Aelteren zustände. Nichts verdroß sie aber so sehr, wie von ihm als ein Kind behandelt zu werden. Die Röthe des Unwillens stieg in ihre Wangen, auf ihre Stirn, und sie entgegnete lebhaft und gereizt:
»Ich danke Ihnen, Herr Falkner, für Ihren ohne Zweifel wohlgemeinten Rath, bitte Sie aber zugleich im Voraus um Verzeihung, wenn ich etwa vergessen sollte, ihn zu befolgen.«
»Ich kann Sie nur,« erwiederte er ruhig und milde »in Ihrem und Ihrer Eltern Interesse recht herzlich und dringend bitten, sich keiner unnützen Gefahr auszusetzen.«
»Sehr richtig, mehr können Sie nicht thun, und, wie mir scheint, dürften Sie noch dazu, was die Form Ihrer Bitte betrifft, gewissen Beschränkungen unterworfen sein.«
»Wenn ich mir Aeußerungen erlaubt habe, Comtesse, die Sie beleidigt haben, so hat nur das lebhafte Verlangen, Sie vor jeglicher Gefahr zu schützen, mich dazu hinreißen können; es thut mir leid, und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Amalie gab keine Antwort, sie zeigte sich ganz als die Comtesse, wie in der letzten Zeit nicht selten, und Hugo zuckte leicht die Achseln.
Sie hatten einen kleinen, vor ihnen liegenden Wald noch nicht ganz erreicht, als ein gewaltiger Wirbelwind über ihre Häupter dahersauste und zwar mit solcher Plötzlichkeit und ungeheuren Macht, daß Amalie, ihre üble Laune schnell vergessend, erschrocken den Arm erfaßte, den ihr Hugo bot, und sich fest an denselben anklammerte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit donnerndem Getöse fuhr der Sturm durch den Wald, die schlanken Föhren beugten ächzend ihre hohen Gipfel unter der Wucht, und ihr dichtes Laubwerk wogte rauschend auf und ab, während hie und da dürre Aeste krachend zu Boden fielen.
Amalie hob das Köpfchen zu ihrem Begleiter empor und unwillkürlich begegneten sich ihre Blicke. Doch Hugo's Zartgefühl sträubte sich dagegen, seinen Triumph in ihren Augen zu lesen, er senkte die seinigen. Sie dankte ihm aber nicht nur im Stillen für seinen Edelmuth, sie sah ihm mit jenen bezaubernden Ausdruck von Unterwürfigkeit und Hingebung in's Gesicht, der für ihn etwas so unaussprechlich Rührendes hatte, und sagte schüchtern:
»Sie hatten Recht, Falkner, mich zu schelten, Recht wie immer. Dieser Windstoß hätte mich in große Gefahr gebracht. Ich will es auch gewiß nicht wieder thun, wie die Kinder sagen, wenn sie unartig gewesen sind; aber dann dürfen Sie auch nicht mehr brummen; hören Sie?«
Hugo mußte lächeln, er mochte wollen oder nicht, und der Friede war wieder hergestellt. Ach, wie süß sind nicht diese kleinen Mißhelligkeiten zwischen Liebenden; denn wie süß ist nicht die Versöhnung. Amalie fühlte es tief. Sie war jetzt wieder so munter und fröhlich, wie vorhin, und unter heiterem Geplauder setzten Beide ihren Weg fort.
Der Friede war wieder hergestellt, sagten wir; aber leider war er es nur auf kurze Zeit. An einer früheren Stelle glauben wir erwähnt zu haben, daß Comtesse Amalie eine schöne Stimme besaß und die Nationallieder ihres Landes mit bezaubernder Anmuth und Einfachheit vortrug, sowie auch, daß Hugo, der selbst musikalisch war, sie oft Abends zum Singen aufforderte und ihr dann mit dem unverkennbarsten Wohlgefallen zuhörte. Nun hatte die junge Comtesse vor einiger Zeit aus Innsbruck ein Paquet neuer Noten erhalten und unter diesen eine Arie gefunden, die ihr besonders zusagte. Sie war aber sehr schwer, diese Arie, und es hatte ihr unendliche Mühe gekostet, sie während der Morgenstunden, wenn Hugo mit ihrem Vater und dem jungen Baron Berkheim, der auf Besuch gekommen war, weite Spaziergänge unternahm, gewissenhaft einzuüben. Aber sie ermüdete nicht in ihren eifrigen Bestrebungen, auch die größten Schwierigkeiten zu überwinden; denn gewiß, es würde ihn freuen, von ihr ein so brillantes Musikstück zu hören, da er ja schon an: »a Sträußli will i pflücke« und »Auf der Alm, da is a Freud« so großen Gefallen gefunden hatte.
