Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

DIE TECHNIK DES GLÜCKS

Lola war in Paris und schrieb großartige Briefe. Sie zauberte mit schwarzer Tinte auf weißem Papier ein Lichtbild der Stadt und übertrug es auch in das Herz von Marianne. Die strahlende Welt lockte und rief, hatte tausend Gesichter, eins immer schöner und verführerischer als das andere, aber Marianne ließ sich nicht verlocken. In Staaken waren Großkampftage. In den kurzen Pausen zwischen zwei Aufnahmen träumte sie manchmal von Paris, und als eine französische Gesellschaft im Nachbaratelier filmte, ließ sich Marianne dem französischen Star vorstellen und bewunderte die schöne, zerbrechliche Figur der Schauspielerin. Lyssander übersetzte ihr Gespräch.

Der Film: Maria und das Glück hatte nun auch' ihre Heimatstadt berührt. Der Vater beschrieb in einem seiner wöchentlichen Briefe den großen Erfolg. Die alten Weiber hatten natürlich in ihren Kaffeekränzchen über das leichtfertige Geschöpf Marianne Hull die Nasen gerümpft, die jungen Frauen aber, die Mädchen und auch die Burschen waren begeistert. Der Schlager vom weißen Flieder wurde jetzt nicht mehr gesungen, das Marialied war überall zu hören.

Der Herr Bürgermeister hatte den alten Hull nach dem Rathaus kommen lassen und ihm zum Ruhme seiner Tochter, der auch der Ruhm für die Stadt sei, gratuliert. Dann schrieb eine junge Frau um Rat. Sie wollte nach Berlin kommen, um beim Film ihr Glück zu machen. Ein Brief von einem Schulfreund erreichte Marianne. Der Schulfreund erinnerte sich plötzlich ihrer und bat um ein Bild mit Namenszug. In seinem Briefe bemerkte er, daß er gesund und ledig sei. Auch seine Größenmaße gab er an. Der Brief eines Schulmädchens bestand eigentlich nur aus lauter Knicksen und bettelte um ein Autogramm.

Marianne beantwortete diese Briefe und erfüllte die Wünsche, soweit sie zu erfüllen waren. Nur an den Schulfreund, der bedeutsam auf seine breite Brust pochte, schrieb sie nicht. Sie hatte viel zu tun, die kleine Hull, sie tat es gern und sah das Ziel.

Die Arbeit an dem neuen Wienfilm war eine Hetze.

Gramp donnerte seine Befehle.

Die Komparsen zuckten zusammen, wenn sie seine Stimme hörten.

Kreß und Lemansky feuerten die Regie zur größten Eile an. Ihr Film sollte auf alle Fälle vor dem der »Luna« fertig werden. Und er wurde auch eher fertig. Bencke war viel zu sehr mit der »Lux« befreundet, um ihr Produktionsprogramm zu stören. In fünf Wochen hatte es Herr Gramp geschafft. Aus den veranschlagten siebenhunderttausend Mark waren neunhunderttausend Mark Unkosten geworden, aber die beiden Direktoren waren gute Geschäftsleute und zuckten mit keiner Wimper. An manchen Tagen wurde zehn bis zwölf Stunden gearbeitet.

Die Hetzarbeit machte Marianne erschöpft und launisch.

Zur Liebe hatte sie wenig Verlangen.

Lyssander ertrug gelassen ihre Launen und führte sie an den wenigen spielfreien Tagen aus der Stadt in die Landschaft hinaus, in irgendein kleines Dorf, an irgendeinen stillen, verzückten See, in dem sich die herbstlichen Buchenwälder glühend spiegelten. Und fern der Stadt, fern dem quälenden Lichte der vielen Lampen fand Marianne die Ruhe. Sie fand den Frieden, war heiter und hatte den Mann, der noch einmal so alt war wie sie, herzlich gern.

In den brennenden Buchenwäldern, in den kleinen Dörfern und an den silbernen Gewässern war sie keine berechnende Schauspielerin mehr, der Septembermond schimmerte wie der Mond ihrer Kindheit. Sie lachte gern und verjüngte durch ihre überschäumende Jugend auch Lyssander. Sie hatten sich lieb. An Georg dachte sie keinen Augenblick.

Mit Kreß hatte sie manchmal lange Unterredungen.

Der kluge, alte Herr tat sehr väterlich und glossierte überlegen den Filmbetrieb, trotzdem er doch in ihm ganz aufging und viel Geld dabei verdiente. Er hatte sein Verhältnis mit einem bekannten Filmstar brutal abgebrochen, weil sich die junge Dame unersättlich zeigte und mit hellem Gelächter und wohlgepflegten Händen ein ganzes Vermögen in alle Winde verstreute. Kreß suchte neuen Trost für seine späten Jahre. Manchmal hatte er brennende Augen und fahrige Hände, wenn er mit Marianne sprach. Aber er tat väterlich und besorgt. Er wartete auf seinen Tag.

Marianne lernte viel von der Technik des Films und viele Leute aus der Filmbranche kennen. Diese Menschen kamen von überall her: aus der Konfektion, aus dem Warenhaus, aus der Architektur und Technik, sie waren alle vom Film besessen oder gute Kaufleute. Sehr oft kamen auch Gäste in das Atelier und wurden vorgestellt und erwarteten, daß der junge Star irgendein interessantes, geschicktes und persönliches Wort sagte, oder, wenn nichts mehr zu sagen war, ein süßes Lächeln aufsteckte. Marianne lernte mit der Zeit ein hinreißendes Lächeln.

