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Mein Vater gab sich und seinen Söhnen für die abwesende Doktorsfrau die Doktorstochter Hermine Bark aus Rhena als Ersatz, ein Wesen wie zum Mahnbild erlesen, unvergleichlich befähigt, alles Vergessen der Fehlenden durch den Mangel aller Gnade bei Gott und den Menschen zu verhüten. »Herminsch«, wie wir sagten, war eine aus Saft und Jugend heraus zäh geräucherte Jungfrau. Es kam sogar zum Handgemenge zwischen ihr und uns Jungen – der eine sprang zu, als er den andern sich widersetzen sah, und der dritte und vierte griffen ein. Nach hergestelltem Gewaltfrieden saßen wir vier in der Pfeifenkrautlaube des Gartens und pflegten in traurig-süßer Eintracht unsere Wunden. Herminsch machte aber doch einige unzulängliche Versuche, von ihrem Ufer an das unsere überzusetzen, unnötig; denn wir verwarfen sie mitsamt ihren Versuchen, wir haßten Herminsch von da, wo sie kam, bis da, wo sie ging. Krankheiten des Vaters brachten weitere Änderungen des häuslichen Zustandes, ein junger Arzt versorgte die Praxis, und auch er, wenn auch nicht handgreiflich, lernte die Herminsche Fuchtel kennen.
An einem Abend während dieser unerwünscht geordneten Zeit mag es gewesen sein, als ich bei voller Stille des leeren Hauses und verlassenen Gartens in der Veranda von einem Buch aufsah. Der gelinde Dämmer des Sommerabends lag überall, und vom Benningsenschen Garten winkten die Wipfel hoher Tannen über die Scheunendächer. Hier widerfuhr mir abermals eine Erschütterung, die im Augenblick durch mich ging und ganz sinn- und gegenstandslos war – und vielleicht doch das heftigste Erleben, das mir beschieden gewesen ist. Ein anderes Mal stand ich an der Nordecke der Insel am großen See hinter dem Gymnasium bei einem ganz artig heranfahrenden Winde und erlebte im Augenblick des Zerfließens einer Welle ein ähnlich übermächtiges Gefaßtwerden – dabei muß mir eine auffällige und ziemlich lächerliche Gebärde entfahren sein, denn ich hörte, wie jemand verweisenden Tons orgelte: »Barlach, Barlach!« – und sah aufblickend in meines Lehrers Bertheau vor Unbehagen steif gewordenes Gesicht, der eben seine junge Frau des Weges spazieren führte. Sein Fleisch wucherte mit einem entsprechenden Wuchs der inneren Menschlichkeit um die Wette, sein von Korps und Couleur gezüchtetes Weltgefühl war im Augenblick von meiner offenbaren Hingegebenheit an irgendwas peinlich Unangemessenes tief gekränkt, er schämte sich meiner, sein Gesicht war blau und wie versteinert.
In einer Nacht sah ich erwachend einen Kopf in der Höhe des meinigen mit einem Paar gutmütiger, fast trauriger Augen. In dieser Nacht regulierte ich bei wütendem Herzschlagen, jeder Sekunde Mühseligkeit erliegend, meine Atemzüge, bis ich es nicht mehr ertrug, mich schlafend zu stellen, und die Augen wieder aufschlug. Es war inzwischen heller geworden, und jemand stand am Fenster, hatte den Vorhang beiseitegeschoben, so daß ein matter Schein auf sein Gesicht fiel, das er dennoch zu mir zurückgewendet hielt, als sei er vom Vorsatz hinauszusteigen durch das leise Regen meiner Glieder abgelenkt.
Wer möchte etwas von den beiden Göllners wissen, meinen Feinden von der Stadtschule? Fast alle Stadtschüler waren Feinde der Gymnasiasten und umgekehrt, nicht etwa aus Grund und Anlaß, sondern schlechthin bloß tatsächlich. Trafen wir uns, ich und die Göllners vor allem, so schlug man sich oder riß aus, wie es gerade kam. Der ältere Göllner hätte mich, wäre es nach ihm gegangen, nicht nur von den Straßen, sondern aus Haus und Leben verscheucht, und ein anderer kreuzbraver Bengel, aber ein unbedingter Hasser, fiel uns viere eines Sonntagsnachmittags mit solch ehrlicher Wütigkeit an, daß wir zum Haufen verknäult eigenartig den Markt belebten und durch Ogger Iben, den Tante Minna vom Balkon zu Hilfe gerufen, erledigt werden mußten.
Ogger Iben war ein Überläufer und hielt es mit den »Feinen«. – Unsere Niederlagen posaunten wir nicht gerade aus, aber als mein Vater mich eines Tages, mit mir über Land fahrend, rücksichtsvoll lächelnd auf einen Fall ansprach, der unser Renommee völlig ruiniert hatte, ließ ich seinen Spott gelten. Es hatte der ganzen Mannschaft der unteren Gymnasialklassen simpel an Courage gefehlt, und sie hatte sich im Schirachschen Garten salviert. Die feindlichen andern schlugen drein, als gelte es nicht den kindischen Ernst eines Kräftespiels, sondern Sieg oder Tod.
