Honoré de Balzac
Sarrasine
Honoré de Balzac

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Es ging mir, wie es vielen, selbst oberflächlichen Menschen, geht, wenn sie lärmenden Festen beiwohnen: ich war in tiefes Träumen versunken. Von der Turmuhr des Élysée-Bourbon schlug es eben Mitternacht. Ich saß in einer Fensternische, die schweren Falten eines Moirévorhangs verbargen mich völlig, und ich konnte so ungestört in den Garten des Palastes hinunterblicken, in dem ich den Abend verbrachte. Die Bäume, auf denen spärlicher Schnee lag, hoben sich undeutlich von dem grauen Hintergrunde des Wolkenhimmels ab, der nur schwach vom Mond erhellt wurde. Vor diesen phantastischen Wolkengebilden sahen sie etwa aus wie Gespenster, die nicht recht von ihrem Laken bedeckt wären, und erinnerten an den grauenhaften Eindruck des berühmten Totentanzes. Und wenn ich mich dann umwandte, konnte ich den Tanz der Lebenden erblicken. In einem strahlenden Saal, dessen Wände von Silber und Gold blitzten, beim Schimmer der Kronleuchter, die unzählige Kerzen trugen, schwebten und flogen in buntem Gewimmel die schönsten, die reichsten, die vornehmsten Damen von Paris in all ihrem glänzenden Staat und ihrer Diamantenpracht. Und Blumen überall: auf dem Kopf, im Haar, an der Brust, an den Gewändern oder in Kränzen zu ihren Füßen. Das leichte Beben, das durch die Körper ging, die weichen, wollüstigen Schritte brachten die Spitzen, die Blenden, die Gaze und Seide, die ihre schlanken Leiber verhüllten, in tanzende Bewegung. Hier und da funkelte ein blitzendes Auge auf, verdunkelte die Lichter und das Feuer der Diamanten und brachte einen Sturm über Herzen, die schon allzusehr entflammt waren. Man konnte auch beobachten, wie die Liebhaber leise Zeichen der Ermunterung erhielten, während die Ehemänner abweisender Kälte begegneten. Rufe von Spielern bei einer unerwarteten Karte, das Rollen von Gold, die Musik, das Summen der Gespräche, all das erscholl dem Ohr in wirrem Gedränge; und um den verführerischen Zauber, den dieses tolle Fest auf die Gesellschaft übte, voll zu machen, wirkten noch der Dunst der Wohlgerüche und die allgemeine Trunkenheit auf die aufgepeitschten Sinne. So hatte ich zur Rechten das düstere, schweigende Bild des Todes, zur Linken die von der Sitte gebändigten Bacchanalien des Lebens: hier die kalte, düstere, von Trauer umschleierte Natur, dort die Lust der Menschen. Ich hielt mich auf der Grenze dieser beiden so verschiedenen Gemälde, die sich in den mannigfaltigsten Gestalten in Paris unzählige Male wiederholen und unsere Stadt zur amüsantesten und zugleich zur philosophischsten der Welt machen, und stellte ein seltsames Quodlibet von Ausgelassenheit und Todesstimmung vor. Mit dem linken Fuß folgte ich dem Takt der Musik, und den rechten meinte ich in einem Sarg zu haben. Es ging mir in der Tat, wie es auf Bällen häufig vorkommt: mein Bein war von der Zugluft, die einem die Hälfte des Körpers fast starr macht, während die andere Hälfte der drückenden Hitze der Säle ausgesetzt ist, wie zu Eis geworden.

»Herr von Lauty besitzt dieses Haus noch nicht lange?« »O doch. Es sind zehn Jahre her, daß es ihm der Marschall von Garigliano verkauft hat.« »Ah!« »Diese Leute müssen ein ungeheures Vermögen besitzen.« »Das muß wohl so sein.« »Was für ein Fest! Ein wahrhaft unverschämter Luxus.« »Halten Sie sie für ebenso reich wie Herrn von Nucingen oder Herrn von Gondreville?« »Aber wissen Sie denn nicht . . .?«

Ich bog den Kopf vor und erkannte die beiden Sprecher als Angehörige der Klasse der Neugierigen, die sich in Paris mit nichts anderm beschäftigt als dem Warum? Wieso? Woher kommt er? Wer sind sie? Was gibts Neues? Was hat sie angestellt? Sie fingen an leise zu sprechen und entfernten sich, wahrscheinlich um auf einem stillen Sofa ungestörter plaudern zu können. Niemals hatte sich für Leute, die hinter Geheimnissen her sind, eine ergiebigere Ader eröffnet. Kein Mensch hatte eine Ahnung, aus welchem Lande die Familie Lauty gekommen war oder aus welchem Handel, aus welcher Plünderung, aus welchem Raubzug oder welcher Erbschaft ihr Vermögen stammte, das auf mehrere Millionen geschätzt wurde. Alle Angehörigen dieser Familie sprachen Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch und Deutsch so geläufig, daß man annehmen mußte, sie hätten sich ziemlich lange in all diesen Ländern aufgehalten. Waren es Zigeuner oder Seeräuber?

»Und wenn es der Teufel wäre,« sagten junge Politiker, »ihr Fest ist wundervoll!«

»Und wenn der Graf von Lauty einen marokkanischen Palast geplündert hätte, seine Tochter nähme ich doch zur Frau!« rief ein Philosoph.

Wer hätte Marianina nicht zur Frau genommen, dieses sechzehnjährige Mädchen, dessen Schönheit die phantastischen Märchen der orientalischen Dichter zur Wirklichkeit machte! Sie hätte wie die Sultanstochter in dem Märchen von der Wunderlampe verschleiert bleiben dürfen. Ihr Gesang drängte unvollkommene Talente wie die Malibran, die Sonntag oder Fodor in den Hintergrund, bei denen eine Eigenschaft immer hervorsticht und so die Vollkommenheit des Ganzen unmöglich macht, während Marianina Reinheit des Tons, Empfindung, Korrektheit der Stimmführung und der Intonation, Seele und Technik, Kunst und Natur in gleich hohem Maße vereinigte. Das Mädchen war das Urbild der geheimen Poesie, die das einigende Band aller Künste ist und sich stets denen entzieht, die sie suchen. Marianina war sanft und bescheiden, gebildet und seelenhaft, und nichts konnte sie in den Schatten stellen – außer ihrer Mutter.

Seid ihr je einer von den Frauen begegnet, deren sieghafte Schönheit dem Ansturm der Jahre trotzt und die mit sechsunddreißig Jahren noch begehrenswerter scheinen, als sie es vielleicht fünfzehn Jahre früher waren? Ihr Antlitz ist eine glühende Seele; es sprüht und strahlt; jeder Zug auf ihm verrät den Geist; aus jeder Pore scheint, besonders beim Licht der Kerzen, ein besonderer Glanz zu dringen. Ihre bezaubernden Augen locken oder weisen ab, sprechen oder schweigen; ihr Gang ist unschuldsvolles Wissen; aus ihrer Stimme bricht der melodische Reichtum von Tönen, die in ihrer sanften Anmut unbeschreiblich verführerisch sind. Ihr Lob, das auf Vergleiche gegründet ist, schmeichelt dem empfindlichsten Stolze. Ein Zucken ihrer Brauen, der unmerklichste Blick, ein Aufwerfen ihrer Lippen, die geringste Bewegung dieser Art macht Männern bange, die diesen Frauen ihr Leben und ihr Glück geweiht haben. Ein junges Mädchen, das keine Erfahrung in der Liebe hat und sich beschwatzen läßt, kann verführt werden; aber für diese Art Frauen muß ein Mann, wie Herr von Jaucourt, lernen, nicht zu schreien, wenn ihm die Zofe, die ihn eiligst in einem Nebengemach verbirgt, mit der Tür, die sie zuwirft, zwei Finger der Hand zerquetscht. Wer diese gefährlichen Sirenen liebt, setzt der nicht sein Leben aufs Spiel? Eben darum lieben wir sie ja vielleicht so glühend! So war die Gräfin von Lauty.

Filippo, Marianinas Bruder, hatte, wie seine Schwester, die Schönheit der Gräfin geerbt. Der junge Mann war, mit einem Wort gesagt, das lebende Bild des Antinous, nur daß er schlanker war. Aber wie gut paßt diese Hagerkeit und Zartheit zur Jugend, wenn ein olivenfarbener Teint, buschige Brauen und der samtene Glanz eines feurigen Auges für die Zukunft die Glut des Mannes und ein edles Herz versprechen! So war Filippo im Herzen der jungen Mädchen wie ein Ideal, und zugleich lebte er im Gedächtnis der Mütter als die beste Partie in ganz Frankreich.

Die Schönheit, die Anmut, der Reiz und der Geist dieser beiden Kinder kamen ganz und gar von ihrer Mutter. Der Graf von Lauty war klein, häßlich und pockennarbig, düster wie ein Spanier und langweilig wie ein Bankier. Er galt übrigens als großer Politiker, vielleicht weil er selten lachte und oft Herrn von Metternich oder Wellington zitierte.

Diese geheimnisvolle Familie hatte den ganzen Reiz einer Dichtung von Lord Byron, deren Dunkelheit von jedem Mitglied der Gesellschaft anders gedeutet wurde: ein schwer verständlicher Gesang, der in jeder Strophe herrlich war. Die Zurückhaltung, die Herr und Frau von Lauty über ihren Ursprung, ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen zu den vier Weltteilen bewahrten, hätte an sich in Paris nicht lange ein Gegenstand des Staunens zu sein brauchen. In keinem Lande vielleicht wird der Ausspruch Vespasians besser verstanden. Hier verrät das Geld, selbst wenn es mit Blut oder Schmutz befleckt ist, nichts und vertritt alles. Wenn die vornehme Welt nur die Ziffer deines Vermögens kennt, dann rangierst du unter den Summen, die dir ebenbürtig sind, und kein Mensch fragt dich nach deinen Pergamenten, weil jeder weiß, wie wenig sie kosten. In einer Stadt, in der die sozialen Fragen mit Hilfe von algebraischen Gleichungen gelöst werden, haben Abenteurer vortreffliche Aussichten. Selbst wenn man annahm, daß diese Familie zu den Zigeunern gehörte, konnte ihr die vornehme Welt um ihres Reichtums und ihrer Vorzüge willen ihre kleinen Geheimnisse sehr wohl verzeihen. Aber unglücklicherweise bot die rätselhafte Geschichte des Hauses Lauty, ähnlich den Romanen von Anna Radcliffe, der Neugier fortwährend neuen Stoff.

Beobachter – solche Leute, die wissen wollen, in welchem Geschäft man seine Kandelaber kauft, oder die einen nach der Höhe des Mietpreises fragen, wenn die Wohnung ihnen gefällt – hatten von Zeit zu Zeit bei den Festen, Konzerten, Bällen, Gesellschaften, die die Gräfin gab, eine seltsame Persönlichkeit auftauchen sehen. Das erste Mal sah man den Mann bei einem Konzert, und die zauberhafte Stimme Marianinas schien ihn in den Saal gezogen zu haben.

»Jetzt eben ist mir kalt geworden«, sagte eine Dame, die in der Nähe der Tür saß, zu ihrer Nachbarin.

Der Unbekannte, der neben der Dame stand, entfernte sich.

»Das ist sonderbar: jetzt ist mir heiß!« sagte die Dame, nachdem der Fremde gegangen war. »Sie halten mich vielleicht für närrisch, aber ich kann mir nicht helfen, ich muß glauben, daß mein Nachbar, der schwarz gekleidete Herr, der eben weggegangen ist, mich frieren gemacht hat.«

Bald veranlaßte die Neigung, zu übertreiben, die man bei den Menschen der vornehmen Welt so häufig trifft, daß die komischsten Meinungen, die absonderlichsten Reden, die lächerlichsten Geschichten über die geheimnisvolle Persönlichkeit aufkamen und immer toller wurden. Er war nicht gerade ein Vampir, eine Ghul, ein künstlicher Mensch, eine Art Faust oder Wilder Jäger, aber er hatte, wenn man den Leuten, die gruselige Geschichten liebten, glauben wollte, von all diesen Dämonen in Menschengestalt etwas. Hier und da trafen sich Deutsche, die diese erfinderischen Scherze der bösen Zungen in Paris für bare Münze nahmen. Der Fremde war ganz einfach ein alter Mann. Manche von den jungen Leuten, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, jeden Morgen mit einigen zierlichen Sätzen die Entscheidung über die Zukunft Europas zu treffen, wollten in dem Unbekannten einen großen Verbrecher und den Besitzer ungeheurer Reichtümer sehen. Romanschreiber erzählten das Leben des alten Mannes und gaben wahrhaft erstaunliche Einzelheiten über die Grausamkeiten zum besten, die er in der Zeit begangen haben sollte, als er im Dienste des Fürsten von Mysore stand.

