Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Paul Siebenhaar hatte eine Glatze und trug eine Perücke. Er hieß eigentlich Alfred Leitner und war Ingenieur gewesen. Der Weltkrieg schleppte ihn in die Gefangenschaft, in ein sibirisches Lager. Der Zufall befreite ihn aus diesem Lager und machte ihn für einige Jahre zur Zierde der Tscheka. Ich hatte ihn arbeiten sehen an der Wolga und an der Westfront, mich interessierte das Problem der politischen Polizei außerordentlich, und jener Besuch bei ihm war sehr aufschlußreich. Die großen Paraden und Feste habe ich beschrieben, die Empfänge und Manifeste, den hinreißenden Rhythmus der Macht. Und auf was gründete sich diese Macht? Auf der Opferbereitschaft eines ganzen Volkes, und auch auf der dunklen Tiefe, in der die politische Polizei arbeitete.
Als Siebenhaar noch Leitner hieß, war er ein friedfertiger Mensch und sehnte sich aus dem sibirischen Lager nach Deutschland zurück. Er kam nicht nach Deutschland. Im Lager lernte er einen russischen Ingenieur kennen, der ihm Arbeit in der nahen Stadt verschaffte. Die Stadt war noch von den Weißen besetzt. Die Weißen wurden verjagt. Die Roten kamen und richteten sich langsam ein.
Der Handel ging unterirdisch und wurde immer mehr in die Tiefe gedrängt. Die Lebensmittelpreise stiegen, und das Leben war sehr kompliziert geworden, trotzdem es sich um ganz einfache Dinge drehte, um Essen und Trinken. Aber Siebenhaar, oder vielmehr Leitner, hatte Arbeit. Alles war für ihn überstanden, die weiße Besatzung, die rote Besatzung. Er war ein unpolitischer Mensch und lebte sein kleines, friedfertiges Leben. Eines Tages stieß er mit Fischer zusammen. Das war ein Agent der Tscheka und kam auch aus dem sibirischen Lager. Dort lebte er unter dem Namen Gabler. In jenen Zeiten nahm man es mit den Namen und der Nationalität nicht genau, heute hieß man so, morgen anders. Der Herr Fischer nun machte Leitner eines Tages mit einem gewissen Soslowski bekannt.
»Sehen Sie, lieber Leitner«, empfing ihn Soslowski. »Wir haben von Ihnen gehört und kennen Sie als gewissenhaften Menschen. Auf ihrem Amt ist man sehr zufrieden mit Ihnen. Sie haben gute Augen im Kopf. Die Sache ist nun die, uns fehlen gute Augen, Bürger! Da wurde unlängst in der Stadt eine Wohnung konfisziert und die Möbel, die für ein Kinderheim bestimmt waren, an Spekulanten verschoben. Andre Wohnungen, die für Arbeiter bestimmt waren, wurden Taugenichtsen gegeben. Überall ist bei uns noch Betrug im Spiel. Wollen Sie uns helfen? Jeder Bürger muß helfen! Da ist zum Beispiel ihr Amt, es soll nicht alles in Ordnung sein. Uns fehlen ja die Kräfte zum Aufbau! Kommen Sie doch in vierzehn Tagen einmal vorbei und berichten Sie, was Sie beobachtet haben!«
»Was kann ich beobachten«, antwortete Leitner, »ich bin ja Ausländer!«
»Wir kennen keine Ausländer. Sowjetrußland ist das Vaterland aller Proletarier!« sagte der Russe.
Leitner sagte zu, obwohl er von diesem Auftrage nicht entzückt war. Soslowski war ein mächtiger Mann: Er gehörte zur Tscheka. Leitner hatte Angst vor der Tscheka. Und als er nach vierzehn Tagen wiederkam, gab es keinen Soslowski mehr. Er war verhaftet worden bei dem kühnen Versuch, die Wahrheit zu korrigieren. Er hatte eine kleine Lumperei zur Staatsaktion aufgeblasen und ließ zweihundert Leute, angeblich Offiziere, verhaften. Es kam heraus, daß die Verhafteten alles waren, aber keine gegenrevolutionären Offiziere.
Der Deutsche freute sich, die üble Geschichte los zu sein, aber er freute sich zu früh. Am nächsten Tage flog ihm ein Befehl ins Haus, der zu einer Besprechung ins Hotel »Amerika« rief. Unterzeichnet war der Zettel mit dem Namen: H. Kobbe. H. Kobbe war ein Lette mit schief gestellten Augen, die unruhig durch die Welt wanderten, um Zusammenhänge oder Verschwörungen zu entdecken, die gewöhnlichen Augen unsichtbar blieben. Er war der Chef aller Kundschafter der Tscheka und begrüßte Leitner als Mitarbeiter. Das erste Honorar, fünfundzwanzig Dollar, stellte er sofort für einen noch ungeschriebenen Bericht zur Verfügung. Leitner nahm das Geld und war gefangen.
Er war gefangen und verstrickte sich immer mehr in das Netz. Er bemerkte bald, daß sein Amt von Spitzeln wimmelte. Der Verwalter des Fuhrparks war ein Spitzel, das hübsche Bürofräulein diente der politischen Polizei, einer mißtraute und überwachte den ändern. Zuerst bekam Leitner ein Zimmer im Hotel »Sibirien« angewiesen. Er« lieferte einen unwichtigen Bericht, der Lette war erfreut und zahlte gut.
»In den nächsten Tagen, lieber Freund, machen wir einen ganz großen Schlag«, sagte er. »Wir rechnen auf Ihre Beihilfe. Der Verwalter wird Sie noch informieren. Aber Sie müssen sich einen anderen Namen zulegen, Leitner. Und eine Perücke. An der Glatze erkennt Sie jedes Kind. Wie wollen Sie sich nennen?«
Leitner dachte nach und sagte: »Paul Siebenhaar.«
»Warum nicht Glatzkopf?« lachte der Lette.
Aber es blieb bei dem Namen. Und eines Tages kam Wolgarin, der andere Spitzel im Amt und sagte:
»Nun, Genosse, morgen brauche ich dich. Komm gegen acht Uhr in mein Zimmer und sei mein Gast.«
Siebenhaar kam.
