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XX.

Das Feuer.

Plötzlich aus dem Schlafe geweckt, öffnete ich die Augen und blickte in die Dunkelheit.

– Was? Was ist los?

– Bist dran, 's ist zwei Uhr in der Früh, sagte Korporal Bertrand, den ich nicht sah, dessen Stimme ich aber vernahm; er stand am Eingang des Loches, in dem ich lag.

Ich komme, knurrte ich; dann schüttle ich mich aus dem Schlaf, gähne in den engen Hohlraum meiner Gruft hinein und strecke die Arme aus, wobei meine Hände die weiche, kalte Lehmerde berühren. Dann krieche ich durch die dicken Schatten, die den Unterschlupf erfüllen, und durch die Stickluft zwischen die Leiber der Schlafenden hindurch, die wie geschlagen am Boden liegen. Dabei bleibe ich hängen und stolpere über Rüstzeug, über Tornister und über Gliedmassen, die nach allen Seiten ausgestreckt liegen; dann fasse ich mein Gewehr an und stehe draussen in der freien Luft, im Dusel, unsicher auf den Beinen, und der scharfe und schwarze Wind faucht mich wütend an.

Schlotternd folge ich dem Korporal zwischen den hoch aufgeschütteten, schwarzen Grabenmauern, die sich nach unten einander nähern und unsere Schritte beengen. Der Korporal bleibt stehen. Wir sind am Posten angelangt. Ich sehe, wie eine dicke Gestalt sich auf halber Mauerhöhe von der gespensterhaften Wand loslöst und herabsteigt. Jetzt wiehert diese Gestalt ein Gähnen aus und ich steige in die Nische, in der sie gestanden hatte.

Der Mond versteckt sich hinter nebelhaftem Dunst; über die Dinge aber fliesst ein sehr verschwommenes Licht, an das sich das Auge tastend gewöhnt. Jetzt verdunkelt sich alles wieder unter dem breiten Fetzen eines Schattens, der am Himmel dahingleitet. Ich betaste den Rahmen und die Spalte der Schiesscharte, aber ich unterscheide nicht, was vor meinen Augen steht. Jetzt betaste ich mit der Hand die dort angebrachte Vertiefung und stosse auf einen Haufen Handgranatenstiele.

– Pass gut auf, gelt Alter, sagt Bertrand leise. Denk dran, dass dort vorne links unser Horchposten steht. So, auf Wiedersehen.

Und seine Schritte entfernen sich, hinter ihnen her der verschlafene Schritt der Wache, die ich abgelöst habe.

Von allen Seiten knallen Gewehrschüsse. Plötzlich klatscht eine Kugel glatt in die Böschung, an die ich mich anlehne. Ich stecke mein Gesicht in die Schiessscharte und sehe unsere Linie, die sich auf der Höhe des Abgrundes hinschlängelt. Das Gelände senkt sich vor mir und taucht in die unsichtbare Schattenkluft hinein. Allmählich aber unterscheidet der Blick die Pfähle unseres Drathverhaues, der in die Schwelle jenes Schattenmeeres eingerammt ist. Hier und dort sieht man auch die kreisförmigen Trichterwunden der Granaten, kleine, mittlere und ungeheure; manche liegen ganz nah und entfalten ein geheimnisvolles Durcheinander von Gegenständen. Der Nordwind bläst mir ins Gesicht. Nichts regt sich, nur der Wind, der vorüberstreicht, und die endlose Feuchtigkeit, die auf die Erde tropft. Es ist kalt und man schlottert in einem fort. Ich hebe die Augen auf und schaue hierhin, dorthin. Eine endlose Trauer liegt drückend über der ganzen Gegend, und mir ist, als sei ich nach einem Schiffbruch der einzig überlebende in einer Welt, die eine Katastrophe zerstört hat.

Ein rascher Blitz erhellt die Luft: eine Rakete. Das Gelände, in das ich hineingeworfen bin, wird sichtbar und ersteht rings um mich herum. Man sieht den zerrissnen, zerzausten Kamm unseres Schützengrabens und dann, an der vorderen Wand, wie angeleimt, alle fünf Schritt die senkrechten Larvenschatten der Wachen. Einige Lichttropfen verraten ihr Gewehr, das neben ihnen steht. Der Graben ist zum Schutz mit Erdsäcken ausgepolstert; er ist auf seiner ganzen Länge ziemlich breit und an manchen Stellen eingestürzt. Die Erdsäcke liegen platt aufeinander, schlecht aneinandergefügt und sehn aus im Astralschein der Rakete, wie die ausgerenkten Steinplatten alter Ruinen. Ich schaue durch die Scharte und erblicke im bleichen Lichtdunst, den der Meteor ausgestreut hat, die Pfosten und sogar die dünnen Linien der Drähte, die sich von einem Pfahl zum andern hin kreuzen. Es sieht aus wie ein Gesudel von gekritzelten Federstrichen, das sich über die fahle und durchlöcherte Landschaft ausbreitet. Tiefer unten im Schattenmeer des Abgrundes liegt schweres, unbewegliches Schweigen.

Ich steige von meinem Beobachtungsstand herunter und taste nach meinem Nachbar; ich erreiche ihn mit ausgestreckten Händen.

– Bist du's? frage ich leise, ohne ihn zu erkennen.

– Ja, antwortet er; er weiss nicht, wer ich bin, denn es ist dunkel für ihn wie für mich.

– Augenblicklich ist es ruhig, fügt er hinzu. Vorhin sahs aus, als wollten sie angreifen; vielleicht haben sie's auf der rechten Seite versucht, da haben sie haufenweise Granaten hingeschissen. Dann gabs Sperrfeuer mit 75er, wrrrrang ... wrrrrang ... mein Lieber; Herrgott, hab ich gedacht, die arbeiten im Akkord, die 75er! Wenn die Deutschen raus sind, haben sie sicher was abgekriegt! Da, horch, dort, die Kügelchen, wie sie abhüpfen! Hörst du?

Dann verstummt er, öffnet seine Feldflasche und trinkt einen Schluck, sodass sein letzter Satz, den er immer noch leise spricht, nach Wein riecht:

– A – la – la – Ist das ein verdammter Schweinekrieg! Glaubst du nicht, es wäre schöner zu Hause? Nanu! Was hat er denn, der Besoffene!

Soeben knallte neben uns ein Gewehrschuss und brannte einen kurzen phosphoreszierenden Strich in die Nacht. Darauf knallte es noch verschiedentlich auf unsrer Linie. Nachts sind eben Gewehrschüsse ansteckend.

Wir möchten wissen, warum geschossen wurde und tasten durch die dicke Nacht, die sich wieder wie ein Dach über uns ausgebreitet hat; wir tappen zu einem der Schützen hin. Dabei stolpern wir und fahren aneinander, erreichen ihn aber schliesslich und stupfen ihn.

– Was war denn los?

Er hatte geglaubt, etwas sich rühren zu sehen, und dann war's wieder still geworden. Darauf kehren wir, mein unbekannter Nachbar und ich, in der dichten Dunkelheit und auf dem engen, mit fettem Kot belegten Weg zu unserm Posten zurück, stolpern dabei, schinden uns ab und laufen krumm, als trügen wir eine erdrückende Last.

Jetzt donnert's an einem Punkte des Horizontes und dann an einem zweiten und schliesslich rings um uns herum; das schwere Gekrache dröhnt in die Gewehrsalven hinein, die zuweilen anschwellen, dann wieder erlöschen, und in die Granatschüsse, die in der Luft knallen, voller als das Knallen der Lebel- und Mausergewehre; diese erinnern ungefähr an den alten klassischen Gewehrschuss. Der Wind ist noch stärker geworden; er pfeift so wütend, dass man sich in der Dunkelheit gegen ihn wehren muss; mächtige Wolkenladungen wälzen sich vor den Mond.

Und wir stehn da, der andere und ich, nebeneinander und berühren uns ohne uns zu kennen. Plötzlich erblicken wir uns gegenseitig im raschen Widerschein einer Kanone; beide stehn wir da in der Nacht, mitten in einem ungeheuren Kreis von Feuersbrünsten, die in diesem Hexensabbat aufleuchten und wieder erlöschen.

– Uns hat jemand verflucht, sagt mein Nachbar.

Dann gehn wir wieder auseinander, ein jeder an seinen Schacht und sehen uns wiederum an der Regungslosigkeit der Dinge die Augen müde.

Welch schreckliches und schauriges Unwetter ist wohl wieder im Anzug?

Das Unwetter brach in jener Nacht nicht aus. Als der Morgen sein erstes Licht gebar und meine Wache zu Ende war, wurde es sogar ruhig.

Während der Morgen über uns wie ein Gewitterabend graute, erblickte ich noch einmal unter dem Russlappen der niederen Wolken die steilen, trostlosen und schmutzigen, grenzenlos schmutzigen und mit Schutt und Auswurf beladenen Ufer des zerrinnenden Grabens, in dem wir stehn.

Der Mond streicht seine fahle Blässe an die bleifarbnen Säcke, die ihre leise schimmernden Bäuche runden, wie ein grosser Haufen riesenhafter Eingeweide, die man nackt auf die Erde gelegt hätte.

Hinter mir in der Grabenwand tut sich eine Höhle auf; drin liegen wie ein Scheiterhaufen wagerecht aufgestapelte Gegenstände.

Sind es Baumstämme? Nein: es sind Leichen.

*

Allmählich steigt der Schrei der Vögel wieder aus den Furchen empor, die verschwommenen Felder werden sichtbar, das Licht glänzt und blüht wieder auf jedem Grashalm; ich blicke in den Abgrund. Tiefer als die rhythmischen Felder mit ihren hohen Erdwellen und ihren ausgebrannten Trichtern, jenseits der eingerammten Pfähle, stockt die Nacht immer noch wie ein nächtliches, unbewegtes Meer; mir gegenüber steht immer noch die Finsternis aufgetürmt wie eine schwarze Mauer.

Dann blicke ich rückwärts und betrachte die Toten, die sich allmählich aus der Dunkelheit herausschälen; man erkennt ihre erstarrten und befleckten Formen. Es sind ihrer vier, unsere Kameraden Lamuse, Barque, Biquet und der kleine Eudore. Hier liegen sie, dicht neben uns, und verwesen; sie versperren zum Teil die gekrümmte und kotige Furche, die zu verteidigen die Lebenden immer noch nicht müde sind.

Man hat sie hingelegt, wie's gerade ging; sie liegen mit erdrückender Last dicht aufeinandergepresst. Der obere ist in ein Zelttuch eingewickelt. Ueber die anderen Gesichter hat man Taschentücher gebreitet; aber wenn man nachts in der Dunkelheit oder am Tage aus Versehn dran streift, dann fallen die Tücher mitunter herab; so leben wir in Gesellschaft dieser Toten, die hier wie ein lebendiger Scheiterhaufen aufgestapelt liegen.

*

Vor vier Nächten wurden sie alle vier zusammen getötet. Meine Erinnerungen an jene Nacht sind getrübt wie ein verschwommener Traum, den ich geträumt habe. Wir waren auf Patrouille, sie und ich, Mesnil André und Korporal Bertrand. Es handelte sich darum, einen neuen deutschen Horchposten, der von den Artillerie-Beobachtern signalisiert worden war, auszukundschaften. Gegen Mitternacht stiegen wir aus dem Graben und waren den Abhang nebeneinander mit drei oder vier Schritt Abstand hinunter gekrochen. Dabei waren wir so tief hinuntergeraten, dass die Böschung ihres internationalen Laufgrabens wie ein verendetes Tier dicht vor unsern Augen lag. Nachdem wir dann festgestellt hatten, dass hier kein Horchposten stand, waren wir wieder mit unglaublicher Vorsicht hinaufgeklettert; ich sah in der Dunkelheit die verschwommenen Gestalten meines rechten und linken Nebenmannes, die sich wie dunkle Säcke auf dem Boden hinschleppten und langsam vorwärtskrochen, sich wurmartig auf der Erde hinschlängelten, sich im Kote wälzten und durch die schwarzen Schatten die Nadeln ihres Gewehres vorwärts stiessen. Kugeln pfiffen über unsere Köpfe hin, aber sie spürten uns nicht auf, denn sie hatten uns nicht gesehn. Als wir nun vor dem Wulst ankamen, den unsere Linie bildet, haben wir einen Augenblick Atem geschöpft; einer von uns stiess einen Seufzer aus, ein anderer sprach etwas; noch ein anderer kehrte sich vollständig um; dabei stiess seine Bajonettscheide an einen Stein. Mit dem gleichen Augenblick aber spuckte aus dem internationalen Graben eine Rakete wütend auf. Wir warfen uns platt auf die Erde und blieben in verzweifelter Regungslosigkeit liegen; in dieser Stellung warteten wir ab, während das schreckliche Licht jenes unheilvollen Sternes über uns hing und uns fünfundzwanzig bis dreissig Meter von unserem Schützengraben entfernt mit ihrem taghellen Licht beschien. Dann knatterte ein Maschinengewehr jenseits des Abgrundes und fegte über das Gelände, in welchem wir lagen. Korporal Bertrand und ich hatten das Glück im Augenblick, als die Rakete rot aufstieg und bevor, sie ihr Licht ausspuckte, am Rande eines Granatenloches zu liegen, in welchem ein Holzgestell im Kote steckte. Wir drückten uns beide gegen den Rand des Loches und tauchten so tief als möglich in den Schlamm hinein; so fanden wir hinter jenem armseligen, morschen Holzskelett ein schützendes Versteck. Dann war der Strahl des Maschinengewehres mehrere Male vorübergefegt. Und bei jedem Knall hörte man ein Pfeifen und das knappe und heftige Einschlagen der Kugeln in die Erde; dabei klang es auch wie dumpfe, matte Peitschenhiebe, denen Seufzer folgten; dann kam ein leiser, kurzer Schrei und dann plötzlich wie tiefes Schnarchen eines Schläfers, das dann allmählich erlosch. Unterdessen warteten Bertrand und ich das Kommende ab, während der wagerechte Hagel dicht über uns hinstrich, ein Totenreich abgrenzte und mitunter an unsern Kleidern zupfte. Wir vermieden die kleinste Bewegung, die unsern Körper gehoben hätte, und drückten uns immer tiefer in den Kot hinein. Endlich verstummte das Maschinengewehr und eine unendliche Stille trat ein. Nach einer Viertelstunde krochen wir dann beide aus dem Loch, schleppten uns auf den Ellenbögen vorwärts und fielen endlich wie Säcke in unsern Horchposten zurück. Es war allerhöchste Zeit, denn in diesem Augenblick kam der helle Mond zum Vorschein. Wir mussten dann bis zum Morgen und wiederum bis zum folgenden Abend im Graben versteckt bleiben; denn die Maschinengewehre begossen ohne Unterbruch die Böschung. Durch die Schachte des Horchpostens konnte man wegen des steilen Abhanges die liegenden Leichen nicht sehen. Nur an der Grenzlinie des Sichtfeldes sah man eine Masse liegen; offenbar war es der Rücken eines jener Gefallenen. Des Abends wurde eine Sappe nach der Stelle durchgebrochen. Aber eine Nacht genügte zu dieser Arbeit nicht; sie musste in der darauffolgenden Nacht von den Pionieren wieder aufgenommen werden, denn wir waren vor Müdigkeit so zerschlagen, dass wir hätten einschlafen können.

Als ich dann später aus einem schweren Schlafe erwachte, sah ich die vier Leichname, denen die Pioniere von unten her beigekommen waren und die sie mit Seilen in die Sappe hineingezerrt hatten. Jeder von ihnen hatte mehrere, nebeneinander liegende Wunden, da die Kugeln auf einige Zentimeter Abstand eingeschlagen hatten; die Mitrailleuse hatte demnach satt geschossen. Den Leichnam von Mesnil André konnte man nicht auffinden, obwohl sein Bruder Joseph zu seiner Auffindung wahnsinniges geleistet hatte; er war ganz alleine aufs offene Feld getreten, obwohl es ununterbrochen der Länge und der Breite nach beschossen wurde; er war unter das Kreuzfeuer der Maschinengewehre gekrochen. Des Morgens kam er wie eine Schnecke angeschlichen und streckte sein erdgeschwärztes und schrecklich entstelltes Gesicht über die Böschung.

Dann hat man ihn hineingezogen. Er hatte sich die Backen am Stacheldraht wundgerissen; seine Hände bluteten und schwere Kotklumpen hafteten in den Falten seiner Kleider, die nach Tod rochen. Er aber wiederholte wie ein Wahnsinniger: »Nirgends liegt er«. Dann hat er sich mit seinem Gewehr in eine Ecke gedrückt, und machte sich ans Putzen, ohne auf die Worte zu achten, die man an ihn richtete; er wiederholte nur in einem fort: »Nirgends liegt er«.

Vier Nächte sind seither verstrichen und immer noch liegen die Leichen da und zeichnen ihre Formen in das Morgengrauen, das aufs neue anbricht und die irdische Hölle bestreicht.