»Bah,« sagten sie und zuckten mitleidig mit ihren breiten Schultern, »der kleine alte Kerl ist ein Genueser Kopf!« »Und wäre es zuviel verlangt, Sie um die Freundlichkeit zu bitten, zu erklären, was Sie unter einem Genueser Kopf verstehen?« »Mein Bester, das ist einfach ein Mann, auf dessen Leben ungeheure Kapitalien begründet sind und von dessen Gesundheit jedenfalls die Einkünfte dieser Familie abhängen. Ich erinnere mich, bei Frau d'Espard einen Magnetiseur gehört zu haben, der mit sehr bestechenden Gründen bewies, daß dieser Alte, wenn man ihn bei Lichte besieht, der berühmte Balsamo ist, der sich Cagliostro nannte. Nach der Aussage dieses modernen Alchimisten wäre der sizilianische Abenteurer dem Tode entronnen und vergnügte sich damit, für seine Enkelkinder Gold zu machen. Der Amtmann von Ferette aber behauptete, er hätte in dem seltsamen Wesen den Grafen von Saint-Germain erkannt.«

Diese Albernheiten, die mit dem witzigen Ton und den spöttischen Mienen vorgebracht wurden, die heutzutage für unsere Gesellschaft, der es an Glauben fehlt, charakteristisch sind, hielten das Haus Lauty in einem unbestimmten Verdacht. Schließlich rechtfertigten die Glieder dieser Familie durch ein seltsames Zusammentreffen von Umständen die Vermutungen der Gesellschaft, indem sie ein recht sonderbares Verhalten gegen den alten Mann zeigten, dessen Leben sich allen Nachforschungen zu entziehen schien.

Wenn der Mann die Schwelle des Zimmers überschritt, das er, wie man annahm, im Hause Lauty bewohnte, erregte sein Erscheinen immer eine große Aufregung in der Familie. Es machte den Eindruck eines wichtigen Ereignisses. Filippo, Marianina, Frau von Lauty und ein alter Diener hatten allein den Vorzug, dem Unbekannten beim Gehen, beim Aufstehen, beim Hinsetzen helfen zu dürfen. Jeder achtete auf seine kleinsten Bewegungen. Er schien ein verzaubertes Wesen zu sein, von dem das Glück, das Leben und das Vermögen aller abhing. War es Furcht oder Zärtlichkeit? Die Gesellschaft konnte kein Anzeichen herausfinden, das ihr geholfen hätte, diese Frage zu lösen. Dieser Hausgeist schien ganze Monate hindurch in einem verborgenen Allerheiligsten versteckt zu sein, dem er dann plötzlich, wie verstohlen, unerwartet entstieg, um gleich den Feen aus alten Zeiten, die auf ihren fliegenden Drachen angeritten kamen und die Feste störten, zu denen sie nicht eingeladen waren, mit einem Male mitten in den Gemächern zu erscheinen. Auch geübtere Beobachter konnten die Unruhe der Hausbewohner, die ihre Gefühle mit bemerkenswerter Geschicklichkeit zu verbergen verstanden, nur erraten. Aber manchmal warf Marianina, die noch zu naiv war, während sie in einer Quadrille tanzte, einen ängstlichen Blick auf den Alten, den sie aus all den Gruppen herausfand. Oder Filippo schlängelte sich rasch durch die Menge, um zu ihm zu eilen, blieb bei ihm und schien zart und behutsam für ihn zu sorgen, wie wenn die Berührung mit den Menschen oder der leiseste Hauch das sonderbare Wesen zerbrechen könnte. Die Gräfin suchte sich ihm zu nähern, ohne daß es den Anschein haben sollte, als ob sie ihn aufgesucht hätte; dann nahm sie eine Haltung und einen Ausdruck an, in denen ebensoviel Demut wie Zärtlichkeit, Unterwürfigkeit wie Tyrannei lag, und sprach ein paar Worte zu ihm, denen sich der Alte fast immer fügte: sie führte, oder besser gesagt, schleppte ihn fort, und er war verschwunden. Wenn Frau von Lauty nicht da war, bot der Graf eine Menge Kriegslisten auf, um an ihn heranzukommen; aber auf ihn schien der Alte nicht recht zu hören, und der Graf behandelte ihn wie ein verzogenes Kind, dessen Launen die Mutter nachgibt oder dessen Unarten sie fürchtet. Als einige Indiskrete sich herausgenommen hatten, den Grafen von Lauty keck auszufragen, machte der kühle und zurückhaltende Mann den Eindruck, als ob er von den Fragen der Neugierigen nichts verstünde. Daher bemühte sich denn auch nach so vielen Versuchen, die die Vorsicht aller Glieder dieser Familie vereitelt hatte, niemand mehr, hinter dieses Geheimnis, das so wohl behütet war, zu kommen. Die Salonspione, Aufpasser und Diplomaten waren schließlich des Kampfes müde und hatten es aufgegeben, sich mit dem Geheimnis zu beschäftigen.

Aber trotzdem gab es vielleicht in diesem Augenblick in den strahlenden Gemächern Philosophen, die, während sie ein Eis, ein Sorbet nahmen oder ihr leeres Punschglas wegstellten, unter sich sagten: »Ich würde mich nicht wundern, wenn ich hörte, daß diese Leute Spitzbuben sind. Dieser Alte, der sich verborgen hält und nur zur Tag-und-Nacht-Gleiche oder zur Sonnenwende auftaucht, sieht mir ganz wie ein Mörder aus . . .« »Oder wie ein Bankrottierer . . .« »Das ist kein großer Unterschied. Einem Menschen das Vermögen rauben ist oft schlimmer, als ihm das Leben nehmen.« »Hören Sie, ich habe zwanzig Louisdor gesetzt, ich muß vierzig bekommen!« »Ja, was hilfts, es liegen doch nur dreißig im Spiel.« »Da sehen Sie, was hier für eine gemischte Gesellschaft ist. Man kann nicht einmal spielen.« »Ganz richtig . . . Aber nun ist es schon bald ein halbes Jahr her, daß wir den großen Geist nicht gesehen haben. Glauben Sie, daß er ein lebendiges Wesen ist?« »Ja . . . höchstens . . .«

Diese Worte wurden in meiner Nähe von Unbekannten gesprochen, die in dem Augenblick weggingen, wo ich eben meine Betrachtungen, die aus Schwarz und Weiß, aus Leben und Tod gemischt waren, in einem letzten Bilde zusammenfassen wollte. Meine überspannte Phantasie sah, ebenso wie es meine Augen taten, abwechselnd auf das Fest, das jetzt auf dem Gipfel seines Glanzes angelangt war, und auf das düstere Bild der Gärten. Ich weiß nicht, wie lange ich über diese beiden Seiten der Medaille des Menschenlebens grübelte; plötzlich jedoch weckte mich das unterdrückte Lachen einer jungen Dame. Ich war bei dem Anblick des Bildes, das sich meinen Augen bot, sprachlos. Wie durch eine Laune der Natur schien das Bild der Halbtrauer, das ich im Hirn gewälzt hatte, daraus entsprungen zu sein und nun leibhaft vor mir zu stehen, wie Minerva groß und stark dem Haupte Jupiters entstieg; es schien zu gleicher Zeit hundert Jahre und zweiundzwanzig Jahre alt zu sein, war tot und lebendig auf einmal. Der kleine Alte schien, wie ein Geisteskranker aus seiner Zelle, aus seinem Zimmer ausgebrochen zu sein und hatte sich offenbar hinter einer lebendigen Hecke von Personen, welche aufmerksam dem Gesang Marianinas lauschten, die eben die Kavatine aus ›Tankred‹ zu Ende sang, geschickt herangeschlichen. Es machte den Eindruck, als ob er mit Hilfe einer Theatermaschinerie aus dem Boden gestiegen wäre. Er stand starr und düster da und schaute auf dieses Fest, dessen Brausen vielleicht zu seinen Ohren gedrungen war. Seine fast nachtwandlerische Benommenheit war so inständig den Dingen zugewandt, daß er mitten unter den Menschen stand, ohne die Menschen zu sehen. Ohne viel Federlesens war er neben einer der entzückendsten Frauen von Paris aufgetaucht, einer eleganten jungen Dame von überaus zarten Formen und einem Gesicht, das so frisch und rosig wie das eines Kindes und so durchsichtig war, daß der Blick eines Mannes hindurchzugehen schien, wie die Sonnenstrahlen durch blankes Glas. Und so standen die beiden nun vereinigt und so dicht beisammen vor mir, daß der Unbekannte das wallende Gazekleid, die Blumengewinde und das leicht gekrauste Haar streifte.

Ich hatte die junge Dame zu Frau von Lauty auf den Ball geführt. Da sie zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war, verzieh ich ihr das unterdrückte Lachen; aber ich gab ihr schnell ein so lebhaftes und eindringliches Zeichen, daß sie ganz verdutzt wurde und Respekt vor ihrem Nachbarn bekam. Sie setzte sich neben mich. Der Alte wollte das entzückende Geschöpf nicht verlassen; er hängte sich vielmehr mit der stummen Hartnäckigkeit, die, ohne daß man ihren Grund kennt, unverkennbar ist und die man bei überalten Menschen, die dadurch wieder den Kindern gleich werden, oft findet, an sie an. Um sich neben sie setzen zu können, mußte er einen Klappsessel heranziehen. All seine Bewegungen zeigten die kalte Schwerfälligkeit, die stumpfe Unentschlossenheit, die für das Wesen der Paralytiker kennzeichnend sind. Er setzte sich langsam und vorsichtig auf seinen Stuhl und murmelte dabei ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte. Seine gebrochene Stimme erinnerte an das Geräusch eines Steines, der in einen Brunnen fällt. Die junge Dame drückte heftig meine Hand, wie wenn sie sich vor einem Abgrund retten wollte, und ein Schauder überlief sie, als der Mann, auf den sie gerade blickte, sie mit zwei Augen, denen jede Wärme fehlte, mit erloschenen meergrünen Augen ansah, die man nur stumpfer Perlmutter vergleichen konnte.

»Ich fürchte mich!« flüsterte sie mir ins Ohr. »Sie können laut reden,« erwiderte ich, »er ist sehr schwerhörig.« »Sie kennen ihn also?« »Ja.«

Sie fand jetzt so viel Mut, diese Gestalt, für die die menschliche Sprache keinen Namen hat, diese stofflose Form, dieses leblose Wesen oder passive Leben einen Augenblick zu betrachten. Sie stand unter dem Banne jener ängstlichen Neugier, die die Frauen dazu bringt, sich gefährliche Erregungen zu verschaffen, gefesselte Tiger anzusehen und auf Schlangen zu starren und dabei die Furcht zu empfinden, nur durch ein schwaches Gitter von ihnen getrennt zu sein. Der Rücken des kleinen Alten war gekrümmt wie der eines Tagelöhners; aber man sah doch noch, daß er ursprünglich gerade gewachsen war.