Ein großer Tisch war mit allen Delikatessen beladen, es gab Weißbrot, Butter, Kaviar, Lachs, Wein und Schnaps. Der Russe liebt viele Dinge: Philosophie, Politik, Musik und Tanz, aber er liebt auch Essen, Trinken, die Frauen und den Leichtsinn. Bald kamen die ersten Gäste mit ihren Damen. Wolgarin empfing sie großartig und bat, Platz zu nehmen. Er stellte Siebenhaar als einen vertrauten Freund vor.
Dann setzte er sich neben einen alten, aristokratisch aussehenden Herrn. Seine junge Frau beschäftigte sich mit einem hübschen Offizier. Der Mann kippte fünf Gläser Wodka hinunter und machte dann Liebeserklärungen. Man aß und trank, lachte und scherzte, sprach vom Krieg und von vergangenen, schöneren Zeiten. Manchmal wagte sich auch die Hoffnung auf einen neuen Umsturz schnell und nackt empor, Wolgarin und seine Frau schienen taub zu sein. Sie lachten nur, tranken ihren Gästen zu und drängten das Gespräch auf gefährlichen Boden. Alles lachte und trank, auch die Damen lachten und tranken.
Als die Tafel aufgehoben wurde, gruppierte man sich um den alten Herrn. Die jungen Leute aber blieben bei ihren Damen. Dann verstummte alles, das ernste Gespräch, das heitere Gelinter: Eine Dame saß am Flügel und musizierte. Aber die Musik war nicht mächtig genug, die ernsten Männer von ihren gefährlichen Gesprächen abzuhalten. Die Uhr schlug die elfte Stunde an. Da erhob sich Frau Wolgarin, ging nach dem Wandschrank und wollte eine neue Flasche Likör holen. Als sie das Schränkchen verschloß, strauchelte sie. Die Flasche klirrte auf den Boden. Und dann wurde die Tür aufgerissen, zehn Geheimagenten brachen in das Zimmer ein und kommandierten:
»Hände hoch. Sie sind verhaftet!«
Alle wurden verhaftet, Siebenhaar, Wolgarin, seine Frau und die Gäste. Bis zur Tscheka war es nicht weit. Die Tschekisten kamen frei, die anderen aber saßen in den einsamen Zellen. Es waren einige Militärs dabei, unter ihnen auch ein Brigadekommandeur der Roten Armee. Fünf von den Gefangenen wurden kurz darauf erschossen, die anderen in ein bekanntes Konzentrationslager überführt.
Was für eine Rolle hatte an jenem Abend Siebenhaar gespielt? Er spielte keine Rolle, er lernte nur die Technik der Tscheka kennen und wurde Mitwisser. Und jetzt wußte er schon zuviel, um frei das Land verlassen zu können. In den nächsten Tagen machte ihn Kobbe mit Kryloff, dem Chef der Tscheka, bekannt. Und so erfüllte sich sein Schicksal. Er bekam selbständige Aufträge und wurde bald berühmt und berüchtigt.
Der Anwaltsgehilfe Kryloff war ein Trinker. Sein Gesicht war bleich und aufgeschwemmt, unter den grauen Augen hingen schwere Säcke. Der Alkohol und die aufreibende Arbeit hatten ihn früh ruiniert. Er war siebenunddreißig Jahre alt und sah aus wie fünfzig. Siebenhaar bekam Arbeit. Sein Chef hieß Boris Nachtigall. Später wurde er selbst Chef seiner Abteilung. Dieser Nachtigall also gab ihm einen Stoß unerledigter Akten und sagte:
»Vielleicht wirst du aus dem Blödsinn klug, Genosse, wir haben nichts gefunden. Es handelt sich hier um das Arsenal.«
Aus den Akten war zu ersehen,, daß aus dem Arsenal einige hundert japanische Gewehre gestohlen waren. Ein Kundschafter wollte einer geheimen Verschwörung auf den Spuren sein, die sollte mit dem Waffendiebstahl und auch mit den gegenrevolutionären Zeitungen zusammenhängen, die hier und da verteilt wurden. Um dem neuen Mann Bewegungsfreiheit zu gebe hatte man ihm ein kleines Haus am Rande der Stadt zur Verfügung gestellt. Es war dasselbe Haus, in dem wir nun saßen und seine Geschichten hörten. Ruhla war entsetzt und verbarg nur sehr schwer ihren Widerwillen. Siebenhaar merkte nichts, vielleicht war er heimwehkrank, vielleicht verfolgen ihn Gespenster, als er erzählte.
Der neue Auftrag reizte ihn sehr. Er teilte seine Leute ein und schickte sie über die ganze Stadt. Er selbst bummelte nach den Herbergen und mischte sich dort unter die Gäste. In den Herbergen wurde politisiert. Wenn der Magen vor Hunger knurrt, knurren auch die Gedanken. Die Atmosphäre war erregt Er hörte gut zu, und auf dem Heimweg kam ihm eine Erleuchtung. Zu Hause kleidete er sich noch einmal um, machte sich unkenntlich, steckte die Pistole in die Tasche und ging wieder zurück.
In der größten Herberge waren Soldaten einquartiert. Er ging nach dem Kontor, das zur ebenen Erde lag, gab sich als Vertreter des Verpflegungsamtes aus und verlangte nach dem Verwalter. Ein Kontorist erklärte, der Verwalter habe Nachtdienst und käme erst gegen neun Uhr, morgen aber sei er den ganzen Tag da.
»Schön«, sagte Siebenhaar, »ich komme also morgen gegen vier Uhr noch einmal vorbei.« »Ich richte es aus«, sagte der Kontorist. Am nächsten Tag ließ er sich melden und wurde vorgelassen. Er war ein gewissenhafter Detektiv und wurde von vielen Leuten für ein Genie gehalten. Er war kein Genie. Seine oft so verblüffenden Erfolge verdankte er in erster Linie nicht seinem Verstand. Der Instinkt trieb ihn auf die richtige Fährte. Es war, als wittere er Blut und Angstschweiß der von ihm gehetzten Kreatur. Und dann stand ihm viel Hilfsvolk zur Verfügung.
