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Im Jahre 1800, gegen Ende Oktober, erschien ein Fremder in Begleitung einer Frau und eines kleinen Mädchens vor den Tuilerien in Paris und verweilte ziemlich lange Zeit vor den Trümmern eines eben niedergelegten Hauses an der Stelle, wo sich heute der neu begonnene Flügel erhebt, der das Schloß Katharinas von Medici mit dem Louvre der Valois verbinden soll. Er stand aufrecht mit gekreuzten Armen da, das Haupt geneigt, das er nur manchmal erhob, um das Palais des ersten Konsuls und seine Frau zu betrachten, die neben ihm auf einem Steine saß. Obwohl die Unbekannte sich nur mit dem kleinen, neun bis zehn Jahre alten Mädchen zu beschäftigen schien, mit dessen schwarzen Haaren ihre Hände spielten, verlor sie doch keinen der Blicke, die ihr ihr Genosse zuwarf; ein gleiches Empfinden, das aber etwas anderes als Liebe war, beseelte die beiden Wesen und drückte ihren Bewegungen und ihren Gedanken den gleichen Stempel der Beunruhigung auf. Das Elend ist vielleicht von allen das festeste Band. Der Fremde hatte ein breites, ernstes Haupt mit übermäßig üppigem Haarwuchs, wie man ihn oft auf den Bildern der Carraci sieht. Diese tiefschwarzen Haare waren mit einer großen Menge weißer durchsetzt. Die wenn auch edlen und stolzen Züge hatten einen Zug von Härte, der sie entstellte. Trotz seiner Kraft und seines geraden Wuchses schien er schon älter als sechzig zu sein. Seine getragenen Kleider verrieten, daß er aus einem fremden Lande kam. Obwohl das einstmals schöne, jetzt verblühte Gesicht der Frau tiefe Traurigkeit verriet, so zwang sie sich doch, wenn der Blick ihres Mannes auf ihr ruhte, zu einem Lächeln und täuschte eine ruhige Haltung vor. Das kleine Mädchen hielt sich aufrecht trotz der Müdigkeit, deren Anzeichen sich auf ihrem jungen sonnenverbrannten Gesicht malten. Sie machte mit ihren großen schwarzen Augen unter schön geschwungenen Brauen den Eindruck einer Italienerin und besaß eine angeborene Vornehmheit und natürliche Grazie. Mehr als ein Vorübergehender empfand Rührung, wenn er diese Gruppe, betrachtete, deren Personen sich gar nicht bemühten, ihre Verzweiflung zu verbergen, die ebenso tief erschien, wie ihr Ausdruck einfach war; aber die Quelle dieser flüchtigen Teilnahme, die den Parisern eigen ist, versiegte sofort wieder. Denn sobald der Unbekannte zu merken glaubte, daß er die Aufmerksamkeit irgendeines Müßiggängers erregt hatte, blickte er ihn so wütend an, daß auch der unerschrockenste Spaziergänger seine Schritte beschleunigte, als ob er auf eine Schlange getreten wäre. Als er lange Zeit so unschlüssig verharrt hatte, fuhr der große Fremde plötzlich mit der Hand über die Stirn, verjagte hier sozusagen die Gedanken, die sie gerunzelt hatten, und faßte jetzt einen verzweifelten Entschluß. Nachdem er einen durchdringenden Blick auf seine Frau und seine Tochter geworfen hatte, zog er aus seinem Rock einen langen Dolch hervor, reichte ihn seiner Gefährtin und sagte auf italienisch zu ihr: »Ich werde mich nun überzeugen, ob die Bonapartes sich unserer noch erinnern.« Und mit langsamen festen Schritten ging er auf den Eingang des Palais zu, wo er natürlich von einem Soldaten der konsularischen Garde angehalten wurde, mit dem er sich nicht lange streiten konnte. Als sie die Hartnäckigkeit des Unbekannten wahrnahmen, hielt ihm die Wache als Ultimatum ihr Bajonett vor. Der Zufall wollte, daß in diesem Moment der Soldat abgelöst wurde, und der Korporal zeigte in sehr gefälliger Weise dem Fremden den Ort, wo sich der Kommandant der Wache aufhielt.
»Melden Sie Bonaparte, daß Bartolomeo di Piombo ihn zu sprechen wünscht«, sagte der Italiener zu dem wachthabenden Hauptmann.