Barque scheint in seiner Starrheit ins Ungemessne gewachsen. Seine Arme liegen fest am Körper an, seine Brust ist zertrümmert und sein Bauch wie ein Trog ausgehöhlt. Sein Kopf liegt hoch auf einem Kothaufen und guckt über die Füsse hinweg diejenigen an, die von links herkommen; sein Gesicht ist verfinstert und bedeckt mit schleimigen Flecken vom herabhängenden Haar; dicke Blutkrusten liegen darauf wie eingemeisselt; seine Augen sind ausgebrannt, blutend und wie ausgekocht. Eudore scheint im Gegenteil ganz klein; sein winziges Gesicht ist weiss, so weiss, dass es an das Mehlgesicht eines Pierrot erinnert. Ein ergreifendes Bild, dieses Gesicht, das als weisser, runder Fleck vom grauen und bläulichen Durcheinander der Leichen absticht. Der Bretone Biquet ist untersetzt und viereckig wie eine Steinplatte; er reckt sich scheinbar in ungeheurer Kraftanstrengung und sieht aus, als wolle er den Nebel aus den Angeln heben. Diese kolossale Anstrengung aber zieht das Gesicht zu einer Fratze zusammen, lässt die Höcker der Backen und der Stirne vortreten, drückt ihm einen schaurigen Ausdruck auf, lässt stellenweise die erdbeschmutzten und getrockneten Haare scheinbar zu Berge stehn, spaltet den Kiefer wie zu einem geisterhaften Schrei, reisst die Lider weit über die matten und verwischten Augen, über seine Kieselsteinaugen, und seine Hände, die ins Leere gegriffen haben, sind zusammengekrallt.

Barque und Biquet haben Löcher im Bauch; Eudore hat welche im Hals. Das Schleppen beim Transport hat sie noch mehr entstellt. Der dicke Lamuse, in dem kein Tropfen Blut mehr war, hatte ein geschwollenes und gefaltetes Gesicht, in das sich die Augen einbohrten, das eine tiefer als das andere. Man hat ihn in ein Zelttuch eingewickelt; an der Halsstelle saugt sich ein schwarzbrauner Flecken ins Tuch ein. Die rechte Schulter war von mehreren Kugeln zerhackt, sodass der Arm nur noch an einzelnen Aermelfetzen und herumgewickelten Schnüren hing. In der ersten Nacht hing dieser Arm noch lose aus dem Haufen heraus und seine Hand, die sich an einen Erdklumpen fest klammerte, berührte das Gesicht der Vorübergehenden. Dann wurde der Arm am Mantel festgebunden.

Allmählich aber weht eine Pestwolke über die Ueberreste jener Menschen, an deren Seite man gelebt und so lange Zeit gelitten hatte.

Während wir sie anschauen, sagen wir: »Sie sind tot alle vier«. Aber sie sind zu sehr entstellt, als dass uns ihre Identität wirklich zu Bewusstsein käme. Erst wenn man sich von diesen unbeweglichen Gespenstern abwendet, empfindet man die Leere, die zwischen uns und den gemeinsamen und nunmehr zerrissenen Erlebnissen klafft.

Die Soldaten aus den andern Kompagnien oder Regimentern, das heisst die Fremden, die hier Tags vorübergehn – (nachts stützt man sich unbewusst auf alles, was die Hand erwischt, totes oder lebendiges) – sie stutzen am Tage vor diesen Leichen, die mitten im Graben aufgeschichtet liegen. Manchmal sogar meinen sie zornig:

– Was fällt den Leuten eigentlich ein, die Leicheriche hier liegen zu lassen?

– 'ne Schande ist es.

Dann aber fügen sie hinzu:

– Eigentlich schon wahr, man kann sie nicht gut hier wegtragen.

Sie konnten erst in der Nacht begraben werden.

Der Morgen ist angebrochen. Uns gegenüber erblickt man den andern Abhang des Abgrundes: es ist die Höhe 119, ein glattrasierter, abgeschälter, aufgewühlter Hügel. Laufgräben schlängeln sich wie Adern hindurch; die parallel eingezeichneten Schützengräben erkennt man am frischen Lehm und an der aufgeschütteten, kreidigen Erde. Nichts regt sich und unsre Granaten, die hie und da wie ungeheure Wellen ihren breiten Schaum an den Hügel schlagen, scheinen mit Getöse gegen einen zerfallnen, verlassnen, alten Hafendamm zu branden.

Jetzt werde ich abgelöst und die andern, in feuchte und tropfende Zelttücher eingewickelten Wachen schälen sich mit ihren Kotstriemen, ihrer Schmutzrinde und ihren fahlen Mäulern aus der Erde heraus, in der sie eingeschachtelt waren; darin setzen sie sich in Bewegung und schreiten bergab. Der zweite Zug rückt an und besetzt die Schiesstände hinter den Schachten. Wir aber haben Ruhe bis zum Abend.

Jetzt gähnt man und spaziert hin und her. Man begegnet einem Kameraden, dann einem andern. Offiziere gehn hin und her mit Feldstechern und Geländespiegeln. Nun ist man wieder beisammen und lebt wieder auf. Die gewöhnlichen Unterhaltungen kommen in Gang und die gewohnten Worte werden wieder gewechselt. Und sähe man nicht den verwahrlosten Zustand, die zerschossenen Ränder unseres Grabens, der, in den Hügel eingeschnitten, uns verborgen hält, und müssten wir nicht leise sprechen, so wäre es hier wie im Etappengebiet. Und doch sind wir gedrückt, die Gesichter sind gelb und die Augenlider gerötet; vom langen Wachen her sehn wir aus, als hätten wir geweint. Wir sind alle seit einigen Tagen krumm und alt geworden.

Aus meiner Korporalschaft haben sich allmählich alle an der Grabenbiegung eingefunden. Sie hocken dorthin, wo es kreidigen Boden hat, wo die Erdarbeiten die Erdrinde, die von abgehackten Baumwurzeln starrt, aufgedeckt und die weissen Steinschichten blossgelegt haben, die seit mehr als hunderttausend Jahren im Schatten unter der Erde lagen.

Hier an dieser erweiterten Stelle landet Bertrands Korporalschaft. Zur Stunde ist sie arg zusammengeschmolzen; denn abgesehn von den Toten, die wir in jener Nacht verloren hatten, ist auch, Poterloo während einer Ablösung gefallen; Cadilhac wurde am gleichen Abend durch ein Sprengstück am Bein verwundet. (Wie weit zurück dies alles schon liegt!) Auch Tirloir fehlt und Tulacque. Beide sind auf Urlaub; der eine wegen Ruhrkrankheit, der andere wegen einer Lungenentzündung; diese nimmt eine schlechte Wendung, heisst es auf seinen Postkarten, die er uns schreibt, um sich zu zerstreuen, denn er vegetiert im Spital im Innern des Landes.

Noch einmal sehe ich vereint die Gesichter und die wohlbekannten Gestalten derer, die seit Anfang noch nie voneinander gekommen sind; die Erde hat sie verdreckt und der graue Rauch des Himmels beschmiert; sie sind brüderlich aneinandergekettet und aneinandergefesselt. Nur die Kleidungen jener Höhlenbewohner haben sich verändert und sind gleichartiger geworden.

Vater Blaire zeigt in seinem alten Mund eine Reihe neuer, glänzender Zähne – so dass man in dem ganzen armseligen Gesicht nur dieses sonntäglich geputzte Kauwerk sieht. Diese fremde Zahnreihe ist ein Ereignis; allmählich zähmt er sie und manchmal bedient er sich ihrer; sie hat in seinem Charakter und seinen Sitten grosse Aenderungen hervorgerufen: er ist fast nie mehr schwarz besudelt und vernachlässigt kaum sein Aeusseres mehr; denn, nachdem er nun schön geworden ist, empfindet er auch das Bedürfnis zu gefallen. Augenblicklich ist er verstimmt; vielleicht, o Wunder, weil er sich nicht waschen kann. Er hockt in eine Ecke gedrückt, öffnet halb ein leeres Auge, kaut und wiederkäut seinen Soldatenschnurrbart, der früher der einzige Schmuck seines Gesichtes war und spuckt von Zeit zu Zeit ein Härchen aus.

Fouillade schlottert und gähnt; er ist verschnupft, entmutigt und kahlköpfig. Marthereau ist immer noch derselbe: er trägt noch immer seinen Bart, hat stets dasselbe runde, blaue Auge und so kurze Beine, dass die Hose ihm immer von der losen Hüfte auf die Füsse zu fallen scheint. Cocon ist auch noch der gleiche Cocon mit seinem trocknen Pergamentschädel, in welchem die Ziffern ununterbrochen an der Arbeit sind; aber seit ungefähr acht Tagen plagen ihn die Läuse wieder; man errät es an den roten Verwüstungen seines Halses und seiner Handknöchel; deshalb verzieht er sich auch öfters in die Einsamkeit; dort hat er lange Kämpfe mit den Tieren auszufechten, worauf er dann wuterregt zu uns zurückkehrt. Paradis verliert seine schönen Farben nicht und ist immer gleich gut gelaunt; er ist unveränderlich und nicht klein zu kriegen. Alles lächelt, wenn er von weitem kommt und auf den Erdsäcken als Hintergrund wie ein frisch angeschlagenes Plakat aussieht. Auch Pépin ist immer noch derselbe; er läuft immer noch mit seiner rot und weiss karierten Wachstuchplatte auf dem Rücken herum; von vorne zeigt er sein altes, messerscharfes Gesicht; sein Blick ist grau und kalt wie der Schimmer eines Langfisches. Auch Volpatte hat sich nicht verändert; er trägt noch immer seine dicken Gamaschen an den Beinen, seine Decke auf dem Rücken und hat dasselbe mit Schmutz tätowierte Anamiten-Gesicht; Tirette desgleichen, obwohl ihn seit einiger Zeit, woher weiss man nicht, im Auge blutrote Fasern jucken. Farfadet steht immer nachdenklich abseits und wartet. Bei der Briefverteilung wacht er aus seiner Träumerei auf und geht hin; dann, wenn's vorbei ist, verkriecht er sich wieder in sein Inneres. Seine Bürokratenhände schreiben sorgfältig zahllose Postkarten. Er weiss nichts vom Tod seiner Eudoxie. Lamuse hatte mit niemandem mehr über die letzte und schreckliche Umarmung ihres Leichnams gesprochen; ich verstand, dass Lamuse es bereut hatte, mir an jenem Abend sein Geheimnis anvertraut zu haben; bis zu seinem Tode hat er jene fürchterliche, jungfräuliche Begebenheit mit einer hartnäckigen Scham in seinem Innersten bewahrt. Deshalb lebt Farfadet weiter mit jenem blondhaarigen Bild, das er nur dann vergisst, wenn er in kurzen Worten mit uns Fühlung sucht. Korporal Bertrand bewahrt immer noch sein soldatisches, ernstes Aeusseres; er ist immer bereit uns ruhig zuzulächeln, denjenigen, die darum bitten, klare Auskunft zu erteilen und jedem bei der Erfüllung seiner Pflicht behilflich zu sein.

Wir unterhalten uns wie früher, wie ehemals. Aber wir dürfen nur leise sprechen; deshalb erzählen wir einander nicht viel und unsere Worte dämpft eine leidtragende Stille.

*

Etwas aber ist dabei nicht nach Gewohnheit. Seit drei Monaten dauert der Aufenthalt im Schützengraben der ersten Linie für jede Einheit vier Tage. Diesmal aber sind wir bereits fünf Tage hier und von Ablösung ist noch nicht die Rede. Einige Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff sind im Umlauf; sie rühren von den Verbindungsposten und den Fassmannschaften her, die jede zweite Nacht, unregelmässig und ohne Verlass unsere Verpflegung besorgen. Zu diesen Gerüchten kommen noch andere Indizien hinzu: Kein Urlaub mehr, keine Briefe mehr; auch die Offiziere haben sich verändert; sie sind ernster geworden und halten sich mehr in unserer Nähe auf. Aber die Gespräche über diesen Gegenstand endigen immer mit einem Achselzucken; man sagt ja doch dem Soldaten nie im voraus, was man mit ihm zu tun gedenkt und legt ihm über die Augen eine Binde, die man erst im letzten Augenblick wegnimmt. Dann heisst es eben:

– Man wird's schon sehn.

– Abwarten und Tee trinken.

Dann lässt man die Sorge fahren und denkt nicht mehr an das vorausgeahnte Ereignis. Vielleicht aus der Unmöglichkeit heraus, es ganz zu verstehn; vielleicht entmutigt einen auch schliesslich das Grübeln über Bestimmungen, die für uns doch nur Bücher mit sieben Siegeln sind? Vielleicht ist es auch die Sorglosigkeit, die sich in ihr Schicksal fügt, oder auch die lebhafte Hoffnung, diesmal noch der Gefahr zu entkommen? Jedenfalls begnügt und beschäftigt man sich automatisch mit dem nächstliegenden, trotz der Vorzeichen und der prophetischen Stimmen, die sich zu verwirklichen scheinen; das nächstliegende, das heisst: Der Hunger, der Durst und die Läuse, an denen sich alle die Nägel blutig kratzen, und die grosse Müdigkeit, die uns erschöpft.

– Hast du den Joseph gesehn, heute morgen? sagt Volpatte. Den packt's nächstens mal, das arme Kerlchen.

– Der macht sicher noch einen tollen Streich, das ist sicher. Der ist fertig, der Junge, jawohl. Bei der ersten Gelegenheit rennt der in 'ne Kugel rein, totsicher.

– 's ist auch zum wahnsinnig werden, für's ganze Leben! Sechs Brüder waren's, weisst du. Viere hat's geputzt: zwei im Elsass, einen in der Champagne, einen in der Argonne. Wenn Andre tot ist, macht's fünf.

– Wenn er gefallen wäre, hätten sie ihn aufgefunden; man hätte ihn vom Beobachtungsstand aus gesehn; und wenn du lange wackelst mit deinen Arschbacken. Ich, wie ich die Sache sehe, so hat er sich bei der Heimkehr verirrt, wo die nachts auf Patrouille waren. Er hat sich verkrakselt, der arme Teufel, und ist direkt in die deutschen Linien hineingeraten.

– Es hat ihn vielleicht an ihrem Drahtverhau erwischt.

– Dann hätte man ihn gefunden, sag ich dir, wenn er tot wäre, denn, kannst mir's glauben, wenn's wirklich wäre, dann hätten doch die Deutschen seine Leiche nicht reingezogen. Schliesslich hat man doch alles abgesucht. Und wenn sie ihn nirgends gefunden haben, so muss er doch, verwundet oder nicht, gefangen sein.

Diese Hypothese ist so logisch, dass sie deshalb auch angenommen wird. Nachdem man nun weiss, dass Andre Mesnil gefangen ist, kümmert man sich nicht mehr um ihn. Sein Bruder aber macht auch weiterhin einen bedauernswerten Eindruck.

– Armer, alter Kerl, er ist noch so jung.

Und die Leute aus der Korporalschaft schauen ihn verstohlen an.

– Ich hab Magenknurren! sagt plötzlich Cocon.

Und da die Essenszeit vorüber ist, schreit man nach der Suppe. Uebrigens ist sie ja da, nämlich das, was von gestern noch übrig geblieben ist.

– Was denkt denn der Korporal, dass wir Zähneschlotterich kriegen? Da kommt er. Ich werd ihn schon kitzeln. He, Korporal, was denkst du denn eigentlich, dass du uns nicht futtern lässt?

– Jawohl, Fressalie her! wiederholt die Gruppe der ewig Hungernden.

– Ich komm gleich, sagt Bertrand, der in Anspruch genommen ist und Tag und Nacht nicht rastet.

– Na und? macht Pépin, immer der gleiche Trotzkopf, ich werd doch von meiner Knallbüchse nicht satt, ich mach 'ne Fleischkonserve auf und zwar noch heute.

Nun beginnt wiederum in unserm Drama die tägliche Suppenkomödie.

– Rührt nicht an euren Reserven! sagt Bertrand. Sowie ich vom Hauptmann zurück bin, bediene ich euch.

Nachdem er zurück ist, bringt er's und teilt es aus, und man isst den Kartoffel- und Zwiebelsalat. Allmählich glätten sich beim Kauen die Gesichter und die Augen blicken ruhiger drein.

Paradis hat zum Essen eine Quartiermütze aufgesetzt. Es ist zwar hierzu weder der Ort noch der Augenblick, aber diese Mütze ist ganz neu und der Schneider, der sie ihm seit drei Monaten versprochen hatte, lieferte sie ihm am Tage ab, an welchem wir in die erste Linie kamen. Mit dieser Zweispitzmütze aus knallblauem Tuch, die ihm auf seinem gutmütigen und blühenden Schädelball sitzt, sieht er aus wie ein Gendarm mit Glanzbacken aus Pappeteig. Während er aber sein Essen verzehrt, schaut mich Paradis scharf an. Ich trete zu ihm hin.

– Siehst lustig aus, so.

– Nebensache, antwortet er. Ich möchte ein paar Worte mit dir reden; komm mal mit.

Er streckt die Hand nach seinem halbvollen Weinbecher aus, der neben seinem Besteck und seinen Siebensachen steht; dann stutzt er und entschliesst sich, den Wein in seinem Schlund und den Becher in seiner Tasche zu versorgen. Dann entfernt er sich.

Ich gehe ihm nach. Er hascht noch im Vorübergehen nach seinem Helm, der mit offenem Maule auf dem Erdbänkchen liegt. Nach ungefähr zehn Schritten nähert er sich mir mit einem komischen Blick und sagt ganz leise zu mir, ohne mich jedoch anzusehen, wie gewöhnlich, wenn er seelisch bewegt ist:

– Ich weiss, wo Mesnil André ist. Willst du ihn sehn? Dann komm.