»Der Genosse Vorsteher läßt bitten«, sagte der Kontorist.
Er, betrat das Zimmer und sah einen Mann vor sich, der soldatisch aufstand und ihn um einen Kopf überragte. Sein Gesicht war ernst und hart, das Kinn selbstbewußt, der Bart militärisch aufgedreht.
»Was wünschen Sie?« fragte er und stellte sich vor: »Ich heiße Koschewnikoff.«
Siebenhaar sagte seinen Namen und erklärte, bei der Stadt seien viele Klagen über die Verwaltung der Herbergen eingegangen, er sei sozusagen als Revisor geschickt worden, um nach dem Rechten zu sehen und von den Verwaltungen eventuell Bestellungen entgegenzunehmen. Und ob im übrigen der Bürger gestatte, daß geraucht werde. Der Bürger gestattete es und sah neidisch auf die gute Zigarre.
»Sie haben noch Zigarren?« fragte er. »Ja, Sie auf dem Amt haben es gut. Ein prachtvolles Kraut!«
»Wollen Sie sich bitte bedienen?« sagte der Besuch und gab ihm das Etui. »Im übrigen, wenn Sie ein leidenschaftlicher Raucher sind, Bürger, will ich Ihnen gern zehn Stück verschaffen.«
Alles stand ihm zur Verfügung, dem Paul Siebenhaar: Zigarren, Wein, Wodka, Weißbrot, Kaviar, Lachs und Butter. Das waren überzeugende Hilfstruppen in jener Zeit des Hungers. Der Russe erbat sich zehn Zigarren und führte ihn dann durch die Herberge. Er trug auch eigne Wünsche für die Herberge vor, der Tschekist versprach ihre Erfüllung und deutete an, daß er für gute Freunde gern Verbindung zu unbekannten Geschäftsleuten schlagen könne. Als er das erzählte, sah er sich im Kontor um und erblickte in einer Ecke einige Gewehre. »Ja, wir haben auch Gewehre bei uns, Bürger«, sagte Koschewnikoff. »Hier liegen ja Soldaten. Aber die Jungens sind heute für eine Abendübung ausgerückt. Und hier ist mein Wunschzettel an die Stadt, ich hoffe, Sie werden mir alles liefern können. Und was die anderen Verbindungen anbetrifft, erwarte ich Vorschläge.«
»Das aber wollen wir später reden«, sagte der Gast, stand auf, ging nach der Ecke und nahm ein Gewehr. Es war ein japanisches Gewehr. Und japanische Gewehre waren aus dem Arsenal verschwunden! Er verabschiedete sich von dem Russen, schüttelte seine Hand und versprach, morgen wiederzukommen. Sollte Koschewnikoff mit der geheimen Organisation zusammenhängen? Ja, das sollte er doch herausfinden!
Er ließ das Haus überwachen und berichtete Kryloff von seinem Besuch. Es wurde abgemacht, dem Verwalter die gewünschten Lebensmittel erst dann zu liefern, wenn sich der Verdacht bestätigt hatte. Siebenhaar ging am späten Abend noch einmal nach der Herberge. Gegen Mitternacht kam der Verwalter, ihm folgte sein Kontorist. Die beiden Männer gingen nach dem Pferdemarkt. Der junge Mensch näherte sich einem Hause, klopfte dreimal schnell hintereinander, die Tür öffnete sich, ein Wagen rollte über den Markt und verschwand in einem anderen Hause. Siebenhaar näherte sich und hörte aus dem Hofe dumpfes Geräusch. Im schwachen Licht einer Laterne sah er Koschewnikoff aus einem Speicher kommen und Gewehre in dem Wagen verstecken. Auch eine große, schwere Kiste wurde aufgeladen.
Der Tschekist wußte genug. Und als der Wagen nach einer südlichen Vorstadt rollte und vor einem Hause abgeladen wurde, das schon lange unter polizeilicher Bewachung stand, lachte er leise vor sich hin, lief nach der Herberge, öffnete mit einem Nachschlüssel das Büro und sah, daß die japanischen Gewehre fehlten. Da wurde er heiter und aufgeregt. Er dachte keinen Augenblick daran, was nun kommen mußte: Verhaftung, Einkerkerung, Hinrichtung, er war heiter, denn er hatte seine Aufgabe gelöst. Und er hatte sich gar nicht anzustrengen brauchen. Das Glück, der Instinkt stießen ihn beinahe mit Fußtritten auf den richtigen Weg.
Noch in derselben Nacht begab er sich zu Kryloff. Er erstattete seinen Bericht. Kryloff sagte:
»Das nennt man schnell arbeiten, Deutscher! Meine Hochachtung! Die Waren stehen für morgen vormittag schon bereit. Liquidieren Sie die ganze Geschichte. Wenn Sie noch Leute brauchen, sagen Sie es.«
Und am nächsten Vormittag rief er Koschewnikoff an und sagte, daß er in einer Stunde schon mit den gewünschten Waren käme. Der Russe freute sich. Als die Wagen anrollten, stand Koschewnikoff am Fenster und lachte. Neben ihm lehnte ein junger Mensch in Rotgardistenkleidern. Plötzlich sagte er ganz laut zu dem Verwalter und zeigte auf Siebenhaar:
»Mein Gott, mein Gott, was sehe ich? Das ist doch der Stabsadjutant vom General Koltschak!«
Koschewnikoff fuhr zusammen und fragte: »Wer ist das?«
Der junge Mensch war verschwunden. Siebenhaar hatte sich diesen Trick ausgedacht. Nun trat er ins Zimmer, und der Verwalter Schlug militärisch die Hacken zusammen. Dann setzten sich die Männer. Der Vorsteher hatte seine Sicherheit wieder. Es gab Tee und Rum, und in einer Stunde wußte der Spitzel alle Organisationsgeheimnisse der Weißen. Ja, die illegalen Zeitungen gehörten dazu, die Waffendiebstähle, die Kuriere, und dann gab es auch in den nahen Dörfern viele Verbündete. Siebenhaar notierte sich im Hirn jedes Wort und war voll verächtlichem Mitleid.
