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Louis Lambert wurde 1797 in Montoire geboren, einem kleinen Städtchen in der Landschaft Vendôme, wo sein Vater eine kleine Gerberei betrieb. Er hatte den Sohn zu seinem Nachfolger bestimmt, aber die Neigungen, die derselbe schon frühzeitig für das Studium zeigte, änderten die Pläne des Vaters. Zudem liebten die Gerbersleute Louis so, wie man eben einen einzigen Sohn liebt, und legten ihm keinerlei Hindernisse in den Weg. Mit fünf Jahren war Louis das alte und neue Testament in die Hände gefallen, und dieses Buch, das so viele Bücher umfaßt, hatte sein Schicksal bestimmt. Begriff der kindliche Verstand schon die geheimnisvolle Tiefe der Heiligen Schrift, konnte er dem Heiligen Geist in seinem Fluge durch die Welt folgen; liebte er nur den romantischen Zauber, der in diesen orientalischen Dichtungen enthalten war; oder sympathisierte diese Seele in ihrer ersten Unschuld mit dem religiös Erhabenen, das göttliche Hände in diesem Buche ausgestreut haben? Einigen Lesern wird unsere Erzählung diese Fragen beantworten. Eine Folge hatte diese erste Lektüre der Bibel jedenfalls: Louis ging durch ganz Montoire und sammelte Bücher, die er auch bekam, dank jener Unwiderstehlichkeit, die allein das Geheimnis der Kinder ist und der niemand etwas abschlagen kann. Bei dieser Art Studium, das von keinem Menschen überwacht wurde, erreichte er sein zehntes Lebensjahr. Damals waren Ersatzmänner für den militärischen Dienst sehr selten zu bekommen; viele reiche Familien sicherten sie sich daher schon im voraus, um dann bei der Aushebung nicht in Verlegenheit zu kommen. Aber das geringe Vermögen der armen Gerbersleute gestattete es ihnen nicht, für ihren Sohn auch einen Ersatzmann zu kaufen. So fanden sie nur in dem geistlichen Stand das einzige ihnen vom Gesetz übriggelassene Mittel, ihren Sohn vor dem Militär zu bewahren. Sie schickten ihn daher im Jahre 1807 zu seinem Onkel mütterlicherseits, dem Pfarrer von Mer, einer anderen kleinen Stadt, die an der Loire, in der Nähe von Blois, gelegen ist. Diese Wahl befriedigte sowohl die Leidenschaft Louis' für die Wissenschaft wie auch den Wunsch seiner Eltern, ihn nicht den Zufälligkeiten des Krieges ausgesetzt zu sehen. Seine Neigung für das Studium und sein frühreifer Geist gaben zudem zu der Hoffnung Anlaß, daß er es in seiner kirchlichen Laufbahn noch einmal weit bringen werde. Nachdem Louis ungefähr drei Jahre bei seinem Onkel geblieben war, einem alten gelehrten Oratorianer, verließ er diesen zu Anfang des Jahres 1811, um in das Institut zu Vendôme einzutreten, wo er auf Madame de Staëls Veranlassung und Kosten untergebracht worden war.
Lambert verdankte die Protektion dieser berühmten Frau dem Zufall oder besser der Vorsehung, die dem hilflosen Genie stets die Wege zu ebnen weiß. Aber uns, deren Blicke an der Oberfläche der menschlichen Dinge haften bleiben, erscheinen diese Schicksalswendungen, für die das Leben der großen Männer uns so viele Beispiele gibt, nur als das Resultat eines rein natürlichen Vorganges. Und für die meisten Biographen erhebt sich das Haupt eines Genies über die Massen wie eine schöne Pflanze, die auf den Feldern durch ihren Glanz die Augen des Botanikers auf sich lenkt. Dieser Vergleich ließe sich auch auf das seltsame Ereignis in Louis Lamberts Leben anwenden: Gewöhnlich verbrachte er die Zeit, die sein Onkel ihm als Ferien gönnte, im Elternhause. Aber anstatt sich nach Schülerart den Freuden des »dolce far niente« hinzugeben, ging er mit Brot und Büchern bewaffnet fort und las und grübelte in den Wäldern, um sich den Ermahnungen seiner Mutter zu entziehen, der dieses andauernde Studium gefährlich erschien. Wunderbarer Mutterinstinkt! Von dieser Zeit an war die Lektüre bei Louis zu einer Art Heißhunger geworden, den nichts stillen konnte. Er verschlang Bücher aller Art und labte sich wahllos an religiösen, geschichtlichen, philosophischen und physikalischen Werken. Er hat mir einmal gesagt, daß er, wenn ihm andere Bücher nicht zur Hand waren, einen unglaublichen Genuß bei der Lektüre von Wörterbüchern empfand, was ich ihm gern glaubte. Welcher Schüler hat nicht immer wieder Freude daran gehabt, den wahrscheinlichen Sinn eines Substantivs zu suchen? Die Analyse eines unbekannten Wortes, sein Charakter, seine Geschichte waren für Lambert Ursache langer Träumerei. Aber es war nicht jene unbewußte Träumerei, durch die ein Kind sich an die Phänomene des Lebens gewöhnt, sich an die geistigen wie körperlichen Erscheinungen heranwagt; eine unbewußte geistige Bildung, die später sowohl im Verständnis wie im Charakter seine Früchte trägt. Nein, Louis Lambert erfaßte die Tatsachen wirklich und erklärte sie, nachdem er sowohl Anfang wie Ende derselben mit dem Spürsinn eines Wilden aufgefunden hatte. Auch konnte er, durch eines jener sonderbaren Spiele, in denen sich die Natur zuweilen gefällt und die die Anomalie seines Wesens bewies, schon mit vierzehn Jahren mit Leichtigkeit Gedanken äußern, deren Tiefe mir erst viel später aufgegangen ist.
»Oft«, so sagte er mir, wenn er von seiner Lektüre sprach, »oft habe ich wunderbare Reisen gemacht, indem ich mich auf einem Wort in die Abgründe der Vergangenheit einschiffte, wie das Insekt auf einem Grashalm einen Fluß hinuntertreibt. Von Griechenland aus ging ich nach Rom und durchquerte den weiten Raum des modernen Zeitalters. Was für ein schönes Buch könnte man da nicht zustande bringen, wenn man das Leben und die Abenteuer eines Wortes schriebe? Es hat von den Ereignissen, denen es gedient hat, sicherlich die verschiedensten Eindrücke erhalten; je nach dem Orte hat es die verschiedensten Ideen erweckt; aber ist es nicht noch größer, wenn man es unter dem dreifachen Gesichtspunkt von Seele, Körper und Bewegung betrachtet? Und wenn man von seinen Funktionen, seinen Wirkungen und Handlungen absieht und es nur an sich betrachtet, versinkt man da nicht in ein Meer von Reflexionen? Tragen nicht die meisten Worte die Färbung der Idee, die sie äußerlich darstellen? Welchem Genie verdanken wir sie? Wenn ein großer Geist notwendig ist, um ein Wort zu schaffen, welches Alter hat dann die menschliche Sprache? Die Zusammensetzung der Buchstaben, ihre Formen, das Aussehen, das sie einem Wort geben, zeichnen, je nach dem Charakter jedes Volkes, ein deutliches Bild von den unbekannten Wesen, deren Erinnerung in uns lebt. Wer erklärt uns philosophisch den Übergang von der Empfindung zum Gedanken, vom Gedanken zum Wort, vom Wort zu seinem hieroglyphischen Ausdruck, von der Hieroglyphe zum Alphabet, vom Alphabet zur geschriebenen Sprache, deren Schönheit in einer Folge von Bildern besteht, die der Redner anordnet und die wie Hieroglyphen des Gedankens sind? Hat nicht die alte Wiedergabe menschlicher Gedanken, die in Tierformen dargestellt wurden, die ersten Zeichen bestimmt, deren sich der Orient bediente, um seine Sprache niederzuschreiben? Und hat sie nicht durch Traditionen ein paar Spuren in unsern modernen Sprachen zurückgelassen, die sich dann in die Trümmer des ersten Wortes der Völker geteilt haben, des erhabenen und feierlichen Wortes, dessen Erhabenheit und Feierlichkeit in dem Maße abnimmt, in dem die Gesellschaft altert, dessen Klang, der so volltönend in der hebräischen Bibel ist und so schön noch in Griechenland im Fortgang unserer nacheinander folgenden Zivilisationen jedoch sich abschwächt? Verdanken wir diesem alten Geist die Mysterien, die sich in jedes menschliche Wort geflüchtet haben? Lebt nicht in dem Wort »wahr« eine geradezu unwirkliche Lauterkeit? Ist nicht in dem kurzen Ton, in dem es ausgesprochen wird, ein unbestimmtes Bild der keuschen Nacktheit, der Schlichtheit des Wahren in jedem Ding? Diese Silbe atmet eine unerklärliche Frische. Ich habe als Beispiel die Formel für einen abstrakten Begriff genommen, da ich das Problem nicht an einem Wort erläutern wollte, das es zu leicht verständlich machen würde, wie zum Beispiel das Wort »Flug«, in dem soviel zu den Sinnen spricht. Und ist es nicht mit jedem Wort so? Alle sind sie Zeichen einer lebendigen Kraft, die sie von der Seele empfangen und die sie ihr wieder zurückerstatten durch das Geheimnis wunderbarer Wirkung und Gegenwirkung zwischen Wort und Gedanken. Könnte man sie nicht mit einem Liebenden vergleichen, der von den Lippen seiner Geliebten so viel Liebe schlürft wie er ihr gibt? Durch ihr Aussehen allein beleben die Worte in unsrem Hirn die Dinge, denen sie als Gewand dienen. Wie alle Wesen haben sie nur einen Platz, wo ihre Eigenart voll wirken und sich voll entfalten kann. Aber dieser Gegenstand brauchte wohl eine ganze Wissenschaft für sich.« Und Louis zuckte die Achseln, wie um zu sagen: wir sind zu groß und auch zu klein!
Louis' Lesewut hatte übrigens viel Nahrung gefunden. Der Pfarrer von Mer besaß ungefähr zwei- bis dreitausend Bücher. Dieser Reichtum rührte von Plünderungen her, die während der Revolution in den umliegenden Klöstern und Schlössern gemacht worden waren. In seiner Eigenschaft als Priester, der auf die Verfassung vereidigt war, hatte der gute Mann die besten Werke aus den kostbaren Sammlungen, die damals nach Gewicht verkauft wurden, auswählen dürfen. Innerhalb dreier Jahre hatte sich Louis Lambert den Inhalt all der Bücher angeeignet, die in der Bibliothek seines Onkels wert waren, gelesen zu werden. Die Art, wie er bei der Lektüre die Gedanken aufnahm, war überaus merkwürdig. Seine Augen überblickten sieben bis acht Reihen auf einmal, und sein Geist erfaßte den Sinn derselben ebenso schnell. Oft genügte ihm sogar ein einziges Wort in einem Satz, um den Kern desselben zu erfassen. Sein Gedächtnis war wunderbar. Er erinnerte sich mit gleicher Treue der Gedanken, die er durch die Lektüre erworben hatte, wie derjenigen, die ihm durch Nachdenken oder im Gespräch gekommen waren. Kurz, er besaß ein Gedächtnis für alles: für Orte, Namen, Worte, Dinge und Gesichter. Er erinnerte sich nicht nur auf Wunsch eines Gegenstandes, er sah ihn in seinem Innern sogar an der Stelle, in der Beleuchtung und in der Farbe, wie er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Kraft war auch bei Vorgängen wirksam, die der Anschauung unzugänglich waren. Er entsann sich, wie er sich ausdrückte, nicht nur der Anordnung der Gedanken in dem Buche, aus dem er sie geschöpft hatte, sondern auch seiner eigenen Seelenzustände in weit zurückliegenden Zeiten. Dank einer unerhörten Begabung konnte sein Gedächtnis ihm die Entwicklung und das ganze Leben seines Geistes wieder aufbauen, von seinem ersten Gedanken an bis zu dem jüngst entfalteten, von dem verwirrtesten bis zum klarsten. Sein Gehirn, das schon in jungen Jahren an den schwierigen Mechanismus der Konzentration der menschlichen Kräfte gewöhnt war, schöpfte aus diesem reichen Vorrat eine Menge Bilder von wunderbarer Wirklichkeit und Frische, von denen es sich in den Zeiten klaren Nachdenkens nährte.
»Wenn ich will,« so sagte er in seiner Sprache, der die Schätze der Erinnerung eine frühreife Originalität verliehen hatten, »wenn ich will, ziehe ich einen Schleier vor meine Augen. Plötzlich gehe ich in mich hinein und finde dort eine Dunkelkammer, in der die Vorgänge der Natur sich in einer reineren Form darstellen, als es diejenige ist, in der sie meinen äußeren Sinnen anfangs erschienen sind.«
Mit zwölf Jahren hatte sich seine Phantasie, angeregt durch die unablässige Übung seiner Fähigkeiten, so hoch entwickelt, daß er von den Dingen, die er nur durch die Lektüre aufnahm, eine genaue Kenntnis besaß, daß das Bild, das in seiner Seele eingegraben war, nicht lebendiger hätte sein können, hätte er die Dinge wirklich gesehen; sei es nun, daß er sie sich durch Analogie zu eigen machte, sei es, daß er mit einer Art zweitem Gesicht begabt war, mit dem er die Natur umfaßte.
»Während ich den Bericht der Schlacht von Austerlitz las,« sagte er mir eines Tages, »habe ich alle Einzelheiten wahrgenommen. Der Flug der Kugeln, der Schrei der Kämpfenden klang an meinem Ohr wider und wühlte mein Inneres auf. Ich roch das Pulver, hörte das Getrappel der Pferde und die Stimmen der Menschen. Ich sah die Ebene vor mir, in der die Völker aufeinander stießen, als hätte ich auf der Höhe von Santon gestanden. Dieses Schauspiel schien mir furchtbar wie eine Seite aus der Apokalypse.«
Wenn er so alle seine Kräfte beim Lesen anspannte, verlor er gewissermaßen das Bewußtsein seines Körpers und lebte nur mehr durch das gewaltige Spiel seiner inneren Organe, deren Kräfte sich über alles Maß entfaltet hatten: er ließ nach seinem eigenen Ausdruck »den Raum hinter sich«. Aber ich will nicht alle geistigen Phasen seines Lebens vorwegnehmen. Ich habe schon wider meinen Willen die Ordnung verkehrt, in der ich die Geschichte dieses Menschen entrollen muß, der sein ganzes Handeln in sein Denken legte, wie andere ihr ganzes Leben in ihr Handeln legen.