Nachdem er dies gesagt, nimmt er seine Quartiermütze vom Kopf, legt sie zusammen, steckt sie ein und setzt den Helm auf. Dann geht er wieder weiter und ich folge ihm ohne ein Wort zu sagen.

Er führt mich etwa fünfzig Meter von hier weg, dorthin, wo unser gemeinsamer Unterstand und das Säckebrücklein steht; jedesmal, wenn man unten durchschlüpft, hat man das Gefühl, dass einem das kotige Gewölbe auf dem Rücken zusammenbrechen wird. Jenseits dieser kleinen Brücke klafft ein Hohlraum seitwärts im Graben; eine Stufe aus lehmbeschmiertem, Astgeflecht ist dort angebracht. Paradis besteigt sie und winkt mir auf diese enge, schlüpfrige Stufe hinauf. Unlängst wurde hier eine Schiesscharte zerstört. Die Scharte weiter unten ist wieder hergestellt und mit zwei Kugelabwehren versehn. Man muss sich bücken, um diese Einrichtung mit dem Kopfe nicht zu überragen

Nun sagt Paradis, immer noch mit sehr leiser Stimme:

– Ich hab die zwei Schilde hier angebracht, zum gucken, – weil ich nämlich eine Idee hatte und ich hab gucken wollen. Schau mal hier durch dieses Loch.

– Ich sehe nichts. Die Aussicht ist versperrt. Was ist das für ein Stoffklotz?

– Er ist es, sagt Paradis.

So! Es war eine Leiche; eine Leiche, die in einem Loch sass, schrecklich nahe ...

Ich drückte mein Gesicht gegen die Stahlplatte und klebte mein Auge an das Loch der Kugelabwehr. Dann sah ich die ganze Gestalt. Sie hockte da; der Kopf hing nach vorn zwischen den Beinen; beide Arme lagen auf den Knien, die Hände waren halb geschlossen wie zwei Hacken, und – ganz nahe, ganz nahe! – erkannte man, trotz der schielenden und blinden Augen, die aus den Augenhöhlen getreten waren, den beschmierten Klotz seines Bartes und seinen verzerrten Mund, der die Zähne zeigte. Vor ihm stand sein Gewehr im Kot; er schien es anzulächeln und schnitt ihm zugleich Fratzen. Seine vorgestreckten Hände waren oben ganz blau; die Innenfläche aber war knallrot und von einem feuchten, höllischen Licht beschienen.

Er war es, vom Regen bespült und kotbeschmiert; eine Art Schaum bedeckte ihn; er war schrecklich bleich und besudelt; er lag seit vier Tagen tot an unserer Böschung und hockte im Granatloch, das die Böschung angefressen hatte. Er lag zu nahe, deshalb hatte man ihn nicht gefunden.

Eine dünne Erdwand trennt die verlassene Leiche in ihrer übernatürlichen Einsamkeit von den Menschen, die den Unterstand bewohnen, und es wird mir klar, dass ich mein Haupt zum Schlafen dorthin legte, wo auf der andern Seite die schreckliche Leiche hockte.

Ich ziehe mich vom Guckloch zurück.

Paradis wechselt mit mir einen stummen Blick.

– Musst ihm nicht gleich was davon sagen, lispelt mein Begleiter.

– Nein, nein, zuerst ...

– Ich hab zuerst mit dem Hauptmann gesprochen, dass man ihn erst untersuchen soll, und auch der Hauptmann hat gesagt: »Musst es nicht gleich dem Kleinen sagen«.

Ein leichter Wind ist vorübergestrichen.

– Man riecht's!

– Glaubs wohl.

Man atmet den Geruch ein; er dringt uns in die Gedanken ein und schnürt uns das Herz zusammen.

– Jetzt, sagt Paradis, bleibt Joseph allein von den sechs Brüdern übrig. Aber ich will dir was sagen: ich glaub nicht, dass es noch lange mit ihm geht. Der Junge schont sich nicht, der lässt sich noch totschiessen. Wenn ihm der Himmel nicht 'ne gnädige Wunde schickt, ist er fertig. Sechs Brüder, das ist zu viel. Findest du nicht, dass es zu viel ist?

Dann fügte er hinzu:

– Doch haarig, wenn man denkt, dass er so nahe bei uns lag.

– Sein Arm liegt gerade an der Stelle, wo ich meinen Kopf hinlege.

– Ja, sagt Paradis, sein rechter Arm, wo er am Knöchel die Uhr angeschnallt hat.

Die Uhr ... ich stutze ... Ist es eine Wahnvorstellung oder ein Traum? ... Aber es ist mir doch, als habe ich vor drei Tagen, wie ich so müde und am Einschlafen war, das Ticken einer Uhr gehört; ich glaube sogar überlegt zu haben, woher das Ticken wohl käme.

– 's ist vielleicht doch die Uhr, die du durch die Erde durchgehört hast, sagt Paradis, dem ich meine Ueberlegung mitgeteilt habe. So 'n Ding denkt halt und dreht sich weiter, wenn auch das Menschlein stillsteht. Ha, es kennt einen auch gar nicht und lebt ruhig weiter im Ringel herum.

– Er hat Blut an den Händen; aber wo hats ihn getroffen? fragte ich Paradis.

– Ich weiss nicht; ich glaube am Bauch, mir ist, als habe es so was Schwarzes in ihm gehabt. Oder am Gesicht. Hast du den kleinen Fleck an der Backe nicht gesehn?

Ich überschaue nochmal in Gedanken das wassergrüne und struppige Gesicht des Toten.

– In der Tat, er hatte etwas an der Backe; vielleicht hat ihn da die Kugel getroffen.

Achtung! sagt plötzlich Paradis, dort kommt er; wir hätten nicht hier stehen bleiben sollen.

Aber wir bleiben dennoch unschlüssig und stutzend stehn, während Joseph Mesnil geraden Wegs auf uns zu kommt. Nie ist er uns so gebrechlich vorgekommen. Von weitem schon fällt einem die Blässe seines Gesichtes auf und die Verzerrung und Verbissenheit seiner Züge; er schreitet gebückt und langsam einher, erdrückt von der Last seiner Müdigkeit und seiner fixen Idee.

– Was macht ihr für Gesichter? fragt er mich.

Er hatte gesehn, wie ich Paradis die Kugelwunde an der Backe zeigte.

Doch ich stelle mich, als verstehe ich ihn nicht, und gebe ihm eine ausweichende Antwort.

– So! erwidert er geistesabwesend.

In diesem Augenblick fällt mir angstvoll etwas ein: Der Geruch. Man riecht es wohl und kann sich unmöglich täuschen: der Geruch verrät eine Leiche, und wenn er dann gleich daran denkt, dass ...

Mir ist's, als habe er plötzlich das Zeichen, das armselige Rufen des Toten gehört.

Aber er sagt nichts, er geht einsam weiter und verschwindet hinter der Biegung.

– Gestern, sagt Paradis darauf, stand er gerade hier mit seiner Gamelle voll Reis, den er nicht mehr essen wollte. Und wie absichtlich bleibt der Kerl gerade hier stehn und ratsch! ... er macht eine Bewegung und quatscht was vom Reis, den er über die Böschung schmeissen will, gerade dahin, wo der andre lag. Das hab ich nicht schlucken können, mein Lieber, da halt ich ihm die Flosse fest, gerade im Augenblick, wo er den Reis wegschmeissen will, und dann ist der Reis in den Graben geflossen. Weisst du, dann hat er sich nach mir rumgedreht und war rot vor Wut: »Was fällt dir ein, bist du verrückt?« sagt er zu mir. Ich stand natürlich blöd da und hab was gefaselt, ich hätt's nicht absichtlich getan oder so was. Er hat dann die Achseln gezuckt und hat mich angeschaut wie 'n kleines Hähnchen. Dann ist er weg und hat zum Montreuil gesagt: »Hast ihn gesehn, das Kamel!« Kennst ihn ja, zahm ist er nicht, der Bürger, und ich sagte, es sei schon gut, aber er schimpfte weiter; mir war's natürlich nicht recht, verstehst du, denn bei der ganzen Geschichte war ich natürlich im Unrecht, obwohl ich recht hatte.

Dann gehn wir zusammen schweigend wieder hinauf.

Wir gesellen uns zu den andern, die im Unterstand beisammen sind. Es ist ein alter Kommandoposten und deshalb ziemlich geräumig.

Als wir gerade eintreten wollen, lauscht Paradis und sagt:

– Unsere Batterien donnern verdammt seit einer Stunde, findest du nicht?

Ich verstehe, was er sagen will und antworte mit einer stutzenden Bewegung:

– Wir werden's schon sehn, Alter, werden's schon sehn!

Im Unterstand verzapft Tirette drei Zuhörern Kasernengeschichten. Marthereau schnarcht in einer Ecke; er liegt beim Eingang zu und so muss man über seine kurzen Beine steigen; sie sehn aus als seien sie in den Rumpf eingezogen. Auf den Knien, um eine Decke kauernd spielen ein paar Kameraden Manille.

– Ich bin dran!

– 40, 42! – 48! – 49! – Schluss!

– Hat der 'n Schwein, das Kaninchen! Nicht möglich, hast mindestens drei Paar Hörner! Ich spiel nicht mehr mit dir. Du schälst einen heut glatt ab, letzthin auch hast du mich geschabt, du gebratener Pfannkuchen du!

– Warum hast du nicht abgeworfen, du Esel?

– Ich hat doch nur den König, den schäbigen König, weiter nichts.

– Pikzehn hat er gehabt.

– Nur selten, du Spucknapf!

– Ist doch 'ne Gemeinheit, knurrt in einer Ecke ein kauerndes Wesen ... fünfundzwanzig Sous kostet der Camembert, aber Dreck ist es: aussen stinkiger Knetgummi, innen brüchiger Gips.

Unterdessen erzählt Tirette, was er während seiner einundzwanzig Tage von einem schnauzigen Bataillonskommandanten alles zu schlucken hatte:

– Die dicke Sau, weisst du, was gemeineres gibt's auf Erden nicht. Alle bis auf den letzten, alle hatten sie den Kerl im Magen, wenn er vorbeiging oder in seinem Bureau sass auf einem Stuhl, massiv, dass du nicht unten durch sehn konntest, mit seinem dicken Wanst und seinem dicken Käppi, wo 's von oben bis unten Goldreifen dran hatte, wie an einem Fass. Der nahm die Soldaten schwer her. Loeb hiess er, ein Bosche, was willst du mehr.

– Ich hab ihn gekannt! schrie Paradis. Wie der Krieg ausgebrochen ist, wurde er dienstuntauglich erklärt, natürlich. Während ich meine Uebung abdiente, verstand er's Drücken schon, aber damals drückte er sich an allen Strassen herum, um dich zu erwischen: ein Tag Loch für einen offnen Knopf, und vor allen Leuten schnauzte er noch obendrein, wenn irgend was kleines an der Kleidung gegen Vorschrift war, und die Leute lachten: er glaubte, sie lachten über dich, aber du hast natürlich gewusst, dass die über ihn lachten. Aber 's ist gleich, dran glauben hat man doch müssen.

– Eine Frau hat er gehabt, fährt Tirette fort, die alte Schatulle ...

– Ich weiss noch, schreit Paradis, das war ne Pest!

– Andere ziehn einen Köter nach, er schleppte die Giftnudel überall mit; gelb war sie, wies 's manchmal Aepfel gibt, und Hüften wie 'ne Bürstentasche, und bissig dazu. Sie hetzte den alten Knoten immer gegen uns auf. Ohne sie war er dümmer als bös, aber sowie sie da war, da war er böser als dumm. Stell dir das Schindluder vor ...

In diesem Augenblick erwachte Marthereau, der beim Eingang schlief, mit einem leisen Wimmern. Er richtet sich auf und sitzt auf dem Stroh wie ein Gefangener; dabei sieht man seine bärtige Silhouette wie ein Schattenbild; er rollt und dreht sein rundes Auge im Halbdunkel.

Dann fährt er mit der Hand über die Augen und beginnt die Nacht zu beschreiben, die uns in den Schützengraben führte, als stehe sie in Beziehung zu seinem Traum.

– Herrgott! sagt er mit schlaftrunkner und träumender Stimme, das war ein Rummel, die Nacht! Heiliger Gott, war das 'ne Nacht! Alle die Truppen, die Kompagnien, ganze Regimenter, die schrien und sangen den ganzen Weg hinauf! Man sah in den hellen Schatten das Gewimmel von Soldaten, die in einem fort den Weg rauf trippelten wie 's Meerwasser – und das alles fuchtelte in der Luft rum mitten durch die Artillerie- und Sanitätstransporte, denen wir in dieser Nacht begegnet sind: Nie hab ich so viel Transporte gesehen, wie in dieser Nacht, nie!

Dann haut er sich mit der Faust auf die Brust, setzt sich zurecht, brummt, und verstummt.

Darauf hört man Blaires Stimme; sie verrät die Angst, die das Innerste jener Männer drückt:

– Es ist vier Uhr, jetzt ist es zu spät; heute gilts nichts mehr auf unsrer Seite.

Einer der Spieler, der in der gegenüberliegenden Ecke hockt, fährt einen andern bellend an:

– Na, was ist los? Spielst du, oder spielst du nicht, du Regenwurm?

Tirette aber erzählt seine Majorsgeschichte weiter.

– Da giesst man uns einmal in der Kaserne die Suppe ein. Aber so was von einer Stinkbrühe, sag ich dir! Daraufhin verlangt einer den Hauptmann und hält ihm die Gamelle unter die Nase.

– Du Kamel, schreit einer wütend in der andern Ecke, warum hast du nicht Trumpf ausgespielt, ha?

– Au, verdammt, sagt da der Häuptling, nimm mir das von der Nase weg; das verpestet ja die ganze Luft.

– Weil ich nicht konnte, mäckerte eine vergrämte Stimme ohne grosse Ueberzeugung.

– Und der Häuptling macht 'n Rapport an den Major. Aber der trottelt wütend ran und schwingt den Rapport in der Pfote: »Was ist los«, sagt er »wo ist die Suppe, die diese Revolte provoziert hat, dass ich sie mal versuche!« Dann bringen sie ihm ein bisschen davon in einer sauberen Gamelle, und er schnüffelt. »Na, was wollt ihr denn, das riecht doch ganz gut! Ich werd euch fressen helfen; tadellos ist die Suppe!«

– Wieso konntest du nicht! Er war doch maître, er, du Waschlappen, Huhn, blödes!

– Um fünf Uhr aber, beim Ausgang, stehn die beiden Nummern wieder da und pflanzen sich vor die Soldaten und begaffen jeden, ob vielleicht irgend etwas an einem nicht klappte, dann meinte er: »So, so, ihr Kerlchen, ihr wollt mich zum Narren halten und beklagt euch über eine vorzügliche Suppe, die mir ausgezeichnet geschmeckt hat und der Frau Major auch; wartet nur, ich will euch schon kriegen ... He, der dort mit den langen Haaren, komm mal her, du grosser Künstler, komm mal bisschen her!« Und während das Ross in dieser Weise sprach, stand neben ihm seine Rossinante, steif wie ein Pfahl und machte ja, ja mit dem Kopf.

– ... Halt, halt, wenn er keine Pikzehn hatte, kommt drauf an.

– Aber auf einmal wird sie weiss wie 'n Leintuch; dann legt sie die Hand auf ihr Brustmagazin, schüttelt sich, und plötzlich mitten auf dem Platz, vor der Kaserne, lässt sie den Regenschirm aus der Hand fahren, und fängt an zu kotzen!

– He, Achtung! sagt plötzlich Paradis. Sie rufen was im Schützengraben. Habt ihr nichts gehört? War's nicht »Alarm«, das einer gerufen hat?

– Alarm! Bist wohl verrückt?

Kaum sind diese Worte gefallen, da bückt sich ein Schatten in den Eingang unseres Erdloches und schreit:

– Alarm! Die 22.! Zu den Waffen!

Darauf tiefes Schweigen. Dann einige Ausrufe.

– Hab's doch gesagt, knurrt Paradis durch die Zähne und kriecht auf den Knien nach dem Ausgangsloch der Maulwurfshöhle, in der wir kauern.

Dann sagt keiner ein Wort mehr. Alles ist stumm geworden. In der Eile richtet man sich halb auf. Man hastet, gebückt oder kniend; der Leibgurt wird angeschnallt, und die Arme werfen ihre Schatten nach allen Seiten. Man stopft Zeug in die Taschen, drängt und drückt sich hinaus und zieht am Riemen die Tornister, die Decken und die Brotsäcke nach.

Draussen betäubt einen der Lärm. Der Radau des Gewehrfeuers ist hundertfach angeschwollen und dröhnt uns von rechts, von links, von allen Seiten entgegen. Unsere Batterien donnern ohne Unterbruch.

– Glaubst du sie greifen an? wagt sich eine Stimme heraus.

– Kann ich's denn wissen! antwortet kurz und mürrisch eine andere Stimme.

Die Kiefer liegen aufeinander gepresst und man schluckt seine Eindrücke hinunter. Man beeilt sich, drängt, rempelt sich gegenseitig und flucht unverständliches Zeug.

Ein Befehl läuft durch den Graben:

– Säcke auf!