Die Wagen wurden entladen, die Kutscher zurückgeschickt. Es waren Geheimagenten. Und zehn Minuten später kamen vier Tschekisten und verhafteten den Verwalter, den Bürodiener und auch Siebenhaar. Er wurde mit Koschewnikoff an eine Kette gelegt. In rasender Fahrt ging es nach dem Gefängnis.
Und vier Wochen später hatte Siebenhaars Frau Geburtstag. Kryloff und sein Stab waren als Gäste erschienen. Es wurde gelacht und getrunken, die Stimmung wurde sehr ausgelassen, und am Schluß schlug der Chef seinem Mitarbeiter auf die Schulter und sagte:
»Gratuliere zu deiner Frau, Bruderherz, ja... und was ich fragen wollte: Weißt du, was mit Koschewnikoff passiert ist? Nein? Nun, er hat sich tapfer gehalten, er war ein Proletarier und hat nichts verraten. Er hat uns nichts verraten, du Stabsadjutant! Weiß der Teufel, wie und warum er zu den Weißen gegangen ist! Und wir konnten ihm doch nicht öffentlich den Prozeß machen, er hätte schon ausgepackt, der Koschewnikoff. Unser Henker hat ihn vorige Woche auf der Toilette erschossen. In den Hinterkopf.«
Siebenhaar erzählte uns das ohne besondere Aufregung. Für ihn war das ja nur ein Fall aus vielen hundert Fällen, aber Ruhla rebellierte und wollte nach Hause. Sie war müde und hatte Angst vor dem schrecklichen Mann. Wir brachten sie in ein Nebenzimmer. Auf einem breiten Sofa legte sie sich schlafen.
Der große Erfolg riß neue Aufgaben aus dem Staub der Berichte. Fünf Monate nach der Erschießung Koschewnikoffs – sieben Leuten kostete die Verhaftung das Leben – kamen Berichte von einer neuen Geheimorganisation. Der Fall wurde unter dem Namen Die Radfahrer bekannt. In den Berichten der Spitzel war von geheimnisvollen Radfahrern die Rede, die auftauchten und schnell wieder verschwanden. Die Radfahrer sollten mit der neuen gegenrevolutionären Verbindung zusammenhängen. »Nimm du die Sache in die Hand«, sagte Kryloff. Der Deutsche nahm die Sache in die Hand und versorgte sich und seine Leute mit Fahrrädern. Die Verschwörer mußten schon Mut haben, radfahrend zu konspirieren, denn vom Sowjet waren ja alle verfügbaren Räder beschlagnahmt worden. Aber vielleicht bauten sie gerade darauf ihren Plan auf und wollten für Sowjetangestellte gehalten werden.
Siebenhaar fuhr nach den Himmelsfahrtsbergen. Nach den Berichten tauchten dort zuerst die Radler auf. Die Berichte stimmten. Ein Radfahrer kam im schnellen Tempo aus einer Seitenstraße. Von seiner Lenkstange flatterte ein schmaler, orangefarbener Streifen. Die Straße war leer, aber der Mann klingelte ununterbrochen, und als er in die nächste Straße einbog, ließ er die Klingel in ganz bestimmten Intervallen ertönen. Wenn man genau hinhörte und Phantasie genug hatte, konnten das auch Signale und Botschaften sein.
Der Radfahrer wurde verfolgt und raste noch durch viele Straßen. Manchmal klingelte er nicht, dann aber klimperten seine Signale ohne Pause. Kein Spitzel war ihnen jemals gefolgt, sie hatten ja keine Räder, und auf den schlauen Gedanken, selber Räder anzuschaffen, kamen sie nicht. Siebenhaar – er hatte sehr oft Phantasie und war in einer Pechsträhne des Glücks – fand schon am ersten Tag heraus, was die rhythmischen Signale zu bedeuten hatten.
Der Radfahrer verschwand in einem kleinen Haus. Der Deutsche fuhr nach dem Büro und instruierte seine Leute. In den nächsten Tagen kamen genauere Berichte von den Radlern. Alle Meldungen berichteten von dem kleinen, orangefarbenen Streifen und den nun ganz deutlich erkennbaren Signalen. Die Arbeit konnte beginnen. Und die Arbeit begann.
Der Deutsche verfolgte einmal einen Mann, der wieder in dem kleinen Hause verschwand. Er kam nicht wieder. Er war durch die Hintertür und den verwilderten Garten gelaufen, hatte sich dann aufs Rad gesetzt und war weiter gefahren. Dann kam ein neuer Radfahrer, der dasselbe versuchte, aber er konnte nicht unverfolgt entweichen. Am Rande der Stadt nahm er einen Wagen, aber es kam genau so, wie es in schlechten Filmen gezeigt wird, auch Siebenhaar nahm einen Wagen. Die Fahrt ging nach dem Walde von Botulin, einem bekannten Ausflugsort. Der Verfolger entlohnte seinen Kutscher, als der erste Wagen vor einem Sommerhaus hielt und schlich sich dann näher. Die Tür war geschlossen, die Fenster verhangen. Er hörte aus dem Hause ein dunkles Gemurmel und hatte wieder Glück.
Nicht weit von den verhangenen Fenstern lehnte eine Leiter. Er kletterte auf das Dach, kroch in die Bodenkammer, kam an den Schornstein und hörte eben einen großartigen Baß sprechen:
»Es geht nicht anders. Wir müssen ein Exempel statuieren. Der Kerl muß erledigt werden. Liquidiert, sage ich. Die Sache müssen wir durchführen, koste es, was es wolle. Und wenn es alles kostet.«
»Aber wie?« fragte eine helle Stimme. »Es ist verdammt schwer, an ihn heranzukommen. Er hat seine Leute um sich. Und wann soll er liquidiert werden?«
»Das erfährst du noch früh genug«, brummte der Baß.
»Gut. Streitet nicht. Dann wollen wir losen, wer den Schuß hat«, sagte eine gleichgültige Stimme.