Jetzt erst erkannte sie, daß sie hauptsächlich durch die Musik, durch den Mariaschlager bekannt und berühmt geworden war. Dieser Song hatte sie viel berühmter gemacht als der erste Film. Den Komponisten lernte sie auch kennen. Das war ein junger, ungeschickter Mensch, der demütige Hundeaugen hatte und sich nicht zu benehmen wußte. Er blickte Marianne mit den goldenschimmernden Augen demütig an und küßte dann viel zu lange ihre Hand.

Einmal arrangierte Kreß eine Großaufnahme von ihr.

Das Bild erschien in der nächsten Woche mit schmeichelhaftem Text in einer Filmwochenschau. Sie verschaffte sich zehn Nummern davon, bewunderte sich selbst, las immer wieder den kleinen Text, ließ zwei Bilder rahmen und schickte sie an den Vater und an die Lola Lopez. Manchmal schien es ihr, als ob eine höhere Gewalt hinter ihrem Aufstieg stünde, eine Gewalt, die sie leise und beharrlich aus dem Dunkel in das Licht schob. War es Lyssander? Nein, es war nicht Lyssander. Der Mann im Dunkeln war Daniel Kreß. Er hatte den Schlager schreiben lassen, er hatte ihr Bild im Filmjournal durchgedrückt.

Die Zukunft lag schön und schimmernd vor ihr.

Nun war Berlin keine Stadt der Raubtiere mehr.

Mitten in dem neuen Film begannen die großen Veränderungen ihres Lebens. Durch Lyssander hatte sie schon die Süßigkeit eines von allen Sorgen befreiten Daseins erfahren. Ja, der Vater hatte recht. Sie befuhr auf dem Meere des Lebens die Erste Kajüte. Das Schiff schwamm in einen silbernen Morgen hinein. Kein Sturm brauste. Auch die Haifische waren nicht zu sehen.

Lyssander hatte ihr eine herrliche Fünfzimmerwohnung am Reichskanzlerplatz versorgt. Das Badezimmer war aus weißem Marmor, das Schlafzimmer ein schönheitstrunkenes Gedicht. Auch Kreß steuerte zu ihrem Glücke bei und schenkte ihr eines Tages zwei kleine, seidenhaarige Pekinger Hündchen und erbat sich dafür ein Bild mit eben diesen Hündchen. Und auch dieses Bild erschien bald darauf in einer Filmzeitung.

Manchmal erschauerte sie doch und dachte an die Geschichte vom Hans im Glück, der am Ende seines Weges nichts mehr in den Händen hatte. Sie vertraute Lyssander ihre heimlichen Befürchtungen einmal an, aber Lyssander lachte und sagte:

»Du bist kein Hans, du bist höchstens eine Hansi. Und der große Goldklumpen kommt erst.«

Und als ihr immer noch leise grauste, überhäufte er sie mit Küssen und machte sie fröhlich. Er führte sie lächelnd durch alle Zimmer und ließ sich zum tausendsten Male versichern, daß sie alles entzückend fände und ihn, nur ihn allein liebe. Manchmal blieb er auch nachts am Reichskanzlerplatz. Die gutgeschulte Dienerschaft respektierte in ihm den Hausherrn.

An einem der letzten Spieltage entdeckte sie die kleine Eisemann, die als Edelkomparse ein hübsches Wiener Mädchen darstellen durfte. Gritt lächelte ergeben, als sie von Marianne durch ein Kopfnicken begrüßt wurde. In der Spielpause kam Gritt heran. Marianne schüttelte ihre Hand und fragte, seit wann sie bei der »Lux« filme.

»Ich arbeite ja schon eine ganze Woche mit,« antwortete sie. »Ich weiß ja, kleine Leute übersieht man oder hat sie vergessen.«

»Unsinn, Gritt, ich habe doch mit dem Meister gesprochen, damit er schreiben soll. Und er hat ja auch geschrieben. Ziemlich spät, er hat den Kopf voll mit andern Dingen... Haben Sie die Bilder zurückbekommen?«

»Die Bilder? Nein, ich habe die Bilder noch nicht wiederbekommen.«

»Das ist so eine Geschichte!« lachte Marianne. »Der Meister sammelt nämlich die Bilder der kleinen Mädchen. Er hat schon eine ganze Galerie. Aber das ist nicht schlimm. Lyssander soll mit Gramp reden, daß Sie bei der nächsten Gelegenheit in eine Großaufnahme mitkommen.«

Glaß, immer noch als Johann Strauß verkleidet, stelzte heran und begrüßte Marianne.

»Da ist ja der Schwerverbrecher!« sagte sie und lachte. »Sie werden wegen Unterschlagung angeklagt, Meister. Verantworten Sie sich!«

»Angeklagt? Vor Ihrem Richterstuhl lasse ich mich gern anklagen, schöne Marianne!« antwortete er.

»Das wollen wir sehen. Also, Angeklagter, Fräulein Eisemann, das ist die junge Dame hier, hat Ihnen vor vielen, vielen Wochen ihre Bilder zur Ansicht gegeben. Heraus damit!«

»Die Bilder, was für Bilder? Ah, ich entsinne mich, das ist das Fräulein, der ich einmal sagte: Du sollst dir kein Bildnis machen... Verzeihung, Fräulein,« er verbeugte sich. »Ich bringe die Bilder morgen mit.«

Er machte ein klägliches Gesicht und entschwand.

Die Mädchen lachten.