– Nein, Gegenbefehl ..., schreit ein Offizier der mit Riesenschritten durch den Graben läuft und sich mit den Ellenbogen freie Bahn macht.

Was er sonst noch sagt, verhallt mit ihm.

Gegenbefehl! Offensichtlicher Schrecken packt die Reihen; ein Schlag aufs Herz haut alle Köpfe hoch, lässt jeden in aussergewöhnlicher Erwartung erstarren.

Und doch: der Gegenbefehl geht nur die Tornister an: keine Tornister; nur die Decke umschnallen und 's Werkzeug am Gurt.

Jetzt werden die Decken abgeschnallt; man reisst sie vom Tornister ab und rollt sie. Dabei fällt kein Wort; jeder blickt starr und hält den Mund wütend zugesperrt.

Die Korporale und Sergeanten gehn etwas fieberhaft nach rechts und links und drängen die gebückten Leute, die sich in stummer Hast beeilen.

– Vorwärts, fix mal, fix! Wollt ihr machen, dass ihr fertig werdet, ja oder nein!

Dann drängt sich eine Abteilung mit gekreuzten Beilen als Abzeichen auf dem Aermel hastig durch und haut Löcher in die Grabenwand. Man schielt sie von der Seite an, während man sich fertig macht.

– Was machen die?

– Zum raufsteigen.

Jetzt ist man fertig. Die Leute treten schweigend an, die Decken um die Brust, das Sturmband am Kinn und stützen sich auf die Gewehre. Ich betrachte ihre bleichen und tiefen Gesichter, die sich krampfhaft zusammenziehn.

Es sind keine Soldaten, es sind Menschen. Es sind keine Abenteurer, keine Krieger, die zur Menschenschlächterei als Schlächter oder Schlachtvieh geboren sind. Es sind Ackersleute und Arbeiter, die man unter den Uniformen erkennt. Es sind entwurzelte Bürgersleute. Nun stehn sie bereit und warten auf das Zeichen des Todes und des Mordens; aber, wenn man durch die senkrechten Blitze der Bajonette ihre Gesichter betrachtet, sieht man, dass es einfach Menschen sind.

Jeder von ihnen weiss, dass er seinen Kopf, seine Brust, seinen Bauch, seinen ganzen Leib den im voraus auf ihn gerichteten Gewehren, den Geschossen, den angehäuften und wartenden Granaten nackt entgegenträgt, und vor allem der berechnenden und fast unfehlbaren Mitrailleuse – überhaupt all dem, was dort in fürchterlichem Schweigen auf ihn wartet, bevor er die andern Soldaten auffinden wird, die dann getötet werden müssen. Sie pfeifen nicht auf ihr Leben wie Banditen, und die Wut macht sie nicht blind wie die Wilden. Trotz der Propaganda, die sie bearbeitet, sind sie nicht kampfeslustig. Sie sind erhaben über jede Leidenschaft des Instinktes. Sie sind nicht betrunken, weder physisch noch moralisch. Im ganzen Bewusstsein ihres Handelns und in voller Gesundheit stauen sie sich hier an, um sich noch einmal in jene wahnsinnige Rolle zu stürzen, die ihnen die Menschheit auferlegt hat. Und man liest die Träume, die Angst und die Gedanken des Abschiedes aus ihrem Schweigen, ihrer Regungslosigkeit, aus der ruhigen Maske heraus, die sich ihren Gesichtern mit übermenschlicher Kraft aufzwingt. Es sind nicht die Helden, wie man sie sich vorstellt; aber das Opfer, das sie bringen, ist so gross, dass es diejenigen, die es nicht gesehen haben, nie werden verstehn können.

Sie warten; das Warten dauert lange, dauert ewig. Von Zeit zu Zeit zuckt einer in der Reihe ein wenig zusammen, wenn eine Kugel von drüben her die Böschung, die uns schützt, bestreift und in das schlaffe Fleisch der hintern Grabenwand fährt.

Das Ende des Tages giesst ein grossartiges Licht über diese starke und vollzählige Masse von Lebenden, von denen nur noch ein Teil heute Nacht am Leben sein wird. Es regnet immer – Regen fliesst über alle meine Erinnerung an die Tragödien des grossen Krieges. Der Abend bereitet sich vor, wie eine eisige, wogende Drohung; den Menschen wird er seine Falle stellen, seine grosse Falle, gross wie die Welt.

*

Neue Befehle werden von Mund zu Mund weiter gegeben. Man verteilt Handgranaten, die an Drahtringen hängen. »Jeder soll zwei Granaten nehmen!«

Jetzt geht der Kommandant vorbei. Er ist massig und ruhig in seinen Bewegungen, er steckt in Felduniform, geschniegelt, aber vereinfacht. Man hört, wie er sagt:

– Die Sache steht gut, Kinder, die Deutschen reissen aus. Ihr werdet euch tapfer zeigen, was?

Neue Nachrichten fliegen an uns wie der Wind vorüber.

– Die Marokkaner der 21. Kompagnie stehn vor uns. Der Angriff ist auf unsrer Rechten schon im Gang.

Die Korporale werden zum Hauptmann befohlen. Dann kommen sie zurück, die Arme voll Eisenzeug. Bertrand betastet mich und hängt etwas an den Knopf meines Mantels. Es ist ein Küchenmesser.

– Ich hänge das an deinen Mantel, sagt er zu mir. Dann schaut er mich an, geht weiter und sucht nach anderen.

– Mir eins! ruft Pépin.

– Nein, antwortet Bertrand. Es dürfen keine Freiwilligen hierzu gebraucht werden.

– Leck mich am Arsch! grunzt Pépin.

Dann wird weiter gewartet unter dem Regenhimmel, an den die Schüsse hämmern; am Horizont hört man den fernen, ungeheuren Kanonendonner. Bertrand hat fertig ausgeteilt und kehrt zurück. Einige Soldaten sind abgesessen, andere gähnen.

Der Radfahrer Billette schlängelt sich an uns vorbei; er trägt auf seinem Arm den Kautschukmantel eines Offiziers; dabei wendet er offensichtlich den Blick von uns ab.

– Na, und du, kommst du nicht mit? schreit ihn Cocon an.

– Nein, antwortet der andere; ich bin bei der 17ten. Das 5. Bataillon greift nicht an!

– So, so! Immer fein raus, das 5. Bataillon. Das muss nie dran glauben wie wir!

Billette hat sich schon gedrückt und die Gesichter verziehen sich ein wenig und schauen ihm nach.

Jetzt kommt ein Soldat im Laufschritt auf Bertrand zu und sagt etwas zu ihm. Darauf wendet sich Bertrand zu uns:

– Los Kinder, wir sind dran.

Alle gehn sie miteinander los. Man stellt den Fuss auf die Stufen, die die Sappeure eingehauen haben, Ellenbogen an Ellenbogen, dann klettert man aus dem schützenden Graben heraus und steigt auf die Böschung.

Bertrand steht oben auf dem Abhang. Er mustert uns rasch mit einem umfassenden Blick, und als wir alle schon stehen, sagt er:

– Vorwärts, los!

Die Stimmen klingen seltsam. Dieser Abmarsch ist sehr schnell und unvermutet vor sich gegangen wie in einem Traum. Man hört in der Luft keine einzige Kugel pfeifen. Mitten im masslosen Brummen der Kanonen empfindet man sehr deutlich das aussergewöhnliche Schweigen der Kugeln um uns herum ...

Es geht das schlüpfrige und ungleiche Gelände mit automatischen Bewegungen hinab. Man bedient sich dabei des Gewehres, das um's Bajonett länger geworden ist. Der Blick bleibt unbewusst an einigen Einzelheiten des Abhanges haften und betrachtet die zerschossenen Erdklötze, die da herumliegen, die letzten einsamen Pfähle, die noch im Boden stecken und die Wracke in den Granatenlöchern.

Ein ganz merkwürdiges Gefühl bemächtigt sich unser beim Gedanken, dass wir am hellen lichten Tag auf diesem Abhang stehn, wo die paar Ueberlebenden sich erinnern, nachts mit grosser Vorsicht hinaufgeschlichen zu sein, auf dem Gelände, das die andern Kameraden nur schnell durch die Scharte beäugelt haben. Nein ... Kein Gewehrfeuer gegen uns. Das Bataillon scheint auf der ganzen Breite unbemerkt aus dem Graben getreten zu sein! In dieser Stille aber liegt eine wachsende, immer wachsende Drohung; das bleiche Abendlicht blendet uns.

Auf dem ganzen Hügel wimmelt es jetzt von Soldaten, die mit uns den Abhang hinuntersteigen. Rechts zeichnet sich die Silhouette einer Kompagnie ab; sie erreicht die Schlucht durch den Laufgraben 97, einen alten, zerfallenen, deutschen Graben.

Wir durchschreiten an den freien Stellen unsern Drahtverhau. Es wird immer noch nicht auf uns geschossen. Einige ungeschickte Läufer knicken über ihre Fehltritte ein und stehn wieder auf. Jenseits des Verhaues richten wir uns wieder auf, dann geht's etwas schneller den Berg hinunter: unbewusst schlagen wir ein schnelleres Tempo an. Jetzt sausen ein paar Kugeln an uns vorbei. Bertrand ruft uns zu, wir sollen unsere Granaten bis zum letzten Augenblick aufbewahren.

Aber der Klang seiner Stimme verweht: Plötzlich schlagen vor uns auf der ganzen Breite düstre Flammen auf; dabei hämmert ein fürchterliches Krachen durch die Luft. Hintereinander fahren, von rechts nach links, Granaten aus dem Himmel und Sprengstoffe aus der Erde. Ein schauriger Vorhang trennt uns von der Welt, von der Vergangenheit und von der Zukunft. Man bleibt stehn, wie angewachsen, und es betäubt einen plötzlich von allen Seiten her eine Donnerwolke; dann peitscht eine gleichzeitige Anstrengung unsre ganze Schar wieder auf und treibt sie sehr schnell vorwärts. Wir stolpern in der grossen Rauchwolke und richten uns gegenseitig wieder auf. Dann sieht man hier und dort staubige Erdwirbel mit gellendem Krachen aufschlagen, nebeneinander oder verschlungen, in der Schlucht, in die wir hinabstürzen; Vulkane öffnen sich. Dann aber erkennt man die Stellen, wo die Entladungen einschlagen, nicht mehr. Ein so ungeheuerlich donnerndes Unwetter entfesselt sich, dass schon allein der Lärm jenes Donnerregens einen zermalmt und die grossen Platzsterne, die sich in der Luft bilden. Man sieht und fühlt Sprengstücke am Kopf vorbeisausen; sie zischen wie glühendes Eisen, das ins Wasser fällt. Bei einem Gekrache lass' ich mein Gewehr aus den Händen fallen; so heiss war der Hauch jener Explosion, dass meine Hand davon brannte. Dann heb ich das Gewehr stolpernd wieder auf und gehe gesenkten Hauptes in diesem rotleuchtenden Gewitter und im schmetternden Lavaregen weiter, bespritzt von Staub und Russ. Vom Gellen der vorüberfliegenden Splitter spürt man einen Ohrenschmerz und schreit dabei unwillkürlich auf. Es wird einem zum Winden schlecht vom Schwefelgeruch. Das Todeswehen drängt, stösst und erschüttert uns. Man springt, ohne zu wissen, wohin man tritt. Die Augen blinzeln, erblinden und laufen über. Plötzlich versperrt uns eine brennende Lawine den ganzen Weg, so dass wir vor uns nichts mehr sehn.

Es ist das Sperrfeuer. Jetzt heisst es durch diesen Flammenwirbel und diese schrecklichen, senkrechten Wolken durch. Und man stürzt sich hinein, man kommt durch: durch Zufall; dabei habe ich gesehn, wie sich Gestalten stellenweise torkelnd im Wirbel drehten und sich dann hinlegten; dann kam plötzlich wie ein Widerschein des Jenseits über sie. Ich habe seltsame Gesichter gesehn; sie stiessen seltsame Schreie aus; aber man sah sie schreien, ohne die Laute im betäubenden Höllenlärm zu vernehmen. Eine wütende Kohlenglut fiel in ungeheuren, roten und schwarzen Massen um mich herum und wühlte die Erde auf, riss sie unter meinen Füssen weg und warf mich auf die Seite wie ein federndes Spielzeug. Ich erinnere mich, dass ich über eine brennende Leiche geschritten bin; sie war kohlenschwarz, und über ihr lag eine rote Blutlache, die knisterte. Ich weiss auch noch, dass neben mir die Mantelzipfel Feuer gefangen hatten und eine rauchende Spur hinter sich zurückliessen. Dann zog ein schreckliches Feuerleuchten unsere Blicke nach rechts und blendete uns; dort flammte es längs des Laufgrabens wie dicht nebeneinander gedrängte brennende Menschen.

– Vorwärts!

Jetzt geht's fast im Laufschritt weiter. Man sieht Leute wie Blöcke umfallen, das Gesicht nach vorn; andere wiederum sterben bescheiden, als ob sie sich auf den Boden setzten. Man springt plötzlich auf die Seite, um nicht auf die Toten zu treten, die artig und steif auf dem Boden liegen, oder auch aufgebäumt; den Verwundeten muss man auch aus dem Weg gehn; sie sind die gefährlicheren Fallen; denn sie schlagen um sich und klammern sich an die Vorübergehenden fest.

Der internationale Laufgraben!

Er ist erreicht. Die Kanone hat die Stacheldrähte mit ihren langen, gewundenen Wurzeln ausgerissen, auf die Seite geworfen oder aufgerollt, weggefegt oder in breiten Haufen aufeinandergeschleudert. Zwischen diesen grossen, verregneten Eisenhecken ist die Erde aufgerissen und frei.

Der Graben wird nicht verteidigt. Die Deutschen haben ihn verlassen, oder eine erste Sturmwelle ist hier schon drüber gerollt ... Er ist innen mit Gewehren gespickt, die an die Böschung lehnen. Auf dem Boden liegen Leichen umher. Aus dem Wirrwarr der langen Grube starren aus grauen Aermeln mit roten Besätzen Hände und gestiefelte Beine. Stellenweise ist die Böschung zertrümmert und das Holzgerüst niedergehauen; die ganze Grabenflanke ist durchbrochen und mit einem unbeschreiblichen Durcheinander belegt. An anderen Stellen klaffen runde Wasserlöcher. In meiner Erinnerung an diesen Augenblick sehe ich vor allem das Bild eines seltsam zerlumpten Grabens, bedeckt mit bunten Lappen: zur Herstellung der Erdsäcke hatten die Deutschen Leinwand, Kattun und allerhand bunte Wollstoffe benutzt, die sie in irgend einem Tapeziererladen geplündert hatten. Dieses bunte Durcheinander hing zerfetzt und zerzaust in dem Wind, knallte, flatterte und tanzte einem vor die Augen.

Dann sind wir in den Graben gestiegen. Der Leutnant aber, der hinübergesprungen ist, ruft, schreit und winkt uns zu:

– Nicht hier bleiben. Vorwärts! Immer vorwärts!

Wir klettern auf die Böschung des Grabens hinauf und treten dabei auf Säcke, auf Waffen und auf Rücken, die darin angehäuft liegen. Das Tal unten ist von Granaten aufgewühlt; Trümmerhaufen und Leiber bedecken es. Die einen sind regungslos wie Gegenstände; andere rühren sich leise, andre zucken krampfhaft zusammen. Das Sperrfeuer wirft immer noch seine höllischen Entladungen auf das Gelände hinter uns, dort, wo wir durch sind. Hier aber, am Fusse des Hügels, wo wir augenblicklich stehn, reicht die Artillerie nicht hin. Ein kurzer, bescheidener Ruhepunkt. Hier betäubt einem der Lärm die Ohren nicht; man schaut sich gegenseitig an. Wir haben Fieber in den Augen und das Blut rötet uns die Backen. Der Atem schnurrt durch die Nase und das Herz hämmert einem in der Brust.

Man erkennt einander wieder im hastigen Dusel, wie wenn ein schlechter Traum uns plötzlich eines Tags in die Todesschlucht zusammengeführt hätte. Dann wirft man sich in dieser Höllenlichtung ein paar hastige Worte zu:

– Bist du's!

– Heilig nochmal! Was wir abkriegen 1

– Wo ist Cocon?

– Weiss nicht.

– Hast du 'n Hauptmann gesehn?

– Nein ...

– Geht's?

– Ja.

Jetzt haben wir das Tal durchschritten, der andere Abhang steht vor uns. Wir klettern hintereinander auf einer flüchtig angelegten Erdtreppe hinauf.

– Achtung!

Ein Soldat, der die Treppe bis zur Mitte erreicht hat, fällt barhäuptig um, von einem Granatsplitter an der Hüfte getroffen, wie ein Schwimmer mit vorgestreckten Armen; dann sieht man die unförmige Silhoutte jener Masse in den Schlund tauchen; ich sehe noch als Einzelheit seine wehenden Haare über dem schwarzen Profil seines Gesichtes.

Wir haben die Höhe erreicht.

Eine grosse, farblose Leere dehnt sich vor uns aus. Zuerst sieht man nichts als eine kreidige und steinige Steppe, gelb und grau, soweit das Auge reicht. Keine Menschenwelle geht uns voraus, vor uns kein lebendes Wesen, aber der Boden ist mit Toten bedeckt: frische Leichen, die noch den Schmerz oder den Schlaf nachahmen; daneben liegen alte Trümmer, die bereits entfärbt und in den Wind gestreut und fast von der Erde verdaut sind.