Seine außergewöhnliche Magerkeit und seine dünnen Glieder zeigten, daß er immer schlank gebaut gewesen war. Er hatte Kniehosen aus schwarzer Seide an, die faltig, wie ein Segel ohne Wind, um seine dürren Beine hingen. Ein Anatom hätte schnell die Zeichen einer schrecklichen Auszehrung erkannt, wenn er diese schwachen Beine gesehen hätte, die den seltsamen Körper tragen sollten. Es sah aus wie zwei Knochen, die wie ein altes Kreuz auf einem Grab standen. Ein gräßliches Gefühl für die Hinfälligkeit des Menschen ergriff einem das Herz, wenn man bei näherem Zusehen bemerkte, wie verfallen vor Alter diese gebrechliche Maschine geworden war. Der Unbekannte trug eine weiße, goldgestickte Weste, wie sie ehedem Mode war, und seine Wäsche war blendend weiß. Ein rotgelbes Spitzenjabot, das so prächtig war, daß es den Neid einer Königin erregen konnte, zierte seine Brust: aber auf ihm wirkte diese Spitze eher wie ein Lappen als wie ein Schmuck. Auf diesem Busenstreifen funkelte ein Diamant von unschätzbarem Wert. Dieser vorsintflutliche Luxus, dieser äußerliche und abgeschmackte Pomp machten das Gesicht der grotesken Gestalt nur noch auffallender. Der Rahmen paßte zu dem Bildnis. Dieses schwarze Gesicht war in allen Richtungen ausgehöhlt und winklig. Das Kinn war hohl, die Schläfen waren hohl, die Augen schlotterten in vergilbten Höhlen. Die Kinnbacken sprangen infolge der unbeschreiblichen Magerkeit scharf hervor, über ihnen aber waren Löcher in jeder Backe. So waren in dem Gesicht Berge und Schluchten, und je nachdem das Licht darauffiel, entstanden seltsame Schatten und Reflexe, die ihm noch vollends das Aussehen eines menschlichen Antlitzes nahmen. Dann hatten die Jahre die gelbe und dünne Haut dieses Gesichtes so stark auf die Knochen gepreßt, daß eine Unzahl Falten entstand, die entweder kreisförmig übereinanderlagen, wie die kleinen Wellen im Wasser, wenn ein Kind einen Kiesel hineingeworfen hat, oder die sternförmig waren, wie wenn eine Scheibe zertrümmert worden ist; aber immer waren sie tief und so dicht beisammen wie die Blätter am Schnitt eines Buches. Es mag Greise geben, deren Erscheinung noch abstoßender ist; was jedoch am meisten dazu beitrug, dem Gespenst, das uns so plötzlich erschienen war, den Anschein eines künstlichen Gebildes zu geben, war das Rot und das Weiß, das auf ihm glänzte. Seine Larve war genügend beleuchtet, daß man die sorgfältig ausgeführte Malerei erkennen konnte. Für den Beschauer, den der Anblick eines solchen Verfalls düster stimmen mochte, war es noch ein Glück, daß der leichenhafte Schädel unter einer blonden Perücke verborgen war, deren zahllose Locken eine außergewöhnliche Eitelkeit verrieten. Die weibische Gefallsucht dieser märchenhaften Gestalt wurde überdies deutlich genug von den goldenen Ohrringen und von den Ringen bekundet, deren wunderbare Steine an seinen Knochenfingern glänzten; außerdem trug er eine Uhrkette, die blitzte wie die Diamantenschnüre am Hals einer Frau. Schließlich hatte diese Art japanischer Götze ein stereotypes Lächeln auf seinen bläulichen Lippen, das grausam und höhnisch war wie das Grinsen eines Totenkopfes. Er saß schweigsam und unbeweglich da, und ein muffiger Duft ging von ihm aus, wie von alten Kleidern, die etwa die Erben einer Herzogin bei der Aufnahme des Nachlasses aus alten Schubladen wie aus einem verschlossenen Grabe nähmen. Wenn der Greis seine Augen der Gesellschaft zuwandte, sah es so aus, als ob diese Kugeln, aus denen kein Funke strahlte, sich mit Hilfe eines verborgenen Apparates hin und her drehten; und wenn die Augen stillstanden, konnte niemand glauben, daß sie sich je bewegt hätten. Sah man nun neben diesem Wrack eines Menschen ein junges Weib, dessen Hals, Arme und Brust nackt und strahlend waren, dessen volle und blühende Formen, dessen Haar, das anmutig über der alabasternen Stirn lag, zur Liebe verführen mußten, dessen Augen das Licht nicht zu empfangen, sondern auszustrahlen schienen, das hold und frisch war und dessen duftige Locken, dessen balsamischer Atem zu schwer, zu stark, zu mächtig schienen für diesen Schatten, diesen aus Staub geborenen, zu Staub werdenden Menschen: o, das war fürwahr der Tod und das Leben, das Bild meines Denkens, eine Phantasiegestalt, eine Schimäre, die zur Hälfte widerwärtig und von den Hüften an ein göttliches Weib war.

›Und dabei gibt es in der vornehmen Welt oft genug derlei Ehen‹, sagte ich mir.

»Er riecht nach dem Kirchhof!« rief das junge Weib fassungslos. Sie drängte sich an mich, wie um Schutz bei mir zu suchen; ich merkte an ihren wilden Gebärden, daß sie große Angst ausstand. »Das ist ein schauderhafter Anblick,« fuhr sie fort, »ich werde hier nicht lange bleiben können. Wenn ich ihn noch eine Weile sehe, glaube ich wahrhaftig, daß der Tod in Person gekommen ist, um mich zu holen. Lebt er denn überhaupt?«

Mit der Kühnheit, die die Frauen aus der Heftigkeit ihrer Triebe schöpfen, legte sie die Hand auf die Gestalt; aber kalter Schweiß brach aus ihren Poren, denn kaum hatte sie den Alten berührt, als sie einen Schrei wie den eines Habichts hörte. Diese scharfe Stimme, wenn das überhaupt Stimme zu nennen war, entrang sich einer fast vertrockneten Kehle. Diesem Ruf folgte rasch ein krampfhaftes Kinderhüsteln, das ganz absonderlich schneidend klang. Bei diesem Geräusch warfen uns Marianina, Filippo und Frau von Lauty Blicke zu, die wie Blitze waren. Das junge Weib neben mir wünschte sich unter die Erde. Sie faßte mich beim Arm und zog mich in ein Boudoir. Alle, Männer und Frauen, machten uns Platz. Als wir am Ende der Empfangsräume angelangt waren, traten wir in ein kleines, halbkreisförmiges Gemach. Meine Gefährtin warf sich auf einen Diwan. Sie zitterte vor Angst und wußte nicht, wo sie war.

»Meine Gnädigste, Sie sind außer sich«, sagte ich zu ihr. »Aber«, versetzte sie nach einem Augenblick des Schweigens, in dem ich Zeit hatte, sie bewundernd anzublicken, »was kann ich dafür? Warum läßt Frau von Lauty in ihrem Palast Gespenster umgehen?« »Nun, nun,« antwortete ich, »stellen Sie sich nicht so töricht an. Sie halten ein altes Männchen für ein Gespenst.« »Schweigen Sie!« erwiderte sie mit der gebieterischen und spöttischen Miene, die alle Frauen so gut anzunehmen verstehen, wenn sie recht haben wollen. »Welch hübsches Boudoir!« rief sie und blickte sich um. »Blauer Satin tut immer eine prächtige Wirkung als Wandbekleidung. Wie er leuchtet! O, das schöne Gemälde!« Sie stand rasch auf und stellte sich vor ein Bild, das in prächtigem Rahmen an der Wand hing.

Wir blieben einen Augenblick vor diesem wunderbaren Gemälde, das einem überirdischen Pinsel zu entstammen schien, in stummer Betrachtung versunken. Das Bild stellte Adonis vor, der auf einem Löwenfell ausgestreckt liegt. Die Lampe, die in der Mitte des Boudoirs hing und von einem Schirm aus Alabaster umschlossen war, beleuchtete die Leinwand mit einem milden Schimmer, der hell genug war, daß wir alle Schönheiten des Gemäldes gewahren konnten.

»Lebt wirklich ein so vollkommenes Wesen?« fragte sie mich, nachdem sie, nicht ohne ein holdes Lächeln der Befriedigung, die köstliche Anmut der Linien, die Haltung, die Farbe, das Haar, kurz, alles besichtigt hatte. »Er ist zu schön für einen Mann!« entschied sie, nachdem sie das Bild einer Prüfung unterzogen hatte, wie sie etwa eine mit einer Nebenbuhlerin hätte anstellen können.

O, wie spürte ich jetzt, wie ich von eben der Eifersucht gepackt wurde, von der mir ein Dichter gesprochen hatte und an die ich damals nicht glauben wollte: der Eifersucht auf Zeichnungen, Bilder, Statuen, in denen die Künstler die Menschen infolge einer Lehre, die sie dazu bringt, alles zu idealisieren, schöner darstellen, als sie sind.

»Es ist ein Porträt«, antwortete ich ihr; »wir verdanken es dem Pinsel von Vien. Aber der große Künstler hat das Original nie gesehen, und Ihre Bewunderung wird vielleicht etwas geringer werden, wenn Sie erfahren, daß das Bild nach einer weiblichen Statue gemalt wurde.« »Aber wen stellt es vor?« Ich zögerte. »Ich will es wissen!« fügte sie in entschiedenem Tone hinzu. »Ich glaube,« sagte ich schließlich, »dieser Adonis stellt einen . . . einen . . . einen Verwandten der Frau von Lauty vor.«

Ich hatte den Schmerz, sie in die Betrachtung dieser Gestalt versunken zu sehen. Sie saß schweigend da, ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand, ohne daß sie es merkte. Um eines Bildnisses willen vergessen! In diesem Augenblick hörte man in dem Schweigen das leise Geräusch von Schritten eines weiblichen Wesens, dessen Kleid rauschte. Die junge Marianina trat ein. Der Ausdruck der Unschuld auf ihrem Antlitz war noch strahlender als ihre Anmut und ihr reizendes Gewand; sie ging langsam und führte mit mütterlicher Sorgfalt und kindlicher Beflissenheit das angekleidete Gespenst, das uns aus dem Musikzimmer vertrieben hatte; während sie ihn geleitete, blickte sie mit einiger Unruhe auf ihn. So gelangten sie ziemlich beschwerlich an eine geheime Tapetentür. Marianina pochte leise. Sofort tauchte, wie durch Zauberwerk, ein großer, hagerer Mann, eine Art Hausgeist, auf. Bevor das schöne Kind diesem geheimnisvollen Wärter den wandelnden Leichnam übergab, küßte sie ihn ehrerbietig, und dieser keuschen Berührung fehlte es nicht an der liebevollen Zärtlichkeit, die das Geheimnis weniger bevorzugter Frauen ist.

»Addio, addio!« sagte sie mit dem holdesten Tone ihrer jungen Stimme.

Sie versah sogar die letzte Silbe mit einem Triller, den sie entzückend, aber mit leiser Stimme ausführte; es klang, als wenn sie mit den Ausdrucksmitteln der Kunst das Überströmen ihres Herzens schildern wollte. Der Alte schien von irgendeiner Erinnerung überfallen zu werden und blieb auf der Schwelle des geheimen Gemachs stehen. In der völligen Stille, die herrschte, hörten wir einen schweren Seufzer aus seiner Brust kommen; er zog den schönsten der Ringe, die er an seinen dürren Fingern trug, ab und barg ihn in Marianinas Busen. Die kleine Närrin lachte, holte den Ring heraus, steckte ihn über dem Handschuh an einen Finger und wandte sich rasch dem Salon zu, von dem eben das Vorspiel eines Kontertanzes herklang. Da sah sie uns.

»O, Sie waren hier!« rief sie errötend.