Der Offizier hatte gut reden, um Bartolomeo vorzustellen, daß man den ersten Konsul nicht aufsuchen könne, ohne vorher schriftlich eine Audienz bei ihm erbeten zu haben; der Fremde verlangte durchaus, daß der Offizier Bonaparte benachrichtigen solle. Dieser wies auf seine Instruktionen hin und weigerte sich ausdrücklich, den Auftrag des eigentümlichen Bittstellers auszuführen. Bartolomeo runzelte die Augenbrauen, warf dem Kommandanten einen furchtbaren Blick zu und schien ihn verantwortlich für das Unglück machen zu wollen, das diese Weigerung zur Folge haben könne; dann schwieg er, kreuzte energisch die Arme über der Brust und stellte sich unter die Durchfahrt, die den Verkehr zwischen dem Hof und dem Garten der Tuilerien vermittelt. Gerade als sich Bartolomeo di Piombo auf einen der Prellsteine setzte, die sich nahe beim Eingang der Tuilerien befinden, kam ein Wagen angefahren, aus dem Lucien Bonaparte, damals Minister des Innern, stieg.
»Ach, Lucien, das trifft sich ja sehr glücklich für mich, daß ich dir begegne!« rief der Fremde.
Diese in korsischem Dialekt gesprochenen Worte ließen Lucien, der gerade den Aufgang betreten wollte, innehalten; er betrachtete seinen Landsmann und erkannte ihn. Nach dem ersten Wort, das Bartolomeo ihm zuflüsterte, nahm er den Korsen mit sich. Murat, Lannes und Rapp befanden sich im Arbeitszimmer des ersten Konsuls. Als man Lucien mit einem so merkwürdigen Menschen wie Piombo eintreten sah, schwieg die Unterhaltung. Lucien nahm Napoleon bei der Hand und führte ihn in eine Fensteröffnung. Nachdem er einige Worte mit seinem Bruder gewechselt hatte, machte der erste Konsul ein Zeichen mit der Hand, dem Murat und Lannes gehorchten, indem sie sich entfernten. Rapp tat so, als ob er nichts bemerkt hätte und bleiben könne. Als Bonaparte ihn energisch aufforderte, verschwand der Adjutant mit mürrischem Gesicht. Der erste Konsul, der die Schritte Rapps in dem benachbarten Salon hörte, ging nun schnell hinaus und sah ihn an der Wand stehen, die das Arbeitszimmer vom Salon trennte.
»Willst du mich denn nicht verstehen?« fragte der erste Konsul. »Ich muß mit meinem Landsmann allein sein.«
»Ein Korse!« erwiderte der Adjutant. »Ich traue diesen Leuten so wenig, daß . . .«
Der erste Konsul konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, nahm seinen getreuen Offizier bei der Schulter und führte ihn hinaus.
»Nun, was tust du denn hier, mein armer Bartolomeo?« sagte der erste Konsul zu Piombo.
»Ich erbitte ein Asyl und Hilfe von dir, wenn du ein echter Korse bist,« antwortete Bartolomeo in scharfem Tone.
»Was für ein Unglück hat dich denn aus dem Lande getrieben? Du warst der reichste, der . . .«
»Ich habe alle Portas getötet, antwortete der Korse mit tiefer Stimme und gerunzelten Brauen.
Der erste Konsul wich überrascht zwei Schritte zurück.
»Willst du mich verraten?« rief Bartolomeo und warf Bonaparte einen düsteren Blick zu. »Weißt du, daß wir noch vier Piombos in Korsika sind?«
Lucien nahm seinen Landsmann am Arm und rüttelte ihn.
»Bist du hergekommen, um den Retter Frankreichs zu bedrohen?« sagte er schnell zu ihm.
Bonaparte gab Lucien ein Zeichen, der nun schwieg. Dann sah er Piombo an und sagte: »Warum hast du denn die Portas getötet?«
»Wir hatten wieder Freundschaft geschlossen,« antwortete er, »die Barbantis hatten uns ausgesöhnt. Am Tage, nachdem wir miteinander angestoßen hatten, um unsere Streitigkeiten zu begraben, verließ ich sie, weil ich in Basta zu tun hatte. Sie blieben zu Hause und legten Feuer an meinen Weinberg in Longone. Meinen Sohn Gregorio töteten sie. Meine Tochter Ginevra und meine Frau sind ihnen entronnen; sie hatten am Morgen das Abendmahl genommen, und die heilige Jungfrau hat sie beschützt. Als ich zurückkehrte, fand ich mein Haus nicht mehr vor, mit den Füßen in der Asche suchte ich danach. Plötzlich stieß ich an Gregorios Körper, den ich im Mondlicht erkannte. ›Oh, das haben die Portas getan!‹ sagte ich mir. Ich ging sofort in das Mâquis, sammelte dort einige Männer um mich, denen ich Dienst erwiesen hatte – verstehst du, Bonaparte? –, und wir begaben uns zu dem Weinberg der Portas. Um fünf Uhr morgens kamen wir an, und um sieben Uhr standen sie alle vor Gott. Giacomo behauptet zwar, daß Elisa Vanni ein Kind gerettet hat, den kleinen Luigi; aber ich hatte ihn selbst auf seinem Bette festgebunden, bevor wir das Haus anzündeten. Ich habe die Insel mit meiner Frau und meiner Tochter verlassen, bevor ich feststellen konnte, ob Luigi Porta noch lebt.«
Bonaparte betrachtete Bartolomeo neugierig, aber ohne Erstaunen zu verraten.