Eine große Vorliebe zog ihn zu mystischen Werken hin. – »Abyssus abyssum«, sagte er zu mir. »Unser Geist ist ein Abgrund, der sich gern in Abgründen aufhält. Wir alle, Kinder, Männer, Greise, hungern immer nach Mysterien, unter welcher Form sie sich auch darstellen mögen.« Diese Vorliebe wurde verhängnisvoll für ihn, wenn man überhaupt sein Leben nach den gewöhnlichen Gesetzen beurteilen und das Glück anderer mit dem Maß des eigenen oder nach gesellschaftlichen Vorurteilen messen darf. Diese Freude an den Dingen des Himmels – ein anderer Ausdruck, den er oft gebrauchte – diese »mens divinior« war vielleicht auf den Einfluß zurückzuführen, den die ersten Bücher, die er bei seinem Onkel las, auf seinen Geist ausgeübt hatten. Die Heilige Therese und Madame Guyon schlossen sich an die Bibel an, waren die ersten Versuche seines jungen Geistes und gewöhnten ihn an jene tiefen Erregungen der Seele, deren Mittel sowohl wie Zweck die Ekstase ist. Dieses Studium, diese Neigung erhoben sein Herz, reinigten, veredelten es, gaben ihm ein Verlangen nach der göttlichen Natur und lehrten ihn eine fast weibliche Zartheit, die großen Männern angeboren ist: vielleicht ist das Göttliche in ihnen nur ein Bedürfnis nach Hingabe, wie Frauen es besitzen, nur daß es von ihnen in große Dinge hineinverlegt wird. Dank seiner ersten Eindrücke blieb Louis im Gymnasium rein. Diese edle Jungfräulichkeit der Sinne mußte notwendigerweise dazu beitragen, die Wärme seines Blutes zu erhöhen und die Fähigkeiten seines Denkens zu steigern.
Die Baronin von Staël, die auf vierzig Meilen von Paris verbannt war, verbrachte mehrere Monate ihres Exils auf einem Gut in der Nähe von Vendôme. Eines Tages, auf einem Spaziergang, begegnete sie am Saum des Parkes dem Kind des Gerbers, das in fast zerlumpter Kleidung in ein Buch vertieft war. Dieses Buch war eine Übersetzung des Werkes »Von Himmel und Hölle«. Zu dieser Zeit waren Saint-Martin, de Gence und ein paar andere Schriftsteller – zur Hälfte Deutsche – fast die einzigen Menschen, die im französischen Kaiserreich den Namen Swedenborg kannten. Erstaunt ergriff Madame de Staël das Buch, mit jenem Ungestüm, das sie in ihre Fragen, ihre Blicke und ihre Bewegungen zu legen pflegte; dann sah sie Lambert an und sagte zu ihm: »Verstehst du denn das?«
»Beten Sie zu Gott?« fragte das Kind.
»Aber gewiß doch!«
»Und verstehen Sie ihn?«
Die Baronin blieb ein paar Augenblicke sprachlos; dann setzte sie sich neben Lambert hin und unterhielt sich mit ihm. Leider ist mein Gedächtnis, wenn auch sehr umfassend, so doch lange nicht so treu wie das meines Freundes, und ich habe dieses Gespräch bis auf jene ersten Worte ganz vergessen. Diese Begegnung war dazu angetan, Madame de Staël aufs lebhafteste zu interessieren. Bei ihrer Rückkehr ins Schloß sprach sie wenig davon, trotz ihres Mitteilungsbedürfnisses, das bei ihr in Geschwätzigkeit ausartete; sie schien nur sehr nachdenklich. Die einzige noch lebende Person, die die Erinnerung an diese Begegnung bewahrt hat und die ich befragt habe, um die wenigen Worte zusammen zu bringen, die Madame de Staël damals entschlüpft waren, fand in ihrem Gedächtnis nur mühsam den Satz, den die Baronin in bezug auf Lambert gesagt hat: »Das ist ein wahrer Seher!« Louis rechtfertigte in den Augen der Welt die schönen Hoffnungen nicht, die seine Beschützerin in ihn gesetzt hatte. Das flüchtige Interesse, das sie ihm entgegenbrachte, wurde daher als Weiberlaune angesehen, als eine jener besonderen Launen, wie sie Künstlernaturen eigen sind. Madame de Staël wollte Louis Lambert dem Kaiser und der Kirche entreißen, um ihn dem auserwählten Schicksal zurückzugeben, das, wie sie sagte, seiner harrte. Denn sie machte schon einen neuen Moses aus ihm, den sie aus den Wassern errettet hatte. Vor ihrer Abreise beauftragte sie einen ihrer Freunde, den Herrn de Corbigny, der damals Präfekt in Blois war, ihren Moses zur gegebenen Zeit aufs Gymnasium von Vendôme zu schicken. Dann vergaß sie ihn wahrscheinlich.
Lambert war mit vierzehn Jahren, zu Beginn des Jahres 1811, in die Anstalt eingetreten und sollte sie zu Ende 1814 nach bestandenem Abiturientenexamen verlassen. Ich glaube nicht, daß er in dieser Zeit jemals das geringste Zeichen des Erinnerns von seiner Wohltäterin bekommen hat, wenn denn überhaupt als eine Wohltat gelten soll, daß man drei Jahre hindurch die Pension für ein Kind bezahlt, ohne weiter an dessen Zukunft zu denken, nachdem man es aus einer Laufbahn herausgerissen hat, in der es vielleicht sein Glück gefunden hätte. Die Zeitverhältnisse und auch der Charakter Louis Lamberts können Madame de Staël hinsichtlich ihrer Sorglosigkeit wie auch ihrer Großmut in weitem Maße von aller Schuld freisprechen. Die Persönlichkeit, die in ihren Beziehungen zu dem Kinde als Mittelsperson gedient hatte, verließ Blois in dem Augenblick, da der Knabe aus dem Gymnasium herauskam. Die politischen Ereignisse, die dann folgten, rechtfertigen einigermaßen die Gleichgültigkeit dieses Mannes für den Schützling der Baronin. Die Verfasserin von »Corinna« erfuhr von ihrem kleinen Moses nichts mehr. Die Hundert Dukaten, die sie Herrn von Corbigny gegeben hatte – der, wie ich glaube, 1812 starb – waren keine so bedeutende Summe, um Madame de Staëls Erinnerung wach zu halten, deren überspannte Seele nun genügend Nahrung fand und deren ganzes Interesse durch die Ereignisse von 1814 und 1815 aufs lebhafteste in Anspruch genommen wurde.
Louis Lambert war zu jener Zeit zu arm und auch zu stolz, um seine Wohltäterin, die durch Europa reiste, wieder aufzusuchen. Trotzdem ging er zu Fuß von Blois nach Paris, in der Absicht, sie zu sehen, und kam unglückseligerweise gerade an dem Tage dort an, an dem die Baronin starb. Zwei Briefe, die Lambert geschrieben hatte, waren ohne Antwort geblieben. Das Andenken an die guten Absichten der Madame de Staël für Louis ist also nur in einigen jungen Köpfen lebendig geblieben, die, wie der meine, durch das Eigenartige dieser Geschichte stark beeindruckt wurden. – Man muß in unserer Anstalt gewesen sein, um den Eindruck zu verstehen, den die Ankündigung eines »Neuen« auf unsere Gemüter machte, und vor allem die Wirkung, die Lamberts Abenteuer auf uns hatte.
Hier werden einige Aufschlüsse über die Grundgesetze unseres Institutes, das früher halb militärisch, halb religiös gerichtet war, notwendig, um das neue Leben, das Lambert dort führte, anschaulich zu machen. Vor der Revolution war der Orden der Oratorianer, wie der der Jesuiten, der öffentlichen Erziehung gewidmet und besaß in der Provinz mehrere Anstalten, von denen diejenigen in Vendôme, Tournon, La Flèche, Pont le Voy, Sorrèze und Juilly die bedeutendsten waren. In Vendôme wurde, wie ich glaube, ebenso wie in den anderen Instituten, eine gewisse Anzahl zu Kadetten bestimmt. Die Abschaffung des kirchlichen Lehrkörpers durch den Konvent hatte auf die Schule von Vendôme nur geringen Einfluß. Nachdem die erste Krise vorüber war, nahm das Institut ihre Häuser wieder in Besitz. Ein paar in der Umgegend zerstreute Oratorianer kamen zurück, eröffneten die Anstalt wieder und behielten die alten Regeln, Gewohnheiten, Gebräuche und Sitten bei, die ihr ein Gesicht gaben, dem ich nichts vergleichen kann, auch in irgend einer der anderen Anstalten, in die ich dann nach meinem Austritt aus Vendôme kam. Das Institut, das mitten in der Stadt gelegen ist, an dem kleinen Loirflüßchen, dessen Wasser seine Gebäude umspült, bildet einen weiten, sorgsam abgeschlossenen Komplex, der die für eine Anstalt notwendigen Gebäude umfaßt: eine Kapelle, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Bäckerei; außerdem Gärten und Wassergräben. Diese Schule, das berühmteste Erziehungszentrum der mittleren Provinzen, wird von diesen beschickt und von den Kolonien. Die Entfernung gestattet es den Eltern also nicht, ihre Kinder oft zu besuchen. Die Vorschrift verbietet zudem, die Ferien außerhalb der Anstalt zu verbringen. Sind die Schüler einmal eingetreten, so verlassen sie die Schule erst nach Beendigung ihrer Studien. Mit Ausnahme der Spaziergänge draußen unter Führung der Priester war alles dazu angetan, diesem Hause die Vorteile einer klösterlichen Disziplin zu geben. Zu meiner Zeit war der »Zuchtmeister« noch eine lebendige Erinnerung, und der klassische Kantschu spielte noch in allen Ehren seine fürchterliche Rolle. Die Strafen, wie sie vordem von den Jesuiten erdacht worden waren und die sowohl auf Seele wie Körper einen gefährlichen Einfluß hatten, waren unveränderlich in das Programm mit aufgenommen worden. Die Briefe, die an bestimmten Tagen an die Eltern geschrieben werden mußten, waren ebenso obligatorisch wie die Beichte. So waren unsere Vergehen wie unsere Gefühle in Regeln eingeordnet, alles trug das Gepräge klösterlicher Einförmigkeit. Ich erinnere mich neben anderen Überbleibseln ehemaliger Schulregeln noch an die Inspektion, der wir alle Sonntage unterzogen wurden: wir trugen unsere Galauniform, standen wie die Soldaten in Reih und Glied und erwarteten die beiden Direktoren, die, von den Lieferanten und Lehrern gefolgt, uns nach den drei Gesichtspunkten des Anzuges, der Gesundheit und der Moral untersuchten.
Die zwei- bis dreihundert Schüler, die in dem Institut wohnen mochten, waren nach altem Brauch in vier Sektionen eingeteilt: die »Kleinsten«, die »Kleinen«, die »Mittleren« und die »Großen«. Die Abteilung der »Kleinsten« umfaßte die sogenannte achte und siebente Klasse, diejenige der »Kleinen« die sechste, fünfte und vierte Klasse, die der »Mittleren« die dritte und zweite Klasse und endlich die »Großen« die Klassen der Rhetorik, Philosophie, Mathematik, Physik und Chemie. Jede einzelne dieser Abteilungen hatte ihr Gebäude, ihre Klassenzimmer und ihren Hof inmitten eines großen gemeinsamen Platzes, auf den sich die Schulsäle öffneten und der an das Refektorium grenzte. Dieses Refektorium, das eines alten religiösen Ordens würdig war, faßte alle Schüler. Entgegen den Regeln der anderen Lehranstalten durften wir beim Essen sprechen, eine Freiheit, die uns gestattete, nach unserem Geschmack die Speisen auszutauschen. Dieser gastronomische Tauschhandel ist eine der größten Freuden unseres Anstaltslebens geblieben. Wenn irgend ein »Mittlerer«, der am oberen Ende des Tisches saß, lieber eine Portion gelbe Erbsen haben wollte anstatt Nachtisch (denn wir bekamen Nachtisch!), dann ging das Wort von Mund zu Munde: »Ein Dessert für Erbsen!« bis ein Leckermaul sie nahm; darauf schickte dieser seine Portion Erbsen, die von Hand zu Hand ging, bis zu dem Anbietenden, dessen Nachtisch den gleichen Weg machte. Nie kam ein Irrtum vor. Wenn mehrere gleiche Forderungen waren, so trug jede ihre Nummer, und man sagte: »Erste Erbsen für erstes Dessert«. Die Tische waren lang, unser andauernder Handel hielt alle unablässig in Bewegung; und wir aßen, sprachen und bewegten uns mit beispielloser Schnelligkeit. Das Geschwätz der dreihundert jungen Menschen, das Hin und Her der Bediensteten, die die Teller wechselten, die Platten auftrugen und das Brot verteilten, die Aufsicht der Direktoren machte das Refektorium von Vendôme zu einem eigenartigen Schauspiel, das alle Besucher in Erstaunen setzte.