Noch am Abend des nämlichen Tages, an welchem sich das eben Erzählte zutrug, wagte sie es endlich die so mühsam einstudirte Arie zu singen. Es war die der Agathe im Freischütz:
»Und ob die Wolke sie verhülle,
Die Sonne bleibt am Himmelszelt u. s. w.«
Hugo stand, wie es seine Gewohnheit war, neben dem Flügel an die Wand gelehnt und lauschte den glockenreinen Tönen der zwar schönen und ansprechenden, aber für eine Bravour-Arie wie diese doch bei weitem nicht ausreichenden Stimme. Sein Blick ruhte auf der lieblichen Gestalt der jungen Sängerin, er sah in ihren schönen Zügen den Widerschein der gehobenen Stimmung, welche der Zauber der herrlichen Weberschen Musik in ihr hervorrief; er sah, wie ein höheres Roth ihre zarten Wangen färbte und ihr Busen sich hob und senkte, als habe er nicht Raum genug für die Begeisterung die ihn erfüllte. Hätte er einen Blick in ihr Herz werfen können, so hätte er darin auch noch ein wenig Stolz über ihre Leistung gesehen und das brennende Verlangen nach dem, wie sie meinte, wohlverdienten Lobe.
Die letzten Accorde verhallten, sie blickte mit strahlendem Auge zu ihm auf; aber wieder, wie am Nachmittag, sah sie in ein ernstes, ruhiges Gesicht, in welchem keine Spur des Entzückens zu lesen war, das hervorzurufen sie so innig gewünscht, so sicher gehofft hatte. Kein Wort des Beifalls ertönte aus seinem Munde.
»Sie kennen natürlich die Arie und werden sie wohl recht oft gehört haben?« fragte nach einer für sie peinlichen Pause das enttäuschte Mädchen.
»Ich hörte sie in London von der Jenny Lind und vor nicht langer Zeit in Brüssel von der Sonntag,« war die lakonische Antwort.
»Dann allerdings kann Ihnen meine stümperhafte Leistung nicht genügen.«
»Wenn Sie mir erlauben wollen, Comtesse, meine Meinung zu äußern, so gesteh' ich Ihnen offen, daß ich weit lieber die einfachen aber reizenden kleinen Lieder von Ihnen höre, mit welchen Sie uns zu erfreuen so oft die Güte hatten, als solche rauschende Theater-Arien, mit welchen unsere jungen Stadtdamen sich abmühen, glänzende Knalleffecte zu erzielen.«
Amalie schlug das Notenbuch mit ein wenig mehr Heftigkeit zu, als es gerade unumgänglich nothwendig war, erhob sich von dem zierlichen, gestickten Tabouret, das dabei – wir wissen nicht recht, wie es kam – umfiel, und verließ den Flügel ohne Hugo einer Antwort oder auch nur eines Blickes zu würdigen. Er sah ihr mit einem kaum wahrnehmbaren, ruhigen Lächeln nach, hob das Tabouret wieder auf und stellte es auf seinen früheren Platz. Den ganzen Rest des Abends hatte Amalie für ihn nur kurze, einsilbige Antworten, für den Vetter Berkheim aber manch freundliches Wort und süßes Lächeln. Auch der folgende Tag verlief in dieser Weise, doch hatte jetzt Amalie Zeit gehabt sich die Sache zu überlegen. Sei er nicht um so achtungswerther, fragte sie sich, je weniger er sich herablasse, gegen seine Ueberzeugung leere Schmeichelworte zu sprechen, die ja doch nur dazu dienen könnten, ein wirkliches Lob, wenn er ja zu einem solchen sich veranlaßt fühlte, abzuschwächen? Und konnte sie in der That auch ein Lob beanspruchen? Hatte sie sich nicht einer Aufgabe unterzogen, deren würdige Lösung selbst einer Sängerin vom Fach schwer fallen mußte, und wäre demnach sein Beifall nicht eine Ermunterung gewesen, auf einem Wege weiterzugehen, den sie von vornherein nicht hätte betreten sollen? O, er hatte wieder Recht gehabt, und die verwünschte Arie, die ihr jetzt geradezu verhaßt war, wollte sie nie, nie wieder singen. So setzte sie dem kleinen Hochmuthsteufel, der in ihrem Herzen hauste, so lange zu und bearbeitete ihn so kräftig, bis er sich endlich ganz verdutzt und beschämt in ein winziges, verborgenes Eckchen zurückzog und nicht mehr zu mucksen wagte. Und als nun am Abend nach dem Thee Hugo sie recht freundlich und eindringlich bat, ein wenig zu musiciren, setzte sie sich an den Flügel, und »a Sträußli will i pflücke« war noch nie so volltönig und anmuthig über ihre rosigen Lippen gegangen wie jetzt. Ein Blick seines Auges war Dank und Lohn in reichlicher Fülle, und wieder pochte das junge Herz von überströmender Freude. So glich das Verhältniß zwischen Hugo und Amalien dem Monat April, der zwar mit seinem warmen Sonnenschein Tausende von Keimen aus der Erde lockt und Tausende von farbigen Blüthen entfaltet, welche die Luft mit würzigem Wohlgeruch erfüllen, aber auch manchen Gewittersturm über die grünenden Fluren hinsendet und mit seinen Nachtfrösten oft die zarten Triebe zu tödten droht.