Sie sah uns forschend an; nach einem Augenblick jedoch hüpfte sie mit der ganzen Sorglosigkeit ihrer Jahre ihrem Tänzer entgegen.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte mich meine junge Partnerin; »ist er ihr Gatte? Ich glaube zu träumen. Wo bin ich?«

»Sie,« antwortete ich, »Sie, meine Gnädigste, die Sie außer sich sind, Sie, die Sie die unmerklichsten Regungen so gut verstehen und im Herzen eines Mannes das zarteste Gefühl zum Wachsen bringen, ohne ihn zu beugen, ohne ihn vom ersten Tag an zu zerbrechen, Sie, die Sie sich der Herzensqualen erbarmen und mit dem Geist einer Pariserin das glühende Herz einer Italienerin oder Spanierin verbinden . . .«

Sie mußte merken, daß meine Rede voll herber Ironie war; sie tat aber, als hörte sie es nicht, und unterbrach mich mit den Worten: »O, Sie machen mich so, wie Sie mich haben möchten. Seltsame Tyrannei! Sie wollen, ich soll nicht ich sein.« »O, ich will nichts!« rief ich. Ihre Strenge erschreckte mich. »Ist es wenigstens wahr, daß Sie gern der Geschichte der wilden Leidenschaften zuhören, die in unsern Herzen von den entzückenden Frauen des Südens erzeugt werden?« »Ja. Und . . .?« »Nun, dann will ich morgen abend gegen neun Uhr zu Ihnen kommen und Ihnen dieses Geheimnis enthüllen.« »Nein,« versetzte sie mit einer Miene, die entzückend eigensinnig war, »ich will es sofort erfahren!« »Sie haben mir noch nicht das Recht gegeben, zu gehorchen, wenn Sie sagen: Ich will.« »Jetzt«, erwiderte sie mit einer Koketterie, die einen zur Verzweiflung treiben konnte, »habe ich das heftigste Verlangen, dieses Geheimnis zu erfahren. Morgen werde ich Ihnen vielleicht kaum zuhören . . .«

Sie lächelte, und wir trennten uns; sie so stolz, so abweisend wie immer, und ich genau so lächerlich wie immer. Sie hatte die Kühnheit, mit einem jungen Adjutanten einen Walzer zu tanzen, und ich war abwechselnd wütend, melancholisch, hingerissen, verlangend und eifersüchtig.

»Auf morgen!« rief sie mir zu, als sie gegen zwei Uhr morgens den Ball verließ.

›Ich werde nicht hingehen,‹ dachte ich, ›und ich gebe dich auf. Du bist vielleicht noch tausendmal launischer und wetterwendischer . . . als meine Phantasie.‹

Am nächsten Tage saßen wir zwei vor einem guten Feuer in einem eleganten kleinen Salon. Sie saß auf einem Sofa und ich, fast zu ihren Füßen, auf Kissen und sah zu ihr auf. Auf der Straße war alles ruhig. Die Lampe verbreitete ein mildes Licht. Es war ein Abend, wie sie der Seele so köstlich sind, einer der Augenblicke, die man nie wieder vergißt, eine der Stunden voller Frieden und Verlangen, nach deren Zauber man sich später, selbst wenn es einem viel besser geht, immer zurücksehnt. Wer kann die lebhaften Eindrücke der ersten Regungen der Liebe aus seinem Gedächtnis tilgen?

»Fangen Sie an,« sagte sie, »ich höre!« »Ich wage nicht recht zu beginnen. Das Abenteuer hat Abschnitte, die für den Erzähler gewagt sind. Wenn ich begeistert werde, werden Sie mich schweigen heißen.« »Sprechen Sie!« »Ich gehorche.«

»Ernest Jean Sarrasine war der einzige Sohn eines Sachwalters in der Franche-Comté«, fing ich nach einer Pause an. »Sein Vater hatte es schlecht und recht zu sechs- bis achttausend Livres Rente gebracht, was ehemals in der Provinz als Vermögen eines Anwalts für ganz riesig galt. Der alte Herr Sarrasine, der nur das eine Kind hatte, wollte es für seine Erziehung an nichts fehlen lassen: er hatte die Hoffnung, einen Beamten aus ihm zu machen und lange genug zu leben, um zu sehen, wie der Enkel des Mathieu Sarrasine, der ein Ackersmann in der Gegend von Saint-Dié gewesen war, sich auf die Lilienstühle setzte und zum Ruhme des Parlamentshofes in der Sitzung schlief. Aber der Himmel bereitete dem biederen Sachwalter diese Freude nicht. Der junge Sarrasine, der frühzeitig den Jesuiten zur Erziehung anvertraut worden war, bekundete ein Wesen von außergewöhnlicher Heftigkeit. Er hatte die Kindheit eines genialen Menschen. Er wollte nur studieren, wenn er Lust dazu hatte, war oft widerspenstig und blieb manchmal lange Stunden in wirre Träume versunken; bald beschäftigte er sich damit, seinen Kameraden beim Spiele zuzusehen, bald vergegenwärtigte er sich die Helden Homers. Fiel es ihm dann wieder ein, sich zu zerstreuen, so gab er sich den Spielen mit ungewöhnlicher Leidenschaft hin. Wenn zwischen einem Kameraden und ihm ein Streit entstand, ging der Kampf selten ohne Blutvergießen aus. Wenn er der Schwächere war, biß er zu. Er war hintereinander zugreifend und passiv, täppisch oder zu klug, und sein seltsamer Charakter machte ihn bei seinen Lehrern ebenso gefürchtet wie bei seinen Kameraden. Anstatt die Elemente der griechischen Sprache zu lernen, zeichnete er den ehrwürdigen Pater, der ihnen eine Stelle aus Thukydides erklärte, machte er eine Skizze vom Mathematiklehrer, vom Präfekten, von den Dienern, vom Zuchtmeister und verschmierte alle Wände mit unförmlichen Entwürfen. Anstatt in der Kirche das Lob des Herrn zu singen, vergnügte er sich während des Meßamtes damit, an einer Bank zu schnitzeln oder, wenn es ihm gelungen war, ein Stück Holz zu erwischen, die Gestalt eines Heiligen zu schnitzen. Wenn er kein Holz, keinen Stein oder Bleistift hatte, modellierte er seine Einfälle aus weichem Brot. Ob er nun die Gestalten auf den Bildern kopierte, mit denen der Chor geschmückt war, oder ob er improvisierte, immer hinterließ er auf seinem Platz gröbliche Skizzen, deren freche Unverhülltheit die jüngeren ehrwürdigen Väter zur Verzweiflung brachte; und böse Zungen behaupteten, daß die älteren Jesuiten darüber lächelten. Endlich wurde er, wenn man der Chronik des Kollegs Glauben schenken darf, davongejagt, weil er, um sich an einem Karfreitag, als er wartete, bis er zum Beichten darankam, die Zeit zu vertreiben, aus einem großen Scheit Holz einen Christus geschnitzt hatte. Die Gottlosigkeit, die in dieser Statue zum Ausdruck kam, war zu groß, dem Künstler keine Züchtigung zuzuziehen. Hatte er nicht die Frechheit gehabt, diese recht zynische Figur auf das Tabernakel zu stellen? Sarrasine begab sich nach Paris, um den Drohungen der väterlichen Verfluchung zu entrinnen. Er hatte einen starken Willen, einen von denen, die kein Hindernis kennen; er gehorchte dem Befehl seines Genies und trat in das Atelier Bouchardons ein. Er arbeitete den ganzen Tag und ging abends betteln, um seinen Unterhalt zu finden. Bouchardon, der über die Fortschritte und den Geist des jungen Künstlers entzückt war, erriet bald, in welchem Elend sein Schüler sich befand; er unterstützte ihn, gewann ihn lieb und behandelte ihn wie sein eigenes Kind. Als sich dann das Genie Sarrasines in einem der Werke offenbart hatte, in denen das künftige Talent noch gegen die hitzige Gärung der Jugend kämpft, versuchte der wackere Bouchardon, ihn wieder mit seinem Vater zu versöhnen. Vor der Autorität des berühmten Bildhauers besänftigte sich der Zorn des Vaters. Ganz Besançon beglückwünschte sich, daß es die Geburtsstadt eines großen Mannes der Zukunft war. Im ersten Augenblick der Begeisterung, in die seine geschmeichelte Eitelkeit den geizigen Sachwalter versetzte, gab er seinem Sohne die Mittel, anständig in der Welt auftreten zu können. Die langen und mühsamen Studien, die für die Bildhauerei nötig sind, zügelten das stürmische Naturell und den heftigen Charakter Sarrasines für lange Zeit. Bouchardon, der ahnen mochte, mit welcher Heftigkeit die Leidenschaften in dieser jungen Seele kochten, die vielleicht eine so gewaltsame Natur hatte wie Michelangelo, erstickte ihre Wildheit unter unablässigem Arbeiten. Es gelang ihm, die ungewöhnliche Heftigkeit, die in Sarrasine lebte, in die rechten Schranken zu zwingen, indem er ihm zu arbeiten verbot und ihn anhielt, sich zu zerstreuen, wenn er sah, wie das Feuer eines Gedankens ihn fast außer sich brachte, oder indem er ihm wichtige Arbeiten übertrug, wenn er nahe daran war, sich einem wüsten Leben zu überlassen. Aber gegen diese glühende Seele war die Sanftmut immer die mächtigste Waffe, und der Meister erlangte vor allem dadurch große Gewalt über seinen Schüler, daß er durch väterliche Güte seine Dankbarkeit erregte.

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren wurde Sarrasine durch die Umstände dem heilsamen Einfluß, den Bouchardon auf sein Wesen und seine Gewohnheiten ausübte, entzogen. Er erlangte den Lohn für sein Genie, indem er den Skulpturpreis gewann, den der Marquis von Marigny, der Bruder der Frau von Pompadour, der so viel für die Künste tat, gestiftet hatte. Diderot rühmte die Statue von Bouchardons Schüler als ein Meisterwerk. Nicht ohne tiefen Schmerz ließ der Bildhauer des Königs den jungen Mann nach Italien ziehen, dessen völlige Unerfahrenheit in allen Fragen des Lebens er absichtlich und aus Prinzip erhalten hatte. Sarrasine war sechs Jahre lang Bouchardons Tischgenosse gewesen. Er war ein Fanatiker der Kunst, wie es später Canova gewesen ist, stand mit Tagesanbruch auf, ging ins Atelier, verließ es erst, wenn es Nacht wurde, und lebte nur seiner Muse. Wenn er in die Comédie-Française ging, wurde er von seinem Meister hingeschleppt. Er fühlte sich bei Frau Geoffrin und in der vornehmen Welt, in die Bouchardon ihn einzuführen versuchte, so unbehaglich, daß er lieber allein blieb und die Genüsse dieser ausschweifenden Zeit verschmähte. Er hatte keine anderen Geliebten gehabt als die Bildhauerei und Klotilde, eine der Berühmtheiten der Großen Oper. Aber auch diese letztere Episode war nicht von langer Dauer. Sarrasine war ziemlich häßlich, immer unordentlich gekleidet und hatte ein so freies Naturell, ein so ungeregeltes Privatleben, daß die berühmte Nymphe eine Katastrophe fürchtete und den Bildhauer bald der Liebe zur Kunst zurückgab. Sophie Arnould hat über diesen Vorfall einen hübschen Ausspruch getan, an dessen Wortlaut ich mich nicht erinnere. Sie gab, glaube ich, ihrer Verwunderung Ausdruck, daß ihre Kollegin über die Statuen hatte siegen können.