»Das sagt er immer, ich bringe sie morgen mit, wenn man ihn an seine Schandtaten erinnert. Lassen Sie dem alten Mann sein Vergnügen und seinen Trost, Gritt!«

»Aber natürlich, gerne,« antwortete sie. Dann sagte sie mit anderer, ganz erloschener Stimme, »das wäre ja herrlich!« und »nein, das hätte ich damals nicht gedacht.«

»Ach so, wegen der Großaufnahme?« erriet Marianne.

»Das auch, aber ich dachte noch an etwas anderes. Daß Sie so schnell berühmt sein würden! Damals im Filmcafé »Urania« auf der Friedrichstraße, als Sie so allein am Tisch saßen. Und dann sah ich Ihren ersten Film. Wundervoll, wundervoll! Und dann der Schlager. Das war viel auf einmal. Das Lied ist mein Lieblingslied geworden. Und dann noch der eine Tag bei Herrn Hondt. Denken Sie noch manchmal daran?«

»Ich werde den Hund nicht vergessen!« antwortete sie. Ihre Augen funkelten. Sie hatte ihn doch vergessen, den Aribert Hondt, er war ihr unwichtig geworden, aber nun sah sie ihn beinahe fett und leibhaftig vor sich. Sie haßte ihn. Der plötzliche Haß erfrischte sie wie ein kaltes Bad.

»Wir kleinen Mädchen können gegen den Herrn Hondt gar nichts machen,« sagte Gritt und erriet Mariannes Gedanken. »Wir sind ihm ausgeliefert. Mein großer Bruder ist mit seinem Freunde einmal zu Herrn Hondt gegangen, am hellen Tage aufs Bureau, und da haben sie ihn furchtbar verdroschen.« Sie lachte und dann seufzte sie beinahe im selben Atemzug, riskierte einen Augenaufschlag und flüsterte: »Sie haben entsetzlich viel Glück gehabt!«

»In dem Lied heißt es ja auch: Maria weiß, das ist das Glück!« antwortete sie eitel.

»Entsinnen Sie sich auch noch der dicken Frau Möller, die im Cafe »Urania« und mit bei Hondt war?«

»Die gute, dicke Frau Möller! Ich werde mit Lyssander sprechen, daß sie eine kleine Rolle bei uns bekommt,« rief Marianne.

»Die Frau Möller spielt jetzt eine Hauptrolle,« erzählte Gritt.

»Sie hat geheiratet.«

»Geheiratet? Sie wollte einmal die Welt umarmen. Und wen umarmt sie jetzt, Gritt?« »Einen Straßenbahnschaffner!« Marianne schloß die Augen.

»Und wissen Sie nichts von der Flora?« fragte sie zögernd.

»Die Flora, die Flora, ach, der Flora gehts nicht besonders gut,« sagte Gritt seufzend. »Sie tritt in einem Tingeltangel als Tänzerin auf. Als Girl, als Texasgirl. Der Herr Hondt hat sie damals vermittelt. Ihr geht es auch nicht besonders gut. Sie sieht schlecht aus, die Flora. Ich sehe sie manchmal. Soll ich ihr einen Gruß bestellen?«

»Hören Sie, Gritt,« begann Marianne energisch. »Hören Sie, Gritt, wir müssen etwas für die Flora tun. Was ist das für ein Unsinn: Flora als Texasgirl! Ich werde dafür sorgen, daß sie bei uns Arbeit bekommt. Warum hat sie sich nicht bei mir gemeldet? Eines Tages war sie plötzlich verschwunden. Sagen Sie doch der Flora, sie soll in den nächsten Tagen mal anrufen. Hier ist meine Adresse. So geht das nicht weiter. Wir müssen der Flora helfen. Abgemacht, Gritt?«

Sie redete sich in großen Eifer hinein, um ihr schlechtes Gewissen zu betäuben. Damals, als in der schrecklichen Stunde der Mond ihrer Kindheit unterging und als der Gesang der Nachtigallen erstarb, damals als sie den Weg zur Höhe ganz klar vor sich liegen sah, damals hatte sie alle alten Freunde geopfert, den Georg und die Flora, aber nun war sie oben, nun stand sie auf der Höhe, nun hatte sie gesiegt und durfte mitleidig sein. Ja, sie wollte auch der Gritt helfen.

»Abgemacht,« sagte Gritt. »Abgemacht. Und ich bin froh wegen der Großaufnahme. Ein wenig Licht können wir armen Würmer da unten immer gebrauchen. Und der Meister soll ruhig meine Bilder behalten, wenns ihm Spaß macht. Mit der Flora werde ich sprechen. Sie wird glücklich sein... Ich danke herzlich, gnädige Frau!«

Diese Anrede verwirrte Marianne und machte sie rot. Sie winkte mit der Hand und ließ die kleine Gritt stehen, die kleine Gritt, die kluge Gritt, die aus einem sentimentalen Gefühl heraus die Geschichte mit dem Bruder, der Hondt züchtigte, erfunden hatte. Marianne ging nach der Garderobe, kleidete sich um, wurde geschminkt und stand bald darauf im prasselnden Licht einer Aufnahme.

Die große Szene mit Lyssander wurde gedreht.