Um uns unser Leben, das jeder Verbindung mit der Außenwelt und aller Herzlichkeit der Familie entbehrte, angenehmer zu machen, gestatteten uns die Priester noch, Tauben zu halten und Gärten anzulegen. Unsere zwei- bis dreihundert Taubenschläge, unsere mehr als tausend Tauben, die an den Umfassungsmauern nisteten, und unsere dreißig Gärten boten einen noch merkwürdigeren Anblick als unsere Mahlzeiten. Aber es würde zu langwellig werden, wollte ich alle Einzelheiten schildern, die das Institut von Vendôme zu einer besonderen Anstalt machten und die in der Erinnerung all derer lebendig sind, deren Kindheit sich dort abgespielt hat. Wer von uns denkt bei all der Bitternis des Lernens nicht noch mit Entzücken an dieses klösterliche Leben? Da wurden während des Spaziergangs heimlich Näschereien gekauft, da durften wir in den Ferien Karten spielen und Theateraufführung veranstalten: Streiche und Freiheiten, die unsere Abgeschlossenheit notwendig machte. Dann unsere Militärmusik, noch eine letzte Spur aus der Kadettenzeit, unsere Akademie, unser Kaplan, unsere geistlichen Lehrer; und dann unsere besonderen, teils verbotenen, teils erlaubten Spiele: das Stelzenlaufen, die langen Schlitterbahnen im Winter, der Lärm unserer derben Stiefel und vor allem der Handel, der durch den kleinen Laden eingeführt wurde, der im Innern unserer Höfe eingerichtet war. Dieser Laden wurde von einer Art Faktotum bedient, bei dem Groß und Klein laut Prospekt Schachteln, Stelzen, Werkzeug, Tauben, Meßbücher (ein selten verkaufter Artikel), Messer, Papier, Federn, Bleistifte, Tinte in allen Farben, Bälle und Murmeln kaufen konnte; endlich alles, was ein Kinderherz auch sonst noch verlocken konnte und wozu sowohl die Brühe der Tauben, die wir töten mußten, gehörte wie auch das Geschirr, in dem wir den Reis vom Abendessen für das Frühstück am nächsten Tag aufheben konnten. Wer von uns hat wohl das Herzklopfen vergessen beim Anblick dieses während der Sonntagspausen regelmäßig geöffneten Ladens, in den wir nacheinander hineingingen, um das Geld auszugeben, das wir ausgehändigt bekommen hatten; wo wir aber durch den geringen Betrag des von den Eltern für unsere kleinen Vergnügungen gegebenen Taschengelds gezwungen waren, eine Wahl unter all den Gegenständen zu treffen, die eine so heftige Lockung für unsere Herzen bedeuteten. Hat eine junge Gattin, die in den ersten Jahren ihrer Ehe von ihrem Gatten zwölfmal im Jahre eine Summe ausgehändigt bekommt, um damit ihre kleinen Wünsche zu befriedigen, je so viel verschiedene Einkäufe erträumt, von denen jeder einzelne schon die ganze Summe beansprucht hätte, wie wir am Vorabend jedes ersten Sonntags im Monat? Für sechs Franken besaßen wir eine ganze Nacht lang alle Schätze dieses unerschöpflichen Ladens. Und während der Messe sangen wir nicht einen Antwortgesang, der uns nicht in unseren geheimen Berechnungen gestört hätte. Wer von uns kann sich entsinnen, noch am zweiten Sonntag auch nur einen Heller zum Ausgeben gehabt zu haben? Und wer hat nicht im voraus den sozialen Gesetzen gehorcht und hat die Paria beklagt, hat ihnen geholfen oder hat sie verachtet, die der väterliche Geiz oder die väterliche Armut ohne Geld ließ? Und wer sich die Abgeschlossenheit dieses großen Institutes vorstellt mit seinen Klostergebäuden inmitten einer kleinen Stadt, und die vier Parke, in denen wir mönchisch untergebracht waren, der hat gewiß auch eine Vorstellung von dem Interesse, das uns die Ankunft eines »Neuen« einflößen mußte, der wie ein neuer Passagier auf einem Schiff war. Nie ist eine bei Hofe vorgestellte junge Herzogin so lebhaft kritisiert worden wie der neue Ankömmling es von allen Schülern seiner Abteilung wurde. Gewöhnlich sprachen in der Abendpause, vor dem Gebet, die Schmeichler mit dem gerade diensttuenden der beiden Geistlichen, die uns abwechselnd jede Woche zu beaufsichtigen hatten, und hörten dann als erste die authentischen Worte: »Morgen werdet ihr einen Neuen bekommen!« Und plötzlich erscholl der Ruf: »Ein Neuer, ein Neuer!« in den Höfen. Wir liefen alle herbei und stellten uns um den Aufseher herum, der aufs genaueste ausgefragt wurde. – Wo kam er her? Wie hieß er? In welche Klasse sollte er kommen? undsoweiter.
Die Ankunft Louis Lamberts war der Gegenstand einer Erzählung, die in Tausend und eine Nacht paßte. Ich war damals in der vierten Klasse bei den »Kleinen«. Wir hatten als Aufseher zwei Männer, die wir aus Überlieferung »Pater« nannten, obgleich sie Laien waren. Zu meiner Zeit waren in Vendôme nur noch drei wirkliche Oratorianer, denen dieser Titel von rechtswegen zukam. Im Jahre 1814 verließen auch diese das Institut, das unmerklich weltlich geworden war, um sich zu den Altären irgend einer Landpfarre zu flüchten, nach dem Beispiel des Pfarrers von Mer.
Der »Pater« Haugoult, der Aufseher der Woche, war ein recht gutmütiger Mann, aber ohne höhere Bildung; ihm fehlte der Takt, der so notwendig ist, um die verschiedenen Charaktere der Kinder zu unterscheiden und ihnen die Strafen je nach ihren Kräften zuzumessen. Pater Haugoult begann also höchst bereitwillig die eigenartigen Umstände zu erzählen, denen wir am nächsten Tag den merkwürdigsten »Neuen« verdanken sollten. Die Spiele hörten sofort auf, alle »Kleinen« kamen schweigend herbei, um das Abenteuer dieses Louis Lambert mit anzuhören, der wie ein Meteorstein in einer Waldecke von Madame de Staël aufgefunden worden war. Pater Haugoult mußte uns über Madame de Staël aufklären; an jenem Abend schien sie mir zehn Fuß groß zu sein; zwar habe ich seitdem das Bild »Corinna« gesehen, auf dem Gérard sie so groß und so schön dargestellt hat, aber leider wurde es von dem in meiner Phantasie geträumten Frauenideal derart überragt, daß die wirkliche Madame de Staël immer in meinem Geiste verlor, selbst nachdem ich das ganz männliche Buch »Deutschland« gelesen hatte. Aber ein ganz anderes Wundertier war Lambert selbst: nachdem Herr Mareschall, der Studiendirektor, ihn geprüft hatte, zögerte er, wie Pater Haugoult sagte, ihn zu den »Großen« zu tun. Seine Lücken im Latein hatten ihn in die vierte Klasse zurückgebracht, aber sicher würde er jedes Jahr eine Klasse überspringen. Und dann sollte er auch ausnahmsweise in die Akademie aufgenommen werden. Proh pudor! Welche Ehre! wir sollten unter den »Kleinen« einen Mitschüler haben, der ein rotes Band trug, wie die Akademiker von Vendôme! Die Akademiker genossen herrliche Vorrechte: sie aßen oft am Tische des Direktors und hielten im Jahre zwei literarische Sitzungen ab, an denen wir teilnahmen, um ihre Werke mit anzuhören. Ein Akademiker war ein kleines Genie. Wenn jeder Schüler aus Vendôme ehrlich sein will, so wird er zugeben müssen, daß die wirklichen Akademiker der wirklichen französischen Akademie ihm später viel weniger Eindruck machten als dieses bedeutende Kind, das das Kreuz und das geheimnisvolle rote Band schmückte, beides das Zeichen unserer Akademie. Es war überaus schwer, dieser glorreichen Gemeinschaft anzugehören, ehe man in der zweiten Klasse war, denn die Akademiker mußten in den Ferien jeden Donnerstag eine öffentliche Sitzung abhalten und uns Geschichten in Versen oder in Prosa, Episteln, Abhandlungen, Tragödien und Komödien vorlesen: Arbeiten, für die die Begabung der niederen Klassen noch nicht ausreichte. Ich habe lange Zeit die Erinnerung an eine solche Geschichte bewahrt, die den Titel »Der grüne Esel« trug und die, glaube ich, das hervorragendste Werk dieser unbekannten Akademie ist. Einer aus der »Vierten« also sollte in die Akademie kommen! Zu uns wurde dieses Kind von vierzehn Jahren getan, das schon ein Dichter war und von Madame de Staël geliebt wurde, ein zukünftiges Genie, wie Pater Haugoult sagte. Ein wahrer Hexenmeister, ein Junge, der einen Aufsatz oder eine Übersetzung machen konnte, während schon zur Stunde gerufen wurde, und der seine Aufgaben lernte, indem er sie nur einmal durchlas. Louis Lambert brachte alle unsere Gedanken durcheinander. Und die Neugier von Pater Haugoult selbst, die Ungeduld, mit der er den Neuen sehen wollte, schürte noch unsere brennende Phantasie. – »Wenn er Tauben hat, dann wird er kaum einen Verschlag bekommen können, denn es ist kein Platz mehr.« – »Umso schlimmer für ihn!« sagte einer von uns, der inzwischen ein großer Landwirt geworden ist. »Zu wem wird man ihn tun?« fragte ein anderer. »Ich möchte gern sein ›Gefährte‹ sein!« rief einer in Ekstase aus. In unserer Anstaltssprache hatte dieser Ausdruck »Gefährte sein« eine schwer zu erklärende Bedeutung. Es besagte ein brüderliches Teilen aller Freuden und Leiden unseres kindlichen Lebens, eine Interessengemeinschaft, die reich war an Zerwürfnissen und Versöhnungen, ein offensives wie defensives Bündnis. Merkwürdig: nie habe ich zu meiner Zeit Brüder gekannt, die in diesem Sinne Kameraden gewesen wären. Wenn der Mensch nur durch das Gefühl lebt, dann glaubt er vielleicht, sein Leben ärmer zu machen, wenn er eine gewonnene Neigung mit einer natürlichen verbindet!
Die Wirkung, die die Erzählung des Pater Haugoult an jenem Abend auf mich machte, war eine der eindringlichsten meiner Kindheit und ich kann sie nur mit der Lektüre von Robinson Crusoe vergleichen. Ich verdanke später der Erinnerung dieses wundersamen Eindrucks eine vielleicht neue Beobachtung über die verschiedenen Wirkungen, die Worte auf den Intellekt des einzelnen haben. Das Wort hat nichts Absolutes an sich: wir wirken mehr auf das Wort, als es auf uns wirkt. Seine Kraft hängt von den Vorstellungen ab, die wir besitzen und die wir hineinlegen. – Doch die Ergründung dieses Phänomens verlangt weitgehende Erörterungen, die außerhalb unseres Gegenstandes liegen. –
Da ich nicht schlafen konnte, unterhielt ich mich lange mit meinem Schlafsaalnachbar über das merkwürdige Wesen, das wir von morgen ab unter uns haben sollten. Dieser Nachbar, der dann erst Offizier war und heute Schriftsteller ist und einen weiten philosophischen Blick hat, Barchou de Penhoën, hat weder seine Prädestination Lügen gestraft, noch den Zufall, der die beiden einzigen Schüler von Vendôme, von denen dort noch heute gesprochen wird, in die gleiche Klasse, auf die gleiche Bank, unter das gleiche Dach gebracht hatte. Der heutige Übersetzer Fichtes, der Ausleger und Freund Ballanches', war damals schon, wie ich selbst auch, mit metaphysischen Fragen beschäftigt, er faselte oft mit mir über Gott, über uns selbst und über die Natur. Damals gab er vor, ein Zweifler zu sein. Eifersüchtig darauf bedacht, seine Rolle auch durchzuführen, leugnete er Lamberts Gaben, während ich, der ich erst kürzlich das Buch »Wunderkinder« gelesen hatte, ihn mit Beispielen überschüttete und ihm den kleinen Montcalm nannte, Pico de la Mirandola, Pascal, kurz, alle frühreifen Geister; die berühmten Anomalien aus der Geistesgeschichte des Menschen und alles Vorgänger Lamberts. Ich las damals mit Leidenschaft. Da mein Vater den Ehrgeiz hatte, mich ins Polytechnikum aufgenommen zu sehen, ließ er mir Privatstunden in Mathematik geben. Mein Lehrer war Bibliothekar des Instituts und ließ mich Bücher entleihen, ohne genau hinzusehen, was ich aus der Bibliothek heraustrug, aus diesem stillen Ort, in den er mich in meinen Freistunden kommen ließ, um mich zu unterrichten. Ich glaube, daß er entweder untüchtig war oder aber in eine schwere Arbeit vertieft, denn er erlaubte mir sehr gern, daß ich die Stunde über las, während er selbst ich weiß nicht was arbeitete. Nach einem stillschweigenden Übereinkommen zwischen uns beiden beklagte ich mich nie, daß ich zu wenig lernte, und er schwieg über mein Entleihen von Büchern. In diese Leidenschaft verstrickt, vernachlässigte ich meine Studien und machte Gedichte, die gewiß zu gar wenig Hoffnungen berechtigten, wenn ich nach dem allzu langen Vers urteile, der unter meinen Kameraden berühmt geworden ist und mit dem ein Epos über die Inkas begann:
»O Inka, o unheilbeladner und unglückseliger König.«
Ich wurde zum Spott für meine Versuche »der Dichter« genannt, aber aller Hohn konnte mich nicht heilen. Ich reimte weiter, trotz des weisen Rates unseres Direktors, Herrn Mareschall, der mich von einer schon allzu tief eingewurzelten Leidenschaft kurieren wollte, indem er mir gleichnisweise von dem Unglück einer Grasmücke erzählte, die aus dem Nest fiel, weil sie fliegen wollte, ehe ihr die Flügel gewachsen waren. Ich fuhr in meiner Lektüre fort, ich wurde der unbeteiligste, faulste und nachdenklichste Schüler in der Abteilung der Kleinen und daher der am meisten bestrafte. Diese autobiographische Abschweifung soll die Art der Grübelei begreiflich machen, in die ich bei der Ankunft Lamberts verfallen war. Ich empfand gleich zuerst eine unbestimmte Sympathie für ein Kind, mit dem ich im Temperament einige Ähnlichkeit hatte. Ich sollte also einen Gefährten für mein Träumen und Nachsinnen bekommen. Ohne noch zu wissen, was Ruhm ist, empfand ich es als ruhmreich, der Freund eines Kindes zu sein, dessen Unsterblichkeit von Madame de Staël proklamiert worden war. Louis Lambert schien mir ein ganz Großer zu sein.
Der ungeduldig erwartete nächste Tag kam endlich. Kurz vor dem Frühstück hörten wir in dem stillen Hof den doppelten Schritt von Herrn Mareschall und dem »Neuen.« Alle Köpfe wandten sich sofort der Klassentür zu. Pater Haugoult, der die Qualen unserer Neugier teilte, ließ diesmal das Pfeifen nicht hören, mit dem er sonst unserm Schwatzen Ruhe gebot und uns auf unsere Arbeiten hinwies. Da sahen wir denn den berühmten »Neuen,« den Herr Mareschall an der Hand hielt. Der Lehrer stieg von seinem Katheder herunter, und der Direktor sagte feierlich, der Sitte gemäß, zu ihm: »Hier bringe ich Ihnen Herrn Louis Lambert; Sie werden ihn mit den Schülern der vierten Klasse zusammentun, morgen beginnt er den Unterricht.« Dann, nachdem er leise mit dem Lehrer gesprochen hatte, sagte er laut: »Wo werden Sie ihn hinsetzen?« Es wäre ungerecht gewesen, einen von uns für den »Neuen« von seinem Platze zu vertreiben; und da nur noch ein einziges Pult frei war, setzte sich Louis Lambert an dieses, neben mich, der zuletzt in die Klasse gekommen war. Obgleich wir noch eine Zeitlang hätten arbeiten müssen, standen wir doch auf, um Lambert aufmerksam zu betrachten. Herr Mareschall hörte unser Tuscheln, sah unsere Unruhe und sagte uns mit jener Güte, die ihn uns so besonders lieb machte: »so seid wenigstens brav und stört die anderen Klassen nicht.«
Diese Worte machten uns schon vor der Frühstückspause frei, und wir stellten uns um Lambert herum, während Herr Mareschall mit Pater Haugoult im Hof auf und ab ging. Wir waren ungefähr achtzig Bengel, keck wie Raubvögel. Obgleich wir alle auch einmal durch diese grausame Probezeit hindurchgegangen waren, verschonten wir doch nie einen »Neuen« mit unserm spöttischen Lachen, unsern Fragen, unsern Unverschämtheiten, die zur großen Verlegenheit des Neueingetretenen, dessen Wesen, Kraft und Charakter wir aus diese Weise erprobten, auf diesen einstürmten. Lambert, der nur gelassen war oder verdutzt, antwortete auf keine unserer Fragen. Einer von uns sagte, er käme sicher aus der Schule des Pythagoras. Ein allgemeines Gelächter erscholl, und der »Neue« wurde während seiner ganzen Schulzeit Pythagoras genannt. Doch der durchdringende Blick Lamberts, die Verachtung, die sich auf seinem Gesicht malte und die er für unsere Kindereien hatte, die nicht zu seiner Geistesart paßten, die ruhige Haltung, in der er verblieb, seine sichtliche Kraft, die seinem Alter entsprach, flößten den Schlimmsten unter uns einen gewissen Respekt ein. Ich selbst stand neben ihm und beobachtete ihn nur schweigend.