Ich glitt durch die Tage und weidete durch die Jahre hin, die Augenblicke sogen sich voll Zeitlosigkeit und häuften sich zu Schichten und Gruppen, die unzusammenhängend mit dem Organismus des Schul- und Hauskinderdaseins das Leben im Rhythmus voranführten. Ich lebte mit Lederstrumpf und Sigismund Rüstig kameradschaftlich, einhellig und von ihrem Wesen sattgesäuert und zufriedengeläutert, mit Gestalten eines seltsamen Bandes, platzend voll eines Geschehens, das mich, ungläubig und überzeugt zugleich, oft bedenklich zurichtete, dagegen als widerwilliger Knecht, barsch geheißen, aus meiner Verstörtheit aufzumerken auf ein hochfahrendes Kreisen von gewalttätigen Herrlichkeiten. Der Name auf dem Titelblatt mißfiel mir, ich ließ ihn außer acht, bis ich später feststellte, daß es ein einbändig vollständiger Shakespeare, übersetzt von Fischer, Böttger, Ortlepp, Oetkers und andern, war. Schmöker jeder Art waren willkommen, ich lief ihnen nach, kannte und achtete nicht Namen, Rang noch Stand – alles war gut, wenn es nur den Zauber besaß, mich meiner selbst ledig und von mir vergessen zu machen. Doch das Leben nahm mich bisweilen am Genick und stieß mich mit der Nase in seine Wirklichkeiten, ich bekam die Elementarbücher des Geschehens um die Ohren geschlagen, daß mir der Kopf brummte.
Den Marterweg eines Menschen, der sich unter Krämpfen durch die Stadt schleppte, begleitete ich, unfreiwillig und fast unwissentlich, von Station zu Station, vergessend, wo, wer, was ich sonst war, wenn nicht der Mann der Schmerzen selbst, vielleicht schwerer leidend, im Gefühl unbarmherziger geschüttelt als er – – –. Mit unserm Kutscher »Hoschen«, wie wir ihn nannten, saß ich einst neben den Pferden auf der Diele eines Bauernhauses, in dessen innerm Raum sich das Letzte eines an Diphtherie sterbenden Kindes begab. Mein Vater und der des Kindes unternahmen drinnen irgendwelche verzweifelten Handlungen zur Rettung oder Erleichterung, wovon die Tochter des Hauses der Mutter von Zeit zu Zeit wie mit gewürgter Kehle die grausigen Einzelheiten zutrug. Diese beiden Frauen standen vor unsern Augen leibhaftig im Tiefsten der Hölle. Als alles vorüber war, begleitete der Bauer meinen Vater an den Wagen, drückte seine Hand und sah immer noch wie ein Mensch aus. Wir fuhren heim und beobachteten ein schweres Schweigen gegeneinander. Als an einem der nächsten Tage die Mutter des Kindes aus dem Sprechzimmer trat, vor dem ich gelauscht hatte, weil mein Vater seltsam eindringlich und, was mich betroffen machte, wie selbst erschüttert zu ihr gesprochen, sah sie über mich hin mit Augen, denen das Sehen anderer Dinge als des einen einzigen von damals verlorengegangen schien.
Einem Knecht auf Kogel war von der Maschine der halbe Arm abgeschnitten, nun lag er ohne Besinnung bei uns auf der Diele, wo man ihn abgeladen hatte. Ein blutfeuchtes Tuch war um den Stumpf gewickelt. Das zarte Kind Else Keferstein war bei meiner Mutter zu Besuch und fand durch den Halbverbluteten den Heimweg versperrt, sie war immerhin etwas älter als ich und wußte schon, daß der da eben ein anderer war als sie in ihrer backfischigen Wohlgeborenheit – ich hatte dagestanden und es nicht gewußt. Also der Zustand des Mannes setzte ihrer Fassung sehr zu, und sie mußte umkehren und sich an einem Gläschen Portwein erholen. Ich hörte aber die genaue Schilderung der Herfahrt mit an, die der Kogeler Kutscher Hoschen machte – nach solchen und ähnlichen Einblicken blieb ich viele Tage unbrauchbar für das gemeine Leben.