Der herzige Erzherzog Franzi war vom Kaiser in die Verbannung geschickt worden. Der Herr Musikant Johann Strauß stand vor der Luxusjacht und spielte ein rührendes Lied. Mister Gould hatte sich zu erkennen gegeben und schmückte jetzt auf der Jacht seine schwer errungene Schönheit Marianne mit erlesenem und blitzenden Schmuck. Er brachte Perlen und Edelsteine, und als er dem Mädchen ein Brillantenhalsband umlegte, kam ihr jene Minute in den Sinn, als sie vor dem Juweliergeschäft in der Friedrichstraße als kleines Mädchen stand und von Lyssander zum erstenmal angesprochen wurde. Und auch daran dachte sie, daß er damals gesagt hatte: Brillanten sind gefährlich. Und nun lag sie an seiner Brust, war seine Geliebte, und als die falschen Steine feurig funkelten, fragte sie leise mitten in der Aufnahme:

»Warum sind Brillanten gefährlich, lieber Freund?«

Dabei lächelte sie ihn, wie das Drehbuch vorschrieb, selig und verklärt an. Er lächelte sieghaft zurück und flüsterte:

»Gefährlich? Für dich sind sie nicht mehr gefährlich, Liebling. Sie sind nur für die kleinen Mädchen gefährlich, die arm und allein auf der Friedrichstraße laufen und keinen Freund haben.«

Und als er sie küßte, küßte er sie nicht als Mister Gould oder Joseph Wutzelmoser, er küßte sie als Eugen Lyssander. Diese wenigen Meter Film wurden bei allen Aufführungen große Sensation. Die kleinen Mädchen weinten vor Rührung und Glückseligkeit, sie sehnten sich heftig aus dem Jammer der Arbeit und Armut fort, sie sehnten sich auch nach dem reichen und schönen Freund, der sie endlich einmal erlösen würde.

Marianne Hull war schon erlöst.

Dann kam der letzte Aufnahmetag.

Daniel Kreß hatte gut vorgearbeitet.

Die große Halle donnerte. Viele hundert Komparsen waren aufgeboten, Volk aus Wien, das sich am Ufer der Donau lustwandelnd erging und der Jacht zujubelte, die nun die Anker lichtete und Marianne entführte.

Gramp brüllte seine Donnerworte, die Sonnensysteme der Lampen verschütteten nichts als Licht, die Jacht bewegte sich, das Volk jauchzte. Diese Aufnahme war eine technische Meisterleistung und hatte viele Gäste und Journalisten in das Atelier gelockt.

Bernhard Glaß empfing sie als Pressechef. Daniel Kreß war von bezaubernder Liebenswürdigkeit, Herr Lemansky lief wie ein finsterer Scheich umher und heiterte sich erst auf, als Dolora auftauchte. Als die Lampen endlich erloschen und die große Halle im leeren Tageslicht dämmerte, als sich die Komparsen verzogen hatten und nur noch die Götter und Halbgötter da waren, hielt Daniel Kreß eine kleine Ansprache und lud seine Gäste zu einem kleinen Imbiß ein. Inmitten der Kulissen wurde eine Tafel improvisiert, drei Saxophonbläser und ein Klavierspieler waren plötzlich zur Stelle, es gab Wein aus Burgund und Wein von der Mosel, Gelächter schallte durch die hohe Halle, Reden und Ansprachen wurden gewechselt, auch Herr Gramp ergriff das Wort und er sprach auch jetzt noch, als gäbe er seinen Komparsen Befehle.

Ein junger Mensch von der »Illustrierten« wollte eine Großaufnahme von Marianne haben. Für diese Großaufnahme hatte schon vorher Kreß gesorgt. Marianne hatte die Gunst der Stunde wohl begriffen und sich in das richtige Licht gestellt. Auch jetzt an der Tafel fand sie für alle Besucher ein freundliches Wort oder ein süßes Lächeln. Lyssander strahlte, und auch Glaß vergaß seine Glossen.

Am nächsten Tage standen einige pompöse Artikelchen über das improvisierte Jubelfest in der Presse. Die Lustjacht wurde beschrieben, die laute Stimme des Herrn Gramp reizend glossiert, Lyssander, Kreß und Glaß wurden nicht vergessen, auch über das Volk der Komparserie waren einige Zeilen zu finden, aber der Haupttext beschäftigte sich doch mit Marianne Hull.

Und nun war das Spiel aus.

Herr Gramp wandte sich neuen Aufgaben zu.

Marianne reiste mit ihrem Freund Lyssander acht Tage in den Schwarzwald. Als sie wieder nach Berlin kamen, wurde die Uraufführung des neuen Filmes an allen Plakatsäulen angezeigt. Und es war durchaus kein Zufall, daß in derselben Woche die »Illustrierte« Mariannes Bild auf der ersten Seite brachte. Das Bild war schön und zeigte ein rührendes Mädchen aus dem Volke, eine blonde, hilflose Schönheit, die scheu und wie unter heimlichen Tränen lächelte. Unter dem Bildnis stand in guter Aufmachung:

Das schöne Deutschland.

Die Filmschauspielerin Marianne Hull.

Die Premiere fand in demselben Theater statt, in dem der erste Film herausgekommen war. Die Premiere war ein großer Erfolg. Eine Zeitung schrieb, die Hull sei ein Edelstein in der Krone Deutschlands, die Industrie habe an der Hull den schon lange gesuchten Star. Die Industrie sei verpflichtet, die schöne Hull nicht wie die anderen Schauspielerinnen nach Hollywood entweichen zu lassen. Kreß hatte einem ihm bekannten Kritiker von Anfragen aus Amerika erzählt. Davon war kein Wort wahr, aber der junge Mensch fühlte sich verpflichtet, an das Gewissen der deutschen Filmgesellschaften zu appellieren.