Sarrasine brach im Jahre 1768 nach Italien auf. Dort entflammte sich seine leidenschaftliche Phantasie unter dem tief leuchtenden Himmel und beim Anblick der wunderbaren Denkmale, mit denen die Heimat der Kunst übersät ist. Er bewunderte die Statuen, die Fresken, die Gemälde und kam so des Ehrgeizes voll nach Rom: er brannte darauf, den Namen Michelangelos und Bouchardons den seinen hinzuzufügen. So teilte er denn in den ersten Tagen seine Zeit zwischen seinen Arbeiten im Atelier und der Besichtigung der Kunstwerke, die es in Rom in solcher Fülle gibt. Er hatte schon vierzehn Tage in diesem Zustand verbracht, der alle jungen Künstler beim Anblick der Königin der Ruinen überkommt, als er eines Abends ins Theater Argentina ging, vor dem sich eine große Menge drängte. Er erkundigte sich nach der Ursache für diesen Andrang, und die Menschen antworteten mit zwei Namen: ›Zambinella! Jomelli!‹

Er tritt ein und setzt sich in das Parterre. Zwischen zwei beträchtlich dicke Abbati war er eingequetscht; aber sein Platz vor der Bühne war gut. Der Vorhang hob sich. Zum ersten Mal im Leben hörte er diese Musik, deren Herrlichkeit ihm Jean Jacques Rousseau bei einem Abend des Barons von Holbach so beredt gepriesen hatte. Die Sinne des jungen Bildhauers wurden durch die Töne der reizenden Harmonieen Jomellis sozusagen geschmiert und schlüpfrig gemacht. Die natürliche Schönheit dieser schmachtenden italienischen Stimmen, die aufs glücklichste zusammenpaßten, versetzten ihn in einen Taumel des Entzückens. Er saß stumm und unbeweglich und fühlte nicht einmal, wie er zwischen den beiden Priestern eingeengt war. Seine Seele war ganz in seinen Ohren und Augen. Er glaubte mit all seinen Poren zu hören. Plötzlich begrüßte ein Beifall, vor dem man meinte, der Saal müßte einstürzen, das Auftreten der Primadonna. Sie schritt zierlich bis an die Rampe vor und grüßte das Publikum mit unendlichem Liebreiz. Die Lampen, die Begeisterung einer großen Menge, die Illusion der Bühne, die Reize einer Toilette, die zu der Zeit recht verführerisch war, alles wirkte zugunsten dieses Weibes zusammen. Sarrasine schrie fast vor Vergnügen. Er bewunderte hier die ideale Schönheit, deren Vollkommenheit er bisher in der Natur stückweise hatte suchen müssen, indem er von einem oft unwürdigen Modell die Rundung eines vollendeten Beines, von einem andern die Formen des Busens, von einem dritten die glänzenden Schultern und schließlich von einem jungen Mädchen den Hals, von dieser oder jener Frau die Hände, von einem Kinde die blanken Kniee nahm, ohne daß er je unter dem frostigen Himmel von Paris die vollendeten und runden Gestalten des antiken Griechenlands gefunden hätte. Die Zambinella zeigte ihm lebendig und graziös in herrlicher Vereinigung die köstlichen Formen der weiblichen Gestalt, nach denen er so brennend begehrt hatte, für die ein Bildhauer immer zugleich der strengste und der leidenschaftlichste Richter ist. Sie hatte einen sprechenden Mund, Augen der Liebe, einen Teint von blendenden Farben. Und zu diesen Einzelheiten, die einen Maler entzückt hätten, füge man alle Wunder der Venus, wie sie der Meißel der Griechen gestaltet hat. Der Künstler wurde nicht müde, die unnachahmliche Grazie, mit der die Arme zur Brust übergingen, oder die zauberische Rundung des Nackens, die schön geschwungenen Brauen, die Linien der Nase, das vollkommene Oval des Gesichts, die Reinheit ihrer lebhaften Konturen und die Wirkung der dichten, schwungvoll gebogenen Wimpern zu bewundern, die den Abschluß der großen, wollüstigen Lider bildeten. Das war mehr als ein Weib, was da vor ihm lebte, es war ein Meisterwerk! Dieses unerwartete Wesen hatte Liebe in sich zum Entzücken aller Männer und Schönheiten zur Befriedigung jedes Kritikers. Sarrasine verschlang die Statue Pygmalions, die für ihn von ihrem Sockel gestiegen war, mit den Augen. Als die Zambinella sang, entstand ein Rasen der Begeisterung. Den Künstler überlief es kalt; dann spürte er, wie ein Feuer in seinem Innersten, an der Stelle auflohte, die wir das Herz nennen, weil uns das Wort fehlt. Er klatschte nicht Beifall, er sagte nichts, er fühlte, wie ihn ein Wahnsinn, eine Art Raserei überfiel, die es nur in diesem Alter gibt, wo die Begierde etwas Schreckliches und Höllisches an sich hat. Sarrasine wollte auf die Bühne stürzen und sich dieses Weibes bemächtigen. Seine Kraft, die durch eine moralische Depression, die man nicht erklären kann, weil sich diese Vorgänge in einer Region abspielen, die unserer Beobachtung unzugänglich ist, verhundertfacht wurde, wollte mit schmerzhafter Gewalt sich Luft machen. Er saß wie erstarrt und betäubt da. Ruhm, Kunst, Zukunft, Leben, Sieg, alles war wie zerstoben.

›Von ihr geliebt werden oder sterben!‹ – das war das Urteil, das Sarrasine über sich selbst sprach.

Er war so völlig im Taumel, daß er den Saal, die Zuschauer, die Schauspieler nicht mehr sah und die Musik nicht mehr hörte. Noch mehr: es gab keinen Zwischenraum mehr zwischen ihm und der Zambinella, er besaß sie; seine Augen, die sie nicht losließen, hatten sich ihrer bemächtigt. Eine fast teuflische Macht brachte ihn dahin, daß er den Atem dieser Stimme einsog, daß er den duftenden Puder, der auf ihrem Haar lag, mit jedem Atemzug sich zu eigen machte, daß er die sanfte Rundung dieses Gesichtes wie greifbar vor sich sah und die blauen Adern darauf zählen konnte, die sich von der samtenen Haut abhoben. Diese Stimme endlich, die so geläufig, so frisch und so silbern war, die biegsam war wie ein Faden, dem der leiseste Hauch eine Form gibt, die er auf- und abrollt, entfaltet und wieder zerteilt, diese Stimme drang ihm so stark in die Seele, daß er mehr als einmal unwillkürliche Schreie ausstieß, wie sie einem die krampfhaften Entzückungen entreißen, die die menschlichen Leidenschaften so selten gewähren. Bald mußte er das Theater verlassen. Seine zitternden Beine trugen ihn fast nicht mehr. Er war zerschlagen und ermattet wie ein Jähzorniger nach einem furchtbaren Wutanfall. Er hatte so viel Wonne erlebt, oder vielleicht hatte er so viel gelitten, daß sein Leben ausgelaufen war, wie das Wasser aus einem Gefäß, das durch einen Stoß umgestürzt wurde. Er spürte eine Leere, eine Vernichtung in sich, die den Schwächezuständen glich, die die Genesenden, wenn sie eine schwere Krankheit überstanden haben, zur Verzweiflung bringen. Eine unerklärliche Trauer überfiel ihn, und in einem ohnmächtigen Zustand setzte er sich auf die Stufen einer Kirche. Er lehnte den Rücken an eine Säule und gab sich wirren Träumen hin. Die Leidenschaft hatte ihn wie ein Blitzschlag getroffen. Als er in sein Quartier zurückgekehrt war, überfiel ihn ein Paroxysmus der Schaffenswut, wie er in solchen Momenten kommt und uns die Gegenwart neuer Elemente in unserem Leben enthüllt. Er war von jenem ersten Liebesfieber befallen, das man ebensowohl Lust wie Qual nennen kann, und wollte, um seine Ungeduld und seinen Taumel zu überwinden, die Zambinella aus dem Gedächtnis zeichnen. Das war eine Art materielles Träumen. Auf dem einen Blatt stand die Zambinella in der anscheinend ruhigen und kühlen Haltung, wie sie Raffael, Giorgione und alle großen Meister geliebt haben. Auf einem anderen wandte sie den Kopf reizend zur Seite, als wollte sie einer Koloratur zuhören, die sie eben sang. Sarrasine zeichnete das geliebte Weib in allen Stellungen; er nahm ihr den Schleier, ließ sie sitzen, stehen, liegen; er zeichnete sie züchtig oder wollüstig und verwirklichte mit seinem Stift, der schon beinahe raste, all die Launen, die unsere Phantasie herausfordern, wenn wir sehr an eine Geliebte denken. Aber sein wütendes Denken ging weiter als die Zeichnung. Er sah die Zambinella, sprach mit ihr, flehte sie an, brachte tausend Jahre Leben und Glück mit ihr zu, indem er sie in alle Situationen brachte, die seine Begier ersinnen konnte, indem er sozusagen die Zukunft mit ihr auskostete.

Am nächsten Tage ließ er von seinem Lakaien für die ganze Saison eine Loge dicht bei der Bühne mieten. Dann stellte er sich, wie alle jungen Leute, in deren Seele es gewaltig zugeht, die Schwierigkeiten seines Unternehmens übertrieben groß vor und fütterte seine Leidenschaft für den Anfang nur mit dem Glück, die Geliebte ohne Hindernis bewundern zu können. Dieses Goldene Zeitalter der Liebe, in dem wir uns an unserem eigenen Gefühl erquicken und fast durch uns selber beglückt werden, konnte bei Sarrasine nicht von langer Dauer sein. Die Ereignisse jedoch überfielen ihn, während er noch unter dem Zauber dieser jugendlichen Halluzination voller Unschuld und Wollust stand. In acht Tagen lebte er ein ganzes Leben: morgens war er damit beschäftigt, den Ton zu kneten, mit dessen Hilfe es ihm gelingen sollte, die Zambinella trotz den Schleiern, Röcken, Korsetten und Bandschleifen, die sie ihm verbargen, wiederzugeben. Am Abend war er schon früh in seiner Loge, die er allein für sich hatte, und da genoß er, auf einem Sofa liegend, wie ein Türke im Opiumrausch, ein so reiches, so verschwenderisches Glück, wie er es begehrte. Zunächst machte er sich allmählich mit den zu wilden Erregungen vertraut, die ihm der Gesang der Geliebten verursachte; dann gewöhnte er seine Augen daran, sie zu sehen, und konnte schließlich auf sie blicken, ohne den Ausbruch der dumpfen Wut befürchten zu müssen, die ihn am ersten Tag überfallen hatte. Seine Leidenschaft wurde tiefer und stiller zugleich. Übrigens duldete der wilde Bildhauer nicht, daß seine Einsamkeit, die von Bildern bevölkert, von den Gaukelbildern der Hoffnung geschmückt und voller Glück war, von seinen Kameraden gestört wurde. Er liebte mit solcher Gewalt und so unschuldsvoll daß er all die kindlich-reinen Gewissensqualen durchmachte, die uns befallen, wenn wir zum ersten Mal lieben. Als er anfing zu merken, daß es bald zu handeln und zu intrigieren galt, daß er auskundschaften mußte, wo die Zambinella wohnte, ob sie eine Mutter, einen Onkel, einen Vormund, eine Familie hatte; als er ernstlich an die Mittel dachte, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen, da spürte er, wie sein Herz von ehrgeizigen Bildern so anschwoll, daß er diese Sorgen auf den nächsten Tag verschob; er war glücklich mit seinen physischen Qualen wie mit den Wonnen seines Geistes.«

»Aber«, unterbrach mich Frau von Rochefide, »ich sehe noch nichts von Marianina und ihrem alten Männchen.« »Sie sehen nur ihn!« rief ich, ungeduldig wie ein Dramatiker, dem man einen Bühneneffekt verdirbt.

»Seit mehreren Tagen«, fuhr ich nach einer Pause fort, »hatte sich Sarrasine so getreulich in seiner Loge eingefunden und aus seinen Blicken sprach so deutlich die Liebe, daß seine Leidenschaft für die Stimme Zambinellas das Gespräch von ganz Paris gewesen wäre, wenn diese Geschichte sich hier abgespielt hätte; aber in Italien, meine Gnädigste, ist jeder für sich mit seinen eigenen Leidenschaften im Theater und mit eigenem Herzensinteresse, das für die Spionage mit den Operngläsern keine Zeit läßt. Jedoch konnte die Raserei des Bildhauers den Blicken der Sänger und Sängerinnen nicht lange entgehen. Es wäre schwer zu sagen, was für Torheiten er begonnen hätte, wenn die Zambinella nicht in Aktion getreten wäre. Sie warf Sarrasine einen der beredten Blicke zu, die oft viel mehr sagen, als die Frauen hineinlegen wollen. Dieser Blick war eine ganze Offenbarung. Sarrasine war geliebt!

›Wenn das nur eine Laune ist,‹ dachte er, indem er schon gegen seine Geliebte mißtrauisch war, ›dann kennt sie die Herrschaft nicht, unter die sie fallen wird. Ihre Laune wird hoffentlich so lange dauern wie mein Leben.‹

In diesem Augenblick hörte der Künstler, wie dreimal leicht an seine Logentür geklopft wurde. Er öffnete. Eine alte Frau trat geheimnisvoll ein.

›Junger Herr,‹ sagte sie, ›wenn Sie glücklich sein wollen, seien Sie vorsichtig! Schlagen Sie einen Mantel um sich, setzen Sie einen großen Hut tief ins Gesicht und finden Sie sich dann um zehn Uhr abends auf dem Korso vor dem Spanischen Hof ein!‹ ›Ich werde dort sein‹, erwiderte er und steckte der Duenna zwei Louisdor in die runzlige Hand.

Er machte der Zambinella ein Zeichen des Einverständnisses, und sie senkte schüchtern ihre wollüstigen Lider, wie eine Frau, die glücklich ist, daß sie endlich verstanden wird; dann verließ er die Loge. Er eilte nach Hause, um dort seine Toilette so verführerisch zu machen, wie es ihm nur möglich war. Als er das Theater verließ, ergriff ihn ein Unbekannter beim Arm.