Im Augenblick als unsere schwankende Linie auftaucht, fühlte ich, wie neben mir zwei Leute getroffen werden und zwei Schatten zu Boden stürzen; sie rollen uns auf die Füsse, der eine mit einem schrillen Schrei, der andere verstummend wie ein Ochse. Ein anderer verschwindet wie weggewischt mit einer wahnsinnigen Gebärde. Man rückt instinktiv aneinander und drängt stolpernd nach vorwärts, immer vorwärts; die Wunde in unserer Masse schliesst sich von selbst. Jetzt bleibt der Adjutant stehn, hebt seinen Säbel hoch, lässt ihn fallen und kniet hin; sein Körper beugt sich ruckweise nach hinten, sein Helm fällt ihm auf die Absätze und dann verharrt er in dieser Stellung, barhäuptig, das Gesicht zum Himmel gekehrt.

Unsere vorwärtsdrängende Reihe spaltet sich plötzlich und geht mit Ehrfurcht an dieser unbeweglichen Erstarrung vorüber.

Aber den Leutnant sieht man nicht mehr. Also keinen Anführer mehr ... Die menschliche Welle stutzt am Rande der Hochebene. Man steht da und hört den heiseren Hauch der Lungen.

– Mir nach! schreit irgend ein Soldat.

Dann stürzt man sich wieder vorwärts mit steigender Hast dem Untergang entgegen.

*

– Wo ist Bertrand? jammert mühsam eine Stimme, die vorwärts gelaufen war.

– Da! Hier ...

Bertrand hatte sich im Vorübergehen über einen Verwundeten gebeugt; aber er verlässt schnell den Soldaten, der ihm die Arme nachstreckt und zu schluchzen scheint.

Im Augenblick als er uns wieder einholt, hören wir vor uns aus einer Art Geländehöcker heraus das Tak-tak der Mitrailleuse. Es ist ein beklemmender Augenblick und noch schrecklicher als vorhin das Erleben jenes flammenden Sperrfeuers. Diese wohlbekannte Stimme spricht klipp und klar und hört sich schrecklich an. Aber jetzt bleibt man nicht mehr stehn.

– Vorwärts, vorwärts!

Heisere Seufzer verraten die Atemlosigkeit, aber man stürzt weiter dem Horizont entgegen.

– Die Deutschen! Ich seh sie! sagt plötzlich einer.

– Ja ... ihre Köpfe dort über dem Graben ... Dort ist der Schützengraben, dort der Strich, 's ist ganz nahe. Ha! die Kälber!

Man sieht in der Tat kleine, graue Kappen, die in Abständen aus dem Boden herausragen, ungefähr fünfzig Meter von uns entfernt, jenseits eines schwarzen, zerpflügten und höckerigen Geländestriches.

Ein Ruck wirft die ganze Gruppe, zu der ich gehöre, wieder vorwärts. So nahe am Ziel, bis hierher noch unverwundet, sollte man es jetzt nicht glücklich erreichen? Freilich wird man das Ziel erreichen! Man schreitet weit aus. Man hört nichts mehr. Ein jeder stürzt vor, durch den schrecklichen Graben angezogen, starrt nach vorn und ist fast unfähig, den Kopf nach rückwärts oder seitwärts zu drehen.

Man hat das Bewusstsein, dass viele das Gleichgewicht verlieren und zu Boden stürzen. Ich springe seitwärts, um dem plötzlich ausgestreckten Bajonett eines stürzenden Gewehres zu entgehn. Ganz in meiner Nähe reckt sich Farfadet mit blutendem Gesicht, stolpert auf mich zu, wirft sich auf Volpatte, meinen Nebenmann, und klammert sich an ihn; Volpatte knickt zusammen, aber er drängt unaufhörlich vor, schleppt ihn einige Schritte mit, will ihn los werden und schüttelt ihn ab, ohne ihn anzuschauen, ohne zu wissen, wer er ist; dabei schreit er ihm mit abgehackter, in der Anstrengung fast erstickter Stimme zu:

– Lass mich los, lass los, Gottverdammich! ... Wirst nachher gleich aufgehoben; mach dir keine Sorge.

Der Andere fällt zusammen; sein Gesicht, das eine rote, völlig ausdruckslose Maske trägt, dreht sich hin und her, während Volpatte schon weiter läuft, nach dem Graben stiert und automatisch zwischen den Zähnen wiederholt: »Mach dir keine Sorge.«

Eine Kugelwolke spritzt um mich auf: vielfaches, plötzliches Stehenbleiben, zögerndes, fuchtelndes, sich sträubendes Niedersinken, plötzliches Untertauchen mit der ganzen Körperlast, Schreie, dumpfe, wütende Ausrufe der Verzweiflung oder das schreckliche und hohle »Han!«, wenn das ganze Leben mit einem Schlag erlischt. Und wir, die wir noch nicht getroffen sind, wir stieren vorwärts und gehn, wir laufen durch das Spiel des Todes, das blindlings in das Fleisch unsrer Leiber fährt.

Der Stacheldraht; ein ganzer Strich ist unbeschädigt; wir gehn um ihn herum; ein weiter und tiefer Durchgang ist durch den Drahtverhau gebrochen; er bildet einen kolossalen Trichter, der aus mehreren, neben einander liegenden Trichtern besteht, wie das schaurige Maul eines Vulkans, den die Kanonen ausgegraben haben.

Diese Zertrümmerung bietet einen erschütternden Anblick. Es sieht wirklich aus, als habe die Erde ihr Inneres ausgespuckt. Der Anblick derartig zerrissner Erdschichten stachelt unsere Angreiferwut an und einige rufen mit finsterm Kopfschütteln, obwohl die Worte jetzt der Kehle schwer entrissen werden:

– Herrgott! Was haben die hier abgekriegt! Herrgott noch mal!

Wie vom Wind hin und her geweht steigen und sinken wir über die Erdhöcker und in die Gräben dieser masslosen Bresche, die den Boden aufgewühlt, geschwärzt und mit wütenden Flammen zerfressen hat. Die Schollen bleiben an den Schuhen kleben und wütend reisst man sich los: das Rüstzeug und die Stoffe, die den weichen Boden bedecken und die Wäsche, die aus den aufgeschlitzten Säcken darüber zerstreut liegt, bewahrt einen vor dem Einsinken; man sucht sich deshalb solche Trümmer aus und setzt den Fuss darauf, wenn man in die Löcher springt oder wenn's die Hügel hinaufgeht.

Hinter uns her drängen Stimmen:

– Vorwärts, Kinder, vorwärts! Gottverdammich!

– Das ganze Regiment ist hinter uns, ruft man.

Keiner dreht sich um und will es sehn, aber diese Zusicherung feuert unsere wütende Jagd noch stärker an.

Man sieht keine Mützen mehr hinter der Grabenböschung, der wir uns nähern. Vorne liegen deutsche Leichen zerstreut, wie Punkte angehäuft oder wie Striche ausgestreckt. Jetzt kommen wir an. Die Böschung entpuppt im einzelnen ihre heimtückischen Formen: die Schiesscharten ... Man steht jetzt unglaublich nahe davor.

Jetzt fällt etwas vor uns hin. Es ist eine Granate. Mit einem Fusstritt wirft sie Bertrand so geschickt zurück, dass sie vorwärts in den Graben springt und dort platzt.

Auf diesen glücklichen Schuss hin betritt die Korporalschaft den Graben.

Pépin hat sich auf den Bauch geworfen. Er kriecht um eine Leiche herum, erreicht den Rand und steigt hinein. Er ist der erste im Graben. Fouillade schreit und fuchtelt mit den Armen in der Luft herum, springt in den Graben, fast im gleichen Augenblick als Pépin hineinschleicht ... Jetzt sehe ich, blitzartig, eine ganze Reihe schwarzer Dämonen sich über die Böschung bücken und am Rande der schwarzen Falle hinknien, um hineinzusteigen.

Eine schreckliche Salve spritzt uns auf ein paar Schritt ins Gesicht; dabei flackert plötzlich eine Flammenrampe längs der Böschung auf. Zuerst waren wir betäubt, dann fassen wir uns wieder und lachen laut auf, teuflisch lachen wir: es war zu hoch gezielt. Und gleich darauf gleiten wir und kollern und fallen lebend, schreiend und mit brüllenden Befreiungslauten in den Bauch des Grabens!

*

Ein unbegreiflicher Rauch hüllt uns ein. Ich sehe in dem erwürgten Schacht vorerst nur blaue Uniformen. Dann trottet man rechts und links, gedrängt, gestossen, fluchend und suchend. Man dreht sich um, man hat die Hände voll: Messer, Granaten, Gewehr, und weiss zuerst nicht, was man anstellen soll.

– Sie hocken in den Unterständen, die Kälber! schreit man.

Dumpfes Knallen erschüttert den Boden: da geht was unterirdisch in den Unterständen vor sich. Plötzlich trennt uns die monumentale Masse eines derart dichten Rauches, dass sie einem wie eine Maske das Gesicht bedeckt und man nichts mehr sieht. Man wehrt sich wie Ertrinkende gegen diese düstere und beissende Luft und steckt wie in einem Fetzen Nacht. Man stolpert gegen die kauernden Blöcke zusammengeballter Wesen, die am Boden schreien und verbluten. Man sieht die Grabenwände kaum. Hier sind sie ganz senkrecht und bestehn aus weissen Tuchsäcken, die überall wie Papier zerrissen sind. Hie und da bewegt sich die schwere und zähe Rauchwolke und wird luftiger; dann sieht man das anstürmende Gedränge wieder ... Aus dem staubigen Bild heraus reckt sich auf der dunstigen Böschung die Silhouette eines Zweikampfes, Mann an Mann, bricht zusammen, und taucht unter. Ich vernehme ein paar grell ausgerufne »Kamerad«, die eine Reihe abgezehrter Köpfe mit grauen Kitteln ausstösst, sie drücken sich in eine Ecke, die ein klaffender Riss noch in's Ungeheure spaltet. Unter der Tintenwolke fliesst das Menschengewitter zurück und rollt sprunghaft in der gleichen Richtung nach rechts im Wirbel hinauf, den langen, eingestossenen Damm entlang.

*

Plötzlich aber fühlt man, dass es aus ist. Man sieht, hört und versteht, dass unsre Welle, die sich durch das Sperrfeuer hieher gewälzt hat, keiner gleichen Welle begegnet ist, und dass man ihrem Vorrücken gewichen ist. Die menschliche Schlacht ist vor uns zerronnen. Der dünne Vorhang von Verteidigern liegt in den Löchern zerstreut; man fängt sie dort wie Ratten oder tötet sie. Kein Widerstand mehr: nur eine Leere, eine grosse Leere. Dann drängt man in Haufen wieder vor wie eine schreckliche Zuschauermenge.

Hier ist der Graben zerfetzt. Mit seinen weissen, zusammengestürzten Mauern sieht er aus wie der sumpfige, weiche Abdruck eines Flusses, der in seinen steinigen Ufern eingetrocknet ist; dabei klafft stellenweise das flache, runde Loch eines ebenfalls ausgetrockneten Teiches; am Ufer aber, auf der Böschung und auf dem Grunde zieht sich ein langer Gletscher von Leichen hin; – alles das füllt sich wieder zum Ueberlaufen mit den hochschäumenden Wellen unserer Truppe. Ich dringe durch den Rauch, den die Unterstände »ausspucken und durch die zitternde Luft, die die unterirdischen Explosionen erschüttern, dann stosse ich auf eine kompakte Masse von Menschen, die sich aneinanderklammern und sich weit im Kreise drehn. im gleichen Augenblick stürzt die ganze Masse zusammen als ein letzter Rest der sterbenden Schlacht; ich sehe Blaire, der sich herauswindet; der Helm hängt ihm am Sturmband um den Hals, sein Gesicht ist aufgerissen und er brüllt wie ein Wilder. Ich renne gegen einen Soldaten, der sich an den Eingang eines Unterstandes klammert; er tritt vor der schwarz klaffenden und verräterischen Oeffnung auf die Seite, hält sich aber mit der linken Hand am Eingangspfosten fest. Mit der rechten schwingt er während mehrerer Sekunden eine Handgranate. Sie verschwindet plötzlich und fährt in die Höhle. Gleich darauf platzt sie und ein grässliches Menschenecho dringt als Antwort aus den Eingeweiden der Erde. Der Soldat greift nach einer zweiten Granate.

Ein anderer zertrümmert mit einem Pickel, den er gerade an der Stelle aufhebt, die Türstützen eines anderen Unterstandes. Darauf senkt sich die Erde und der Eingang ist versperrt. Man sieht mehrere Schatten in lebhaftem Gespräch auf jenem Grab herumtrippeln.

Der eine dies, der andre das ... Aus der lebenden Schar, die in Fetzen gerissen den so heftig verfolgten Graben erreicht hat, erkenne ich, nachdem sie gegen die unbesiegbaren Granaten und die entgegen geschleuderten Kugeln angerannt war, die mir bekannten Leute kaum wieder; es ist, als ob das ganze übrige Leben plötzlich sehr weit zurückläge. Etwas verändert die Leute und knetet sie um. Eine Raserei fiebert in ihnen und lässt sie aus sich heraustreten.

– Warum bleiben wir stehn? knirscht einer durch die Zähne.

– Warum gehn wir nicht bis zum nächsten? fragt mich ein zweiter, voller Wut. Jetzt, wo wir so weit sind, wär man in einigen Sätzen dort!

– Ich will auch weiter!

– Ich auch. Ha, die Kälber! ...

Sie flattern wie Fahnen auf und brüsten sich ruhmvoll mit dem Zufall, der ihr Leben rettete, unerbittlich in ihrer überschäumenden Selbstberauschung.

Man bleibt stehn und trippelt herum im eroberten Bollwerk, in jener seltsamen, zerstörten Strasse, die sich durch die Ebene schlängelt, vom Unbekannten her ins Unbekannte hin.

– Vorwärts, nach rechts!

Und alles fliesst nach einer Richtung ab. Jedenfalls ist es ein Manöver, das die Chefs dort oben kombiniert haben. Man tritt auf weiche Leiber; einige von ihnen bewegen sich langsam und kriechen vom Platze; aus ihnen fliessen rasende Bäche und schreiende Laute. Leichen liegen der Länge und der Quere nach wie Balken aufeinander; Schutt zerdrückt und erstickt Verwundete, erwürgt sie und nimmt ihnen ihr Leben. Ich stosse einen geköpften Rumpf beiseite, und schaffe mir freie Bahn; sein Hals ist eine Quelle jammernden Blutes.

In dieser erderschütternden Katastrophe, in den Schutthaufen, über dem Durcheinander von Verwundeten und Toten, die sich miteinander bewegen, im wogenden Rauchwald, der aus dem Graben und aus der ganzen Umgebung wächst, überall sieht man nichts als wutentbrannte, schweissblutende und blitzende Gesichter. Gewisse Gruppen scheinen zu tanzen und schwingen ihre Messer; sie jubeln in wilder Wut, im Gefühl grenzenloser Sicherheit.

Unmerklich erlischt die Schlacht. Da sagt ein Soldat:

– Und jetzt, was hätten wir jetzt zu tun?

Plötzlich flackert sie an einem Punkte wieder auf: ungefähr auf zwanzig Meter in der Ebene, bei der Rundung des grauen Erdhügels. Man hört eine Ladung Gewehrschüsse knattern; sie speit ihren spritzenden Brand um eine Mitrailleuse, die dort vergraben, ruckweise ausspuckt, sich wehrt und um sich schlägt.

Unter dem russigen Flügel eines bläulichen Nimbus sieht man die Leute die blitzspeiende Maschine umzingeln und immer enger einschliessen. Ich erkenne neben mir die Silhouette von Mesnil Joseph; aufrecht, ohne sich zu schützen, geht er auf den Punkt zu, der diese abgehackten Knalle bellend ausspeit.

Ein Knall fährt irgendwo aus dem Schützengraben zwischen uns beide. Joseph bleibt stehn, schwankt, bückt sich und knickt ins Knie ein. Ich laufe ihm zu Hilfe, während er mich anschaut.

– Es ist nichts: nur der Schenkel ... Ich kann alleine weiter kriechen.

Jetzt scheint er brav, kindlich und zahm geworden zu sein. Er schleppt sich mit einer langsamen Wellenbewegung nach dem Graben hin.

Ich sehe noch genau den Punkt, aus dem der Knall herausgefahren ist und ihn getroffen hat. Ich schleiche hin und gehe links im Bogen herum.

Niemand. Ich finde nur einen der Unseren, der ebenfalls auf der Suche war. Es ist Paradis.

In diesem Augenblick stossen Leute auf uns; sie tragen auf der Schulter oder unterm Arm alle möglichen Eisenteile. Sie nehmen die ganze Sappe ein und trennen uns.

– Die siebte hat die Mitrailleuse erwischt, schreien sie. Jetzt hat sie ausgeschnauzt. Verrückt war das Biest, das gemeine Biest! Verdammtes Biest.

– Und jetzt, was gibt's zu tun?

– Nichts mehr.