Louis war ein hageres und schwächliches Kind, vier und einen halben Fuß groß; sein dunkler Teint, seine von der Sonne gebräunten Hände täuschten eine Muskelkraft vor, die er eigentlich nicht besaß. Zwei Monate nach seinem Eintritt in die Anstalt, als der Aufenthalt im Klassenzimmer ihm seine frische Farbe genommen hatte, wurde er bleich und weiß wie eine Frau. Sein Kopf war von bemerkenswerter Größe. Sein Haar, dicht gelockt und von einem schönen Schwarz, gab seiner Stirn eine unaussprechliche Anmut. Die Größe dieser Stirn hatte etwas Außergewöhnliches an sich, selbst für uns, die wir, wie sich denken läßt, keine Ahnung von den Prognosen der Phrenologie hatten, jener Wissenschaft, die damals noch in der Wiege lag. Die Schönheit seiner prophetischen Stirn rührte vor allem von dem überaus reinen Schnitt der beiden Bogen her, unter denen seine schwarzen Augen glänzten und die wie in Alabaster geschnitten schienen; ihre Linien – eine seltene Schönheit – liefen vollkommen parallel und trafen sich bei der Nasenwurzel. Aber man vergaß sein im übrigen sehr unregelmäßiges Gesicht, sobald man seine Augen sah, deren Blick eine wunderbare Mannigfaltigkeit des Ausdrucks besaß und hinter dem gleich die Seele begann. Bald klar und erstaunlich durchdringend, bald von himmlischer Sanftmut, konnte dieser Blick in Momenten, in denen er sich seinen Betrachtungen hingab, düster werden, sozusagen farblos. Sein Auge glich dann einer Fensterscheibe, aus der die Sonne plötzlich entschwunden ist, nachdem sie sie erleuchtet hat. Um seine Kraft und um seine Stimme war es ebenso bestellt wie um seinen Blick. Seine Stimme konnte sanft klingen wie eine Frauenstimme, die ein Geständnis ausspricht; dann wieder war sie hart, scharf, holperig, wenn man diese Worte gebrauchen darf, um ungewohnte Wirkungen zu bezeichnen. Sein Körper war gewöhnlich den Anstrengungen der harmlosesten Spiele nicht gewachsen, schien schlaff, fast schwach. Aber als in den ersten Tagen nach seinem Eintritt einer unserer Raufbolde über diese kränkliche Zartheit spottete, die ihn für die in der Anstalt üblichen gewaltsamen Übungen ungeeignet machte, hob Lambert einen unserer Tische, der aus zwölf in zwei gebogenen Reihen aneinander gefügten Pulten bestand, mit beiden Händen an dem einen Ende in die Höhe und lehnte sich gegen das Katheder des Lehrers; dann hielt er den Tisch mit seinen Füßen fest, indem er diese auf die untere Querleiste setzte, und sagte: »Versucht mal eurer zehn, ihn zu bewegen!« Ich war zugegen und ich kann diesen merkwürdigen Beweis von Kraft bezeugen: es war unmöglich, ihm den Tisch zu entreißen. Lambert besaß die Gabe, in gewissen Augenblicken außergewöhnliche Kräfte herbeizurufen und diese Kräfte auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren, um sie wirken zu lassen. Aber die Kinder, die ebenso wie die Erwachsenen gewöhnt sind, nach ihrem ersten Eindruck zu urteilen, studierten Lambert nur in den ersten Tagen nach seiner Ankunft; er widerlegte völlig Madame de Staëls Vorhersagung und offenbarte keines der Wunder, die wir von ihm erwarteten. Nach einem Versuchsquartal galt Louis für einen ganz gewöhnlichen Schüler. Mir allein war es vergönnt, in diese erlesene Seele – warum sage ich nicht göttliche Seele? – zu schauen. Was ist Gott näher als das Genie im Herzen eines Kindes? Die Gleichheit unseres Geschmacks und unserer Gedanken machte uns zu Freunden und »Gefährten«. Unsere Brüderschaft wurde so eng, daß unsere Kameraden unsere beiden Namen mit einander verbanden, sodaß einer nicht ohne den andern ausgesprochen wurde; und um uns zu rufen, schrien sie: »Dichter-und-Pythagoras«. Andere Namen hatten Beispiel für solch eine »Ehe« gegeben. So blieb ich zwei Jahre hindurch der Schulfreund des armen Louis Lambert, und mein Leben war so eng mit dem seinen verbunden, daß ich heute in der Lage bin, die Geschichte seines Geistes zu schreiben. Ich habe lange Zeit hindurch die Poesie und den Reichtum, die in dem Herzen und hinter der Stirn meines Kameraden verborgen waren, nicht gekannt; ich mußte erst dreißig Jahre alt werden, damit meine Beobachtungen reiften und sich verdichteten, damit ein heller Lichtstrahl sie von neuem beleuchtete, um die ganze Bedeutung der wunderbaren Phänomene zu verstehen, deren ahnungsloser Zeuge ich gewesen war. Ich habe mich an ihnen gefreut, ohne mir ihre Größe zu erklären, noch auch ihren Mechanismus; ich habe einige sogar vergessen und entsinne mich nur noch der augenfälligsten. Aber heute hat meine Erinnerung sie eingeordnet und ich bin in das Geheimnis dieses fruchtbaren Gehirns eingedrungen, indem ich mich in die köstlichen Tage unserer jungen Freundschaft zurückversetzte. Also, die Zeit allein ließ mich den Sinn der Ereignisse und Tatsachen erkennen, an denen dieses unbegreifliche Leben so reich war, wie das vieler anderer Männer auch, die für die Wissenschaft verloren gegangen sind. – Diese Geschichte ist freilich im Ausdruck und in der Bewertung der Dinge voll von rein geistigen Anachronismen, die aber vielleicht dem Interesse nicht schaden werden.
In den ersten Monaten seines Aufenthaltes in Vendôme befiel Louis eine Krankheit, deren Symptome dem Auge der uns überwachenden Lehrer nicht sichtbar wurden, die aber notgedrungen die Auswirkung seiner bedeutenden Gaben hemmten. An die frische Luft gewöhnt und an die Freiheit einer dem Zufall überlassenen Erziehung, von der zärtlichen Fürsorge eines Greises gehegt, der ihn herzlich liebte, daran gewöhnt, unter der Sonne zu denken, wurde es ihm jetzt sehr schwer, sich den Regeln einer Anstalt zu fügen, in einer Reihe zu gehen, zwischen den vier Wänden eines Saales zu leben, in dem achtzig junge Menschen schweigend auf Holzbänken saßen, jeder vor seinem Pult. Seine Sinne waren von einer Vollkommenheit, die ihm eine übergroße Empfindlichkeit verlieh; und alles an ihm litt durch dieses gemeinsame Leben. Die Ausdünstungen, durch die die Luft immer schlecht war, zusammen mit dem Geruch einer immer schmutzigen Klasse, die angefüllt war mit den Überresten unseres Frühstücks und unseres Vespers, beleidigten seinen Geruchssinn, diesen Sinn, der mehr als die anderen in direkter Verbindung mit dem Gehirn steht und daher durch Störungen im Denkorgan unmerkliche Erschütterungen hervorrufen muß. Außer diesen Ursachen für die schlechte Luft gab es in unseren Arbeitssälen noch Verschläge, in die jeder seine Beute hineintat: die für die Feiertage getöteten Tauben oder die im Speisesaal heimlich entwendeten Gerichte. Schließlich war in jedem unserer Säle ein riesiger Stein, auf dem stets zwei Eimer mit Wasser standen, eine Art Schwemme, an die wir jeden Morgen gingen, um uns nacheinander in Gegenwart des Lehrers Gesicht und Hände zu waschen. Von da traten wir an einen Tisch, wo uns Frauen kämmten und puderten. Der Raum, der einmal am Tage, vor unserm Aufstehen, gereinigt wurde, blieb immer unsauber. Trotz der vielen Fenster wurde die Luft also dauernd verdorben durch die Ausdünstungen der Wascheinrichtung, durch das Kämmen, durch die Verschläge, durch die tausend Betätigungen der Schüler, ungerechnet unsere achtzig zusammengepferchten Körper. Diese Art Anstalts-»humus«, der sich unablässig mit dem Schmutz vermischte, den wir von unsern Spaziergängen mitbrachten, bildete einen Misthaufen von unerträglichem Gestank. Das Fehlen der reinen und durchdufteten Luft der Felder, in der er bisher gelebt hatte, die Änderung seiner Gewohnheiten, die Disziplin, alles drückte Lambert nieder. Den Kopf immer auf seine linke Hand und den Arm auf sein Pult gestützt, so verbrachte er die Schulstunden und sah auf den Hof hinaus, auf das Laub der Bäume oder auf die Wolken am Himmel. Er schien seine Aufgaben zu machen; aber wenn der Lehrer sah, daß seine Feder sich nicht bewegte oder seine Seite weiß blieb, dann schrie er ihn an: »Lambert, Sie tun nichts!« – Dieses »Sie tun nichts!« war ein Nadelstich, der Louis ins Herz traf. Und dann kannte er auch die Muße der Freizeit nicht, hatte »Strafarbeiten« zu machen. Die »Strafarbeit«, eine Strafe, deren Wesen je nach den Sitten jeder einzelnen Anstalt wechselt, bestand in Vendôme in einer bestimmten Anzahl von Zeilen, die während der Freistunden abgeschrieben werden mußten. Wir beide, Lambert und ich, waren so mit Strafarbeiten überhäuft, daß wir in den zwei Jahren unserer Freundschaft nicht sechs freie Tage gehabt haben. Ohne die Bücher, die wir der Bibliothek entnahmen, und die das Leben in unserm Gehirn wach hielten, hätte uns dieses System zu einem vollständigen Stumpfsinn geführt. Das Fehlen jeder körperlichen Übung ist Kindern verhängnisvoll. – Die Gewohnheit zu repräsentieren, wie Personen aus königlichem Hause sie von Jugend auf haben, verändert, heißt es, merklich ihre Konstitution, wenn sie diesen Schaden nicht durch Übungen auf dem Schlachtfeld und durch Bewegung bei der Jagd wieder wett machen. Wenn die Gesetze der Etikette und des Hoflebens auf das Rückenmark einwirken, sodaß die Könige weibisch werden, ihre Gehirnfasern verweichlichen und so die Rasse entartet, was für tiefe, sowohl körperliche wie seelische Schädigungen muß da erst eine dauernde Entbehrung von Luft, Bewegung, Frohsinn bei Schülern verursachen? Das ganze Strafsystem, das in den Anstalten herrscht, sollte einmal die Aufmerksamkeit der Autoritäten auf dem Gebiet der öffentlichen Erziehung auf sich lenken, falls sich unter ihnen Denker befinden, die nicht ausschließlich an sich selbst denken.
Wir zogen uns die Strafarbeiten auf die verschiedenste Weise zu. Unser Gedächtnis war so gut, daß wir nie unsere Aufgaben lernten. Es genügte, wenn wir unsere Mitschüler die französischen und lateinischen Stücke oder die Grammatik hersagen hörten, um sie unsererseits wiederholen zu können. Aber wenn es dem Lehrer einfiel, außer der Reihe zu gehen und uns als erste zu fragen, dann wußten wir oft nicht einmal, um was für eine Aufgabe es sich handelte; und die Strafarbeit kam, trotz unserer geschicktesten Ausreden. Außerdem warteten wir immer bis zum letzten Augenblick, um unsere Arbeiten zu machen. Wenn wir ein Buch zu Ende lesen wollten, wenn wir in eine Träumerei versunken waren, dann war die Arbeit vergessen: neue Quelle für Strafarbeiten! Wie oft wurde nicht die Übersetzung erst in der Zeit niedergeschrieben, in der der Primus die Arbeiten zu Beginn der Stunde einsammelte, wobei er sie von jedem einforderte! – Zu den seelischen Schwierigkeiten, die Lambert überwinden mußte, um sich in die Anstalt einzugewöhnen, gesellte sich noch eine nicht weniger schwere Lehrzeit, durch die wir alle hindurchzugehen hatten: die körperlichen Schmerzen, die für uns unendlich verschiedene waren. Bei Kindern verlangt die Zartheit der Haut überaus genaue Sorgfalt, besonders im Winter, wo wir Schüler – aus tausend Gründen – dauernd aus der eisigen Kälte eines schmutzigen Hofes in die heiße Temperatur der Klassenzimmer kamen. Und so wurden wir aus Mangel an mütterlicher Sorgfalt, die den Kleinen und Kleinsten fehlte, von schmerzhaften Frostbeulen und tiefen Rissen in der Haut so heimgesucht, daß diese Schmerzen ein besonderes Verbinden während der Frühstückszeit erforderten, was aber wegen der großen Zahl von wehen Händen, Füßen und Fersen nur sehr unvollkommen gemacht wurde. Viele Kinder waren zudem gezwungen, die Schmerzen dem Heilmittel vorzuziehen: hatten sie nicht oft zwischen ihren Arbeiten, die noch fertig zu machen waren, zwischen den Freuden der Schlitterbahn und dem Abnehmen eines Verbandes zu wählen, der unachtsam angelegt und noch unachtsamer getragen wurde? Zudem war es in der Anstalt Mode geworden, daß man die armen Geschöpfe, die zum Verbinden gingen, auslachte und daß man ihnen um die Wette die Lappen abriß, die ihnen die Krankenschwester um die Hände gebunden hatte. So waren im Winter mehrere unter uns mit ihren halb abgestorbenen, von Schmerzen gequälten Händen und Füßen kaum imstande zu arbeiten und wurden, weil sie nicht arbeiteten, bestraft. Der Pater, der oft auf unsere vorgeschwindelten Krankheiten hereingefallen war, legte auf die wirklichen Schmerzen kein Gewicht.