›Nehmen Sie sich in acht, Herr Franzose‹, flüsterte er ihm ins Ohr; ›es geht um Leben und Tod! Zambinella steht unter dem Schutze des Kardinals Cicognara, und der läßt nicht mit sich spaßen.‹

Wenn ein teuflischer Geist zwischen Sarrasine und die Zambinella die ganze Hölle geworfen hätte, wäre er in diesem Augenblick mit einem Satz darübergesprungen. Die Liebe des Bildhauers glich den Rossen der Unsterblichen, wie sie Homer schildert: in einem Nu hatte sie unendliche Räume hinter sich gelassen.

›Und wenn mich beim Verlassen des Hauses der Tod erwartete, ich ginge nur noch schneller!‹ Das war seine Antwort. ›Poverino!‹ rief der Unbekannte und verschwand.

Von Gefahren zu hören, ist das für einen Liebenden nicht neue Wonne? Nie hatte Sarrasines Lakai ihn so sorgfältig Toilette machen sehen. Sein schönster Degen, ein Geschenk Bouchardons, die Schleife, die Klotilde ihm gegeben hatte, sein mit Flitter besetzter Rock, seine Silberweste, seine goldene Tabaksdose, die wertvolle Uhr und Kette, alles wurde aus den Behältnissen geholt: er schmückte sich wie ein junges Mädchen, das vor ihrem ersten Liebhaber paradieren soll. Zur bestimmten Stunde eilte Sarrasine, das Gesicht tief im Mantel verborgen, trunken vor Liebe und glühend vor Hoffnung, zu dem Rendezvous, das die Alte ihm genannt hatte. Die Duenna erwartete ihn.

›Sie haben lange gebraucht!‹ sagte sie. ›Kommen Sie!‹ Sie führte den Franzosen durch etliche Gassen und blieb vor einem Palast, der recht stattlich aussah, stehen. Sie klopfte, die Tür ging auf. Sie führte Sarrasine durch ein Labyrinth von Treppen, Galerieen und Gemächern, in denen nur der ungewisse Schein des Mondes etwas Helligkeit verbreitete, und kam bald an eine Tür, durch deren Spalten starker Lichtschein drang und hinter der man lebhaftes Sprechen und Lachen hörte. Sarrasine war geblendet, als er, nach einem Wort der Alten, in das geheimnisvolle Gemach eingelassen wurde und sich in einem glänzend erhellten und üppig eingerichteten Salon befand, in dessen Mitte eine reiche, mit Champagnerflaschen und geschliffenen, rote Funken sprühenden Fläschchen besetzte Tafel stand. Er erkannte die Sänger und Sängerinnen des Theaters und dazwischen reizende Frauen, die alle bereit waren, ein Künstlergelage zu beginnen, das nur noch auf ihn zu warten schien. Sarrasine unterdrückte eine ärgerliche Regung und machte gute Miene zu der Überraschung. Er hatte gehofft, ein schwach erleuchtetes Zimmer und seine Geliebte neben einem Kohlenbecken zu finden; er hatte von Liebe und Tod geträumt, von einem Eifersüchtigen, der auf ihn lauerte, von geflüsterten Geständnissen, von Herz an Herzen und gefährlichen Küssen; er hatte vorausgefühlt, wie ihre Köpfe sich einander näherten, wie das Haar der Zambinella seine brennende Stirn streifte.

›Es lebe die Tollheit!‹ rief er; ›Signori e belle donne, Sie müssen mir erlauben, mich später zu revanchieren und Ihnen meinen Dank dafür zu zeigen, daß Sie einen armen Bildhauer so freundlich aufnehmen.‹

Nachdem die meisten der Anwesenden, die er vom Sehen kannte, ihn recht freundlich begrüßt hatten, versuchte er sich dem Lehnstuhl zu nähern, auf dem sich die Zambinella nachlässig ausgestreckt hatte. O, wie schlug sein Herz, als er ihren zierlichen Fuß sah, der in einem der Pantöffelchen steckte, die – gestatten Sie mir, es zu sagen, gnädige Frau – ehemals dem Frauenfuß einen so koketten, so sinnlichen Ausdruck gaben, daß ich nicht weiß, wie die Männer ihm widerstehen konnten. Die prall anliegenden weißen Strümpfe mit den grünen Zwickeln, die kurzen Röcke, die spitzen Schuhe mit den hohen Absätzen aus der Zeit Louis' XV. haben freilich vielleicht etwas dazu beigetragen, Europa und die Geistlichkeit zu demoralisieren.« »Etwas!« meinte die Marquise; »haben Sie denn nichts gelesen?« »Die Zambinella«, fuhr ich lächelnd fort, »hatte keck ihre Beine übereinandergelegt und wippte das obere neckisch hin und her. Ihre Haltung war die einer Herzogin, was zu ihrer Art kapriziöser Schönheit, die eine gewisse herausfordernde Lässigkeit an sich hatte, gut paßte. Sie hatte ihre Theaterkleider abgelegt und trug ein Leibchen, das ihre schlanke Taille eng umschloß, die über den Reifröcken und einem mit blauen Blumen bestickten Atlasrock schön zur Geltung kam. Ihre Brust, deren Herrlichkeiten im koketten Luxus von prächtigen Spitzen verborgen waren, strahlte vor Frische. Unter ihrer Frisur, die ähnlich der Haartracht der Frau du Barry war, erschien ihr Gesicht, obwohl sie auch noch eine große Haube trug, doch noch zierlicher, und der Puder stand ihr gut. Wer sie so sah, mußte sie anbeten. Sie lächelte dem Bildhauer graziös zu. Sarrasine, der sehr unzufrieden war, daß er sie nur vor Zeugen sprechen konnte, setzte sich höflich neben sie, sprach mit ihr über Musik und rühmte ihr wunderbares Talent; aber seine Stimme zitterte vor Liebe, Furcht und Hoffnung.

›Was fürchten Sie?‹ fragte ihn Vitagliani, der berühmteste Sänger der Truppe. ›Unbesorgt! Sie haben hier keinen einzigen Nebenbuhler zu fürchten.‹

Nachdem er das gesagt hatte, lächelte der Tenor still vor sich hin. Auf den Lippen aller anderen Gäste wiederholte sich dieses Lächeln, in dem sich ein Spott versteckte, der einem Liebhaber entgehen mußte. Die Tatsache, daß seine Liebe bekannt war, war für Sarrasine, wie wenn er plötzlich einen Dolchstich ins Herz bekommen hätte. Er hatte eine große Charakterstärke, und vor allem konnte nichts in der Welt die Heftigkeit seiner Leidenschaft niederzwingen; aber es war ihm noch nicht in den Sinn gekommen, daß die Zambinella fast eine Kurtisane war und daß er nicht zu gleicher Zeit die reine Freude, die die Liebe eines jungen Mädchens so köstlich macht, und die stürmische Leidenschaft empfinden konnte, mit denen eine Schauspielerin ihren gefährlichen Besitz sich erkaufen läßt. Er sann nach und beschied sich. Das Souper wurde aufgetragen. Sarrasine und die Zambinella setzten sich ohne weiteres nebeneinander. Während der ersten Hälfte des Mahles blieben die Künstler innerhalb gewisser Schranken, und der Bildhauer konnte mit der Sängerin plaudern. Er fand sie witzig und klug; aber sie war überraschend unwissend und erwies sich als schwach und abergläubisch. Die Zartheit ihrer Glieder hatte ihr Gegenstück in ihrem Verstande. Als Vitagliani die erste Champagnerflasche öffnete, las Sarrasine in den Augen seiner Nachbarin einen nicht geringen Schrecken vor dem kleinen Knall, den die Ausdehnung der Gase verursachte. Das unwillkürliche Zittern dieses Frauenorganismus deutete der verliebte Künstler als das Symptom eines außerordentlichen Empfindungsvermögens. Diese Schwäche entzückte den Franzosen. Es ist so viel Lust, Schutz zu leisten, in der Liebe des Mannes. ›In meiner Stärke sollst du wie hinter einem Schild geborgen sein!‹ Steht dieser Satz nicht auf dem Grunde jeder, Liebeserklärung geschrieben? Sarrasine, der zu leidenschaftlich war, bei der schönen Italienerin Galanterieen anzubringen, war, wie alle Liebenden, hintereinander ernst, ausgelassen oder gesammelt. Obwohl er hören konnte, was die anderen sprachen, achtete er auf kein Wort von allem, was sie sagten; so ganz gab er sich dem Vergnügen hin, neben ihr zu sein, ihre Hand zu streifen, sie zu bedienen. Er schwamm in geheimer Wonne. Obwohl einige Blicke, die sie tauschten, beredt genug waren, war er doch über die Zurückhaltung, die die Zambinella ihm gegenüber übte, erstaunt. Sie hatte wohl zuerst begonnen, ihm den Fuß zu drücken und ihn mit der Schelmerei einer freien und verliebten Frau anzulocken; aber dann hatte sie sich plötzlich in die Schüchternheit eines jungen Mädchens gehüllt, nachdem Sarrasine etwas erzählt hatte, aus dem die ungewöhnliche Heftigkeit seines Charakters hervorging. Als das Souper zur Orgie wurde, fingen die Gäste, vom Peralta und vom Pedro-Ximenez begeistert, an zu singen. Sie sangen entzückende Duette, kalabrische Weisen, spanische Seguidillen und neapolitanische Kanzonetten. Die Trunkenheit war in aller Augen, in der Musik, in den Herzen und in den Stimmen. Mit einem Male strömte da eine bezaubernde Lebhaftigkeit, eine herzliche Hingebung, eine italienische Gutmütigkeit über, von der man denen keinen Begriff machen kann, die nur die Soireen von Paris, die Gesellschaften von London oder die Empfänge von Wien kennen. Die Scherze und die Liebesworte, Lachen, Flüche und Anrufungen der Muttergottes und des Bambino flogen wie Kugeln in einer Schlacht übereinander weg. Einer legte sich auf ein Sofa und schlief ein. Ein junges Mädchen hörte einer Liebeserklärung zu, ohne zu merken, daß sie Sherry auf das Tischtuch goß. Mitten in dieser Unordnung war die Zambinella wie von Angst verfolgt und blieb nachdenklich. Sie wollte nicht trinken, sprach dafür vielleicht etwas stark dem Essen zu; aber die Liebe zur guten Küche ist ja, wie man sagt, bei den Frauen sehr reizvoll. Sarrasine stellte, als er die Schamhaftigkeit seiner Geliebten sah, ernsthafte Betrachtungen über die Zukunft an.

›Ohne Frage will sie geheiratet werden‹, sagte er sich.

Und nun kostete er im voraus die Wonnen dieser Ehe. Sein ganzes Leben schien ihm nicht lang genug, all das Glück auszuschöpfen, das er auf dem Grund ihrer Seele fand. Sein Nachbar Vitagliani goß Sarrasines Glas so oft voll, daß er gegen drei Uhr morgens zwar nicht völlig betrunken, aber doch außerstande war, gegen seine rasende Begier anzukämpfen. In einem Augenblick wilder Leidenschaft hob er das Weib in die Höhe und trug es in eine Art Boudoir, das an den Salon stieß. Er hatte die Tür, die da hineinführte, schon lange ins Auge gefaßt. Die Italienerin hatte mit einem Mal einen Dolch in der Hand.

›Wenn du näher kommst,‹ sagte sie, ›muß ich dir den Stahl ins Herz bohren! Nein, nein, du würdest mich verachten! Ich habe zuviel Achtung vor deinem Charakter bekommen, mich so preiszugeben. Ich will nicht in deinem Gefühl für mich sinken.‹ ›O, o!‹ rief Sarrasine, ›das ist ein schlechtes Mittel, eine Leidenschaft zu löschen, wenn man sie schürt. Bist du denn schon so verderbt, daß du, obwohl dein Herz alt ist, dich wie eine junge Kurtisane benimmst, die die Leidenschaften scharf schleift, mit denen sie Handel treibt?‹ ›Aber es ist heute Freitag!‹ erwiderte sie voller Angst vor der Heftigkeit des Franzosen.