Durch den Schornstein konnte man ganz gut die Aufregung da unten spüren, aber dann wurde es atembeklemmend still. Ein Schrei hieb wie ein blitzendes Messer um sich:
»Der Kleine hat das Los gezogen!«
»Lebedeff? Nun, du hast Glück, Kleiner«, brummte der Baß, »komm morgen zu mir. Heute in acht Tagen wird Rasanoff erschossen. Wir treffen uns in vier Tagen wieder. Die Zeit wird ausgeklingelt.«
Siebenhaar hatte genug gehört. Er kletterte auf das Dach, stieg auf die Erde und ging in die Stadt zurück. Bei Kryloff brannte noch Licht. Er ging in das Haus und setzte sich hin.
»Was gibt's so spät?« fragte Kryloff.
»Nicht viel, aber Rasanoff soll in acht Tagen erschossen werden«, antwortete er. »Lebedeff hat das Los gezogen.«
»Bist du verrückt?« sagte der Chef und sprang auf. »Mach keine dummen Späße. Und wer ist Lebedeff?«
»Einer von den Radfahrern«, sagte Siebenhaar und erzählte alles. Kryloff blieb vor ihm stehen und sagte dann herzlich:
»Das hast du gut gemacht, Genosse!« Rasanoff wurde gerufen und kam verschlafen und verdrossen. Als man ihm von dem neuen Anschlag erzählte, lächelte er. Er sollte schon viele Male erschossen werden und lebte immer noch. Aber Kryloff gab keine Ruhe und murrte:
»Die Hundesöhne haben wir in der Tasche, aber ich habe immer erklärt, daß unsre Informationsabteilung nichts taugt. Wir müssen sie ausbauen. Hier ist unser neuer Baumeister!« »Ist gut, Einverstanden«, sagte Rasanoff. Bisher war die Informationsabteilung eine willkürlich aufgebaute Größe, die sich von wilden Nachrichtengebern und üblen Spitzeln nährte. Das einlaufende Material wurde ohne besondre Prüfung an die betreffenden Stellen weitergeleitet. Das Ergebnis war Desorganisation. Anonyme Anzeigen fanden dieselbe Beachtung wie gutfundierte Berichte. Es kam oft vor, daß Unschuldige hingerichtet wurden und die Lügner und die Schufte triumphierten.
Der Ingenieur Leitner baute den neuen Apparat wie eine Maschine auf. Er gruppierte die ganze Abteilung um, siebte und entließ manchen bekannten Provokateur. Er schickte Straßenpatrouillen in die Stadt. Sie waren als Arbeiter, Bauern, Rotgardisten oder Spekulanten verkleidet. Die Grundlage der Tscheka blieb die geheime Information. Überall saßen oder hörten die Agenten, in den Kasernen, in den Fabriken, in den Ämtern. Den Kern der Abteilung bildeten die sogenannten aktiven Gruppen, die allein das Recht hatten, Verhaftungen und Erschießungen vorzunehmen.
Dann kam der Tag, an dem sich die Verschwörer zum letzten Male im Walde von Buturlino sammelten. Siebenhaar hatte seine Leute in den Wald geschickt und ließ sie an einer Lichtung warten. Über zwanzig Mann lagen da mit ihren Pistolen und Handgranaten. Die Radfahrer gingen ahnungslos in die Falle. Es war am Abend. Als sie im Hause waren, wurde ein Reisighaufen angezündet. Es war ausgemacht worden, solange das Feuer brennt, still zu sein, wenn es aber gelöscht wird, zum Angriff und Sturm anzutreten.
Dann kam das Signal.
Die Tschekisten stürzten gegen das Haus vor und verlangten Einlaß. In dem Hause wurde es totenstill. Da schlugen die Angreifer die Fenster ein, erbrachen die Tür und brüllten:
»Ergebt euch!«
Aber sie ergaben sich nicht. Sie kämpften. Auch aus dem Hause wurde geschossen. Verwundete wimmerten, Sterbende röchelten. Der politische Mord fand nicht statt, dafür aber ein politisches Morden.
Im Winter fiel sehr viel Schnee. Zur Zeit der Schneeschmelze waren die Schuttabladestellen hinter dem Eisenbahndepot überschwemmt. Als sich das Wasser verlaufen hatte, fand man in den Gruben siebzehn Tote.
Da saß nun der ehemalige Ingenieur an jenem Abend da und erzählte von der Technik des Bürgerkriegs. Er berichtete auch von seinen Mißerfolgen, aber er nahm sie so gleichgültig hin wie seine Siege. Ich glaube, er war ein Mann ohne Gewissen. Er hätte sicherlich auch auf der anderen Seite spioniert.
Ruhla schlief nicht, als ich in das Nebenzimmer kam. Sie war wach und aufgeregt. Gegen Mitternacht fuhren wir nach der Stadt zurück.
»Was ist das für ein Schuft!« sagte sie. »Ich habe alles gehört! Ich begreife nicht, daß es eine Frau überhaupt in seiner Nähe aushält. Wie kann man mit einem Henker zusammenleben! Ja, und was glaubst du? Singt dieses Schwein auch die ›Internationale‹?«
»Warum nicht?« sagte ich. »Warum soll er bei den Feierlichkeiten nicht die ›Internationale‹ singen? Als wir heute in der Waffenfabrik waren, habe ich einen Dolch geschenkt bekommen. Und weißt du, was auf der Klinge eingraviert ist?« Sie schüttelte den Kopf.
»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« sagte ich voller Hohn, denn auch mir saßen Angst und Grauen in der Kehle.
Sie sah mich an und lachte.
Am nächsten Abend reisten wir weiter. Wir besuchten eine kleine Stadt im Ural. Mitten auf der Fahrt wurde ich krank. Das Fieber kam mit seinen Prankenschlägen und heißen Blutüberfällen. Ich wurde in Nischni-Tagil in das Krankenhaus gebracht.
Tagil soll koreanisch: Großes Glück heißen, das hatte unser Koreaner verkündet, aber zu mir kam in jenen Fiebertagen nicht das große Glück. Zu mir kamen Gespenster. Das Fieber brannte mich aus. Ich war egoistisch wie jeder Kranke. Ruhla hatte Angst und hörte neben meinem Gejammer auch noch das Geschrei der anderen Kranken in dem altmodischen Hause.