Für den Pensionspreis wurden die Kinder auf Kosten der Anstalt völlig unterhalten. Die Verwaltung pflegte eine bestimmte Summe für Schuhzeug und Kleidung auszusetzen. Dies war auch die Ursache für die sonntägliche Musterung, von der ich schon gesprochen habe. Diese Einrichtung, die für die Verwaltung sehr vorteilhaft war, hatte für die dieser Verwaltung Unterstellten traurige Folgen. Wehe dem Kleinen, der die schlechte Angewohnheit hatte, seine Stiefel zu zerreißen oder sie durch einen schlechten Gang schief zu laufen oder gar, sie in den Schulstunden, aus einem Bedürfnis nach Bewegung, wie es Kinder oft haben, abzuschubbern. Den ganzen Winter hindurch konnte er dann nicht ohne große Qualen auf den Spaziergängen mitgehen: erstens bereiteten ihm die Frostbeulen von neuem so fürchterliche Schmerzen, als hätte er die Gicht, dann gingen die Schnallen und die Senkel, mit denen die Schuhe zusammengehalten wurden, verloren oder der schiefgetretene Hacken hinderte das verflixte Schuhzeug daran, an den Füßen der Kinder fest anzusitzen: sie mußten es auf vereisten Wegen mühsam nachziehen oder es dem lehmigen Boden der Gegend abringen. Wasser und Schnee drangen oft durch eine unbemerkt aufgetrennte Naht, durch einen schlecht ausgesetzten Flecken und der Fuß schwoll an. Von sechzig Kindern waren nicht zehn, die ohne besondere Qual gingen; aber alle folgten sie dem großen Haufen, von der langen Reihe getrieben, wie die Menschen im Leben vom Leben vorwärtsgestoßen werden. Wie oft weinte nicht ein tapferes Kind vor Wut und fand doch die Energie, trotz Schmerzen vorwärts zu gehen oder in den Stall zurückzukehren: so sehr fürchtet in diesem Alter die noch unerfahrene Seele Hohnlachen und Mitleid, zwei Arten des Spottes. – Schon in der Schule – wie später in der Gesellschaft auch – verachtet der Starke den Schwachen, ohne zu wissen, worin wirkliche Kraft besteht. – Aber das war noch nichts. Man hatte keine Handschuhe an den Händen. Wenn zufällig die Zartesten unter uns von den Eltern, der Krankenschwester oder dem Direktor welche bekamen, dann taten die besonders Pfiffigen oder die Großen aus der Klasse die Handschuhe auf den Ofen, machten sich ein Vergnügen daraus, sie auszutrocknen oder sie gar zu stibitzen; und entgingen die Handschuhe den Findigen, dann wurden sie naß und schrumpften zusammen, weil sie nicht richtig behandelt wurden. Handschuhe waren also nicht möglich. Handschuh tragen galt als eine Bevorzugung, und Kinder wollen unter einander gleich sein.
Diese verschiedenen Schmerzen hatte Louis Lambert zu ertragen. Wie Menschen, die viel nachdenken und die dabei in der Stille ihrer Träumereien die Gewohnheit irgend einer mechanischen Bewegung angenommen haben, so hatte er die Manier, mit seinen Stiefeln zu spielen und sie in kurzer Zeit zu zerreißen. Seine frauenhaft zarte Haut, seine Ohren, seine Lippen sprangen bei der geringsten Kälte auf, seine weichen, weißen Hände wurden rot und geschwollen. Er war dauernd erkältet. Louis war also so lange den Leiden ausgesetzt, bis er sein Leben den Sitten von Vendôme angepaßt hatte. Mit der Zeit durch die grausame Erfahrung der Schmerzen klüger geworden, fand er die Kraft, an sein »Zeug« zu denken, um mich eines Schulausdruckes zu bedienen. Er mußte für seinen Verschlag sorgen, für sein Pult, für seinen Anzug, für seine Stiefel; durfte sich weder Tinte stehlen lassen noch Bücher, weder Hefte noch Federn. Er mußte endlich an die tausend kleinen Dinge unseres Kinderdaseins denken, mit denen sich die Egoisten und mittelmäßigen Geister so pünktlich befassen, denen dann auch unweigerlich der Preis für Ordnung und gute Führung zugesprochen wird, die aber ein Kind vernachlässigt, das eine Zukunft hat, das unter dem Schicksal einer fast göttlichen Phantasie sich leidenschaftlich dem reißenden Strom seiner Gedanken hingibt. Doch das war noch nicht alles. Es bestand ein unablässiger Kampf zwischen Lehrer und Schüler, ein Kampf ohne Waffenstillstand, dem nichts in der Gesellschaft zu vergleichen ist, wenn nicht der Kampf der Opposition gegen das Ministerium einer parlamentarischen Regierung. Aber die Journalisten und Redner der Opposition sind vielleicht weniger schnell bei der Hand, einen Vorteil zu nutzen, weniger hart, ein Unrecht vorzuwerfen, weniger beißend in ihrem Spott als Kinder gegen die Leute, die beauftragt sind, sie zu regieren. In diesem Beruf würde selbst den Engeln die Geduld reißen. Man darf einem armen, schlecht bezahlten und demgemäß wenig gewitzten Anstaltslehrer nicht allzu böse sein, wenn er zuweilen ungerecht ist oder wütend wird. Immer von einer Schar spöttischer Blicke beobachtet, von Fallen umstellt, rächt er sich zuweilen an den Kindern für die Fehler, die er begangen hat und die sie nur allzu schnell bemerken.
Außer für ganz große Streiche, für die es andere Strafen gab, war in Vendôme der Kantschu die ultima ratio Patrum. Für vergessene Arbeiten, schlecht gekonnte Aufgaben, gewöhnliche Streiche genügte die Strafarbeit; aber das verletzte Selbstgefühl der Lehrer sprach durch den Kantschu. Er bereitete uns den heftigsten der körperlichen Schmerzen, denen wir ausgesetzt waren. Es war ein Lederschlägel, der ungefähr zwei Finger dick war und auf unsere schwachen Hände mit der ganzen Kraft und dem ganzen Zorn des Lehrers niederschlug. Um diese klassische Strafe zu empfangen, mußte der Schuldige sich mitten im Saal hinknien. Man mußte von seiner Bank aufstehen, sich neben das Katheder knien und die neugierigen, oft höhnischen Blicke der Kameraden erleiden. Für zarte Seelen waren diese Vorbereitungen eine doppelte Qual, ähnlich wie früher der Weg des zum Tode Verurteilten zwischen Justizpalast und Schafott. Je nach den Charakteren schrien die einen und vergossen heiße Tränen, vor oder nach der Prügelstrafe, die andern nahmen die Schmerzen mit stoischer Miene hin. Aber solange sie auf die Züchtigung warteten, konnten selbst die Stärksten das Zucken ihres Gesichtes kaum unterdrücken. Louis Lambert wurde geradezu mit Schlägen überschüttet, und er verdankte sie einer Eigentümlichkeit, von deren Vorhandensein er lange Zeit nichts ahnte. Wenn er nämlich durch das »Sie tun ja nichts!« des Lehrers gewaltsam aus seinem Nachsinnen herausgerissen wurde, kam es anfangs, ihm oft unbewußt, vor, daß er diesem Manne einen Blick zuwarf, der voll grausamer Verachtung war und mit Gedanken geladen, wie eine Leydener Flasche mit Elektrizität. Dieser Blick mußte den Lehrer in Erregung versetzen, er fühlte sich von diesem stillschweigenden Spott verletzt und wollte dem Schüler diesen zündenden Blick austreiben. Das erste Mal, als unser Pater sich über diesen verächtlichen Blick ärgerte, der ihn wie ein Blitzstrahl traf, sagte er den Satz, an den ich mich noch genau erinnere: »Wenn Sie mich noch einmal so ansehen, Lambert, dann bekommen Sie eine Tracht Prügel!« Bei diesen Worten hoben sich alle Köpfe, alle Augen blickten abwechselnd zum Lehrer und zu Louis hin. Der Verweis war so dumm, daß das Kind dem Lehrer einen durchdringenden Blick zuwarf. Seit jener Zeit herrschte zwischen dem Lehrer und Lambert ein Kampf, der durch eine gewisse Menge von Schlägen ausgetragen wurde. Auf diese Weise wurde Louis die bezwingende Macht seines Blickes enthüllt. Dieser arme Dichter, der von nervöser Veranlagung war, oft wie eine Frau an hysterischen Stimmungen litt, von dauernder Melancholie befallen war, ganz krank an seinem Genie wie ein junges Mädchen an der Liebe, nach der sie sich sehnt und die sie nicht kennt: dieses starke und doch so schwache Kind, das von Corinna aus seinen schönen Feldern verpflanzt worden war, um in die Gußform einer Anstalt eingezwängt zu werden, wo jeder Geist, jeder Körper, trotz seiner Bedeutung, trotz seines Temperaments, sich den Regeln und der Uniform anpassen muß, wie sich das Gold unter den Schlägen des Prägstocks zu Goldstücken rundet; dieses Kind litt überall da, wo der Schmerz an seine Seele oder an seinen Körper heranreichte. Wie ein Sträfling an die Bank seines Pultes festgeschmiedet, mit der Rute geschlagen, von Krankheiten heimgesucht, an allen seinen Sinnen leidend, in einen Ring von Schmerzen eingeengt, alles zwang ihn, seine Haut den tausend Tyranneien der Schule preiszugeben. Und wie die Märtyrer, die inmitten ihrer Folterqualen lächelten, flüchtete er sich in den Himmel, den seine Gedanken ihm öffneten. Vielleicht half ihm dieses ganz innerliche Leben die Geheimnisse zu erschauen, an die er so fest glaubte!
Unser Unabhängigkeitsbedürfnis, unsere heimlichen Beschäftigungen, unser augenscheinliches Nichtstun, die Trägheit, in der wir verharrten, unsere dauernden Strafen, unser Abscheu vor Schulaufgaben und Strafarbeiten, alles dies brachte uns in den Ruf, faule und unverbesserliche Kinder zu sein. Unsere Lehrer verachteten uns, und ebenso fielen wir in den schlimmsten Mißkredit bei unsern Kameraden, denen wir, aus Furcht vor ihren Neckereien, unsere heimlichen Studien verbargen. Diese doppelte Verachtung war bei den Lehrern ungerecht, beruhte bei unsern Mitschülern jedoch auf einem ganz natürlichen Gefühl. Wir konnten weder Ball spielen, noch laufen, noch auf Stelzen gehen. An den Tagen des Straferlasses, oder wenn wir einmal zufällig einen freien Augenblick hatten, nahmen wir an keinem der in der Schule üblichen Vergnügen teil. Die Freuden unserer Kameraden waren uns fremd und so blieben wir allein und saßen schwermütig unter irgend einem Baum im Hof. »Der-Dichter-und-Pythagoras« bildeten also eine Ausnahme, führten ein Dasein außerhalb des Gemeinschaftslebens. Der sichere Instinkt und die empfindliche Eigenliebe der Schüler ließ sie in uns Geister wittern, die den ihrigen über- oder unterlegen waren. Daher bei den einen der Haß auf unsere stumme Aristokratie, bei den andern die Verachtung für unsere Unbrauchbarkeit. Diese Gefühle waren uns jedoch unbekannt, vielleicht habe ich sie erst heute erraten. Wir lebten also, geduckt wie zwei Ratten, in der Ecke des Saales, wo unsere Pulte standen, festgebannt während der Schulstunden wie auch in der Freizeit. Diese Ausnahmestellung mußte uns naturgemäß in Kriegszustand mit den Kindern unserer Abteilung versetzen. Beinahe stets von den andern vergessen, saßen wir dort ruhig, fast glücklich, wie zwei Pflanzen, wie zwei Ornamente, die der Harmonie des Saales gefehlt hätten. Aber manchmal beschimpften uns die händelsüchtigsten unserer Kameraden, um ihre Kräfte auf unrechtmäßige Weise an uns zu messen, und wir antworteten mit einer Verachtung, die oft dem »Dichter-und-Pythagoras« eine tüchtige Tracht Prügel einbrachte.
Das Heimweh Lamberts dauerte mehrere Monate. Ich kann die Schwermut, der er zum Opfer fiel, mit nichts vergleichen. Louis hat mir den Genuß an manchem Meisterwerk verdorben. Da wir beide die Rolle des Aussätzigen von Aosta spielten, hatten wir die Gefühle, die in dem Buche von de Maistre ausgedrückt sind, schon empfunden, noch ehe wir sie durch diese beredte Feder dargestellt lasen. Ein Werk kann wohl die Erinnerung der Kindheit wieder ins Gedächtnis zurückrufen, aber es wird nie erfolgreich gegen sie ankämpfen. Durch die Klagen Lamberts lernte ich Hymnen der Traurigkeit kennen, die ergreifender waren, als es die schönsten Seiten im Werther sind. Aber vielleicht lassen sich die Qualen, die eine von unsern Gesetzen mit Recht oder Unrecht verdammte Leidenschaft verursacht, nicht mit den Schmerzen eines armen Kindes vergleichen, das sich nach dem Glanz der Sonne, nach dem Tau der Täler und nach Freiheit sehnt. Werther ist der Sklave einer Begierde, Louis Lambert war eine gefangene Seele. Bei gleichen Anlagen muß das ergreifendste Gefühl oder dasjenige, das auf der wahrsten, weil reinsten Sehnsucht beruht, die Klagen des Genies übertönen. Wenn Louis lange Zeit das Laub einer Linde im Hof angeschaut hatte, dann sagte er nur ein Wort zu mir, aber dieses Wort war der Ausdruck tiefsten Sinnens!