In diesen Freudenbecher stürzten doch einige bittere Tropfen. Die große Presse war des Lobes voll, aber im »Abend« erschien ein Gedicht, das sich gegen die Verlogenheit der Filme im allgemeinen wandte. Dieses Gedicht hatte Lemansky, der für die Dolora King war, anonym an Marianne geschickt. Nun saß sie in ihrer schönen Wohnung und studierte mit gerunzelten Brauen die Verse, die sich »Filmbericht« nannten und erzählten :

Vor der schimmernden Leinwand sitzen stumm
Im verdunkelten Kino die armen Leute.
Was sie da sehen ist meistens verlogen und dumm:
Verlogen und dumm sind viel Dinge heute.

Was sieht man? Das wimmernde Leid der Frau X!
Den Rhein, den Wein, das olle Geschlapper,
Ein Cowboy zeigt seine verblüffenden Tricks,
Ein Lustspiel hebt seine armselige Klapper!

Zehn Mädchen – ein Nachbar sagt ehrfürchtig: »Gerl«
Beschließen das Bild und zeigen die Beine.
Ein Tänzer tritt auf, ein herzloser Kerl.
Ein Fräulein singt später: »Ach, war ich die Deine!«

Und tief im Parkett, im Dunst und Gewühl,
Da sitzt graues Volk und will sich erwärmen,
Ist edel und darf im verruchten Gefühl
Bis in den Salon im Vorderhaus schwärmen.

Die Technik grinst lauernd durch allen Verzicht.
Es kreiselt der Abend im leeren Vergnügen.
Der Schlaf kommt langsam, ein schweres Gewicht.
Der Tag ist brutal und zerstört alle Lügen.

Dieses Gedicht gefiel Marianne durchaus nicht.

Sie fühlte sich beleidigt, obwohl kein Wort darin gegen ihren Film gesagt wurde. Ihr Spiel spielte ja an der Donau, ihr Film war ausgleichende Gerechtigkeit: ein armes Mädchen kam aus dem Elend, ließ sich nicht verführen und ergab sich dem richtigen Mann. Sie kam aus dem Elend und hatte es schließlich gut. Und dann verbanden sich in ihr noch aus der Schulzeit her mit dem Begriff Gedicht nur schöne und erhabene Gefühle. Ein Gedicht sollte trösten, ein Gedicht durfte nicht beleidigen. Ein Gedicht war für sie bis jetzt wie eine wohlgestaltete und leuchtende Blume gewesen. Sie verachtete den Verfasser der Sudelei und warf die Zeitung in den Papierkorb. Sie las noch einmal die lobenden Besprechungen der anderen Presse und starrte entzückt auf das Bild in der »Illustrierten.«

Dann klingelte das Telephon.

Eine fremde Stimme meldete sich.

»Gnädigste,« hörte sie ergeben fragen. »Gnädigste, darf man Sie eine viertel Stunde Ihrer kostbaren Zeit berauben? Hier ist der Modesalon Herzfelde. Wir würden unsere Vertreterin schicken und bitten im Voraus um Entschuldigung und um gütigen Empfang.«

»Um was handelt es sich denn?« wollte sie wissen.

»Um die ergebene Bitte, Gnädigste, ob Sie bei Ihrem nächsten Film ein Gesellschaftskleid von uns tragen wollen.«

»Ich erwarte Ihre Vertreterin,« sagte sie und hängte ab.

In der letzten Zeit war sie schon manchmal von großen Firmen mit den sonderbarsten Angeboten bestürmt worden. Mit einer Fabrik kosmetischer Artikel hatte es begonnen. Diese Fabrik bat sehr darum, doch zu bestätigen, daß ihre Mandelolivcreme die beste von der Welt sei. Eine kleine Dose in kostbarer Ausstattung lag diesem Schreiben bei. Dann kam ein Seidenhaus und wollte die Erlaubnis haben, erwähnen zu dürfen, daß die junge, schöne und berühmte Filmschauspielerin Marianne Hull mit Vorliebe die echte Goldbachseide trüge. In der Anlage wurde noch gesagt, daß die Firma einige handschriftliche Zeilen dementsprechend honorieren wolle und um die Angabe ihrer Bank bitte. Von einer Zigarettenfabrik kamen tausend Zigaretten einer Spezialmarke. Sie lagen in einem silbergetriebenen Kasten. Es wurde gebeten, mit einigen lobenden Zeilen über die Güte der Sendung zu quittieren.

In einer Boulevardzeitung, die mit Vorliebe auf dem Schutthaufen exklusiver Skandalgeschichten wühlte und in Sentimentalität machte, erschien in großer Aufmachung die rührende Erzählung einer Unterredung, die ein Reporter mit dem alten Hull gehabt hatte. Darin wurde viel von Mariannes Kindheit erzählt, von ihrem Schwärm fürs Theater, die Stube mit den exotischen Andenken wurde beschrieben, der kleine Götze aus China wurde erwähnt und als Talisman gepriesen und am Schluß behauptete der Reporter, Marianne habe schon in ganz jungen Jahren zum Zirkus gehen wollen.

Durch diesen Bericht erinnerte sich Marianne an den kleinen Götzen. Sie stand auf und suchte ihn.

Aber er blieb verschwunden.

Sie mußte ihn irgendwo verloren haben.

Das war vor einigen Tagen geschehen, und heute morgen war das ernsthafte Angebot von einem großen Zirkus gekommen, der sie zu einer Tournee durch ganz Deutschland verpflichten wollte. Aber sie ließ sich nicht verpflichten und schrieb ab. Gestern hatte der Komponist des Mariaschlagers vorgesprochen. Er brachte einen neuen Song mit und bat, ihn Marianne widmen zu dürfen. Sie ließ sich diese Widmung gefallen.