Sarrasine, der nicht fromm war, fing an zu lachen. Die Zambinella machte einen Satz wie ein junges Reh und flüchtete in den Saal. Als Sarrasine hinter ihr herlief und so in den Saal sprang, wurde er von einem höllischen Gelächter begrüßt. Er sah die Zambinella wie ohnmächtig auf einem Sofa liegen. Sie war blaß und erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, die sie hinter sich hatte. Obwohl Sarrasine wenig Italienisch konnte, verstand er doch, wie seine Geliebte leise zu Vitagliani sagte: ›Er wird mich ja töten!‹

Dieser seltsame Auftritt machte den Bildhauer ganz wirr. Er kam wieder zur Vernunft. Zuerst blieb er unbeweglich; dann fand er seine Sprache wieder, setzte sich zu seiner Geliebten und beteuerte ihr seine Achtung. Er fand die Kraft, den Ausdruck seiner Leidenschaft zu wechseln, und hielt nun dem Weibe die glühendsten Reden; um seine Liebe zu schildern, entfaltete er allen Reichtum der zwingenden, magischen Beredsamkeit, die den Liebenden so gern ihre Dienste leiht, der aber die Frauen nur so selten glauben wollen. Als das erste Leuchten des Morgens die Teilnehmer an dem Gelage überraschte, schlug eine Frau vor, nach Frascati zu fahren. Alle begrüßten den Einfall, den Tag in der Villa Ludovisi zu verbringen, mit lebhafter Zustimmung. Vitagliani ging hinunter, um Fuhrwerke zu bestellen. Sarrasine hatte das Glück, die Zambinella in einem Phaethon zu fahren. Nachdem sie Rom erst hinter sich hatten, erwachte die Heiterkeit wieder, die zuvor bei allen dem Kampf mit dem Schlaf gewichen war. Alle, Männer und Frauen, schienen an dieses seltsame Leben, an diese endlosen Vergnügungen, an diesen Künstlertaumel gewöhnt, der das Leben zu einem unaufhörlichen Fest macht, bei dem man ohne Hintergedanken vergnügt ist. Die Gefährtin des Bildhauers war die einzige, die niedergeschlagen schien.

›Sind Sie nicht wohl?‹ fragte Sarrasine sie; ›möchten Sie lieber nach Hause fahren?‹ ›Ich bin nicht stark genug, um all diesen Ausschweifungen standzuhalten‹, erwiderte sie; ›ich brauche große Schonung. Aber neben Ihnen fühle ich mich so wohl! Wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich nicht bei diesem Souper geblieben; eine durchwachte Nacht raubt mir all meine Frische.‹ ›Sie sind so zart!‹ versetzte Sarrasine und sah auf die zierlichen Formen des entzückenden Geschöpfes. ›Die Orgien ruinieren mir die Stimme.‹ ›Jetzt, wo wir allein sind‹, rief der Künstler, ›und wo Sie die Glut meiner Leidenschaft nicht mehr zu fürchten haben, sagen Sie mir, daß Sie mich lieben.‹ ›Wozu?‹ gab sie zurück, ›was soll das nützen? Ich habe Ihnen gut gefallen. Aber Sie sind Franzose, und Ihr Gefühl wird vergehen. O, Sie können mich nicht lieben, wie ich geliebt sein möchte.‹ ›Wie denn?‹ ›Ohne das Ziel der gewöhnlichen Leidenschaft, rein. Die Männer sind mir vielleicht noch mehr zum Abscheu, als ich die Frauen hasse. Ich muß mich in die Freundschaft flüchten. Die Welt ist für mich öde. Ich bin ein Geschöpf, das verflucht ist; bin dazu verdammt, das Glück zu begreifen es zu fühlen, es zu ersehnen, und bin, wie so viele andere, gezwungen, es mich stündlich fliehen zu sehen. Denken Sie daran, Signor, daß ich Sie nicht getäuscht habe. Ich verbiete Ihnen, mich zu lieben! Ich kann Ihnen ein hingebender Freund sein, und ich bewundere Ihre Kraft und Ihren Charakter. Ich brauche einen Bruder, einen Beschützer. Seien Sie das für mich, es ist viel, aber nichts anderes.‹ ›Sie nicht lieben!‹ rief Sarrasine; ›aber, geliebter Engel, du bist mein Leben, mein Glück!‹ ›Wenn ich ein Wort sagte, würdest du mich mit Abscheu von dir stoßen!‹ ›Kokette! Nichts kann mich schrecken! Sag mir, daß ich dir meine Zukunft geben muß, daß ich in zwei Monaten sterbe, daß ich verdammt bin, wenn ich dich nur umarme . . .‹

Und er umarmte sie trotz allen Anstrengungen, die die Zambinella machte, sich seiner Wildheit zu entziehen.

›Sag mir, daß du ein böser Geist bist, daß ich dir mein Vermögen, meinen Namen, all meinen Ruhm geben muß! Willst du, daß ich kein Bildhauer bin? Sprich!‹ ›Wenn ich nun keine Frau wäre?‹ fragte die Zambinella schüchtern mit silberner und sanfter Stimme. ›Das ist ein Spaß!‹ rief Sarrasine; ›glaubst du das Auge eines Künstlers zu täuschen? Habe ich nicht seit zehn Tagen deine vollendeten Formen verschlungen und geprüft und bewundert? Nur eine Frau kann diese runden, weichen Arme, diese feinen Linien haben. Ah, du willst, daß ich dir Schmeicheleien sage!‹ Sie lächelte traurig und murmelte: ›Verhängnisvolle Schönheit!‹

Sie hob die Augen zum Himmel. Ihr Blick hatte einen so unbeschreiblichen Ausdruck gewaltiger Angst, daß Sarrasine ein Zittern überkam.

›Signor Francese,‹ fing sie wieder an, ›vergessen Sie auf ewig einen Augenblick des Wahnsinns. Ich achte Sie; aber was Liebe angeht, fordern Sie sie nicht von mir; dieses Gefühl ist in meinem Herzen erloschen. Ich habe kein Herz mehr!‹ rief sie wild und weinte dabei; ›das Theater, wo Sie mich gesehen haben, der Beifall, die Musik, der Ruhm, zu dem man mich verdammt hat, das ist mein Leben, ich habe kein anderes. In wenigen Stunden werden Sie mich nicht mehr mit denselben Augen ansehen; die Frau, die Sie lieben, wird tot sein.‹

Der Bildhauer gab keine Antwort. Eine dumpfe Wut hatte ihn überfallen und preßte ihm das Herz zusammen. Er konnte diese außerordentliche Frau nur mit brennenden, flammenden Augen anschauen. Diese Stimme voller Schwäche, die Haltung, das Benehmen und die Gebärden Zambinellas, in denen Trauer, Schwermut und Mutlosigkeit lagen, weckten in seiner Seele alle Fülle der Leidenschaft. Jedes Wort war ein Stachel. In diesem Augenblick waren sie in Frascati angelangt. Als der Künstler die Arme ausstreckte, um dem geliebten Weibe beim Aussteigen zu helfen, fühlte er, wie ein furchtbarer Schauer sie überlief.

›Was haben Sie? Ich würde sterben,‹ rief er, als er sie erblassen sah, ›wenn Sie den geringsten Schmerz hätten, dessen wenn schon unschuldige Ursache ich wäre!‹ ›Eine Schlange!‹ flüsterte sie und wies auf eine Natter, die sich in einem Graben schlängelte; ›ich fürchte mich vor diesen abscheulichen Tieren.‹

Sarrasine zerquetschte der Natter mit einem Fußtritt den Kopf.

›Woher haben Sie so viel Mut?‹ fragte die Zambinella und sah mit sichtlicher Angst auf das tote Reptil. ›Nun,‹ fragte der Künstler lächelnd, ›möchten Sie immer noch vorgeben, Sie wären keine Frau?‹

Sie vereinigten sich mit ihren Gefährten und ergingen sich in den Hainen der Villa Ludovisi, die damals dem Kardinal Cicognara gehörte. Der Morgen verstrich dem verliebten Bildhauer zu schnell; aber es gab an ihm eine Menge kleiner Vorfälle, die ihm die Zierlichkeit, die Schwäche, die Zartheit dieser weichen und kraftlosen Seele verrieten. Sie war ganz das Weib mit seinen plötzlichen Ängsten, seinen sinnlosen Launen, seiner triebhaften Verwirrung, seiner grundlosen Verwegenheit, seiner Prahlerei und seiner entzückenden Feinheit der Empfindung. Als sie sich aufs freie Feld hinausgewagt hatten, sah die kleine Schar der fröhlichen Sänger von weitem ein paar Männer, die bis an die Zähne bewaffnet waren und deren Tracht nichts Vertrauenerweckendes hatte. Bei dem Wort ›Räuber!‹ verdoppelte jeder seine Schritte, um sich hinter der Einfriedigung der Villa des Kardinals in Sicherheit zu bringen. In diesem kritischen Augenblick merkte Sarrasine an Zambinellas Blässe, daß sie nicht mehr Kraft genug zum Gehen hatte; er nahm sie in seine Arme und trug sie eine Zeit lang im Laufen dahin. Als er nahe an einer Vigna war, setzte er seine Geliebte zu Boden.

›Erklären Sie mir‹, sagte er zu ihr, ›wieso diese übergroße Schwäche, die bei jeder anderen Frau häßlich wäre und so sehr mein Mißfallen erregte, daß das geringste Zeichen davon vielleicht genügte, meine Liebe zu verlöschen, mir an Ihnen gefällt und mich entzückt? . . . O, wie liebe ich Sie! All Ihre Fehler, Ihre Ängste, Ihr Kleinmut erhöhen nur die Anmut Ihrer Seele. Ich fühle, ich würde eine starke Frau, eine tapfere und kraftvolle Sappho verabscheuen. O gebrechliches, süßes Geschöpf! Wie könntest du anders sein? Diese Engelsstimme wäre ein Widersinn, wenn sie aus einem anderen Körper käme als aus dem deinen.‹ ›Ich kann Ihnen‹, war ihre Antwort, ›keine Hoffnung machen. Hören Sie auf, so zu mir zu sprechen; man würde nur über Sie spotten! Es ist mir unmöglich, Ihnen den Besuch des Theaters zu verbieten; aber wenn Sie mich lieben oder wenn Sie klug sind, gehen Sie nicht mehr hin. Hören Sie auf mich . . .‹ Sie sagte es mit tiefem Ernst. ›O, sei still!‹ rief der berauschte Künstler; ›die Hindernisse fachen die Liebe in meinem Herzen nur noch mehr an.‹

Die Zambinella blieb in ihrer graziösen Zurückhaltung; aber sie war still, wie wenn ein schrecklicher Gedanke ihr ein Unglück vorausgekündet hätte. Als man nach Rom zurückkehren mußte, stieg sie in eine viersitzige Kutsche und befahl dem Bildhauer in grausam gebietendem Tone, mit dem Phaethon allein zurückzufahren. Unterwegs beschloß Sarrasine, die Zambinella zu rauben. Er verbrachte den ganzen Tag damit, Pläne zu entwerfen, von denen einer immer toller war als der andere. Als die Nacht anbrach und er eben ausgehen wollte, um sich zu erkundigen, wo der Palast lag, den seine Geliebte bewohnte, traf er auf der Schwelle einen seiner Kameraden.

›Mein Lieber,‹ sagte der zu ihm, ›ich bin von unserem Gesandten beauftragt, dich einzuladen, heute abend zu ihm zu kommen. Er gibt ein großartiges Konzert, und wenn ich dir sage, daß Zambinella da sein wird . . .‹ ›Zambinella!‹ rief Sarrasine, der bei diesem Namen wie von Sinnen kam, ›o, Zambinella!‹ ›Es geht dir wie aller Welt‹, antwortete ihm sein Kamerad. ›Aber‹, fragte Sarrasine, ›wenn ihr meine Freunde seid, du, Vien, Lauterbourg und Allegrain, werdet ihr mir dann für einen Handstreich nach dem Fest eure Hilfe leihen?‹ ›Es ist kein Kardinal dabei zu töten? . . . Nein . . .?‹ ›Nein, nein,‹ unterbrach ihn Sarrasine, ›ich verlange nichts von euch, was ehrbare Menschen nicht tun können.‹

In kurzer Zeit hatte der Bildhauer alles für das Gelingen seines Anschlags vorbereitet. Er kam als einer der letzten bei dem Gesandten an; aber er kam in einem Reisewagen angefahren, der mit kräftigen Pferden bespannt war und den einer der waghalsigsten Vetturini von Rom kutschierte. Der Palast des Gesandten war gedrängt voll; nicht ohne Mühe gelangte der Bildhauer, den niemand kannte, in den Saal, in dem gerade im Augenblicke Zambinella sang.