Und so bleibt man hier und hockt in diesem Durcheinander ab. Die Lebenden haben ausgepustet, die Toten haben ausgeröchelt, umgeben von Rauch, von Lichtern und vom Kanonendonner, der aus allen Weltenden herrollt. Man weiss nicht mehr, wo man stehn geblieben ist. Es gibt weder Erde noch Himmel mehr, alles ist nur eine Dunstwolke und eine erste Ruhepause fällt in das Chaos der Dinge. Eine allgemeine Erschlaffung befällt Bewegungen und Lärm. Auch der Kanonendonner lässt nach; nur weiter in der Ferne noch erschüttert er den Himmel wie ein Husten. Die Leidenschaft kühlt sich ab und übrig bleibt nur die grenzenlose Müdigkeit, die jetzt aufsteigt und uns überschwemmt, und mit ihr das endlose Warten, das nunmehr wieder beginnt.

*

Wo ist der Feind? Ueberall hat er Leichen zurückgelassen, man ist scharenweise Gefangenen begegnet: dort sieht man noch welche; sie heben sich in eintönigen, rauchigen und verschwommenen Reihen vom schmutzigen Himmel ab. Aber die grosse Mehrzahl ist fort und verschwunden. Einige Granaten schlagen noch ungeschickt hie und da in unserer Nähe ein, aber man beachtet sie nicht. Wir sind gerettet, beruhigt und allein in dieser Wüste, in welcher endlose Leichenwellen an eine Reihe Lebender heranreichen.

Es ist Nacht geworden. Der Staub ist verflogen, aber er hat dem Halbdunkel den Platz geräumt und dem Schatten, der sich über den Wirrwarr der lang hingestreckten Menschenlänge legt. Die Leute nähern sich einander, setzen sich hin, stehn wieder auf und machen einige Schritte, stützen sich gegenseitig oder halten sich aneinander geklammert. Man sitzt zusammen und kauert zwischen den Unterständen; Leichenhügel versperren ihre Eingänge. Einige haben das Gewehr abgelegt und gehn am Rande der Grube hin und her und lassen die Arme hängen; von nahem sieht man, dass sie geschwärzt und verbrannt sind; sie haben rote Augen und sind bespritzt von Kot. Es wird kaum gesprochen, aber man macht sich auf die Suche.

Man sieht jetzt Krankenträger wie ausgeschnittene Schattenbilder sich bücken, das Gelände absuchen, vorgehen, zu zweit an ihre lange Last geklammert. Dort, rechts von uns, hört man Hacken und Schaufeln die Erde bearbeiten.

Ich irre in diesem düstern Tohuwabohu umher.

Dort, an der Grabenböschung, die von der Beschiessung zertrümmert, eine sanfte Senkung bildet, sehe ich jemanden sitzen. Ein verschwommenes Licht flackert noch. Die ruhige Stellung, in der jener Mensch nachdenklich vor sich hinblickt, hat etwas statuenhaftes und fällt mir auf. Ich beuge mich über ihn und erkenne ihn; es ist Korporal Bertrand.

Er kehrt sein Gesicht zu mir und ich fühle, dass er mich im Halbdunkel mit seinem nachdenklichen Lächeln ansieht.

– Ich wollte dich eben holen, sagt er zu mir. Die Wache wird gerade angeordnet, bis man Neues erfährt, was die andern gemacht haben und was vorne vor sich geht. Ich stelle dich mit Paradis als Doppelwache in einen Horchposten; die Sappeure haben ihn gerade gegraben.

Wir beobachten die vorübergehenden und herumstehenden Schatten, die wie Tintenflecke auf dem langen, zertrümmerten Grabengeländer hocken, sich bücken und in verschiedenen Stellungen kauern; ihre Silhouetten heben sich von der grauen Tünche des Himmels ab. Seltsam düster bewegen sie sich, zusammengeschrumpft wie Insekte und Würmer in der Landschaft, die das Nachtdunkel überzieht; das Sterben hat Frieden über das Land gebreitet, wo die Schlachten seit zwei Jahren Soldatenstädte aufschlagen, die sie wieder weiter treiben, über endlose und tiefe Todesstätten hinweg.

Zwei Schattenwesen schreiten nicht weit von uns durch die Dunkelheit; sie sprechen halblaut miteinander.

– Hast 'ne Ahnung, mein Lieber, statt drauf zu hören, hab ich ihnen 's Bajonett in den Bauch gerannt, so fest, dass ich's nicht mehr rausziehn konnte.

– Bei mir waren's vier in einem Loch. Ich hab sie angerufen, dass sie rauskommen sollen, und jedesmal, wenn einer rauskam, hab ich ihm die Haut aufgeschlitzt. Es lief mir rot bis an die Ellenbogen rauf. Die Aermel kleben mir noch an davon.

– Ha! fuhr der erste fort, und wenn wir das später, wenn man davon kommt, denen daheim erzählen, am Herd oder bei der Kerze, wird's keiner glauben wollen. Ist das nicht ein Elend, was?

– Mir Wurst, wenn ich nur heil davon komme, sagte der andere; und zwar so schnell als möglich, weiter verlang ich ja gar nichts.

Bertrand sagte gewöhnlich nicht viel, und sprach nie von sich. Jetzt aber sagte er doch:

– Drei hab ich auf'm Hals gehabt. Gehauen hab ich wie wahnsinnig. Ja! wir waren wie Bestien, als wir hierher gekommen sind.

In seiner Stimme klang ein unterdrücktes Zittern.

– Aber es musste sein, sagte er. Es musste sein – für die Zukunft.

Er schlug die Arme ineinander und schüttelte den Kopf.

– Die Zukunft! rief er plötzlich aus wie ein Prophet. Mit welchen Augen werden die Späteren, die nach uns kommen werden und denen der Fortschritt – der sich wie ein Unabwendbares einstellt – ein vernünftigeres Gewissen schenken wird, mit welchen Augen werden jene diese Schlächterei und diese Ruhmestaten ansehen, von denen wir selbst, die wir sie begangen haben, nicht wissen, ob wir sie mit den Heldentaten aus Plutarch oder Corneille vergleichen sollen oder mit Apachenstreichen. – Und doch, fuhr Bertrand fort, sieh! Einer hat dennoch sein Antlitz über den Krieg erhoben, und es wird einst leuchten in der Schönheit und der Bedeutung seines Mutes ...

Ich horchte, auf einen Stock gestützt und über ihn gebeugt, auf seine Worte; ich vernahm im Schweigen des Abends die Stimme jenes Mundes, der sich selten nur auftat. Und er sagte mit hellem Klange:

– Liebknecht!

Dann stand er auf, die Arme immer noch ineinander geschlungen. Sein schönes Antlitz, auf dem der tiefe Ernst einer Statue lag, sank auf die Brust. Aber noch einmal trat er aus seinem marmornen Schweigen heraus und wiederholte:

– Die Zukunft! die Zukunft! Das Werk der Zukunft wird darin bestehn, unsre Gegenwart auszuwischen, und noch mehr als man denkt, als etwas niederträchtiges und schändliches. Und doch war diese Gegenwart notwendig, sie war notwendig! Fluch dem Kriegsruhm, Fluch den Armeen, Fluch dem Soldatenhandwerk, das die Männer abwechselnd zu blöden Opfern und zu verruchten Henkern macht! Ja, Fluch: wahr ist es, aber es ist zu wahr, es ist wahr für die Ewigkeit, für uns noch nicht. Vorläufig heisst es aufpassen mit den Gedanken! Es wird erst dann wahr sein, wenn es eine ganze, wahre Bibel geben wird. Es wird wahr sein, wenn es mit anderen Wahrheiten zusammen geschrieben stehn wird, mit anderen Wahrheiten, die dann der geläuterte Geist zugleich verstehn wird. Wir aber sind verloren und verbannt und weit entfernt noch von jenen kommenden Zeiten. Heutzutage, in diesem Augenblick bedeutet diese Wahrheit schier ein Irrtum, und ihr heiliges Wort ist nur eine Lästerung!

Dann stiess er ein seltsames Lachen aus, ein schallendes Gelächter, in welchem Träume wehten:

– Einmal hab ich ihnen gesagt, dass ich an Prophezeiungen glaube – um sie anzutreiben.

Ich setzte mich neben Bertrand. Dieser Soldat, der stets mehr als seine Pflicht getan und dennoch sein Leben noch nicht verloren hatte, stand in diesem Augenblick vor meinen Augen wie einer, der eine hohe, moralische Idee verkörpert und die Kraft besitzt, sich loszusagen von den Rippenstössen der Umgebung, als einer, der dazu auserkören ist, seine Zeit zu beherrschen, falls ihn sein Schicksal in das helle Licht einer grossen Begebenheit hineinstellen wird.

– Das alles hab ich auch schon gedacht, sagte ich leise zu ihm.

– So! sagte Bertrand,

Wir sahen uns, ohne ein Wort zu sagen, mit einiger Ueberraschung und ernster Sammlung an. Nach diesem grossen Schweigen aber sagte er wieder:

– Es ist Zeit zum Dienst. Nimm dein Gewehr und komm.

*

... Von unserem Horchposten aus sehen wir gegen Osten den Schein eines um sich greifenden Brandes: nur blauer und trauriger als eine Feuersbrunst. Die Helligkeit zieht sich wie ein Strich unter einer langen, schwarzen Wolke hin, die als grosser Flecken wie der erloschne Rauch eines erstorbenen Feuers über der Erde hängt. Es ist der anbrechende Morgen.

Er ist so kalt, dass man unmöglich in ruhiger Stellung verharren kann, obwohl die Müdigkeit einem wie Ketten anhängt. Man zittert, schlottert, klappert mit den Zähnen, und Feuchtigkeit rinnt aus den Augen. Allmählich schleicht das Licht mit unerhörter Trägheit aus dem Himmel in das magere Gerüst der schwarzen Wolken. Alles ist eiskalt, farblos und leer; eine Totenstille liegt auf der Landschaft. Reif und Schnee liegen unter der Nebellast. Alles ist weiss. Paradis bewegt sich wie ein fahles, schweres Gespenst. Auch wir sind ganz weiss. Ich hatte meinen Brotbeutel auf die Böschung des Horchpostens gelegt, jetzt sieht er aus, als wäre er in Papier gewickelt. Am Boden des Loches schwimmt, auf dem schwarzen Fussbad, ein wenig zerfressner, grauer Schnee auf. Draussen liegt über den Erdhaufen, in den Mulden und über der Menge der Toten ein weisser Schneeschleier.

Zwei geduckte Gestalten bewegen sich im Nebel. Sie werden immer dunkler und erreichen uns. Dann rufen sie uns an. Es ist die Ablösung. Sie haben rotbraune und feuchtkalte Gesichter und Bäckchen wie glasierte Ziegelsteine; aber auf ihren Mänteln liegt kein Schnee, denn sie haben unter der Erde geschlafen.

Paradis stemmt sich hinaus. Ich folge in der Ebene seinem St. Niklausrücken und den Entenspuren seiner Schuhe, die beim Gehn die weissen Klumpen filziger Sohlen abheben. So kehren wir gebückt in den Schützengraben zurück; die Spuren der Leute, die uns abgelöst haben, sind in der dünnen, weissen Schicht, die den Boden bedeckt, schwarz eingezeichnet.

Ueber dem Schützengraben hängen stellenweise an Pfosten breite, unregelmässige Zelte reifschimmernd oder mit weissem Samt besetzt. Hier und dort stehen Wachen. Zwischen ihnen hocken jammernde Gestalten, die sich gegen die Kälte zu wehren versuchen und den armseligen Herd ihrer Lungen verteidigen; andere sind starr wie Eis. Ein Toter liegt mit der Brust und den zwei Armen auf der Böschung, die Füsse aber stehn im Graben. Er wühlte die Erde, als er starb. Sein Gesicht starrt zum Himmel und hat einen eisigen Aussatz; das Augenlid ist weiss wie das Auge selbst, und an seinem Schnurrbart hängt ein gefrorner Geifer.

Andere Leiber liegen schlafend; sie sind weniger weiss als die übrigen; denn die Schneeschicht liegt unberührt nur auf den Dingen: auf den Gegenständen und auf den Toten.

– Wir müssen schlafen.

Ich suche mit Paradis nach einem Unterschlupf, einem Loch, wo man sich verkriechen und die Augen schliessen kann.

– Wenn's auch Leichen im Unterstand hat, mir schnuppe, murmelte Paradis. Sie werden sich schon zusammennehmen bei der Kälte, und brav sein.

Wir schleppen uns weiter; wir sind so matt, dass unsre Blicke auf dem Boden schleifen.

Ich bin allein. Wo ist Paradis? Er hat sich offenbar in irgend eine Ecke gelegt. Vielleicht auch hat er mich gerufen, ohne dass ich es gehört habe.

Ich begegne Martherau.

– Ich such mir 'n Platz aus zum Schlafen, ich war auf Wache, sagt er zu mir.

– Ich auch. Wir können miteinander auf die Suche gehn.

– Was ist das für ein Lärm, man hört immer Schprum? sagt Marthereau.

Ein Gemurmel und Getrippele, und dann werden Stimmen laut, wie aus einem Gedränge; es tönt aus dem Laufgraben, der hier einmündet.

– Die Laufgräben sind voll Leute ... Was für welche seid ihr? ...

Einer von denen, die jetzt plötzlich um uns her sind, antwortet:

– Wir sind vom 5. Bataillon.

Die Ankömmlinge ruhen aus; sie stecken in voller Ausrüstung. Der Soldat, der vorhin Antwort gab, setzt sich erschöpft auf den Bauch eines Erdsackes, der aus der Reihe heraustritt; dann stellt er seine Handgranaten vor die Füsse und wischt sich die Nase mit dem Aermel.

– Was macht ihr hier, in der Gegend? Hat man euch was gesagt?

– Ja, schon eher: zum Angriff gehts. Dorthin, bis ganz rauf.

Und mit dem Kopfe nickt er nach Norden.

Unsre Neugierde, die sie betrachtet, bleibt an einer Einzelheit hängen:

– Habt ihr euer ganzes Bordell mitgeschleppt?

– Wir haben's lieber nicht zurückgelassen, deshalb.

– Vorwärts, Marsch! lautet ein Befehl.

Sie stehn auf und gehn weiter, im Halbschlaf, mit aufgeschwollenen Augen und deutlich erkennbaren Runzeln. Es hat Jünglinge dabei mit dünnem Hals und leeren Augen, und alte Leute und in der Mitte gewöhnliche Soldaten. Sie gehn friedfertigen und alltäglichen Schrittes vorbei. Und das, wozu sie bestimmt sind, scheint uns, die wir es am Tag zuvor bereits vollbracht haben, menschliche Kräfte zu übersteigen; und dennoch marschieren sie dem Norden zu.

– Das Erwachen der Verurteilten, meint Marthereau.

Und man drückt sich auf die Seite mit einer gewissen Bewunderung und mit einem Gefühl des Schreckens. Und als sie vorüber waren, nickt Marthereau mit dem Kopf und murmelt:

– Auf der andern Seite machen sich jetzt auch welche in grauen Uniformen zum Angriff fertig. Glaubst du, denen ist es drum? Da müsst doch schon einer verrückt sein. Aber warum sind sie dann hergekommen? Ich weiss ja schon, sie sind's ja nicht gewesen; aber sie sind's doch, sie sind doch hergekommen ... Ich weiss ja schon, weiss ja schon, aber ... merkwürdig ist es doch.

Eben geht jemand vorbei; sein Erscheinen bringt uns auf andere Gedanken:

– Da, das ist der Dings da, wie heisst er nur, ja, der Lange, weisst doch? Ist der Kerl spitzig; s' Mass hat er auch! Ich weiss ja schon, bei mir fehlt's etwas an der Länge, aber der übertreibt doch. Aber auf dem Laufenden ist er immer, der Doppelmeter! Ein Auskunftsbureau ist das reinste Fragezeichen dagegen. Komm, der weiss uns vielleicht eine Hütte.

– Hütten? Und ob! antwortet der Lange und beugt sich dabei zu Marthereau hin wie ein Pappelbaum. Natürlich, du alter Karpate. Haufenweise! Dabei streckte er seinen Ellenbogen und wies wie ein Telegraphensignal nach der Richtung hin: »Villa Hindenburg«, und dort »Villa Glück auf«. Und wenn ihr nicht zufrieden seid, dann seid ihr eben anspruchsvoll. Vielleicht hat's allerdings schon ein paar Gäste drin, aber das sind stille Mieter, und du kannst vor ihnen ohne Schaden laut reden.

– Gottverdammich! ... rief Marthereau aus, nachdem wir uns eine Viertelstunde schon in einem ausgehöhlten Loch eingerichtet hatten, von diesen Mietern hat er nichts gesagt, der lange Blitzableiter, 's ist haarsträubend!

Seine Augendeckel fielen zu; aber sie gingen bald wieder auf, und er kratzte sich Arme und Hüften.

– Die nötige Bettschwere hab ich schon, aber schnarchen kannst du doch nicht, 's ist nicht zum Aushalten.

Wir gähnten, seufzten und zündeten schliesslich einen Kerzenstummel an; aber er wollte kaum brennen, obwohl wir die Hände davor hielten; denn es war feucht. Dann sahen wir uns gähnend an.

Der deutsche Unterstand hatte verschiedene Abteile. Wir lagen an einer schlecht angefügten Bretterwand. Auf der andern Seite, im Keller Nr. 2, kauerten ebenfalls wachende Leute; man sah das Licht durch die Spalten sickern und hörte das Geräusch der Stimmen.