Jeden Morgen kamen mit der Post viele Briefe, in denen um Bilder oder Autogramme gebettelt wurde. In manchen Briefen aber war auch das tragische Gesicht unserer Zeit sichtbar.

Viele Briefe waren nichts als Bekenntnisse, Aufschreie und manchmal wie Gebete. Aus dem Dunkel kamen diese Briefe, von kleinen, gequälten Leuten, denen der Film Offenbarung und über die Offenbarung hinaus Wirklichkeit war. Sie hatten sich selbst verloren, diese Briefschreiber, sie hatten alle Maßstäbe verloren und wollten nun von dem geliebten Menschen, der als Star jeden Abend an der weißen Leinwand aufstieg, Trost und Hilfe haben. Fremde Frauen berichteten von ihrem zerrütteten Leben und von ihrer Sehnsucht, junge Männer beichteten von hoffnungsloser Liebe oder von ihrem brennenden Ehrgeiz, Sonderlinge fragten nach dem Sinn des Lebens. Manchmal kamen auch Bettelbriefe oder schwärmerische Hymnen von Gymnasiasten oder Backfischen.

Wie arm und wie elend waren doch die Menschen, wie entsetzlich einsam waren sie! Sie flüchteten aus der Wirklichkeit und vertrauten einem schönen, stummen Schatten ihr Leid an. Film war wieder Schöpfung geworden. Eine neue, eine bessere Zeit entstand und rollte wie auf einer goldenen Kugel über der verdunkelten Erde. Und aus Not und Sehnsucht kamen diese Briefe und stießen nach jenem goldenen Ball vor, umschwärmten ihn wie schreiende Vogelschwärme.

Der Star, der in seinem Lichtspiel siegte, sollte auch in der Wirklichkeit helfende Schwester sein.

Marianne hatte oft Angst vor jenen Briefen.

Sie war nicht herzlos und schickte den Einsamen und Verzweifelten immer ihr Bild mit freundlichen Worten. Was konnte sie, die Neunzehnjährige, anders geben für das graue Dasein als eben ein schönes Bildnis?

Ja, sie war berühmt geworden.

Die Briefe der unbekannten Menschen aus der Tiefe wogen die Anwürfe der Arbeiterpresse tausendfach auf. Das Volk will die Träume, das Volk hungert nach Gerechtigkeit und Glück, es hungert nach Klarheit und Verklärung, nach dem Siege der Gerechtigkeit. Und in den Filmen war ja Glanz des Glücks, war ja Sieg der Gerechtigkeit. In den Filmen war oft die Lösung aller quälenden Fragen da. Im Film leuchtete ja im guten Ende die Erlösung. Das Laster wurde geschlagen, das Unrecht beseitigt, die Armut erlöst.

Als Marianne mit ihren Gedanken so weit war, stand sie auf, holte noch einmal den »Abend« aus dem Papierkorb und studierte zum zweitenmal die lächerlichen Verse. Was wußte der sogenannte Dichter vom Leben und vom Hunger nach Gerechtigkeit? Sie lachte und übergab die Zeitung wütend dem Feuer und wartete, bis die Flammen diese Verse fraßen.

Dann klingelte das Telephon.

Flora meldete sich an.

Und als sie die verzagte Stimme der alten Freundin hörte, wurde ihr Herz aufgeregt. Ihre Worte überstürzten sich, als sie antwortete. Ja, Flora war auch eine Stimme aus dem Dunkel. Ja, Flora war auch ein Schrei aus der Einsamkeit, ein beschwörendes Bitten.

»Flora, Flora, Herrgott, Flora,« antwortete sie atemlos, »Flora, ich habe schon immer auf dich gewartet. Natürlich, natürlich, du sollst sofort kommen. Ja, komme doch schnell. In einer Stunde bist du da? Nimm doch ein Auto. Du hast kein Geld? Armes Tierle, warum hast du nicht früher angerufen? Für dich war ich immer, immer zu sprechen!«

Sie legte den Hörer auf die blinkende Gabel.

Flora, Flora, dachte sie. Die Schwärmerei der frühen Jahre stieg in ihr hoch. Der Modesalon. Das Stadttheater, die kleine Bühne in Konstanz, der junge Maler. Wo wird der junge Maler sein? Der sommerliche Bodensee und die schimmernden Alpen. Und dann die Briefe Floras aus Nürnberg. Ihr Besuch in Berlin. Das was die Käthe Kollwitz für die Kunst, das will ich für das Theater sein. Flora ist in Berlin. Bei Herrn Hondt die vorgeschobenen Proben. Hondt, dieser Hund, war an Floras Elend schuld. Es wurde hohe Zeit, daß dieser Hund geduckt wurde! ' i

Das Mädchen kam und meldete:

»Gnädige Frau, eine Dame vom Modesalon Herzfelde wartet und bittet um eine Unterredung.«

Aber sie wollte jetzt nichts mit dem Modesalon zu tun haben.

»Ich bin beschäftigt,« sagte sie, »und ich bitte morgen um einen neuen Anruf.«

»Sehr wohl, gnädige Frau,« antwortete das Mädchen und ging.

Nach einer kleinen Weile tat es Marianne leid, daß sie die Vertreterin weggeschickt hatte. Sie rief bei dem Modesalon an und verabredete einen neuen Besuch am kommenden Tag. Sie war unruhig und schämte sich ihrer Gefühle. Dann unterdrückte sie ihr Herz. Was soll und kann man mit Flora machen, dachte sie. Sie erinnerte sich kühl des Spiels bei Hondt. Lächerlich, Flora war keine Schauspielerin für den Film. Was konnte man aber für sie tun? Flora verstand etwas von Kostümen. Vielleicht konnte man sie in der Filmgarderobe unterbringen?