Nun muß ich auch die sonderbare Erfahrung erwähnen, die ich mit einem meinen Händen anvertrauten Kaspertheater machte. Es war ein Weihnachtsgeschenk, die Veranstaltung meiner Mutter, die hauptsächlichste, fast einzige Gabe dieses Abends, und ich hatte sie ohne zugreifende Lust empfangen. Dieser Abend machte mit der Vorstellung der unerschöpflich sprudelnden weihnachtlichen Lustquelle ein Ende, Trauer kam über mich Armen, der sich im voraus so unendlich gefreut hatte und doch nur mit halber Lust beglückt war. Das dumme Theater! Aber wenn ich dann doch einmal die Puppen zur Hand nahm, halb neugierig, was wohl damit zu vollbringen sei, vielleicht durch die Erwartung der Brüder oder Freunde gereizt, so fuhr etwas von ihnen in mich, so daß das Ding einen selbsttätigen Verlauf einschlug, daß die hölzernen Köpfe von Kasper, Tod und Teufel durch meinen Mund ihre Sprache rappelten und daß da überhaupt Vorfälle sich schoben und miteinander tanzten, deren Anstifter zu sein ich mir nicht bewußt war. Es brauchte keine Mühe, höchstens einen gewaltsam hergestoßenen Anfang, und das Stück bekam Fortgang und Ende.
Mühe hatte ich aber beim Zeichnen – etwas zu erfinden, ja, das war wohl nicht so schwer, aber solche schönen Blätter wie die der Prachtausgabe zu Hauffs Märchen etwa zu kopieren schien mir schon darum verdienstlicher, weil es weit mehr Arbeit kostete. Eines von diesen mit Blei tief ins Papier gegrabenen Stücken bekam mein Vater zu Weihnachten. Er fühlte sich wohl durch meinen guten Willen erfreut und stellte den Karton in seinem Sprechzimmer auf; als dann einmal ein Bauer staunend davor Halt machte und zu hören bekam: »Dat hett min Jung makt«, meinte er ehrlich: »Dat mütt jo een kloken Jung sien.«
Ich legte indes meinen Kanon des Schönen fest, oder machte doch Anstalten dazu – muß ein Profil nun so oder so verlaufen, um das zu sein, was als Ausdruck der baren Herrlichkeit gelten konnte –, ich zeichnete mit Qual, weil ich die Beschaffenheit dessen nicht erkannte, was ich zustande brachte, und sah mein eigenes Gesicht im Spiegel oder sonst jemandes mit schmerzlicher Neugierde, wie, was ich sah, eigentlich war und was es mit dem Eigentlichen an diesem – genau besehen Unbekannten – denn wohl schließlich auf sich hätte.
An einem Nachmittage, als wir aus der Schule kamen, standen die Eltern uns erwartend zusammen da. Meine Mutter war heimgeholt und erkannte an unserer stummen Verlegenheit und befangenem Grüßen ihre Söhne. Das Haus hatte seine Ordnung wieder, die Ehe blieb ungetrübt, das Dasein ließ sich harmonisch an, das alte Haus wurde mit einigem Aufwand renoviert, und doch, als meine Mutter eines Tages durch die offene Haustür und alle friedlich daliegenden Räume hindurch uns vier gemächlich auf dem Rasen des Gartens balgen sah, zog die Ahnung von dem Unbestand dieses behäbig gelagerten Seins durch ihr Herz.
Vor Pfingsten 1884 reisten die Eltern miteinander zum Besuch der Altonaer Verwandten, mein Vater kehrte zurück und ließ seine Frau einige Tage allein, um in der neuhergestellten Gewogenheit der Sippe warm zu werden. Ich lag im Bett, als ich ihn bald darauf von einer Fahrt spät heimkehrend zu dem Mädchen sagen hörte: »Der Kutscher ist krank, und ich bin auch nicht wohl, Sie dürfen niemand hereinlassen.«
Es kam aber doch zu einer Bestellung aufs Land, der Arzt ließ sich nicht vergebens rufen und kehrte nach einem weiten Fußmarsch bei Nacht krank zurück. Die Herren Kollegen sahen in dem Ganzen den Anlaß zu einem launigen Konzil am Krankenbett, kamen und gingen, berieten ein bißchen und lachten aus vollem Halse über so ein Ding von Lungenentzündung, qualmten das Zimmer voll Rauch und blieben alle miteinander aus, als die Krankheit auf diese Art Behandlung nicht einging. Meine Mutter wurde gerufen, Onkel Karl, Arzt in Neumünster, eilte herbei und sagte eines Morgens früh, während er sich mit Vehemenz die Zähne putzte, zu mir: »Du, mit deinem Vater steht es faul« –, reiste aber ab, weil er schwere Fälle in eigener Praxis wahrnehmen mußte.
Der Arzt war ohne Arzt.
Am Dienstag nach Pfingsten wurde ich gerufen und mußte sehen, wie ein Zoll zu früh eingefordert wurde, ein Zoll, den ein Mann nicht anerkannte und der grausam eingetrieben ward.
Am Nachmittag dieses sonnigen Junitages gingen wir alle in die Pfeifenkrautlaube und hörten die Stunde drei vom Kirchturm schlagen. Sonst war alles totenstill, und die meinem Vater beschiedenen fünfundvierzig Jahre waren um.