– Es ist der andre Zug, sagte Marthereau. Dann horchten wir automatisch hin.

– Als ich auf Urlaub war, brummte ein unsichtbarer Erzähler, waren wir zuerst traurig, weil wir an meinen armen Bruder denken mussten. Seit März ist er vermisst und wahrscheinlich tot, und mein armer, kleiner Julien, vom Jahrgang 15, der ist in der Oktoberschlacht gefallen. Und dann haben wir uns allmählich gefreut, sie und ich, dass wir beieinander waren, verstehst du? Unser kleines Nesthäkchen ist fünf Jahr alt; der hat uns die Zeit vertrieben. Soldaten wollte er mit mir spielen. Ich hab ihm 'ne Knallbüchse gebastelt, hab ihm den Schützengraben erklärt, da hat er gezittert vor Freude wie ein Spatz und schoss mich an und brüllte dabei. Ha! Und einen Radau hat er verführt! Das gibt mal einen tüchtigen Soldaten. Der hat den richtigen, militärischen Geist!

Dann war wieder alles still. Dann wogten die Stimmen wieder auf, und mitten aus dem Gespräch heraus hörte man das Wort: »Napoleon«; dann meinte eine andere, oder vielleicht auch dieselbe Stimme:

– Der Wilhelm ist ein gemeines Biest, dass er den Krieg gewollt hat. Aber Napoleon, das war ein grosser Mann!

Marthereau kniet vor mir im armseligen und dünnen Schein unserer Kerze, mitten in diesem dunkeln und schlecht verstopften Loch, in das von Zeit zu Zeit die Kälte durchdringt und das Ungeziefer herumkrabbelt und wo die hockenden Klumpen der armen Lebenden einen muffigen Grabgeruch verbreiten ... Marthereau sieht mich an; wir hören noch beide, wie der anonyme Soldat die Worte ausspricht: »Der Wilhelm ist ein gemeines Biest, aber Napoleon, das war ein grosser Mann«, und wie er dann den Kriegseifer seines letzten Jungen feierte. Dann lässt Marthereau seine Arme sinken, schüttelt seinen müden Kopf, und das schwache Licht wirft auf die Bretterwand den Schatten dieser doppelten Geste als Karikatur.

– Ach Gott, sagt mein bescheidener Kamerad, wir sind alle keine schlechten Kerle und dazu noch arme Unglücksteufel. Aber dumm sind wir, jawohl, wir sind zu dumm!

Dann sieht er mich wieder an. Aus seinem haarigen Pudelgesicht leuchten zwei schöne Hundeaugen heraus; sie träumen und wundern sich und denken noch sehr verworren über Dinge nach; aber in ihrer keuschen Bescheidenheit geht ihnen ein Verständnis auf.

Wir verlassen diesen unwirtlichen Unterstand. Das Wetter ist ein wenig milder geworden; der Schnee ist geschmolzen und alles hat sich mit Dreck überzogen.

– Der Wind hat den Zucker abgeschleckt, sagt Marthereau.

*

Ich habe den Befehl, Joseph Mesnil zum Verbandposten an der Pylônes-Strasse zu führen. Sergeant Henriot übergibt mir den Verwundeten und den Evakuations-Schein.

– Wenn ihr unterwegs Bertrand begegnet, sagt Henriot, sagt ihm, er soll ein bisschen dally machen, verstanden? Bertrand ist heut Nacht Verbindungsposten gewesen; seit einer Stunde lässt er schon auf sich warten, der Alte verliert die Geduld und jeden Augenblick packt ihn die Wut.

Ich mache mich mit Joseph auf den Weg. Er ist ein wenig bleicher als gewöhnlich und stumm wie immer. Er geht ganz langsam. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehn und verzerrt sein Gesicht. Wir gehn den Laufgräben nach.

Plötzlich kommt ein Soldat; es ist Volpatte und er meint:

– Ich geh mit euch bis zum Hügel runter.

Er hat nichts zu tun, hält einen prächtigen, gewundenen Stock in der Hand und schüttelt wie Kastagneten seine wertvolle Schere, von der er sich niemals trennt.

Wir steigen aus dem Laufgraben heraus, denn hier senkt sich das Gelände; es ist keine Kugelgefahr vorhanden, und die Kanonen sind jetzt verstummt. Kaum haben wir den Graben verlassen, so stossen wir auf eine Ansammlung von Menschen. Es regnet. Durch die schweren Beine hindurch, die wie Trauerbäume aus dem Boden wachsen, sieht man, im Nebeldunst, auf der grauen Ebene einen Toten liegen.

Volpatte drückt sich bis zur liegenden Gestalt hin, um welche jene senkrechten Menschen stehn. Dann kehrt er sich plötzlich um und ruft uns zu:

– Es ist Pépin!

– So! sagt Joseph, der nah einer Ohnmacht ist.

Er stützt sich auf mich und wir treten näher. Pépin liegt da, verzerrt, mit ausgestreckten Beinen und Armen; sein Gesicht ist aufgedunsen, beschädigt und furchtbar grau.

Dann erzählt uns einer, der eine Hacke in den Händen hält, mit schweisstriefendem Gesicht, das von lauter schwarzen Falten durchfurcht ist, den Tod Pépins:

– Er war in ein Loch gekrochen, wo die Deutschen sich verschanzt hatten. Keiner wusste davon, und da haben sie die Hütte eingeräuchert und haben den armen Kleinen nach der Operation tot aufgefunden, verzerrt wie 'ne Katzenkuttel, mitten im deutschen Fleisch drin; das hatte er aber vorher geschlachtet und zwar nach allen Regeln der Kunst; ich bin Metzger bei Paris, ich kann's beurteilen.

– Wieder einer weniger in der Korporalschaft! sagte Volpatte: dann gingen wir weiter.

Jetzt stehn wir oben auf der Höhe am Rand jener Hochebene, über die wir so wahnsinnig Sturm gelaufen waren; gestern abend war's, und wir erkennen sie nicht mehr.

Ich hatte damals den Eindruck einer vollständig flachen und horizontalen Ebene; tatsächlich aber fällt sie ab und ist zu einem erschreckenden Leichenfeld geworden. Es wimmelt von Toten darauf; es sieht aus wie ein Kirchhof, dessen obere Schicht abgetragen worden sei.

Gruppenweise gehen Leute über die Ebene und identifizieren die Toten, die gestern und in der Nacht gefallen sind, durchsuchen die Ueberreste und erkennen sie an einzelnen Merkmalen trotz ihrer zerstörten Gesichter. Einer jener Suchenden zieht aus der Hand eines Toten eine zerfetzte Photographie; sie ist verwischt, ein gemordetes Bild.

Schwarzer Granatenrauch wirbelt in der Ferne auf und donnert über den Horizont; Rabenheere fegen mit breitem, schwarz getupftem Flug über den Himmel.

Unten liegen Zuavenschützen und Fremdenlegionäre unter der Masse jener Unbeweglichen; sie rühren noch vom Maiangriff her; denn sie sind schon aufgelöst und wie weggewischt. Unser äusserster Flügel befand sich damals fünf oder sechs Kilometer von hier entfernt, beim Wald von Berthonval. Jener Angriff war einer der schrecklichsten in diesem Krieg und in allen Kriegen; sie waren damals bis hierher im Laufschritt angestürmt. Dabei aber hatten sie sich als einzelnen Punkt aus der ganzen Sturmwelle zu weit vorgewagt und waren von rechts und links durch die Maschinengewehre angeschossen worden. Monate lang lagen sie schon da mit ausgehöhlten Augen und zerfressenen Backen; aber jetzt noch erkennt man an den zerstreuten Ueberresten, die vom Unwetter verweht und fast zu Asche zersetzt waren, die furchtbaren Verwüstungen der Maschinengewehre, die sie zerfetzt hatten; Rücken und Lenden hatten sie ihnen durchlöchert und mitten durchgehackt. Schwarze und wachsartige Köpfe ägyptischer Mumien liegen herum; Larvenklumpen und Ueberreste von Insekten hängen an ihnen, und in hohlen Löchern starren weisse, spitze Zähne; dann wimmelt es von armseligen düsteren Stümpfen, wie ein entblösstes Wurzelfeld; daneben entdeckt man abgeschabte, gelbe Schädel, die eine Zuavenmütze aus rotem Tuch bedeckt, darüber einen grauen Ueberzug, der wie Papyrus zu Staub wird. Schenkelbeine starren aus Lumpenbündeln, die ein rötlicher Kot beklebt; oder man sieht aus einem faserigen Tuchloch, das eine pechartige Masse beschmiert, das Bruchstück eines Rückgrates herausragen. Rippen liegen auf dem Boden herum wie alte zerbrochne Käfige; darüber schwimmen zernagte Lederfetzen, Feldflaschen, durchlöcherte und plattgequetschte Gamellen. Ein zerhackter Tornister liegt, auf einem Haufen von Knochen, Stoff und Rüstzeug; um diesen liegen in regelmässigen Abständen, weisse Punkte ausgesät; und wenn man sich hinbückt, erkennt man die Fuss- und Handgerippe eines Etwas, das früher einmal eine Leiche war.

Mitunter schaut aus länglichen Erdhöckern ein Stückchen Stoff heraus – denn allmählich sind jene unbegrabenen Leichname doch in die Erde hineingekrochen – und man erkennt nur noch, dass auf diesem Erdfleck ein menschliches Wesen zu Staub geworden ist.

Die Deutschen, die gestern hier standen, haben, ohne sie zu begraben, ihre Soldaten neben den unsern liegen lassen; so sieht man an einer Stelle drei verfaulte Leichen aufeinander, ineinander liegen; sie tragen graue Feldmützen, deren roter Rand unter einem grauen Band versteckt liegt; sie tragen graugelbe Röcke und haben grüne Gesichter. Ich entziffere die Gesichtszüge des einen: von den Tiefgründen seines Halses bis zu den Haarbüscheln, die am Rande seiner Mütze kleben, sieht man eine erdfahle Masse; das Gesicht ist zu einem Ameisenhaufen verwandelt, und an Stelle der Augen zwei verfaulte Früchte. Der andere ist leer und ausgetrocknet; er liegt platt auf dem Bauch mit zerlumptem, beinahe flatterndem Rücken; die Hände, die Füsse und das Gesicht stecken in der Erde.

– Schaut her! Der ist noch frisch, der da ...

Auf der Ebene, im regnerischen und eisigen Luftdunst, am fahlen Nachtage der mörderischen Orgie liegt ein Kopf, ein blutloser und feuchter Kopf mit einem schweren Bart.

Es ist einer der unseren: der Helm liegt daneben. Die geschwollenen Augenlider lassen etwas vom düstern Porzellan seiner Augen erkennen; in seinem dunkeln Bart leuchtet die Lippe wie eine Schnecke. Wahrscheinlich fiel er in ein Granatenloch, das eine zweite Granate wieder zuschüttete; so wurde er bis an den Hals begraben, wie jener Deutsche mit dem Katzenkopf beim Cabaret Rouge.

Ich kenne ihn nicht, sagt Joseph, der sich sehr langsam vorwärts bewegt und mit Mühe spricht.

– Ich erkenne ihn schon, antwortet Volpatte.

– Den Bärtigen da? macht Joseph mit bleicher Stimme.

– Er hat gar keinen Bart. Pass mal auf.

Volpatte kniet nieder, fährt mit seinem Stock unter das Kinn des Toten und löst darunter eine Art Kotpflaster ab, auf dem der Kopf ruhte; der Kotklumpen aber täuschte einen Bart vor. Dann hob er den Helm auf, setzte ihn dem Toten auf den Kopf und hielt ihm einen Augenblick die zwei Ringe seiner berühmten Schere wie eine Brille vor die Nase.

– Jetzt rufen wir beide aus: es ist Cocon!

– Ja, ja!

Wenn man den Tod eines Menschen erfährt oder sieht, an dessen Seite man gekämpft und mit welchem man ein gemeinsames Leben geführt hat, empfindet man zuerst einen heftigen Stoss ins eigne Fleisch, bevor man sein Verschwinden begreift. Es ist, als erfahre man plötzlich ein wenig sein eigenes Sterben. Erst nach einer Weile befällt einen die Trauer um den Verlornen.

Wir betrachten das scheusslich zugerichtete Gesicht, das gemordete Gesicht, dessen Anblick grausamerweise die Erinnerung an den früheren Menschen verwischt. Noch einer dahin ... Und wir stehn, wie von einer Angst befallen, um ihn herum.

– Es war ...

Man möchte etwas sagen, findet aber nichts, das ernst, wahr und wichtig genug wäre.

– Gehn wir weiter, sagt Joseph mühevoll, den seine körperlichen Schmerzen erschöpfen, ich hab nicht mehr die Kraft, die ganze Zeit stehen bleiben zu können.

Darauf trennen wir uns von Cocon, dem Exziffermenschen und werfen ihm einen letzten, kurzen, fast zerstreuten Blick zu.

– Das stellt sich keiner vor ... sagt Volpatte.

... Nein, das stellt sich keiner vor. All dieses gleichzeitige Sterben macht einen fast wahnsinnig. Es gibt nicht genug Ueberlebende mehr. Aber man begreift fast die Grösse jener Toten. Sie haben alles hergegeben; ihre ganze Kraft opferten sie Tropfen für Tropfen, bis sie sich schliesslich ganz hergaben. Sie sind über das Leben hinausgegangen und ihr Opfer hat etwas übermenschliches und vollkommenes.

*

– Da! hier liegt einer, den hat's eben geputzt, und doch ...

Eine frische Wunde nässt den Hals eines fast skeletthaften Körpers.

... Das ist 'ne Ratte, sagt Volpatte. Die Leichen sind manchmal schon alt, aber die Ratten frischen sie immer wieder auf ... Du kannst verreckte Ratten – vielleicht dass sie vergiftet sind – bei jeder Leiche oder drunter liegen sehn. Pass mal auf, der arme Kerl hier hat sicher auch welche.

Dabei hebt er die flache Leiche mit dem Fuss und in der Tat liegen zwei tote, erdrückte Ratten darunter.

Ich möchte Farfadet wieder finden, sagt Volpatte. Ich hab ihm gesagt, er soll warten, als wir gestern hier rennen mussten und er mich mit den Händen festhielt. Wenn er nur gewartet hat, der arme Kerl?

Dann geht er hin und her. Eine seltsame Neugierde zieht ihn zu den Toten hin. Aber die Toten sind teilnahmslos und schicken ihn sich gegenseitig zu; dabei schaut er bei jedem Schritt zu Boden. Plötzlich stösst er einen verzweifelten Schrei aus, winkt uns zu und kniet vor einem Toten hin.

– Bertrand.

Ein schneidender und heftiger Schmerz packt uns. Gott, jetzt ist auch er gefallen, wie die andern, er, der uns alle mit seiner Energie und seinem klaren Kopf am meisten beherrschte! Er hat sich töten lassen, hat sich endlich töten lassen aus reinstem und unausgesetztem Pflichtgefühl. Er hat endlich den Tod an seinem Orte gefunden!

Wir betrachten ihn; dann wenden wir die Blicke von dieser Vision und sehn uns an.

– Ach Gott! ...

Wir empfinden den Schmerz seines Hinschiedes; er ist um so furchtbarer, als sein Leichnam schrecklich aussieht. Der Tod hat dieser so schönen und ruhigen Erscheinung die Maske und die Gebärde des Grotesken aufgedrückt. Die Haare hängen ihm wirr über die Augen, der Schnurrbart geifert aus dem Mund, das Gesicht ist aufgedunsen und lacht. Das eine Auge steht weit offen, das andere ist geschlossen und er streckt die Zunge heraus. Die Arme liegen gekreuzt übereinander, mit offenen Händen und gespreizten Fingern. Sein rechtes Bein liegt nach der einen Seite ausgestreckt; das linke ist von einem Granatenschuss zerschmettert; aus dieser Stelle floss das Blut, bis er starb. Dieses zerfetzte Bein liegt kreisförmig, breiartig und ohne Gerippe auf dem Boden. Eine düstere Ironie liess das letzte Aufzucken jenes Todeskampfes in einer Bajazzofratze erstarren.

Wir ordnen den Leichnam und beruhigen diese fürchterliche Maske. Volpatte hat Bertrands Brieftasche herausgezogen und will sie im Bureau abgeben; unterdessen legt er sie ehrfurchtsvoll zu seinen eignen Papieren, zusammen mit dem Bild seiner Frau und seiner Kinder. Nachdem dies besorgt ist, schüttelt er den Kopf:

– Das war wirklich ein Kerl! Wenn der was sagte, war's auch ein Beweis, dass es stimmte. Den hatten wir nötig!

– Jawohl, sagte ich, den hätten wir immer nötig gehabt.

– Ach Gott, ach Gott! ... murmelte Volpatte und zitterte.

Joseph aber wiederholte ganz leise: – Herrgott! Herrgott!

Es wimmelt von Menschen in der Ebene wie auf einem öffentlichen Platz. Fassmannschaften gingen vorüber, gruppenweise und vereinzelt. Die Krankenträger beginnen geduldig und bescheiden ihre ungeheure und übergrosse Arbeit.