Die Stunde tappte mit bleischweren Sohlen.

Endlich kam das Mädchen wieder und meldete:

»Eine junge Dame möchte gnädige Frau sprechen. Sie sagt, sie hätte sich telephonisch angemeldet.«

»Ich lasse bitten,« antwortete Marianne damenhaft.

Als das Mädchen verschwunden war, stand sie auf und ging Flora entgegen. An der Tür traf sie mit ihr zusammen. Flora sah elend aus. Marianne nahm sie in ihre Arme.

»Flora, Flora, guten Tag, Flora! Wie geht es dir?« Flora riß sich zusammen.

»Gut, Marianne, gut. Ich bin Tänzerin geworden!«

»Ja, die kleine Gritt Eisenmann hat mir alles erzählt, Flora... Aber komm, wir wollen alles in Ruhe besprechen.«

Flora ging behutsam an den schon gedeckten Tisch. Ihre Füße waren schwach. Sie hatte Hunger und war durch die endlose Stadt gelaufen. Ihr Gesicht war eingefallen. Nur die Augen funkelten noch fanatisch. Marianne betrachtete die alte Freundin. Sie sah in ein fremdes Gesicht. Dann klingelte sie dem Mädchen. Das Mädchen kam und brachte Tee. Flora sah sich in dem schönen Zimmer um. In ihrer Stirn standen steile Falten.

»Gut wohnst du hier, Marianne,« sagte sie dann. »Das hat wohl viel gekostet?«

,,Ja, es war nicht billig,« antwortete sie und wurde ärgerlich. Ihr Herz gefror. Aber dann war sie aufmerksame Hausfrau und sagte: »Lang zu, Flora, laß dich nicht nötigen.«

Flora ließ sich nicht nötigen.

Sie trank mit geschlossenen Augen ihren Tee. Sie nahm ein Stück Backwerk und aß gierig. Sie aß und trank schweigend. Die steilen Falten auf der Stirn verschwanden. Die Augen wurden ruhiger. Dann aber ließ sie sich gehen und begann haltlos zu weinen. Ihr Körper schüttelte sich.

»Flora! Flora!« rief Marianne.

Sie schluchzte immer noch.

Dann aber hob sie das verweinte Gesicht. Aller Hochmut, aller Stolz war gewichen. Der sonst herrische Mund zuckte hilflos. Kindlich war das Gesicht und erschütternd. Marianne ergriff Floras kalte Hand, streichelte sie und sagte:

»Nicht mehr weinen, Flora. Es wird schon alles wieder gut werden. Erzähle nun, was dich quält.« Und als Flora erzählen wollte, schob Ihr Marianne den gefüllten Teller zu, goß neuen Tee ein und wartete. Flora trank und aß und mit vollem Munde begann sie zu erzählen:

»Ach, Marianne, alles quält mich. Berlin quält mich, die Tänzerei quält mich, ich quäle mich selbst ... Ach, Marianne, ich will nach Hause! Du hast es gut. Du hast gesiegt. Aber ich? Ich habe alles, alles verloren!«

»Verloren, was hast du verloren, Flora?« fragte Marianne leise.

»Alles. Den Glauben an mich habe ich verloren. Ich kam, um in Berlin die Welt auf den Kopf zu stellen.

Weißt du noch, was für Sprüche ich am Anfang geklopft habe? Der Zuckmeyer hatte mir in einem seiner Stücke eine kleine Rolle verschafft, ich war stolz und glücklich, nun geht's aufwärts, nun werde ich bekannt, dachte ich. Ja, aber am andern Tag wurde ich entlassen. Ich sei zu dramatisch, sagte der Regisseur. Ich war noch einmal beim Zuckmeyer, aber der konnte mir auch nicht weiter helfen. Dann wollte ich zum Film. Wir waren auf der Börse, und als ich die vielen Mädchen sah, wurde mir Angst und Bange. Ich nahm den Kampf auf. Und ich habe auch gekämpft und hätte mich für ein Butterbrot verkauft, wenn ich Arbeit bekommen hätte. Aber kein Mensch wollte mich nehmen. Und dann waren wir auf der Börse. Da kam der Herr Hondt. Wir gingen zur Probe. Da spritzte die Gritt dazwischen. Und aus war es mit dem Spiel. Und dann bin ich noch einmal zu Herrn Hondt gegangen. Ich wußte ja keinen andern Weg, Marianne, ich habe viel gelitten, ich habe geweint und geheult, aber es hat mir nichts genutzt.«

»Warum bist du nicht zu mir gekommen, Flora?«

»Aus Stolz und dann: ich war ja die Ältere. Ich hätte dir helfen sollen und nicht du mir, Marianne. Du hattest ja selbst keine Arbeit, du mußtest selbst für dich sorgen... Aber am Abend tanzen und am Tage hungern, das ist nicht gut. Zuerst dachte ich: Tanz am Abend und Lernen am hellen Tag, das geht, und ich brauchte nicht ewig ein Girl zu sein, brauchte nicht ewig die alten, dummen Schlager zu singen und bei den Gästen bis in die späte Nacht zu sitzen. Am Tag war ich dann müde und einsam, war verzweifelt. Zuerst versuchte ich zu lesen, Toller, Tolstoi, Hamsun. Aber ich verstand die Geschichten und die Gedichte nicht mehr. Die Dichter waren für mich gestorben, Marianne. Es war grauenvoll... Jetzt bin ich so müde und so elend und möchte nach Hause... Der Kunstmaler aus Konstanz hat mir geschrieben. Ich soll für immer zu ihm kommen. Und ich will für immer zu ihm gehen. Da brauche ich wenigstens nicht jeden Abend bis in die späte Nacht hinein zu singen und zu springen. Da habe ich Ruhe und Frieden.«