Der Traum vom Besuch beim erschossenen Zaren war nur der Vorbote zu vielen anderen und schrecklichen Träumen. Vor meinen Augen tanzte die Welt wie ein irrsinniger Kreisel und jede Drehung war ein wüster Traum. Politik und Erotik verkuppelten sich und zeugten mißratene Kinder.
Arbeiter, die aus der Zwangsarbeit der Fabriken geflohen waren, wurden von klappernden Hämmern verfolgt. Steinbrucharbeiter verwuchsen mit den Leibern in die Felsen, nur die Oberkörper waren noch beweglich und hackten. In den Tropfsteinhöhlen entdeckte ich in den Kristallen verkümmerte Seelchen. Dann wurde eine Mauer lebendig, kein Stein blieb auf dem andern, jeder vermenschlichte sich. Ein neuer Traum brachte die Versteinerung einer menschlichen Versammlung. Aus einer Frau wurde ein Schloß, aus einem Mann ein Rathaus. Diese und andere Träume verwirrten mich.
Ich erlebte das Pogrom von Fastow als David Lautenspieler. Ich war bei den Verschwörern und bei den Tschekisten. Als roter Kommandant marschierte ich nach Omsk. Siebenhaar ließ ich hinrichten und lachte über seine Bitten. Dann wurde ich von den Weißen gefangen und erschossen. Es war grauenvoll. Vier Tage lag ich im Fieber und mit mir allein, mit meinen Gespenstern allein. Am fünften Tag endlich wurde ich etwas klarer. Die Wunder des Lebens kamen. Ich konnte sprechen, ich konnte lächeln. Die Wintersonne schien in das große, kahle Zimmer.
Ruhla war bei mir, und Merkel sagte:
»Mensch, Otto, du hast die verrücktesten Sachen geträumt! Auf den Siebenhaar mußt du großen Haß haben. Du hast ihn verflucht. Ja und nun, lieber Junge, nun ist das Schlimmste vorbei. Ich fahre morgen mit den Genossen weiter. Der Doktor sagt, in fünf bis sieben Tagen könntest auch du Weiterreisen. Ruhe dich gut aus, du bekommst einen Schlitten, alles steht zu deiner Verfügung, wir haben mit Wolkin alles besprochen. Nun Adjüs, lieber Junge!«
Er drückte mir die Hand und ging.
Am nächsten Tag fuhren die Freunde nach Sibirien weiter. Ich sollte, wenn ich gesund wäre, nach Moskau zurück. Aber ich reiste nicht nach Moskau. Wolkin schickte mir am übernächsten Tag einen Schlitten, und mit Ruhla fuhr ich jeden Morgen durch die Stadt, über den vereisten Fluß und in die blauen, schweigenden Wälder hinaus. Wie schön war es, zu atmen, zu leben. Jede Stunde war ein Geschenk. Ich sah alles mit neuen Augen. Der Doktor Lomosoff bemühte sich sehr um mich, Ruhla war zärtlich, die Gespenster geflohen, und mit Hans Schubert, dem Feldscheer des Krankenhauses, führte ich große Gespräche.
Nischni-Tagil: Großes Glück!
Auch hier bewegte sich die Welt, auch hier waren Haß und Liebe, Schicksal und Freundschaft wie überall auf der Erde. In den Bergen und Schluchten der nahen Wälder wurden Gold und Platin gefunden. Die Goldgruben waren im Bürgerkriege zusammengebrochen, aber die Stadt lebte doch, sie fußte auf guter Erde, sie gründete sich auf dem anderen Metall, auf dem Eisen, das in mächtigen Bergen und Bänken in der großen Erzmine lagerte.
Wie ein Krater lag die Grube in der Landschaft.
Die Wege zur Mine waren rot vom Rost des verlorenen Erzes, das auf flachen Schlitten nach den Hütten transportiert wurde. Die Schmelztechnik war noch ganz primitiv. Die sechs Prozent Kupfer, die im Eisen gefunden wurden, konnten nicht ausgeschmolzen werden.
Der Wohlstand von Tagil war in der klappernden Mühle des Bürgerkrieges zermahlen worden. Die breiten Straßen und die zu großen Plätze waren viel zu gewaltig für diesen kleinen Ort. Pferde, schwarze Ziegen und kleine Kühe liefen durch die Stadt mit den vielen Holzhäusern. Vom Fluß her kamen Frauen und schleppten Wasser. Hier gab es eine sonderbare Sekte, die »Gesellschaft Gottes«, ungefähr fünfzig Menschen, die sich aus der schwarzen Not der Zeit in das süße Blau ihres Himmels flüchteten. Dann sahen wir ein sonderbares Denkmal: Auf einem leeren Sockel – den Fürsten Demidoff hatte man heruntergestürzt – stand eine Frauengestalt, die Freiheit, die in der erhobenen Hand eine elektrische Glühbirne trug und die Dunkelheit erleuchten wollte.
Wolkin war Vorsitzender des Sowjets. Er war ein früherer Arbeiter, saß in Sibirien als politischer Sträfling, bis ihn der Umsturz Befreite und an die Spitze stellte. Bis zum Umsturz standen an der Spitze in Tagil die Fürsten Demidoff. Von den Demidoffs hörte ich vom Chefarzt Lomosoff des Krankenhauses und von seinem Feldscheer, dem Studenten der Medizin, Hans Schubart, den das Schicksal in die schwarze Stadt im Ural geworfen hatte.
Der erste Demidoff war ein Schmied und wurde von Peter dem Großen in den Ural geschickt Der Ural war noch ganz unerforscht. Der Schmied hatte Riesenfäuste und ein eisernes Herz. Damals konnten noch Leibeigene gekauft werden. Demidoff kaufte Leibeigene und begründete die Herrschaft seiner Familie. Er setzte sich auf der Eisenmine fest. Sie wurde für ihn zur Goldmine. Schmelzhütten wurden errichtet, Straßen gebaut, später kam die Eisenbahn.