»Wie viele waren es?« fragte Lucien.
»Sieben«, antwortete Piombo. »Seiner Zeit haben sie euch verfolgt«, sagte er dann. Diese Worte riefen bei den beiden Brüdern keinerlei Zeichen von Haß hervor. – »Ach, ihr seid keine Korsen mehr!« rief Bartolomeo in eine Art von Verzweiflung. »Lebt wohl. Einstmals habe ich euch beschützt«, fügte er in vorwurfsvollem Tone hinzu. »Ohne mich wäre deine Mutter nicht nach Marseille gelangt«, wandte er sich an Bonaparte, der nachdenklich dastand, den Ellenbogen auf den Kaminmantel gestützt.
»Vor meinem Gewissen, Piombo, erwiderte Napoleon, »kann ich dich nicht unter meinen Schutz nehmen. Ich bin der Führer einer großen Nation geworden, ich leite die Republik und muß ihre Gesetze durchführen lassen.«
»Oh, oh!« sagte Bartolomeo.
»Aber ich kann ein Auge zudrücken,« begann Bonaparte wieder. »Das Vorurteil zugunsten der ›Vendetta‹ wird noch lange verhindern, daß das Gesetz in Korsika herrsche,« fügte er wie im Selbstgespräch hinzu. »Und doch muß es um jeden Preis zerstört werden.«
Bonaparte verhielt sich eine Weile schweigend, und Lucien machte Piombo ein Zeichen, daß er nichts sagen solle. Der Korse wiegte schon seinen Kopf hin und her mit mißbilligendem Ausdruck.
»Du kannst dich hier aufhalten,« wandte sich der Konsul wieder an Bartolomeo, »wir werden von nichts wissen. Ich werde deine Güter ankaufen lassen, damit ich dir zunächst deinen Lebensunterhalt verschaffen kann. Dann, wenn einige Zeit verflossen ist, werden wir später an dich denken. Aber nun keine ›Vendetta‹ mehr! Hier gibt es kein Mâquis. Wenn du deinen Dolch spielen läßt, hast du nicht auf Gnade zu hoffen. Hier schützt das Gesetz alle Bürger, und man verschafft sich nicht selbst sein Recht.«
»Da ist er der Leiter eines merkwürdigen Landes geworden,« antwortete Bartolomeo und drückte Lucien die Hand. »Aber ihr habt euch gegen mich im Unglück dankbar erwiesen, und wir sind jetzt auf Leben und Tod vereint, ihr könnt über alle Piombos verfügen.«
Nach diesen Worten entrunzelte sich die Stirn des Korsen, und er blickte voll Genugtuung um sich.
»Ihr seid nicht schlecht untergebracht,« sagte er lächelnd, als ob er hier seine Wohnung aufschlagen wollte. »Und du bist ja ganz in Rot gekleidet wie ein Kardinal.«
»Es wird nur von dir abhängen, daß du dich durchringst und ein Palais in Paris hast«, sagte Bonaparte und maß seinen Landsmann mit den Augen. »Ich werde mehr als einmal mich nach einem ergebenen Freund umzusehen haben, auf den ich mich verlassen kann.«
Ein freudiges Aufatmen entrang sich der breiten Brust Piombos. Er reichte dem ersten Konsul die Hand und sagte: »Es steckt doch noch etwas vom Korsen in dir!«
Bonaparte lächelte. Stumm betrachtete er den Mann, der ihm gewissermaßen etwas von der heimatlichen Luft mitbrachte, von der Luft der Insel, wo er einst so wundersam dem Haß der »englischen« Partei entronnen war, und die er nicht mehr wiedersehen sollte. Er gab seinem Bruder einen Wink, Lucien nahm Bartolomeo di Piombo mit sich und erkundigte sich voll Interesse nach den Vermögensverhältnissen des einstigen Beschützers seiner Familie. Piombo führte ihn an ein Fenster und zeigte ihm seine Frau und Ginevra, die beide auf einem Steinhaufen saßen. »Wir sind von Fontainebleau bis hierher zu Fuß gekommen und besitzen nicht einen Heller mehr«, sagte er.
Lucien gab seinem Landsmann seine Börse und forderte ihn auf, am nächsten Tage zu ihm zu kommen, um sich darüber zu beraten, wie sich die Zukunft der Familie gestalten solle. Der Wert aller Güter, die Piombo in Korsika besaß, reichte nicht hin, um davon anständig in Paris leben zu können.
Fünfzehn Jahre waren zwischen der Ankunft der Familie Piombo in Paris und dem nachstehend zu erzählenden Abenteuer verflossen, das ohne den Bericht über diese Ereignisse weniger verständlich sein würde.