»Arme Flora,« sagte Marianne und seufzte, »und auf den Herrn Hondt hast du keinen Haß?«

»Nein,« antwortete sie, »ich habe auf Hondt keinen Haß. Ja, zuerst habe ich ihn wohl gehaßt, wenn ich die Beine warf und die dummen Texte singen mußte und meine geliebten Dichter vergaß, aber das ist vorbei. Der Hondt ist eine alte Hyäne, weißt du. In Berlin ist viel Aas. Und um Aas sammeln sich die Hyänen. Auf Hondt habe ich keinen Haß mehr. Vielleicht bin ich zu müde dazu. Und weißt du, wenn ich Geld hätte, würde ich noch heute Abend aus dem furchtbaren Berlin fliehen. Am Bodensee ist jetzt Weinlese...«

»Wenn du willst, kannst du noch heute Abend nach dem Bodensee fahren, Flora,« sagte Marianne. »Ich muß hierbleiben. Ich bin gern in Berlin. Berlin ist schrecklich und gewaltig, schrecklich für die Unterlegenen, herrlich für die Sieger. Besuche doch auf der Reise meinen Vater, Flora, erzähle ihm von mir, er wird sich freuen. Und grüße deinen Kunstmaler schön. Und ich will schon dafür sorgen, daß Hondt keine kleinen Mädle mehr quält.«

»O Marianne!« rief Flora. »Heute kann ich noch nach dem Bodensee fahren? Laß dich küssen!« Sie stand auf und küßte Marianne. »Bleibe du in Berlin,« sagte sie dann, »du hast gesiegt. Aber ich gebe auch mich noch nicht verloren. Die ganze Welt ist ja wie eine Bühne, auch in Konstanz. Und überall wird ein Schauspiel: Das Leben, aufgeführt. Wie freue ich mich auf den See! Die Gletscher der Alpen schimmern! Marianne, ich bin ja so glücklich! Und mein Maler soll es gut haben bei mir. Unser erstes Mädle soll Marianne heißen. Aber nach Berlin darf sie nicht fahren. Und deinem Vater singe ich das Lied von Maria und ihrem Glück vor!«

»Kindskopf!« lachte Marianne. »Und grüße auch die alten Tanten zu Hause recht schön von mir!«

»Soll ich auch die Putzmacherin grüßen?«

»Natürlich. Auch die Putzmacherin. Bei der haben wir uns ja kennengelernt, Flora. Und nimm für meinen Vater Rauchzeug mit!« sagte Marianne und holte das silberne Kästchen mit den vielen Zigaretten.

Marianne sah das Leben Floras bildmäßig wie einen Film: den Aufstieg aus dem Dunkel, die schmerzliche Kurve da oben beim Theater und in Berlin und nun die Vollendung in der Heimkehr. Sie saßen noch eine kleine Weile zusammen, zwei gute Freundinnen und hatten sich wiedergefunden.

Dann meldete sich Lyssander telephonisch an.

Und da trennten sie sich.

Marianne hatte Flora hundert Mark geschenkt.

Und als sie sich zum letztenmal die Hände schüttelten, flog Flora ihr um den Hals und küßte sie. Sie lachten und weinten, die Siegerin und die Unterlegene, sie trennten sich endlich, und als Lyssander kam, hatte Marianne immer noch verschleierte Augen.

»Du hast geweint?« fragte er besorgt.

»Ja, ich habe geweint. Ich habe Abschied von einer alten Freundin genommen. Flora ist nach Hause gefahren. Und auch ich habe ein wenig Sehnsucht nach dem Bodensee.« Und als er sie tröstete, erzählte sie langsam und stockend die Geschichte von Herrn Aribert Hondt, die Geschichte von der Probe und von den vielen, kleinen Mädchen, die der Agent vermittelte und auf dem Gewissen hatte.

»Dieser Hund,« wütete Lyssander, »wir sind alle keine Engel, aber dem Schuft will ich schon das Handwerk legen. Wir haben Verbindung mit dem Polizeipräsidium und ich weiß, daß die Leute dort auf Material warten. Sie sollen es haben.«

Marianne lächelte, aber mitten im Lächeln dachte sie an die vielen vielen Mädchen in den Cafés und auf der Filmbörse, die sich auch verkaufen müssen, Tag für Tag, und für die keine Hilfe und Rettung war. Herr Hondt, das war nicht ein einzelner Mann, das war ein ganzes System.

»Sehnsucht nach dem Bodensee hattest du?« fragte Lyssander, »und Paris hast du vergessen, Marianne?«

»Paris vergessen? O nein, die Lola hat erst heute wieder geschrieben, aber wir wollten ja erst im Frühling fahren,« antwortete sie.

»Ja, aber ich habe eine große Überraschung, Liebling. Wir können, wenn du willst, schon morgen reisen,« sagte Lyssander. »Ich komme von Kreß. Neue Pläne schweben. Eine ganz große Sache wird gedreht. In vierzehn Tagen ist sie so weit. Wollen wir eine Woche nach Paris fahren? Und wenn du keine Angst hast, fliegen wir mit dem Flugzeug nach Berlin zurück.«

Sie stürzte in seine Arme.


 << zurück weiter >>