In das Licht der Geschichte aber traten die Demidoffs eigentlich erst im Jahre 1850. Da heiratete einer von ihnen in Italien eine Maria Bonaparte. Die Heirat brachte ihm den Adelsbrief. Rußland wollte sich nicht lumpen lassen und erhob diesen Demidoff in den Fürstenstand. Das alles war bis jetzt russische Geschichte gewesen, aber nun kam Weltgeschichte. Dieser Fürst Demidoff nämlich finanzierte in der Hauptsache den Staatsstreich seines Vetters, des dritten Napoleon.
Das war der erste Fürst Demidoff. Der letzte Fürst saß im Ausland, hatte einen großen Teil seines Vermögens gerettet und wartete auf den neuen Umsturz. Das alles erzählte Lomosoff, dem eine Professur in Perm angeboten war, und der doch in der verlassenen Stadt bei seinen Kranken blieb.
In das Lichtbild malte nun Hans Schubert die schwarzen Striche und Schatten. Die Demidoffs waren die großen Blutsauger über der Stadt. Ihnen gehörte alles: die Hütten, die Eisenmine, die Bergschule und das Krankenhaus. Der kleine Student hatte die Fürsten niemals gesehen, aber er haßte sie leidenschaftlich. Die Not des Landes machte ihn opferbereit. Seine Geschichte ist bald erzählt.
Als Kriegsfreiwilliger ging er an die Front, kam in russische Gefangenschaft, saß zwei Jahre in einem Lager in der Nähe des Urals, das Lager wurde vom Typhus überfallen, und der Student wurde Hilfsarzt. Er lernte das Elend der Welt kennen, das Glück kam auch zu ihm, eine junge baschkirische Lehrerin, in die er sich verliebte und die er heiratete. Dann wurde er nach Nischni-Tagil abkommandiert. Er bekam zwei Kinder, hatte sein Heimatrecht aufgegeben und war Russe geworden. Seine politische Überzeugung war nichts als Glauben an die Gerechtigkeit. Die Bauern kamen stundenweit zu ihm gefahren, die Arbeiter und die Kranken liebten ihn.
Und als er mir von den Demidoffs erzählte, wußte ich plötzlich, warum er sich hier in der kleinen Stadt vergraben hatte.
»Lieber Iwan Petrowitsch, lieber Hans Schubert«, sagte ich, »darum bleiben Sie hier, darum bleibst du hier, weil im Auslande ein Fürst auf seine Rückkehr wartet? Und darum bist du Russe geworden?«
»O nein,« antwortete er und wurde verlegen, als sei ich hinter sein Geheimnis gekommen, »nicht nur deswegen. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Und vergiß nicht, daß ich hier von den Kranken gut gebraucht werde. Rußland, Rußland, was wißt denn ihr von Rußland?« Er schwieg eine kleine Weile und zitierte dann: »Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört!« Und siehst du, lieber Glarus, darum bleibe ich hier. Wegen der vielen Opfer. Ich muß helfen. Helfen und heilen, das ist der Sinn meines Lebens. Vielleicht werde ich auch zu den Baschkiren abkommandiert.«
»Zu den Baschkiren? Warum denn zu den Baschkiren?« fragte Ruhla.
»Ja, zu den Baschkiren, dort ist Cholera«, sagte er ganz leise.
Da liegt nun mitten im Ural eine kleine, unbekannte Stadt. Die Wälder schweigen oder sausen. Die Walzwerke klirren. Endlos stürzen die Berge vom hohen Norden nach den sommerlichen Steppen des fruchtbaren Südens. Herr Lomosoff ist wohl jetzt in Moskau oder er hat die Professur in Perm doch angenommen. Der Fürst Demidoff wartet immer noch im Ausland auf den Umsturz. Hans Schubert wird viel Arbeit haben und helfen und heilen. Aber vielleicht ist er gar nicht mehr im Ural. Vielleicht ist er zu den Baschkiren abkommandiert worden und an der Cholera gestorben.
Wir verließen den Ural und fuhren unseren Freunden nach Sibirien nach. Winterkälte knallte über die Landschaft, in Omsk holten wir Merkel ein. Als wir nach der Stadt fuhren, sahen wir im Wintersturm eine Karawane schwankender Kamele. Sie kamen aus der Kirgisensteppe. Von Omsk ist nicht viel zu erzählen. Hochbauten aus Eisenbeton stehen neben elenden Holzhütten. Die Straßen waren breit, auf dem kleinen Markt war viel Betrieb. Zuerst wollten wir nach Irkutsk weiterfahren, aber in Sibirien begannen die Aufstände. Die Bauern revoltierten. Ihre Parolen waren: »Es leben die Sowjets! Nieder mit den Kommunisten!« Das Land lechzte nach Frieden und Brot. Es wollte nicht ewig Opfer sein.
Wir fuhren nach Moskau zurück. Zehn Wochen waren wir schon unterwegs. Unsere Reden auf den Meetings und in den Fabriken, die oft wie Krüppel am Wege lagen, wurden immer müder und mürrischer. Merkel sprach überhaupt nicht mehr. Auf den Stationen umdrängten auch Bettler unseren Wagen. Sie wurden von den Soldaten zurückgetrieben.
Glarus schob die engbeschriebenen Blätter weit von sich. Beinahe drei Wochen war er hier schon gefangen. Er saß im Kreml zu Astrachan. Ja, aber nun war er frei, nun hatte er sich alles vom Herzen geschrieben. Er ging an das Fenster und sah unter sich die Stadt liegen. Sie glänzte wie ein Riesenfisch.
Dann hörte er Schritte.
Der Kommandant kam.
»Es ist eben telephoniert worden«, sagte er. »Du sollst dich fertigmachen und sofort zum Untersuchungsrichter kommen.«
»Was ist los? Komme ich frei?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Russe.
Glarus packte seine Sachen zusammen, legte das Manuskript in die Mappe und ging. Er durfte allein durch die Straßen gehen. Und auf dem Wege spann sich das Gewebe seines Berichtes weiter. Ja, sie waren nach Moskau gekommen, und als sie abreisen wollten, begann der Aufstand in Kronstadt. Moskau war ein Waffenlager. Auf dem Roten Platz standen die Arbeiter und Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Die Matrosen, die den Zarismus gestürzt hatten, empörten sich in Kronstadt gegen die Sowjets!