So rief er eines Tages aus: »Zum Glück gibt es auch noch gute Augenblicke, in denen mir ist, als seien die Mauern des Klassenzimmers eingestürzt, und als sei ich irgendwo in den Feldern! Welch eine Seligkeit, sich dem Lauf der Gedanken zu überlassen, wie der Vogel sich dem Flug überläßt!«
»Warum ist die grüne Farbe in der Natur soviel vertreten?« fragte er mich. »Warum gibt es in ihr so wenig gerade Linien? Warum wendet der Mensch in seinen Werken so selten Kurven an? Warum hat er allein Gefühl für die gerade Linie?«
Solche Worte verrieten eine lange Wanderung durch den Weltenraum. Er hatte ganze Landschaften gesehen oder den Duft der Wälder eingeatmet. Er war, eine lebendige und erhabene Elegie, immer schweigsam, resigniert, immer leidend, ohne jedoch sagen zu können: ich leide! Dieser Adler, der die Welt brauchte für seine Nahrung, war eingekerkert in vier enge und schmutzige Wände. Daher wurde sein Leben denn auch im weitesten Sinne des Wortes ein Leben in Ideen. Voller Verachtung für die fast nutzlosen Studien, zu denen wir verurteilt waren, machte Louis seinen Weg durch die Lüfte, völlig losgelöst von den Dingen, die uns umgaben. Dem Nachahmungstrieb gehorchend, der die Kinder beherrscht, versuchte ich, mein Leben dem seinen nachzubilden. Louis konnte mich umso eher für jenen schlafähnlichen Zustand, in den das tiefe Nachdenken den Körper versetzt, leidenschaftlich begeistern, als ich jünger war als er und daher eindrucksfähiger. Wir gewöhnten uns daran, wie zwei Liebende, gemeinsam zu denken und unsere Träume einander mitzuteilen. Sein intuitives Empfinden besaß schon damals jene Schärfe, wie sie den geistigen Wahrnehmungen der großen Dichter eigen sein muß und die so oft zum Wahnsinn führt.
»Fühlst du, wie ich,« fragte er mich eines Tages, »daß gegen deinen Willen seltsame Schmerzen in dir aufsteigen? Wenn ich zum Beispiel intensiv an die Wirkung denke, die die Schneide meines Taschenmessers verursachen würde, wenn ich sie in mein Fleisch stieße, dann fühle ich plötzlich einen scharfen Schmerz, als hätte ich mich wirklich geschnitten: es fehlt nur noch das Blut. Aber diese Empfindung überkommt und überrascht mich wie ein plötzliches Geräusch, das eine tiefe Stille unterbricht. Kann ein Gedanke physische Schmerzen verursachen? . . . Nun, was sagst du dazu?«
Wenn er so subtile Reflexionen vorgebracht hatte, dann versanken wir beide in kindliche Träumerei. Wir suchten dann in uns selbst nach diesen unerklärlichen Phänomenen, die sich auf die Entstehung des Gedankens bezogen, und die Lambert in ihren kleinsten Phasen zu erfassen suchte, um eines Tages diesen unbekannten Vorgang beschreiben zu können. Und nach Diskussionen, in denen viel kindisches Zeug mit unterlief, sprang plötzlich ein Blick aus Lamberts flammenden Augen, er drückte meine Hand und aus seiner Seele drang ein Wort, durch das er alles zusammenzufassen suchte.
»Denken ist sehen!« sagte er eines Tages zu mir, fortgerissen durch eine unserer Auseinandersetzungen über den Ursprung unseres Wesens. »Alle menschliche Wissenschaft beruht auf Deduktion, die ein langsames Schauen ist, von der Ursache hinunter zur Wirkung, von der Wirkung hinauf zur Ursache, oder mit einem bedeutsameren Ausdruck: alle Poesie entsteht, wie jedes Kunstwerk, aus einem schnellen Schauen der Dinge.«
Er war Spiritualist, ich aber wagte ihm zu widersprechen und zog seine eigenen Beobachtungen heran, um die Intelligenz als ein rein physisches Produkt gelten zu lassen. Wir hatten alle beide recht. Vielleicht drücken die Worte: Materialismus und Spiritualismus die beiden Seiten ein und derselben Tatsache aus. Sein Studium über die Substanz des Gedankens ließ ihn mit einem gewissen Stolz das entbehrungsreiche Leben auf sich nehmen, zu dem uns sowohl unsere Trägheit wie unsere Verachtung für unsere Schulaufgaben verurteilten. Er besaß ein gewisses Bewußtsein seines Wertes, das ihn in seinen geistigen Arbeiten aufrecht hielt. Mit welcher Wonne empfand ich nicht, wie seine Seele auf die meine wirkte! Wie oft waren wir nicht beide auf unserer Bank sitzen geblieben, beide in ein Buch vertieft, und hatten uns gegenseitig vergessen, ohne uns zu verlassen. Wir wußten uns beide da, in ein Meer von Gedanken getaucht, wie zwei Fische, die im gleichen Wasser schwimmen. Äußerlich schien unser Leben also nur ein Vegetieren zu sein, innerlich lebten wir dafür sowohl mit dem Herzen wie mit dem Hirn.
Die Gefühle und Gedanken waren die einzigen Ereignisse unseres Schülerdaseins.
Lambert hatte auf meine Phantasie einen Einfluß, den ich noch heute empfinde. Gierig lauschte ich seinen Erzählungen, die reich waren an Wundern, um deretwillen Kinder wie Erwachsene mit Entzücken den Geschichten lauschen, in denen das Wirkliche gern die absurdesten Formen annimmt. Seine Leidenschaft für alles Mystische und die natürliche Gläubigkeit der Jugend veranlaßten uns oft, von »Himmel und Hölle« zu sprechen. Louis versuchte damals, indem er mir Swedenborg erklärte, mir seinen Glauben an die Engel mitzuteilen. Selbst noch in seinen irrigsten Beweisführungen lagen erstaunliche Beobachtungen über die Kraft des Menschen, Beobachtungen, die seinen Worten jenen Schein von Wahrheit verliehen, ohne den in der Kunst nichts möglich ist. Das romantische Ende, das für ihn zu jedem menschlichen Schicksal gehörte, war ganz dazu angetan, der Neigung zu schmeicheln, mit der die jugendliche Phantasie sich dem Glauben zuwendet. Erzeugen die Völker nicht auch in ihrer Jugend ihre Dogmen und ihre Götzen? Und sind die übernatürlichen Wesen, vor denen sie zittern, nicht Verkörperungen ihrer gesteigerten Gefühle und Bedürfnisse? Was mir heute von den phantasievollen Gesprächen im Gedächtnis geblieben ist, die wir, Lambert und ich, über den schwedischen Philosophen führten, dessen Werke ich seitdem aus Neugier gelesen habe, kann in folgender kurzer Darstellung zusammengefaßt werden.
In uns gibt es zwei voneinander verschiedene Geschöpfe; nach Swedenborg ist der Engel das Individuum, bei dem das »Innere Wesen« über das »Äußere Wesen« triumphiert. Will ein Mensch, sobald ihm vom Gedanken seine doppelte Existenz gezeigt worden ist, seiner Berufung als Engel gehorchen, so muß er bemüht sein, die auserwählte Natur des Engels in sich zu nähren. Wenn er, aus Mangel an tieferer Erkenntnis seines Schicksals, das körperliche Leben vorherrschen läßt, anstatt das geistige zu stärken, gehen alle seine Kräfte in das Spiel seiner äußeren Sinne über, und der Engel geht langsam durch diese Materialisierung beider Naturen ein. Im entgegengesetzten Falle, wenn er sein Inneres mit den Substanzen, die ihm eigen sind, nährt, dann siegt die Seele über die Materie und versucht, sich von ihr loszulösen. Wenn ihre Trennung unter der Form geschieht, die wir den Tod nennen, dann bleibt der Engel, der mächtig genug ist, sich von seiner Hülle zu befreien, bestehen und beginnt sein wahres Leben. Die unendlich vielen Besonderheiten, die die Menschen voneinander unterscheiden, lassen sich nicht anders erklären, als durch diese Doppelexistenz: sie machen sie verständlich und beweisen sie. Tatsächlich sollte uns der Unterschied, der zwischen einem Menschen besteht, dessen unlebendiger Geist ihn zu einer offenbaren geistigen Stumpfheit verdammt, und demjenigen, dessen innere Sehergabe ihn mit irgend einer Kraft ausgestattet hat, annehmen lassen, daß zwischen dem Geist und dem gewöhnlichen Sterblichen derselbe Unterschied bestehe wie zwischen dem Blinden und dem Sehenden. Dieser Gedanke, der die Schöpfung unendlich erweitert, gibt in gewissem Sinne den Schlüssel zum Himmel. Die Geschöpfe, die hier unten augenscheinlich untereinander vermischt sind, sind dort oben nach der Vollkommenheit ihres »Inneren Wesens« in getrennte Sphären eingeteilt, deren Gebräuche und Sprachen einander fremd sind. Wenn ein Bewohner der niederen Regionen in einen höheren Kreis kommt, ohne dessen würdig zu sein, so versteht er in der unsichtbaren Welt (genau wie in der sichtbaren) nicht nur dessen Gewohnheiten und Reden nicht, sondern seine Gegenwart lähmt dort die Stimmen und die Herzen. In seiner Göttlichen Komödie mag Dante wohl eine leise Ahnung von diesen Sphären gehabt haben, die in der Welt der Schmerzen beginnen und sich durch eine kreisförmige Bewegung bis in die Himmel erheben. Die Lehre Swedenborgs wäre also das Werk eines hellsehenden Geistes, der die unzähligen Erscheinungen aufgezeichnet hat, durch die die Engel sich inmitten der Menschen offenbaren.
Diese Lehre, die ich heute zusammenzufassen suche, indem ich ihr einen logischen Sinn gebe, wurde mir von Lambert mit allem Verführerischen des Mysteriums dargebracht, eingehüllt in die Wendungen jener besonderen Sprache, wie sie den Mystikern eigen ist; dunkle Worte voller Abstraktion, die so auf das Gehirn wirken wie gewisse Bücher von Jakob Böhme, Swedenborg oder Madame Guyon, deren Lektüre Phantasiebilder heraufbeschwört, so vielgestaltig wie Opiumträume. Lambert erzählte mir so merkwürdige mystische Dinge, er wirkte daher so stark auf meine Phantasie, daß mir schwindelte. Doch ich versank gern in diese geheimnisvolle Welt, die den Sinnen unsichtbar ist, in der aber jeder gern lebt, sei es, daß er sie sich unter der unendlichen Form des zukünftigen Lebens vorstellt, sei es, daß er sie in die unbestimmten Formen des Märchens hüllt. Diese heftigen Erregungen der Seele belehrten mich, unbewußt, über ihre Kraft und gewöhnten mich an die Arbeit des Denkens.
Lambert selbst erklärte alles durch sein System von den Engeln. Für ihn war die reine Liebe, die Liebe, wie man sie in der Jugend träumt, eine Verbindung zweier engelhafter Naturen. Und nichts kam dem heißen Verlangen gleich, mit dem er sich die Begegnung mit einem weiblichen Engel ersehnte. Ach, wer sollte mehr als er Liebe einflößen und empfinden? Wenn etwas an ihm die Vorstellung von einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit geben konnte, war es dann nicht das liebenswürdige und gütige Wesen, das in seinen Gefühlen, seinen Worten, seinen Handlungen und den geringsten seiner Bewegungen zum Ausdruck kam, in der ganzen Gemeinschaft, die uns miteinander verband und die wir dadurch zum Ausdruck brachten, daß wir uns »Gefährten« nannten? Es gab keinen Unterschied zwischen seinen und meinen Dingen. Wir ahmten gegenseitig unsere Handschriften nach, damit einer die Arbeiten für beide machen konnte. Mußte einer von uns erst ein Buch zu Ende lesen, weil er es dem Mathematiklehrer zurückzugeben hatte, so konnte er es ohne Unterbrechung lesen, denn dann machte eben der eine die Aufgaben und Strafarbeiten des anderen. Wir entledigten uns unserer Schularbeiten wie einer Steuer, die unserer Ruhe auferlegt war. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, so waren die Arbeiten bedeutend besser, wenn Lambert sie machte. Aber da wir beide für ausgemachte Dummköpfe galten, beurteilten die Lehrer unsere Arbeiten immer unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Vorurteils und legten sie sogar besonders, um unsere Schulkameraden damit zu amüsieren. Ich weiß noch, wie der Lehrer eines Nachmittags nach der Stunde, die von zwei bis vier Uhr gewesen war, eine Übersetzung von Lambert zur Hand nahm. Der Text begann: »Gaius Gracchus, vir nobilis«. Louis hatte die Worte übersetzt: »Gajus Gracchus hatte ein edles Herz.«
»Wo lesen Sie »Herz« in nobilis?« fragte der Lehrer streng.
Und alle lachten, während Lambert den Lehrer ganz dumm ansah.
»Was würde die Frau Baronin von Staël sagen, wenn sie hörte, daß Sie das Wort, das »edles Geschlecht, vornehme Herkunft« bedeutet, ganz verkehrt übersetzt haben?«
»Sie wird sagen, daß Sie ein Dummkopf sind!« entfuhr es mir leise.
»Herr Dichter, Sie werden acht Tage in den Karzer wandern!« erwiderte der Professor, der mich unglückseligerweise gehört hatte.
Lambert wiederholte leise, indem er mir einen Blick unaussprechlicher Zärtlichkeit zuwarf, »vir nobilis!«
Madame de Staël war zum Teil die Ursache zu Lamberts Unglück. Bei jeder Gelegenheit warfen ihm Lehrer und Schüler diesen Namen an den Kopf sowohl als Spott wie als Vorwurf. – Louis versäumte nichts, um sich auch in den Karzer setzen zu lassen, damit er mir Gesellschaft leisten konnte. Dort waren wir ungestörter als anderswo und konnten den ganzen Tag miteinander sprechen, in der Stille des Schlafsaals, in dem jeder Schüler eine Nische von sechs Fuß im Geviert besaß, deren Wände oben Eisenstangen hatten und deren durchsichtige Türen vor den Augen des Saalaufsehers, der unser Aufstehen und Zubettgehen zu überwachen hatte, jeden Abend geschlossen und jeden Morgen wieder geöffnet wurden. Das Knarren dieser Tür, die mit eigentümlicher Behendigkeit von den Bediensteten des Schlafsaals auf und zu gemacht wurde, gehörte mit zu den Merkwürdigkeiten unserer Anstalt. So waren die Gefängnisse gebaut, in denen wir oft ganze Monate bleiben mußten. Die eingesperrten Schüler unterstanden dem strengen Auge des Präfekten, einer Art Inspektor, der zu bestimmten Stunden oder auch unvorbereitet leise hereinkam, um zu sehen, ob wir schwatzten anstatt unsere Strafarbeiten zu machen. Aber die auf den Treppen ausgestreuten Nußschalen oder unser feines Gehör ließen uns fast immer sein Kommen vorhermerken, sodaß wir uns in aller Ruhe unsern Lieblingsstudien hingeben konnten. Da uns jedoch die Lektüre untersagt war, so waren die Stunden im Karzer gewöhnlich den metaphysischen Gesprächen gewidmet oder dem Bericht irgend welcher Ereignisse, die auf die Phänomene des Denkens Bezug hatten.