Volpatte verlässt uns und geht in den Schützengraben zurück, um dort unsre neuen Verluste und vor allem die grosse Lücke anzuzeigen, die Bertrands Hinschied bei uns offen lässt. Zu Joseph sagt er noch:

– Wir werden uns schon nicht aus den Augen verlieren? Schreib mal von Zeit zu Zeit ganz kurz: »Es geht alles gut, und drunter: Camembert«, nicht?

Dann verschwindet er unter den Leuten, die sich in der weiten Ebene kreuzen, in der weiten Ebene, die ein endloser Regen völlig überströmt.

Joseph stützt sich auf mich. Wir steigen den Abhang hinunter.

Der Abhang heisst les Alvéoles des Zouaves ... (die Zuaven-Zellen). Im Mai-Angriff hatten die Zuaven hier den Bau von Einzel-Unterständen begonnen, waren aber dabei niedergeschossen worden. Man sieht welche, über einem angeschnittenen Loch liegen; sie halten in ihren fleischlosen Händen noch die Schaufel oder starren sie an aus tiefen Augenhöhlen, in denen das Innere ihrer Augen zusammengeschrumpft ist. Die Erde ist derart mit Toten bedeckt, dass die abgerutschten Erdmassen mit herausstarrenden Füssen und halb bekleideten Skeletten gespickt sind; daneben liegen dicht aneinander Schädelmassen auf der steilen Wand, wie Porzellanpokale.

Die Erde birgt hier mehrere Leichenschichten; an mehreren Stellen haben die wühlenden Granaten die älteste Schicht heraufgeholt, über die letzten geschaufelt und darüber ausgebreitet. Unten in der Schlucht liegt alles voll Waffenstücke, Wäsche und Gerätschaften. Man tritt auf Granatsplitter, auf Eisen, auf Brot und sogar auf Zwieback, der aus dem Tornister gefallen und vom Regen noch nicht aufgesaugt ist. Die Kugeln haben die Gamellen, die Konservenbüchsen und die Helme wie Siebe durchlöchert; die reinste Siebausstellung; auch die stehngebliebenen Pfähle sind mit Löchern betupft.

Die Gräben, die sich durch dieses Tälchen schlängeln, sehn aus, als seien sie vom Erdbeben hineingerissen worden; man hat den Eindruck, es seien hier Wagenladungen verschiedener Gegenstände über die Ruinen eines Erdbebens abgeladen worden. Und dort, wo keine Toten mehr liegen, sieht die Erde selbst wie ein Leichnam aus.

Jetzt kommen wir in den internationalen Laufgraben; überall ist er mit bunten Lappen behangen. Dieses Durcheinander von zerrissenen Stoffetzen verleiht dem unförmigen Graben das Aussehen, als sei er ermordet worden, er windet sich an dieser Stelle in ungleichmässiger Schlangenlinie und bildet einen Bogen. Auf der ganzen Strecke bis zu einem Erdwall, der ihn absperrt, liegen deutsche Leichen durcheinander, wie Sturzwellen verdammter Seelen ineinander verknotet. Einige ragen aus Kothöhlen, mitten aus einer unentwirrbaren Anhäufung von Balken, Seilen, Eisenbändern, Schanzkörben, Flechtwerk und Stahlplatten heraus. Am Erdwall steht eine Leiche aufrecht in die andern hineingepflanzt; an der gleichen Stelle ragt ein anderer schief in den trostlosen Nebelrauch hinein; die beiden zusammen erinnern an ein grosses eingesunkenes Rad, an den zerfetzten Flügel einer Windmühle; über diesen Kehricht- und Leichentrümmern aber liegen zahllose Heiligenbildchen, Postkarten, fromme Büchlein und Buchseiten ausgestreut, auf denen Gebete in gotischer Schrift gedruckt stehn und die aus den aufgeschlitzten Kleidern haufenweise herausgeflogen sind. Diese Worte verblümen gleichsam mit ihrem tausendfach weissen Schimmer von Lügen und Unfruchtbarkeit jene verpesteten Gestade, jenes Tal der Verwesung.

Ich suche eine gangbare Stelle, über die ich Joseph führen könnte, denn seine Wunde entkräftet ihn mehr und mehr: er fühlt, wie sie durch seinen ganzen Körper sickert. Während ich ihn stütze und er leer in den Tag schaut, betrachte ich den schaurigen Zusammensturz, über den wir schreiten.

Ein Feldwebel sitzt und lehnt mit dem Rücken an zerrissne Bretter, die dort, wo wir hintreten, einen Horchposten bildeten. Man entdeckt unter seinem Auge ein kleines Loch; ein Bajonettstoss hat ihn mit dem Gesicht an die Bretter genagelt. Daneben sitzt ein anderer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Fäuste am Hals; ihm hat es den oberen Teil des Schädels abgedeckt wie bei einem hartgekochten Ei ... Neben beiden steht, wie ein schrecklicher Wächter, ein halber Mensch; er ist vom Scheitel bis zum Gesäss entzweigehauen und lehnt aufrecht an die Erdwand. Man weiss nicht, wo die andere Hälfte dieses menschlichen Pfahles liegt, dessen Auge an der oberen Spitze hängt und dem sich die bläulichen Eingeweide spiralenförmig um das Bein wickeln.

Mit dem Fuss reisst man aus erstarrten Blutklumpen französische Bajonette heraus, die durch den Anstoss verbogen, verdreht und gekrümmt sind.

Durch eine Scharte des zerhackten Walles entdeckt man einen Schacht, in welchem die Leichen preussischer Gardesoldaten scheinbar in aufrechter Stellung knien; sie sind von hinten angeschossen, mit blutigen Löchern, wie aufgespiesst. Aus ihrer Gruppe hat man einen ungeheuern senegalesischen Jäger auf den Grabenrand gehisst; er starrt versteinert in der gewundenen Stellung, in der der Tod ihn erwischte und ragt in die leere Luft, an die er seine Füsse krallt; dabei starrt er seine abgehauenen Handgelenke an; offenbar hat ihm die Granate, die er in den Händen hielt, dieselben beim Platzen abgerissen; es wimmelt in seiner Fratze, als kaue er Würmer.

– Hier, erzählt uns ein Alpenjäger, haben sie den Trick mit der weissen Fahne versucht. Aber sie hatten's mit Schwarzhäutern zu tun; die haben's natürlich nicht gefressen! ... Da, hier hängt grad die weisse Fahne, die die Mistkerle geschwungen haben.

Dabei packt er und schwingt einen langen Stiel, der auf dem Boden lag und an den ein Viereck weissen Stoffes genagelt war und sich unschuldig entfaltet ...

Ein Bandwurm von Schaufelträgern windet sich durch den zerstörten Graben. Sie haben den Befehl, die Erde in die noch offenen Schützengräben zu schaufeln, alles zu verstopfen und die Leichen an Ort und Stelle zu begraben. So machen sich denn diese behelmten Leute an die Arbeit und vollbringen hier als Richter ihr Werk, geben dieser Landschaft ihre volle Gestalt zurück und füllen die Löcher wieder aus, die mit den abgeworfenen Ladungen der Eindringlinge schon halb zugeschaufelt sind.

*

Auf der andern Seite des Grabens ruft mich einer an: der Mann sitzt auf der Erde an einen Pfahl gelehnt. Es ist Vater Ramure. Durch den Spalt seines Mantels und durch seinen aufgeknöpften Rock hindurch sieht man den Verband, der seine Brust umwickelt.

– Die Krankenwärter haben mich verbunden, sagt er mit hohler und schwacher Stimme, die der Atem beengt; aber vor heut abend können sie mich nicht wegtragen. Aber ich weiss schon, jeden Augenblick kann's mit mir aus sein.

Dann nickt er mit dem Kopf:

– Bleib noch ein bisschen da, bittet er mich.

Er wird weich und die Tränen rollen ihm aus den Augen. Er streckt mir die Hand hin und hält die meine zurück. Dann möchte er sich aussprechen und sowas wie eine Beichte ablegen.

– Ich war ein ehrlicher Mensch vor dem Krieg, sagt er, und seine Tränen fliessen ihm dabei in den Mund. Ich hab von morgens bis abends gearbeitet für die ganze Familie. Und dann bin ich hierher gekommen, um Deutsche kaput zu machen. Und jetzt bin ich getötet worden ... Hör nur weiter, hör doch, geh nicht fort, hör mich nur an ...

– Ich muss Joseph fortbringen, er kann nicht mehr. Nachher komm ich wieder.

Ramure sah den Verwundeten mit tränenden Augen an.

– Er lebt, er, und ist noch verwundet dazu! Er hat sich den Tod vom Halse geschafft! Es hat doch Frauen und Kinder, die Glück haben. Also dann geh und bring ihn hin und dann komm wieder ... Hoffentlich kann ich warten bis dahin ...

Jetzt gehts den andern Abhang des Tales hinauf. Wir münden in die unförmige und übel hergenommene Senkung des 97er Laufgrabens.

Da zerreisst plötzlich ein tobsüchtiges Sausen die Luft. Ein Schrapnellregen über uns, dort oben ... Aus dem Schosse der ockergelben Wolken flammen Meteorsteine und zerstieben in einen fürchterlichen Dunst. Rollende Ladungen wälzen sich am Himmel und zerschellen auf dem Abhang; platzend und brennend wühlen sie den Hügel auf und scharren das alte Weltgerippe ans Licht. Und die krachenden Flammen sind so zahlreich, dass sie eine regelmässige Linie bilden.

Wieder fängt ein Sperrfeuer an.

Und wie Kinder schreien wir:

– Genug! Genug!

In dieser unerbittlichen Werkstatt des Todes, in der automatischen Katastrophe, die uns durch den Raum hetzt, liegt etwas übernatürliches, das die Kräfte und die Willenskraft aufs äusserste treibt. Joseph, der mich bei der Hand hält, starrt aufrecht stehend über seine Schultern hinweg den berstenden Platzregen der Geschosse an. Er beugt den Kopf wie ein gehetztes und verlornes Wild.

– Herrgott, ist's noch nicht genug! Hat's denn überhaupt kein Ende damit! knurrte er. Alles was man doch schon durchgemacht und erlebt hat ... Und jetzt gehts von neuem wieder los! Wahnsinnig, wahnsinnig I

Er fällt auf die Knie, bebt und wirft einen hasserfüllten Blick vorwärts und zurück. Dann wiederholt er:

– Hats denn kein Ende, kein Ende!

Ich fasse ihn beim Arm und richte ihn auf.

– Komm, für dich wird's bald ein Ende haben.

Wir müssen hier abwarten, bevor wir den Aufstieg beginnen. Unterdessen könnte ich vielleicht zurück zu Ramure, der in seiner Todesstunde auf mich wartet. Aber Joseph klammert sich an mich und zudem sehe ich geschäftige Leute dort, wo ich den Sterbenden habe liegen lassen. Ich glaube zu verstehn: es ist nicht mehr der Mühe wert, dass ich hingehe.

Die Erde der Schlucht, in der wir beide eng verschlungen sitzen, erzittert unter dem Gewitter; bei jedem Knallstoss fühlt man den dumpfen Glühhauch der Geschosse. Hier aber im Schacht droht uns kaum eine Gefahr. Bei der ersten Pause lösen sich andere, die wie wir den Augenblick abwarteten, vom Boden ab und steigen den Abhang hinauf: Träger sind es, die sich in stets erneuter Anspannung den Berg hinaufarbeiten mit der Last eines Menschenleibes; und sie sind wie hartnäckige Ameisen, die immer wieder über die Sandkörner straucheln; andere gehn zu zweit oder vereinzelt: Verwundete oder Verbindungsposten.

– Gehn wir jetzt, sagt Joseph, mit gebrochenen Schultern und misst mit dem Blick den Abhang, die letzte Strecke seines Schmerzensweges.

Bäume starren aus der Erde: Wundgerissene Weidenstämme, die einen breit wie Gesichter, die andern ausgehöhlt, klaffend wie aufrecht stehende Särge. Das Gelände, in dem wir uns verzweifelt hinaufarbeiten, ist ein zerfetztes und zertrümmertes Gewühle von Höckern, Löchern und düsteren Blähungen, als habe sich die ganze Wolkenladung des Gewitters auf die Erde gewälzt. Und über der gemarterten und schwarzen Natur heben sich gestürzte Baumstämme ab, die über den Rand eines braunen, gestreiften, stellenweise milchigen und finster aufblitzenden Himmels – über einen Onyxhimmel – als Schatten hinkriechen.

Am Eingang des 97er Grabens, quer über den Weg, windet eine erschlagene Eiche ihren mächtigen Leib.

Eine Leiche versperrt den Laufgraben. Kopf und Beine sind verscharrt. Sumpfwasser sickert in den Graben und ergiesst sich über die Ueberbleibsel einer sandigen Feldbrustwehr; und unter diesem feuchten Schleier liegt die Rundung des Bauches und der Brust, die ein Hemd bedeckt.

Wir steigen über diese erstarrten Ueberreste; sie sind schleimig und leuchten wie der Bauch einer verengten Rieseneidechse. Hier kommt man schwer vorwärts, denn der Boden ist aufgeweicht und glitschig; man muss daher die Hände bis zu den Knöcheln in den Kot der Böschung stossen.

In diesem Augenblick fährt ein höllisches Pfeifen über uns her. Man beugt sich wie ein Schilfrohr. Das Schrapnell platzt vor uns in der Luft, betäubt, blendet und verschüttet uns unter einem finstern und schaurig pfeifenden Rauchberg. Ein Soldat, der den Berg hinaufstieg, flatterte mit den Armen durch die Luft und verschwand in irgend eine Tiefe geschleudert. Schreie gellen auf und fallen überschüttet zu Boden. Jetzt reisst der Wind die grossen, schwarzen Schleier von der Erde und jagt sie zum Himmel; dann sieht man, wie die Krankenträger die Tragbahre abstellen, nach der Stelle laufen, wo das Geschoss einschlug und eine haltlose Masse aufheben – dabei rufe ich das Bild jener Nacht vor die Seele, als mein Waffenbruder Poterloo hoffnungsvollen Herzens in der Flamme einer Granats mit ausgestreckten Armen davongeflattert ist.

Endlich erreichen wir die Höhe; wie ein Signal steht dort gespensterhaft ein Verwundeter; er steht da, aufrecht im Wind, geschüttelt, aber aufrecht, im Boden eingewurzelt, in seiner hoch aufgestülpten Mütze, die im Winde flattert, sieht man sein verzerrtes und brüllendes Gesicht und darin geht man vorbei an dieser schreienden Baumgestalt.

*

Wir haben jetzt unsre frühere erste Linie erreicht, von der wir damals ausgegangen waren. Wir setzen uns auf ein Schiessbrett und lehnen uns an die Tritte, die die Sappeure im letzten Moment vor unserm Angriff ausgegraben hatten. Der Radfahrer Euterpe, den wir seither wieder gesehn haben, geht vorbei und sagt uns guten Tag. Nachdem er schon an uns vorbeigegangen war, kommt er wieder zurück und zieht aus dem Aermelaufschlag einen Brief, dessen Rand herausstand wie eine weisse Litze.

– Du übernimmst doch, sagt er zu mir, die Briefe des verstorbenen Biquet?

– Ja.

– Da ist einer wieder zurückgekommen. Die Adresse ist durchgebrannt.

Der Umschlag lag offenbar auf einem Paket im Regen und ist gewaschen worden, so dass man auf dem getrockneten und geschundenen Papier und aus dem violetten, verschwommenen Wasserglanz die Adresse nicht mehr entziffern kann. Das einzig lesbare ist in der Ecke die Adresse des Absenders ... Ich ziehe den Brief sachte heraus: »Liebe Mutter« ...

– Richtig! Jetzt erinnere ich mich wieder! ...

Biquet, der zur Stunde hier draussen liegt, hier in diesem Graben, in dem wir jetzt ausruhn, hat den Brief geschrieben; es ist noch nicht lange her; es war im Quartier von Gauchin-l'Abbé an einem jubelnden und prächtigen Nachmittag; er beantwortete einen Brief seiner Mutter, die sich unnütze Sorgen machte, was ihm lustig vorgekommen war ...

»Du glaubst ich müsse frieren und sei im Regen und in Gefahr. Stimmt nicht, im Gegenteil. Das hat alles aufgehört. Heiss ist es; man schwitzt und man hat nichts zu tun und kann im Sonnenschein herumbummeln.

Ich hab gelacht, wie ich deinen Brief gelesen hatte ...«

Ich schiebe den Brief in den verdorbenen und brüchigen Umschlag wieder hinein. Wenn der Zufall diese neue Ironie der Geschehnisse nicht verhütet hätte, so würde die alte Bauersfrau den Brief in dem Augenblick gelesen haben, da die Leiche ihres Sohnes in Kälte und Sturm als ein Häufchen feuchter Asche liegt und sickernd wie eine düstre Quelle über die Böschung des Grabens fliesst.

Joseph hat den Kopf zurückgeneigt. Plötzlich fallen seine Augen zu, sein Mund öffnet sich ein wenig und lässt stossweise den Atem heraus.

– Mut! sage ich zu ihm.

Er öffnet die Augen wieder.

– Ach! antwortet er, nicht mir musst du das sagen. Guck jene dort, die gehn wieder hin, und auch ihr werdet wieder hin müssen. Es wird weiter gehn für euch. Ja! es gehört wahrlich Kraft dazu weiter zu machen, weiter zu machen!

*


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