›Aus Rücksicht auf die Kardinale, Bischöfe und Abbés, die hier sind,‹ so fragte Sarrasine, ›ist sie jedenfalls als Mann gekleidet, trägt einen Haarbeutel, hat das Haar gekräuselt und einen Degen an der Seite?‹ ›Sie? Welche Sie?‹ gab der alte Signor zurück, an den Sarrasine sich gewandt hatte. ›Die Zambinella.‹ ›Die Zambinella?‹ rief der römische Fürst aus; ›wollen Sie sich über mich lustig machen? Woher kommen Sie? Ist jemals eine Frau auf den römischen Theatern aufgetreten? Wissen Sie denn nicht, von was für Geschöpfen die Frauenrollen im Kirchenstaate gespielt werden? Mir, werter Herr, verdankt Zambinella seine Stimme. Ich habe dem Kerl alles bezahlt, selbst seinen Gesangslehrer. Aber er ist für den Dienst, den ich ihm geleistet habe, so wenig dankbar, daß er nicht ein einziges Mal über meine Schwelle gekommen ist. Und dabei verdankt er mir sein ganzes Vermögen.‹

Fürst Chigi hätte wohl noch lange sprechen können, ohne daß Sarrasine ihn gehört hätte. Eine grauenhafte Wahrheit war in seine Seele gedrungen. Er war wie vom Donner gerührt. Er blieb unbeweglich und konnte die Augen nicht von dem trennen, der ein Sänger sein sollte. Sein flammender Blick hatte eine Art magnetischen Einfluß auf Zambinella: der Musico wandte schließlich seine Augen Sarrasine zu, und seine himmlische Stimme kam ins Wanken. Er zitterte! Ein unwillkürliches Flüstern regte sich in der Versammlung, die andächtig an seinen Lippen hing; er wurde vollends verwirrt, mußte sich setzen und brach die Arie ab. Der Kardinal Cicognara, der die Richtung, die der Blick seines Günstlings genommen hatte, verfolgt hatte, bemerkte jetzt den Franzosen; er neigte sich zu einem Geistlichen aus seinem Gefolge und schien nach dem Namen des Bildhauers zu fragen. Als er die gewünschte Antwort erhalten hatte, sah er den Künstler sehr aufmerksam an und gab einem Abbé einen Auftrag, der dann eiligst verschwand. Inzwischen hatte sich Zambinella erholt und fing das Stück, das er so eigenwillig abgebrochen zu haben schien, noch einmal an; aber er sang schlecht und lehnte es trotz allen Bitten ab, etwas anderes zu singen. Das war das erste Mal, daß er diese launenhafte Tyrannei ausübte, die ihn später nicht weniger berühmt machte als sein Talent und sein ungeheures Vermögen, das er, wie es heißt, seiner Stimme und seiner Schönheit in gleicher Weise verdankte.

›Es ist eine Frau‹, sagte Sarrasine, der kaum wußte, wo er war, vor sich hin; ›da steckt irgendeine geheime Intrige dahinter. Der Kardinal Cicognara betrügt den Papst und ganz Rom!‹

Unverzüglich verließ der Bildhauer den Salon, versammelte seine Freunde und legte sie im Hof des Palastes in den Hinterhalt. Als Zambinella sich vergewissert hatte, daß Sarrasine gegangen war, schien er wieder etwas Ruhe zu finden. Um Mitternacht verließ der Musico, nachdem er, wie jemand, der einen Feind sucht, in den Sälen umhergeirrt war, die Gesellschaft. In dem Augenblick, wo er die Schwelle des Palastes überschritt, wurde er von einer Schar Männer ergriffen, die ihn mit einem Taschentuch knebelten und in den von Sarrasine gemieteten Wagen hoben. Zambinella war vor Schrecken starr, hockte in einer Ecke der Kutsche und wagte nicht, sich zu rühren. Er sah die schreckliche Gestalt des Künstlers sich gegenüber, der tödliches Schweigen bewahrte. Die Fahrt war kurz. Zambinella wurde von Sarrasine herausgehoben und befand sich bald in einem düsteren und kahlen Atelier. Der Sänger, der halb tot war, saß auf einem Stuhl und wagte nicht, auf die Statue einer Frau zu sehen, in der er seine Züge erkannt hatte. Er brachte kein Wort heraus, aber seine Zähne klapperten; er fror vor Angst. Sarrasine ging mit großen Schritten auf und ab. Mit einem Male blieb er vor Zambinella stehen.

›Sprich die Wahrheit!‹ sagte er mit dumpfer, heiserer Stimme; ›du bist ein Weib? Der Kardinal Cigognara . . .‹

Zambinella fiel auf die Kniee und antwortete nicht; er ließ nur den Kopf tief auf die Brust sinken.

›Ah, du bist ein Weib!‹ rief der Künstler außer sich; ›denn selbst ein . . .‹

Er sprach nicht weiter.

›Nein,‹ fing er dann wieder an, ›auch so einer würde sich nicht so tief erniedrigen.‹ ›Ach, töten Sie mich nicht!‹ rief Zambinella unter Tränen; ›ich habe nur meinen Kollegen zuliebe eingewilligt, Sie zu täuschen. Sie wollten etwas zu lachen haben.‹ ›Zu lachen!‹ schrie der Bildhauer mit furchtbarer Stimme. ›Lachen! lachen! Du hast es gewagt, mit der Leidenschaft eines Mannes zu spielen? Du?‹ ›O Gnade!‹ flehte Zambinella. ›Ich müßte dich umbringen!‹, rief Sarrasine und zog heftig seinen Degen heraus; ›aber‹, fuhr er dann mit kalter Geringschätzung fort, ›wenn ich mit dieser Klinge in deinem Wesen bohre, finde ich da eine Empfindung, die ich austilgen, eine Rache, die ich befriedigen könnte? Du bist nichts. Einen Mann oder ein Weib würde ich umbringen. Aber . . .‹

Sarrasine machte eine Gebärde des Abscheus, bei der er den Kopf zur Seite wandte. Er erblickte die Statue.

›Und das ist ein Trugbild!‹ rief er.

Er wandte sich wieder Zambinella zu.

›Ein Frauenherz war für mich eine Zuflucht, eine Heimat. Hast du Schwestern, die dir ähnlich sind? Nein. Also stirb! . . . Aber nein, du sollst leben. Wenn man dich am Leben läßt, bewahrt man dich nicht für etwas Schlimmeres auf als den Tod ? Ich klage nicht um mein Blut und nicht um mein Dasein, nur um meine Zukunft und mein Herzensglück. Deine schwache Hand hat mein Glück zertrümmert. Was für eine Hoffnung könnte ich dir rauben für alle die, die du geknickt hast? Du hast mich bis zu dir erniedrigt. Lieben, geliebt werden! Das sind künftig leere Worte ohne Sinn für mich, wie sie es für dich sind. Immerzu werde ich an dieses Weib denken, das es nicht gibt, wenn ich ein wirkliches sehe.‹

Er wies mit verzweifelter Gebärde auf die Statue.

›Immer werde ich eine himmlische Harpyie im Sinne tragen, die ihre Krallen in all meine männlichen Gefühle schlagen und alle anderen Frauen mit dem Male der Unvollkommenheit zeichnen wird. Ungeheuer! Du Geschöpf, das nichts Lebendiges zur Welt bringen kann, du hast für mich alle Frauen der Erde getötet.‹

Sarrasine setzte sich dem geängsteten Sänger gegenüber. Zwei dicke Tränen kamen aus seinen heißen Augen, rollten seine männlichen Wangen hinab und fielen zu Boden: zwei Tränen der Wut, zwei bittere, brennende Tränen.

›Keine Liebe mehr! Ich bin jeder Freude, jeder menschlichen Regung gestorben.‹

Bei diesen Worten ergriff er einen Hammer und schleuderte ihn mit so wilder Gewalt gegen die Statue, daß er sie verfehlte. Er glaubte, das Denkmal seines Wahnsinns zerstört zu haben, und griff wieder nach dem Degen, schwang ihn und wollte den Sänger töten. Zambinella stieß durchdringende Schreie aus. Da stürzten drei Männer herein, und plötzlich sank der Bildhauer, von drei Dolchstichen durchbohrt, zu Boden.

›Vom Kardinal Cicognara‹, sagte der eine Bravo. ›Ein frommer Dienst, der einen Christen ehrt‹, antwortete der Franzose und starb.

Die düsteren Boten machten Zambinella Mitteilung von der Unruhe seines Schutzherrn, der am Tor in einem geschlossenen Wagen auf ihn wartete, um ihn, sowie er befreit wäre, mit sich wegführen zu können.«

 

»Aber«, fragte mich Frau von Rochefide, »was für eine Beziehung besteht zwischen dieser Geschichte und dem alten Männchen, das wir bei den Lautys gesehen haben?« »Meine Gnädigste, der Kardinal Cicognara setzte sich in den Besitz der Statue Zambinellas und ließ sie in Marmor ausführen; sie ist gegenwärtig im Museum Albani. Dort fand sie 1791 die Familie Lauty wieder und bat Vien, sie zu kopieren. Das Porträt, das Ihnen Zambinella im Alter von zwanzig Jahren gezeigt hat, nachdem Sie ihn einen Augenblick vorher als Hundertjährigen gesehen hatten, hat später als Vorlage für Girodets ›Endymion‹ gedient; Sie haben sehen können, daß der ›Adonis‹ der nämliche Typus ist.« »Aber dieser oder diese Zambinella?« »Dürfte kein anderer sein als Marianinas Großonkel. Sie werden jetzt verstehen, was Frau von Lauty für ein Interesse daran haben muß, den Ursprung eines Vermögens zu verbergen, das von . . .« »Genug!« unterbrach sie mit gebietender Gebärde.

Wir blieben eine Weile in tiefstem Schweigen.

»Nun?« fragte ich schließlich. »O!« rief sie aus. Sie stand auf und ging mit großen Schritten im Gemach auf und ab.

Dann sah sie mich an und sprach mit einer Stimme, die einen veränderten Klang hatte: »Sie haben mir für lange Zeit das Leben und die Liebe zum Ekel gemacht. Kommen nicht alle menschlichen Gefühle, fast ohne Unterschied, zum selben Ende: zu grauenvollen Enttäuschungen? Sind wir Mütter, so ermorden uns die Kinder durch ihr schlimmes Leben oder durch ihre Kälte. Sind wir Gattinnen, so werden wir verraten. Sind wir liebende Frauen, so werden wir verlassen, verstoßen. Freundschaft! Gibt es Freundschaft? Morgen ginge ich ins Kloster, wenn ich nicht die Kraft hätte, mitten in den Stürmen des Lebens unzugänglich wie ein Fels zu bleiben. Ist die Zukunft der Christen ebenfalls nur ein Trug, so wird er wenigstens erst nach dem Tode zerstört. Lassen Sie mich allein!«

»Ah,« rief ich aus, »Sie verstehen sich aufs Strafen!« »Habe ich unrecht?«

»Ja«, antwortete ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen; »jetzt, da diese Geschichte, die in Italien bekannt genug ist, zu Ende erzählt ist, kann ich Ihnen einen hohen Begriff von den Fortschritten der modernen Zivilisation geben: man macht in Italien diese unseligen Geschöpfe nicht mehr.«

»Paris«, erwiderte sie, »ist ein sehr gastlicher Ort! Es nimmt alles auf, die schändlichen Vermögen so gut wie die blutigen. Verbrechen und Schande haben hier Asylrecht; nur die Tugend hat keine Altäre. Aber die reinen Seelen haben eine Freistatt im Himmel. Niemand wird mich erkannt haben! Das soll mein Stolz sein.«

Die Marquise blieb in tiefem Sinnen.

 


 


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