Eines der merkwürdigsten Geschehnisse ist sicherlich dasjenige, das ich jetzt erzählen will, nicht allein, weil es Lambert betrifft, sondern auch, weil es vielleicht sein wissenschaftliches Schicksal bestimmt hat. – Nach den Satzungen des Instituts waren der Sonntag und der Donnerstag unsere freien Tage; aber der Gottesdienst, dem wir ganz pünktlich beiwohnen mußten, nahm den Sonntag derart in Anspruch, daß wir nur den Donnerstag als einzigen Feiertag ansahen. Nachdem wir die Messe gehört hatten, hatten wir Muße genug, lange durch die Felder in der Umgebung von Vendôme umherzustreifen. Die Burg von Rochambeau war das beliebteste Ziel unserer Ausflüge, vielleicht weil sie so weit entfernt lag. Die Kleinen machten selten einen so ermüdenden Weg, trotzdem schlug ihnen der Lehrer ein- oder zweimal im Jahr den Ausflug nach Rochambeau als besondere Belohnung vor. Im Jahre 1812, gegen Ende des Frühjahrs, sollten wir zum ersten Mal dort hingehen. Der Wunsch, das berühmte Schloß zu sehen, dessen Besitzer den Schülern zuweilen Milchspeisen gab, machte uns alle folgsam. Nichts lag also der Landpartie im Wege. Weder Lambert noch ich kannten das schöne Loirtal, in welchem die Besitzung lag. So war denn seine Phantasie wie die meine am Vorabend sehr stark mit diesem Spaziergang beschäftigt, der in der Schule eine althergebrachte Freude verursachte. Wir sprachen den ganzen Abend davon, daß wir das Geld, welches wir – entgegen den Satzungen der Anstalt – besaßen, für Obst oder Milch ausgeben wollten. Am nächsten Tag um eineinhalb Uhr, nach dem Essen, gingen wir fort, mit einem Stück Brot versehen, das man uns im voraus als Vesper mitgegeben hatte. Munter, wie Schwalben, zogen wir gruppenweise dem berühmten Schlosse zu, mit einem Eifer, der uns zu Anfang die Ermüdung nicht spüren ließ. Als wir auf dem Hügel angekommen waren, von dem aus wir sowohl das Schloß sehen konnten, das auf halber Höhe lag, wie auch das gewundene Tal, in dem ein Fluß glitzerte, der sich durch anmutige Wiesen schlängelte – eine jener entzückenden Landschaften, denen die Empfindungskraft der Jugend oder der Liebe einen so großen Zauber verleiht, daß man sie später nie wiedersehen sollte – da sagte Louis Lambert zu mir: »das habe ich ja heute Nacht im Traum gesehen!« Er erkannte sowohl die Baumgruppe wieder, unter der wir standen, wie auch die Art der Blätter, die Farbe des Wassers, die Türmchen des Schlosses, die Bodenbeschaffenheit, die Ausblicke, kurz, alle Einzelheiten der Gegend, die er zum ersten Male sah. Wir waren alle beide Kinder; ich wenigstens mit meinen dreizehn Jahren; denn Louis konnte mit seinen fünfzehn zuweilen schon die Tiefe eines genialen Mannes besitzen. Doch beide waren wir damals nicht fähig, auch nur in den geringsten Einzelheiten unserer Freundschaft zu lügen. Wenn übrigens Lambert durch die überragende Kraft seines Denkens auch die Bedeutung von Tatsachen empfand, so war er doch anfangs weit davon entfernt, ihre ganze Tragweite zu ahnen. So war er denn über dieses Phänomen zuerst auch erstaunt. Ich fragte ihn, oh er nicht in seiner Kindheit nach Rochambeau gekommen wäre; meine Frage bestürzte ihn, aber nachdem er sein Gedächtnis geprüft hatte, antwortete er mir verneinend.
Dieses Ereignis, das sich im Schlaf vieler Menschen ähnlich zutragen mag, macht die Hauptbegabung Lamberts verständlich. Er konnte in der Tat ein ganzes System davon ableiten, indem er, wie es Cuvier auf einem anderen Gebiet tat, aus einem Gedankenbruchstück eine ganze Schöpfung rekonstruierte. In jenem Augenblick setzten wir uns beide unter eine alte abgebrochene Eiche. Nach ein paar Augenblicken des Nachdenkens sagte Lambert zu mir: »Wenn die Landschaft nicht zu mir gekommen ist, was absurd zu denken wäre, dann bin ich eben zu ihr gegangen. War ich also hier, während ich in meinem Alkoven schlief, setzt dann diese Tatsache nicht eine völlige Trennung meines Körpers von meinem inneren Wesen voraus? Bezeugt sie nicht irgend eine Bewegungsfähigkeit des Geistes oder Wirkungen, die den Bewegungen des Körpers entsprechen? Vermag sich also im Schlaf mein Geist von meinem Körper zu trennen, warum soll ich beide nicht ebenso gut im Wachen voneinander scheiden können? Ich sehe keine Zwischenglieder zwischen diesen beiden Behauptungen. Aber gehen wir weiter, dringen wir in die Einzelheiten tiefer ein. Entweder haben sich diese Dinge kraft einer Fähigkeit vollzogen, die ein zweites Wesen in Tätigkeit setzt, dem mein Körper als Hülle dient – denn ich war in meinem Alkoven und sah die Landschaft, und das stößt viele Systeme um – oder diese Dinge haben sich entweder in irgend einem Nervenzentrum zugetragen, in dem sich die Gefühle bewegen, und dessen Namen wir noch erst erfahren müssen, oder aber in dem Gehirnzentrum, in dem sich die Gedanken bewegen. Diese letzte Hypothese hat die merkwürdigsten Fragen im Gefolge. Ich bin gegangen, ich habe gesehen, ich habe gehört. Die Bewegung vollzieht sich nicht ohne Raum; der Ton reagiert nur in Winkeln oder auf Oberflächen und die Farbe existiert nur durch das Licht. Wenn ich des Nachts mit geschlossenen Augen farbige Gegenstände gesehen habe, wenn ich in der absoluten Stille Geräusche gehört habe, und dies alles, ohne die notwendigen Vorbedingungen für die Entstehung des Tones, wenn ich in vollkommenster Unbeweglichkeit den Raum durchmessen habe, dann besitzen wir innere Kräfte, die unabhängig sind von den äußeren physikalischen Gesetzen. Der Geist muß also die materielle Natur durchdringen können. Wie haben die Menschen bis heute so wenig über die Vorgänge des Schlafes nachdenken können, die ein Doppelleben im Menschen andeuten? Liegt in diesem Phänomen nicht eine neue Wissenschaft?« fügte er hinzu und schlug sich heftig gegen die Stirn. »Und wenn es nicht der Anfang einer Wissenschaft ist, so verrät es doch gewaltige Kräfte im Menschen; es offenbart zum mindesten die häufige Trennung unserer beiden Naturen, eine Tatsache, über die ich seit langem nachgedacht habe. So habe ich endlich einen Beweis für die Überlegenheit unserer verborgenen Sinne über unsere sichtbaren Sinne gefunden. Homo duplex! – Aber« – fuhr er nach einer Pause fort und machte dabei eine Bewegung des Zweifels, »vielleicht leben gar nicht zwei Naturen in uns? Vielleicht sind wir ganz einfach mit geheimen und vervollkommnungsfähigen Kräften begabt, deren Übung und Entwicklung noch bisher unbeobachtete Erscheinungen der Bewegung, der Durchdringung, des Schauens hervorbringen. In unserer Vorliebe zum Wunderbaren – einer Leidenschaft, die von unserm Stolz erzeugt wird – haben wir diese Wirkungen in Phantasiegebilde verwandelt, weil wir sie nicht verstanden haben. Es ist so bequem, dem Unbegreiflichen zu mißtrauen! Ich muß gestehen, ich würde den Verlust meiner Illusionen beweinen. Mir ist es ein Bedürfnis, an eine doppelte Natur und an die Engel von Swedenborg zu glauben! Diese neue Wissenschaft wird sie also töten? Ja, die Prüfung unserer unbekannten Fähigkeiten schließt eine anscheinend materialistische Wissenschaft in sich; denn ›der Geist‹ gebraucht, zerteilt, belebt die Substanz, aber er zerstört sie nicht.«
Er blieb nachdenklich, fast traurig. Vielleicht sah er seine Jugendträume vor sich wie Kinderschuhe, die er bald ausziehen mußte.
»Gesicht und Gehör«, sagte er und lächelte über seine Ausdrucksweise, »sind zweifellos die Hüllen eines wunderbaren Werkzeugs.«
Immer, wenn er mir von Himmel und Hölle sprach, pflegte er die Natur als Meisterin anzusehen; aber bei diesen letzten Worten, die voller Wissen waren, schwebte er noch kühner als sonst über der Landschaft und seine Stirn schien fast zerspringen zu wollen unter der Macht des Genies: seine Kräfte, die man bis zu einer neuen Sprachordnung »geistige« Kräfte nennen muß, schienen aus den Organen herauszuquellen, die dazu bestimmt waren, sie hervorzubringen. Seine Augen schleuderten den Gedanken hervor, seine erhobenen Hände, seine stummen und zitternden Lippen waren beredt; sein brennender Blick leuchtete; sein Kopf endlich, zu schwer oder zu müde von allzu heftiger Erregung, fiel ihm auf die Brust. Dieses Kind, dieser Riese, beugte sich herab, nahm meine Hand, preßte sie in der seinen, die feucht war, so fieberte er in der Suche nach der Wahrheit. Dann sagte er nach einer Pause: »ich werde berühmt werden. – Aber du auch«, fügte er lebhaft hinzu. »Wir werden beide die Chemiker des Willens sein.«
Edles Herz! Ich erkannte seine Überlegenheit an, er aber hütete sich, mich sie je fühlen zu lassen. Er teilte die Schätze seines Denkens mit mir, maß auch mir innerhalb seiner Entdeckungen eine Bedeutung bei und überließ mir meine unbedeutenden Gedanken. Er war, wie eine liebende Frau, stets freundlich und besaß die ganze Zurückhaltung des Gefühls und die ganze Zartheit der Seele, die das Leben so schön und so angenehm machen.
Schon am nächsten Tage begann er seine Arbeit, die er »Abhandlung über den Willen« benannte; seine Überlegungen änderten zwar oft Plan und Methode; aber das Erlebnis jenes feierlichen Tages hatte doch den Keim dazu gelegt, wie der elektrische Strom, den Meßmer stets bei der Annäherung eines seiner Diener empfand, der Ursprung für seine Entdeckungen auf dem Gebiete des Magnetismus wurde, einer Wissenschaft, die einstmals in den Tiefen der Mysterien der Isis, von Delphi, in der Höhle des Trophonius verborgen gewesen war und nun von diesem genialen Menschen in nächster Nähe von Lavater, dem Vorgänger Galls, wieder aufgefunden wurde. Lamberts Ideen nahmen, durch dieses plötzliche Licht erleuchtet, größere Dimensionen an; er erkannte in diesen Errungenschaften weit auseinanderliegende Wahrheiten, die er miteinander verband; dann schmolz er alles wie ein Gießer zusammen. Nach sechs Monaten andauernden Fleißes erregten die Arbeiten Lamberts die Neugier unserer Mitschüler und waren der Gegenstand grausamen Spottes, der einen unheilvollen Ausgang nehmen sollte. Eines Tages nämlich wurde einer der Quälgeister durch einen unserer Verfolger, der durchaus unsere Manuskripte sehen wollte, aufgewiegelt und bemächtigte sich gewaltsam eines Kastens, in dem der Schatz lag, den Lambert und ich mit unerhörtem Mut verteidigten. Der Kasten war verschlossen und es war unsern Angreifern unmöglich, ihn zu öffnen; da versuchten sie, ihn in dem Kampf zu zerbrechen, eine niedrige Gemeinheit, die uns lautes Schreien entlockte. Ein paar Kameraden, die von Gerechtigkeitssinn erfüllt waren oder denen unser heldenhafter Widerstand imponierte, rieten, uns in Ruhe zu lassen, und überschütteten uns mit einem geradezu beleidigenden Mitleid. Plötzlich fuhr Pater Haugoult, durch den Lärm des Kampfes angelockt, dazwischen und fragte nach dem Grund unseres Streites. – Unsere Gegner hatten uns von unsern Strafarbeiten abgehalten, der Aufseher mußte seine Sklaven schützen. – Zu ihrer Entschuldigung verrieten unsere Angreifer das Vorhandensein der Manuskripte. Der entsetzliche Haugoult befahl uns, ihm den Kasten auszuhändigen: wenn wir uns dem widersetzten, konnte er ihn aufbrechen lassen. Lambert gab ihm den Schlüssel, der Lehrer nahm die Papiere heraus, blätterte in ihnen und sagte dann, sie an sich nehmend: »Das sind also die Dummheiten, um deretwillen Sie Ihre Arbeiten vernachlässigen!« Aus Lamberts Augen rannen dicke Tränen, die ihm sowohl das Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit entlockt hatte wie auch die unverdiente Beleidigung und der Verrat, dem wir unterlegen waren. Wir warfen unsern Angebern einen vorwurfsvollen Blick zu: hatten sie uns nicht dem gemeinsamen Feind verkauft? Wenn sie uns schon nach Schülerart verhauen durften, hätten sie nicht über unser Vergehen Schweigen bewahren müssen? Sie schämten sich auch einen Augenblick lang über ihre Feigheit. – Pater Haugoult aber hat wahrscheinlich später die »Abhandlung über den Willen« an einen Krämer in Vendôme verkauft, ohne die Bedeutung des wissenschaftlichen Schatzes zu kennen, dessen unausgetragene Keime von unwissenden Händen zerstreut wurden. Sechs Monate später verließ ich die Anstalt. Ich weiß nicht, ob Lambert, den unsere Trennung in eine tiefe Melancholie versetzte, seine Arbeit wieder aufgenommen hat. In Erinnerung an das Schicksal, das Louis' Buch ereilte, habe ich in der Arbeit, mit der diese »Studien« beginnen, für ein fingiertes Werk den wahren von Lambert selbst erfundenen Titel gewählt und habe den Namen einer Frau, die er liebte, einem aufopferungsvollen jungen Mädchen gegeben. Aber dies ist nicht das einzige, was ich ihm entliehen habe: sein Charakter, seine Arbeiten waren mir bei diesem Werk, das ich der Erinnerung an unsere gemeinsamen jugendlichen Betrachtungen verdanke, von größtem Wert. Diese Erzählung soll ein bescheidener Gedenkstein sein, der von dem Leben dessen Kunde gibt, der mir sein ganzes Gut: seine Gedanken hinterlassen hat.