Daß die beiden jungen Leute und das Verhältniß, welches, wie sie wohl annehmen zu dürfen glaubten, zwischen ihnen sich heranbildete, oft der Gegenstand geheimer Besprechungen und Berathungen zwischen dem Grafen und der Gräfin war, brauchen wir kaum zu sagen. Der Graf bestritt jetzt nicht mehr wie früher das Vorhandensein einer stets wachsenden Zuneigung, wenigstens von Seiten Amaliens; er hatte beide in letzterer Zeit genau beobachtet, und die Gräfin hatte ihm überdies ihre mannigfaltigen Vermuthungen und Folgerungen so oft wiederholt, daß er Hugo bereits als seinen künftigen Schwiegersohn betrachtete; denn was ist man auch geneigter zu glauben, als was man wünscht! Von jenen Symptomen, die sich der Gräfin in ihrem erfahrungsreichen Leben stets als die treuen Begleiter verliebter Jünglinge geoffenbart, entdeckte sie freilich bei Hugo keine Spur. Bei ihm war von keinem Liebäugeln, Seufzen und Aechzen die Rede, er lispelte keine zierlich gedrechselten Complimente und marterte seine Erfindungsgabe nicht, um Amalien alle Tage allerliebste kleine Aufmerksamkeiten zu erzeigen, er legte keine sentimental-süßlich-larmoyante Gemüthsverweichlichung an den Tag, erging sich nicht, so viel sie wußte, Abends im silbernen Mondenschein, zeigte keine plötzlich erwachte Passion für das Zitherspiel und wurde eben so wenig dabei ertappt, daß er kleine, mit »des Veilchens Traum« oder »Stille Sehnsucht,« überschriebene Ergüsse schwärmerischer Poetasterie auf rosenrothes Papier kritzelte. Auch gewahrte man an ihm durchaus nicht die Neigung, seine braunen Locken in der Mitte zu scheiteln und sie, wie ein Bologneserhündchen seine Ohren, zu beiden Seiten herabhangen zu lassen; er verrieth keine Vorliebe für lose umgeschlungene, schmale Cravatten und verschwendete nicht übertrieben viel an Parfümerien und wohlriechenden Seifen, ja, nicht einmal die sonst unvermeidliche Blässe lag auf seinen Wangen, noch weniger war eine Abnahme seines Appetites bemerkbar.
Nun müssen wir zwar der Gräfin die Gerechtigkeit widerfahren lassen, einzuräumen, daß sie bei Hugo von Herzen gern den Mangel an diesen Kennzeichen wahrer Liebe übersehen hätte, wenn es ihr nur sonst möglich gewesen wäre, aus einem so festen, ruhigen, sein Gleichgewicht nie verlierenden, seine Selbstbeherrschung nie verläugnenden Liebhaber klug zu werden. Daß er an Amalien ein großes Interesse nahm, ja, sie recht innig in's Herz geschlossen hatte, war ihr zwar unverkennbar, sie war überzeugt, daß er jederzeit bereit sein würde, für das Wohlergehen ihrer Tochter Alles zum Opfer zu bringen und mit Gefahr seines Lebens jede Gefahr von ihr fern zu halten.