In Petrograd kam er auch mit Goldenberg und einigen Leuten von der Militärschule zusammen. Sie gingen an die Front. Goldenberg blieb in der Stadt. Er zeigte seine Pistole und sagte:
»Siehst du, Glarus, hier sind sechs Schuß. Fünf Schuß für die Weißen und ein Schuß für mich.«
Merkel höhnte:
»Mein Lieber, sechs Schuß für die Weißen! Den Schuß für dich haben sie allemal übrig.«
Dann fuhren sie nach Deutschland.
Sie arbeiteten in der Bewegung weiter und schwiegen, wo sie hätten reden müssen. Sie glaubten, ein offener Bericht würde ihren Freunden in den Rücken fallen. Eines Tages sprang Merkel ab und ging eigene Wege. Über zwei Jahre blieb Glarus in Deutschland, und nun war er zum zweiten Male nach Rußland gekommen. Er hatte geschwiegen und gearbeitet. Er mußte erst hinter Schloß und Riegel sitzen, um sich zu besinnen und zu befreien. In der Einsamkeit erwachten die Gespenster von damals.
Ruhla hatte geschrieben.
»Liebster«, schrieb sie im letzten Brief, »Liebster, ich habe wahnsinnige Angst daß ich alt werde. Ich habe auch Angst um dich. Denk mal an, ich bin jetzt fünfundzwanzig, bald dreißig, und dann kommt die grausige Zeit des Abstiegs zwischen dreißig und vierzig! Ich habe solche Angst, meine Stirn ist ganz verschrumpelt, komm bald zurück, ich will nicht länger warten und nicht immer allein sein. Unser Söhnlein blüht und gedeiht Er grüßt und küßt den Vater, komm zu uns!«
Liebe, liebe Frau, dachte er, ich komme, ja ich komme. Du sollst nicht immer allein sein. Wir wollen zusammen arbeiten, wir wollen zusammen leben. Und unser Sohn soll es besser haben als wir, die wir zerrissen waren wie unsere Zeit! Wir haben für den Krieg geschwärmt, um den Frieden zu erkämpfen. Wir haben gelogen, um eine Idee rein zu erhalten, aber Lüge ist Lüge, und tausendfache Lüge ist immer noch keine Wahrheit.
Ja, mein Sohn, wir sind einen falschen Weg gegangen. Die Opfer klagen uns an. In unseren Fußspuren haben sich die Tränenbäche und Blutquellen einer gequälten Menschheit angesammelt. Gewalt, mein Kind, läuft mit blutigen Füßen. Laß dich nicht von den falschen Propheten verwirren, die verkünden, man könne die Freiheit oder das Glück mit Gewalt und Geißelhieben in die Herzen einpeitschen!
Und so geht er durch die graue Stadt, der Otto Glarus, und denkt an seine Liebste und seinen Sohn. Er denkt auch an den Kampf um die Freiheit in Deutschland. Mit guten Augen sieht er in das Gewimmel der Straßen und des Marktes. Über der Stadt hängt in schweren Wolken der Sterbegeruch der Fische. Aus den Fruchtgärten der nahen Steppe kommt im leichten Winde süßer Wohlgeruch.
Die deutsche Frau von der Wolga Ist immer noch in der persischen Küche. Zerlumpte Kinder bieten sich als Schuhputzer an oder verkaufen Tabak und Süßigkeiten. Lastträger kommen breit und schwer vom Hafen. Die große Börse aus roten Backsteinen sieht wie ein romantisches Schloß aus. Ein Milton spaziert über den Markt. Händler stecken die Köpfe zusammen. Ein schwarzer Hund wühlt im Abfall. Kalmücken trotten vorbei. Narau-Kusch ist nicht unter ihnen. Zigeunermädchen wollen wahrsagen. Bettler liegen wimmernd im Staub. Die blauen Hügel der Weintrauben und die gelben Berge der Melonen schimmern.
Der Untersuchungsrichter empfing ihn sehr freundlich.
Er schob einen Stuhl zurecht und bot Zigaretten an.
»Setzen Sie sich, verehrter Genosse«, sagte er, »waren Sie mit dem Zimmer im Kreml zufrieden? Ich freue mich, Ihnen sagen zu dürfen, daß sich jetzt alles geklärt hat. Aus Moskau und Berlin sind gute Berichte gekommen. Die Katja haben wir nach Moskau geschickt. Siebenhaar läßt grüßen, und Kasandroff will in einer Stunde erscheinen. Er kommt von der wirtschaftlichen Front und will Sie abholen. Es ist alles in Ordnung.«
Glarus hörte still zu und antwortete dann:
»Ja, es ist alles in Ordnung. Kasandroff will mich abholen? Nun, er muß wohl seine Fische allein fangen. Genosse Untersuchungsrichter. Was soll ich jetzt noch bei den Fischern?
»Aber Sie sind doch frei!« sagte der Untersuchungsrichter. »Sie sind doch frei, verehrter Genosse, und können hingehen, wohin Sie wollen!«
»Das ist sehr gnädig von Ihnen, Genosse Untersuchungsrichter«, erklärte Glarus, »ich weiß schon, wohin ich gehe. An die neue Front. Ich verlasse Rußland. Ich gehe heim zu meinem Sohn. Der Russe stutzte.
Er blies gedankenvoll den blauen Rauch seiner Zigarette weit von sich und sagte:
»Ach so, viel Vergnügen! Kasandroff wird große Augen machen. Er wird Sie vermissen in dem Blockhaus an der Wolga. Und nun entschuldigen Sie, bitte, daß wir Sie so lange bei uns aufgehalten haben!«
Glarus lächelte und antwortete:
»Ich habe nichts zu entschuldigen. Ich habe viel gelernt, werter Genosse, im Blockhaus bei den Fischen und auch im Kreml in der Gefangenschaft. Leben Sie wohl. Das Leben diktiert seine Bedingungen.«
Er ging.
Und am selben Abend verließ er Astrachan.