Aber waren seine Gefühle für Amalie vielleicht nur die eines treuergebenen Freundes, eines Bruders? O nein! – sie sagte sich mit vollem Rechte, daß solche übersinnliche, alles Irdische verläugnende Empfindungen nur in dem kranken Gehirn eines überspannten Dichters, aber nimmer in der Wirklichkeit Wurzel fassen können. Liebe war es wirklich, was er für sie empfand, wenn auch eine Liebe ohne die gewöhnliche Beimischung von Sentimentalität. Hierbei blieb die Gräfin stehen, indem sie den weisen Entschluß faßte, der Sache ungehindert ihren freien Lauf zu lassen, statt den Mißgriff zu begehen, den sich die Mütter so oft zu Schulden kommen lassen, in das Vertrauen ihrer Töchter sich vorschnelle einzudrängen und durch Ausfragen und Abmahnen, kluge Rathschläge und Vorstellungen noch schlummernde Gefühle zu erwecken und noch formlose Phantasiegebilde in den Kreis reiflicher Erwägungen zu ziehen. Die sehr vernünftige Dame begnügte sich mit der Ueberzeugung, daß Amalie, wenn sie, sich selbst überlassen, ihre Empfindungen überprüft haben würde, um ihre wahre Natur zu erkennen, sich aus eigenem Antriebe und mit vollem kindlichen Vertrauen ihr in die Arme werfen würde, um ihr, der Mutter, Alles zu sagen, ohne auch nur das Geringste zu verhehlen. – Doch wir haben in der Villa einen Gast gefunden und halten es für geeignet, über ihn dem Leser einige Worte zu sagen. Baron Berkheim war der Neffe des Grafen, jener Neffe, dessen Verbindung mit ihrer Tochter – wie sich der geneigte Leser noch entsinnen wird – der Gräfin früher als so wünschenswerth erschienen war. Und die Gräfin hatte in der That nicht Unrecht, diese Verbindung als eine für Amalie Glückverheißende zu betrachten; denn der junge Baron, der in seinen Knabenjahren schon oft die Sommervacanz bei dem Grafen, seinem Onkel, verlebt und damals schon für seine schöne kleine Cousine eine kindliche, aber deshalb nur um so dauerndere Neigung gefaßt hatte, vereinigte in sich alle jene Eigenschaften, welche die Mütter am höchsten schätzen, denen das Wohl ihrer Töchter am Herzen liegt.
Hugo fand gleich von der ersten Stunde an ein großes Wohlgefallen an ihm, und wir kennen hinlänglich, um hieraus einen für den jungen Baron günstigen Schluß zu ziehen. Mit Hugo selbst hatte er zwar nicht die mindeste Aehnlichkeit! im Gegentheil lassen sich kaum entschiedenere Contraste denken, als diese beiden bildeten; denn Berkheim, ernst, sinnig, in sich gekehrt, trat höchst bescheiden, fast schüchtern auf und zeigte in Allem, was er sprach und that, jenes Mißtrauen gegen sich selbst, das nicht aus dem Mangel an moralischer Stärke und gereiftem Verstande hervorgeht, das vielmehr nur Solchen eigen ist, welche diese Eigenschaften in hinreichendem Maße besitzen, um der Gefahr der Selbstüberschätzung zu entgehen und Anderen gerecht zu werden.
Wenn wir hier über den jungen Baron ein großes Lob aussprechen, und ihn zugleich als den diametralen Gegensatz zu Hugo bezeichnen, so wollen wir damit doch selbstverständlich keinen Tadel gegen Hugo äußern, etwa als sei dieser eitel auf seine Vorzüge oder anmaßend in seinem Benehmen. Wir haben nur die Bescheidenheit, die aus einer unbeirrten Selbsterkenntniß hervorgeht, als eine lobenswerthe und liebenswürdige Eigenschaft charakterisiren wollen, wogegen wir das edle Selbstvertrauen und die feste Zuversicht, die aus dem vollen Bewußtsein inneren Werthes und vielfach erprobter moralischer Kraft und Ueberlegenheit entspringen, eine bewundernswerthe nennen möchten. Waren Berkheims Vorzüge aller Anerkennung würdig, eben weil sie sich bescheiden der Beobachtung entzogen, so waren es jene Hugo's gewiß nicht weniger, indem sie sich ohne alle Zurschautragung und Selbstüberhebung offen kundgaben.
Zwei solche Naturen, so verschieden sie immer sein mögen, verstehen sich leicht; sie haben gewissermaßen wie die entgegengesetzten Elektricitäten das Bestreben nach gegenseitiger Ausgleichung. Es darf uns daher nicht wundern, daß sich die beiden jungen Männer schneller als es sonst zu geschehen pflegt, einander mit der wärmsten Freundschaft anschlossen, obgleich es einerseits dem Baron eben so wenig entgehen konnte, welche Gefühle seine Cousine in der Tiefe ihres Herzens für Hugo berge, als anderseits diesem, wie sehr das des jungen Barons an dem schönen Mädchen hing.
Von Eifersüchteleien war in der That bei den beiden Männern gar nicht die Rede, bei Hugo nicht, weil, selbst wenn er Amalien alle Liebe gewidmet, die sein Herz zu fassen vermochte, sein offener und biederer Charakter doch jeder kleinlichen Empfindelei durchaus unzugänglich gewesen wäre; bei dem Baron nicht, weil er außerdem noch die stärker ausgeprägte Männlichkeit und höhere Genialität seines neuen Freundes willig anerkannte, und weil seine stille, nie geäußerte Zuneigung für die Cousine eine zu uneigennützige war, als daß er es ihr hätte verdenken mögen, daß sie einen Mann von so glänzenden Eigenschaften ihm vorzog. Daß Berkheim über das Scheitern seiner lang genährten Hoffnungen einen tiefen Schmerz empfand, wollen wir nicht in Abrede stellen; aber es war ein Schmerz ohne Bitterkeit, und seine Verzichtleistung war weder von dem Stachel beleidigter Eigenliebe noch dem Gifte des Neides und der Mißgunst begleitet.
Was die äußere Erscheinung des jungen Barons betrifft, so wollen wir nur sagen, daß dieselbe ohne gerade schön zu sein, in hohem Grade einnehmend war, und daß sein ganzes Benehmen die Eleganz und Anmuth zeigte, die nur eine sorgfältige Erziehung und die Vertrautheit mit den in gebildeten Kreisen üblichen Formen verleihen können. Namentlich in den ersten Tagen seines Verweilens in der Villa zeigte sich oft in des jungen Mannes Zügen eine auffallende Blässe und ein gewisser Zug von Abgespanntheit, doch dies waren keine Zeichen von Kränklichkeit oder gar von Blasirtheit, sondern vielmehr nur die Folgen des unermüdlichen Fleißes und der Anstrengung, mit welcher er seit langer Zeit seinen Studien obgelegen hatte. Das Studium aber, welches er sich erwählt, war das der Arzneikunde, das zwar seinen Familienverhältnissen wenig entsprach, um so mehr aber seinem ernsten, zur Forschung in dem weiten Gebiete der Natur sich hinneigenden Geiste. Ob er dabei nur einem inneren Drange gehorcht hatte, ohne zugleich den bestimmten Zweck in's Auge gefaßt zu haben, seine Kunst auch praktisch zu üben, darüber enthalten wir uns jedes Urtheils; genug, daß er sein Examen an der Universität zu München vor kurzem mit Auszeichnung bestanden hatte und nun der Einladung seines Onkels, einige Zeit das enge Studierzimmer und die Stadtmiasmen mit der freien, herrlichen Natur und der frischen Bergesluft zu vertauschen, freudig gefolgt war.
Wir müssen es für jetzt dahingestellt sein lassen, ob Amalie für ihren Cousin je andere Gefühle gehegt hatte, als die fast schwesterliche Zuneigung für einen nahen und lieben Verwandten. Aus ihrem jetzigen Benehmen gegen ihn waren keine sicheren Schlüsse zu ziehen; denn jetzt war ihr ganzes Fühlen und Denken ausschließlich von einem schönen und wonnigen Traum in Anspruch genommen, und nur was von diesem, ihr so neuen, herrlichen und mächtigen Zauber ausgehend, ihr Inneres durchdrang, nur das spiegelte sich auch in ihrem äußeren Wesen und Benehmen ab und warf auf ihre Umgebung seine hellen Reflexe. War sie gegen Berkheim ungewöhnlich freundlich, oder beachtete sie ihn weniger als sonst, oder schmollte sie manchmal sogar ein wenig mit ihm, so stand dieses stets im vollsten Einklange mit ihrer augenblicklichen Gemüthsstimmung und dieser lag wiederum eben so sicher irgend einer der kleinen Zwischenfälle zu Grunde, an denen, wie wir gesehen haben, ihr Verkehr mit Hugo so reich war. Wer möchte es übrigens einem jungen, lebhaften, in ländlicher Einfachheit und Abgeschiedenheit aufgewachsenen Kinde verdenken, daß es noch nicht die Selbstbeherrschung besaß, die nur durch eine lange Reihe von harten Prüfungen und bitteren Enttäuschungen gewonnen wird? Der Baron hingegen besaß sie in hohem Grade, mochte er sie nun auf diesem Wege erlangt haben, oder mochte sie ein Grundzug seines Charakters sein. Mit unerschütterlichem Gleichmuth und einer sich stets gleichbleibenden, sanften Ergebenheit ertrug er ihre schnell wechselnden Launen und nur ein stiller Seufzer entstieg manchmal seiner Brust, wenn er daran dachte, aus welcher Quelle sie flossen.