In dieser Kinderarbeit legte Lambert Mannesideen nieder. Zehn Jahre später, als ich ernsten Gelehrten begegnete, welche sich mit Phänomenen abgaben, wie sie uns damals beschäftigten, und wie sie Lambert so wunderbar analysierte, begriff ich erst die ganze Bedeutung seiner Arbeiten, die ich schon wie Kinderspiel vergessen hatte. Ich brauchte mehrere Monate, um mir die Hauptentdeckungen meines armen Freundes wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Jetzt, nachdem ich in meiner Erinnerung alles wieder zusammengestellt habe, kann ich bestätigen, daß er vom Jahre 1812 ab in seiner Abhandlung mehrere wichtige Fakta aufgestellt, erraten, erörtert hatte, die, wie er mir sagte, früher oder später bewiesen werden würden. Seine philosophischen Spekulationen hätten ihn gewiß in die Reihe der großen Denker gestellt, wie sie in verschiedenen Zeiträumen unter den Menschen erscheinen, um ihnen die nackten Anfänge irgend einer zukünftigen Wissenschaft zu enthüllen, deren Wurzeln langsam wachsen und eines Tages im Reiche des Geistes schöne Früchte tragen werden. So hatte einst ein armer Handwerker, Bernard, der die Erde durchwühlte, um das Geheimnis der Metallfarben zu finden, im sechzehnten Jahrhundert mit der unfehlbaren Autorität des Genies geologische Tatsachen behauptet, deren Darlegung heute den Ruhm eines Buffon und eines Cuvier ausmachen. Ich glaube eine Vorstellung von Lamberts »Abhandlung« geben zu können, wenn ich in der Hauptsache die Grundzüge derselben darlege. Aber ich entkleide sie dabei unwillkürlich der Gedanken, in die er sie hüllte und die ihnen unentbehrlich sind. Denn da ich einen anderen Weg ging als er, griff ich von seinen Forschungen nur das auf, was zu meinem System am besten paßte. Ich weiß daher nicht, ob ich, sein Schüler, seine Gedanken treu wiedergeben kann, nachdem ich sie mir in der Weise angeeignet habe, daß ich ihnen die Farbe der meinen gab.
Für neue Ideen braucht man entweder ganz neue Worte oder erweiterte, umfassendere, besser definierte Anwendungen der alten; Lambert nun hatte, um die Grundbegriffe seines Systems darzulegen, allgemein bekannte Worte gewählt, die ungefähr seinen Gedanken entsprachen. Das Wort »Willen« bedeutet das »Milieu«, in welchem sich der »Gedanke« entwickelt, oder, weniger abstrakt ausgedrückt: die Summe von Kräften, durch die der Mensch die Handlungen, aus denen sein äußeres Leben besteht, außerhalb seiner hervorbringen kann. Das »Wollen,« ein Wort, das wir den Reflexionen Lockes verdanken, drückt den Akt aus, durch den der Mensch seinen »Willen« anwendet. Das Wort »Denken«, für ihn das wesentliche Resultat des Willens, bezeichnet auch das Milieu, in dem die Ideen entstehen, denen der Wille als Substanz dient. Die »Idee«, ein Name, der allen Schöpfungen des Gehirns gemeinsam ist, begründet den Akt, durch den der Mensch sein Denken anwendet. So waren der Wille und das Denken die beiden zeugenden Mittel; das Wollen und die Idee die beiden Erzeugnisse. Das Wollen schien ihm die Idee zu sein, die aus ihrem abstrakten Zustand in den konkreten übergeht, von einem flüssigen zu einem nahezu festen, wenn diese Worte überhaupt so schwer zu verstehende Gedanken wiedergeben können. Nach seiner Auffassung sind das Denken und die Ideen Bewegungen und Auswirkungen unseres inneren Organismus, wie das Wollen und der Wille die des äußeren Lebens sind. Er hatte den Willen vor das Denken gesetzt. – »Um zu denken, muß man wollen«, sagte er. »Viele Wesen leben in einem Zustand des Willens, ohne jedoch in den des Denkens zu gelangen. Im Norden finden wir eine lange Lebensdauer, im Süden ein kurze; dagegen ist im Norden Stumpfheit, im Süden eine dauernde Angespanntheit des Willens; bis zu dem Punkt, wo durch allzu große Kälte oder allzu große Hitze die Organe fast vernichtet sind!« Sein Wort »Milieu« war ihm durch eine Beobachtung gekommen, die er in seiner Kindheit gemacht hatte, deren Bedeutung er damals wohl kaum ahnte, deren Merkwürdigkeit seiner so leicht beeindruckbaren Phantasie aber aufgefallen sein mußte. Seine Mutter, eine schmächtige und nervöse Frau, ganz zart und liebevoll, war eines von jenen Geschöpfen, die dazu bestimmt sind, die Frau in ihrer höchsten Vollendung darzustellen, die aber das Schicksal aus Irrtum auf eine tiefe soziale Stufe verpflanzt hat. Sie war ganz Liebe und daher ganz Leid und starb jung, nachdem sie all ihre Fähigkeiten in der Mutterliebe hatte aufgehen lassen. Lambert, der als Kind von sechs Jahren in einer großen Wiege neben dem Bett der Mutter gelegen hatte, aber nicht immer schlafen konnte, hatte gesehen, wie elektrische Funken aus dem Haar der Mutter sprangen, wenn diese sich kämmte. Mit fünfzehn Jahren benutzte er diese Tatsache, die dem Kind ein Spiel gewesen war, für die Wissenschaft, eine unwiderlegbare Tatsache, für die all die Frauen zahllose Beweise liefern, die durch eine Tücke des Schicksals verkannte Gefühle auf diese Weise leidenschaftlich auswirken oder sonst einen Überschuß an Kraft verlieren.
Um diese Erklärung zu stützen, warf Lambert noch mehrere Probleme auf, schöne Aufgaben, die er der Wissenschaft stellte und deren Lösungen er zu suchen sich vornahm, wobei er sich selbst fragte: »Sollte das grundlegende Prinzip der Elektrizität nicht die Basis für das besondere Fluidum sein, von dem unsere Ideen und unser Wollen ausgehen? Sollte das Haar, das sich entfärbt, weiß wird und ausfällt, je nach den verschiedenen Graden der Verminderung oder Kristallisation der Gedanken, nicht ein System der Kapillarität bekunden, das – sei es aufzehrend oder auswirkend – auf Elektrizität beruht? Sind die fluiden Phänomene unseres Willens, eine in uns erzeugte und nach noch unbeobachteten Bedingungen spontan wirkende Substanz, etwas Ungewöhnlicheres als jenes Phänomen des unsichtbaren, ungreifbaren Fluidums, das entsteht, wenn die Voltasche Säule auf das Nervensystem eines Verstorbenen wirkt? Ist die Bildung unserer Ideen und ihre dauernde Auswirkung weniger unverständlich, als es die Ausdünstungen unsichtbarer und in ihrer Wirkung doch so mächtiger Atome sind, wie zum Beispiel bei einer Moschuskugel, die dabei jedoch nicht an Gewicht verliert? Wenn wir dem System der Haut, die uns umgibt, eine schützende, aufsaugende, ausscheidende und tastende Aufgabe zuschreiben, entspricht dann die Blutzirkulation und ihr ganzer Organismus nicht der Transsubstantiation unseres Willens, wie die Zirkulation des Nervenfluidums derjenigen des Denkens entspricht? Und geht endlich das mehr oder weniger lebendige Zuströmen dieser beiden realen Substanzen nicht aus einer gewissen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Organe hervor, deren Bedingungen nach allen Richtungen hin studiert werden müßten?«
Nach diesen einmal aufgestellten Grundsätzen wollte er die Phänomene des menschlichen Lebens in zwei voneinander verschiedene Wirkungsreihen einteilen und forderte für jede von ihnen mit der ganzen Eindringlichkeit des Überzeugten eine besondere Analyse. Nachdem er in der Tat bei fast allem Geschaffenen zwei getrennte Bewegungen beobachtet hatte, wandte er diese Beobachtung auf unsere Natur an und nannte diesen Lebensantagonismus: Wirkung und Gegenwirkung. »Ein Wunsch«, so sagte er, »ist eine in unserem Willen vollzogene Handlung, noch ehe sie äußerlich vollzogen ist.« So stellt auch die Gesamtheit unseres Wollens und unserer Ideen die Wirkung, die Gesamtheit unserer äußeren Handlungen die Gegenwirkung dar. Als ich später die Beobachtungen las, die Bichat über den Dualismus unserer äußeren Sinne machte, war ich wie betäubt, denn ich erkannte eine augenfällige Gleichheit zwischen den Ideen dieses berühmten Physiologen und denen Lamberts. Beide, die vor der Zeit gestorben waren, waren gleichen Schrittes ich weiß nicht welchen Wahrheiten entgegengegangen. Der Natur hat es gefallen, den verschiedenen wesentlichen Organen ihrer Geschöpfe eine doppelte Bestimmung zu geben; und die doppelte Wirkung unseres Organismus, die eine nicht mehr zu bestreitende Tatsache ist, stützt durch eine Anhäufung von Beweisen, die täglich erbracht werden können, die Deduktionen Lamberts, die sich auf Wirkung und Gegenwirkung beziehen. Das »wirkende« oder »innere Wesen« – eine Bezeichnung, die er der unbekannten »species« gab, dem geheimnisvollen Ganzen von Fasern, auf die die verschiedenen noch unvollkommen beobachteten Kräfte des Denkens und des Willens zurückzuführen sind – dieses unbekannte Wesen also, das sieht, handelt, zu Ende führt und vollbringt noch vor jeder körperlichen Darstellung, darf, um sich seiner Natur anzupassen, keiner der physischen Bedingungen unterworfen sein, durch die der »gegenwirkende« oder »äußere«, der sichtbare Mensch in seinen Äußerungen gehemmt wird. Von hier leiteten sich eine Menge logischer Erklärungen über die äußerst merkwürdigen Wirkungen unserer doppelten Natur her, sowie die Berichtigung verschiedener Systeme, die zugleich wahr und falsch sind. Einige Männer, die ein paar Phänomene des natürlichen Spiels des »wirkenden Wesens« geschaut haben, waren, wie Swedenborg, durch eine glühende Seele, die die Poesie liebte und vom göttlichen Prinzip trunken war, über die wirkliche Welt hinausgehoben worden. Alle vergöttlichten also in ihrer Unkenntnis der Ursachen, in ihrer Bewunderung der Tatsachen, diesen geheimen Apparat und errichteten eine mystische Welt. Daher stammen die Engel, diese entzückenden Illusionen, auf die Lambert nicht verzichten wollte, die er noch in dem Augenblick liebte, da das Messer seiner Analyse ihnen die glänzenden Flügel beschnitt.
»Der Himmel«, sagte er zu mir, »ist nach alledem das ›Überleben‹ unserer vervollkommneten Fähigkeiten, die Hölle ist das Nichts, in das die unvollkommenen Fähigkeiten zurückfallen.«
Wie konnte man sich aber auch in Jahrhunderten, in denen der Verstand die religiösen und spiritualistischen Vorstellungen beibehalten hatte, wie sie in der Zeit zwischen Christus und Descartes, zwischen Glauben und Zweifel geherrscht haben, dagegen wehren, die Geheimnisse unserer inneren Natur anders zu erklären als durch ein göttliches Dazwischentreten?
Von wem anders, als von Gott selbst konnten die Gelehrten Rechenschaft fordern über ein unsichtbares Wesen, das so spürbar in Wirkung und Gegenwirkung ist und ausgestattet mit so weitgehenden, durch Übung so vervollkommnungsfähigen oder unter der Herrschaft gewisser okkulter Vorbedingungen so mächtiger Eigenschaften, und von dem sie sahen, wie es bald durch das Phänomen der Vision oder der Ortsveränderungsfähigkeit den Raum in den beiden Modi von Zeit und Entfernung, deren eine der geistige, deren andere der physische Raum ist, aufhob, wie es bald die Vergangenheit wieder aufrichtete, sei es durch die Macht rückwärtigen Schauens, sei es durch das Geheimnis der Wiedergeburt, die der Gabe gleicht, die ein Mensch besitzt, der in den Linien, Umhüllungen und Umrissen eines Samenkornes dessen frühere Blüten in den unzähligen Verschiedenheiten ihrer Farben, ihres Duftes und ihrer Formen wiedererkennt; und wie es schließlich die Zukunft ungefähr vorausahnt, sei es durch die Wahrnehmung der primären Ursachen, sei es durch das Phänomen physischen Vorgefühls.
Andere Männer, die weniger phantasievoll religiös als vielmehr kalt und vernünftig sind, Scharlatane, Enthusiasten, nicht des Herzens sondern des Gehirns, und die einige dieser aus dem Zusammenhang gelösten Phänomene anerkennen, hielten sie für wahr, ohne dieselben als Ausstrahlungen eines gemeinsamen Mittelpunktes anzusehen. Jeder von ihnen wollte eine einfache Tatsache in eine Wissenschaft verwandeln. Hieraus entstanden die Dämonologie, die Astrologie, die Zauberei, mit einem Wort die ganzen Wahrsagereien, die im wesentlichen auf vergänglichen Zufällen beruhen; denn sie wechseln je nach den Temperamenten und den noch vollständig unbekannten Umständen. Aber aus diesen Irrtümern der Wissenschaft und aus den Kirchenprozessen, denen so viele Märtyrer ihrer eigenen Fähigkeiten unterliegen, gehen auch wieder schlagende Beweise hervor für die wunderbare Macht, über die das »wirkende Wesen« verfügt, das, nach Lambert, sich völlig vom »gegenwirkenden Wesen« trennen kann, indem es die Hülle sprengt und die Mauern vor dem allmächtigen Blick niederreißt. Ein Phänomen, das, nach Aussagen der Missionare, die Hindus »Tokeiade« nannten. Dann besitzt dieses Wesen noch eine andere Fähigkeit, nämlich die: im Gehirn, trotz dessen dicksten Umhüllungen, die Ideen, die sich dort gebildet haben, oder sich dort bilden, sowie das ganze vergangene Bewußtsein zu erfassen.
»Wenn Erscheinungen nicht unmöglich sind«, sagte Lambert, »dann müssen sie auf der Gabe beruhen, die Ideen zu schauen, die den Menschen in seiner reinen Wesenheit darstellen und dessen vielleicht unvergängliches Leben unsern äußeren Sinnen entgeht, aber dem inneren Wesen vielleicht bemerkbar wird, wenn dieses auf eine hohe Stufe der Ekstase oder zu einer großen Vollkommenheit des Schauens gelangt.« Ich weiß, wenn auch heute nur ungenau, daß Lambert, nachdem er Schritt für Schritt den Wirkungen des Denkens und des Willens in all ihren Arten nachgegangen war und ihre Gesetze aufgestellt hatte, eine Menge von Phänomenen erklärte, die ihm bis dahin mit vollem Recht als unverständlich erschienen waren. Auf diese Weise waren Zauberer, Besessene, Menschen mit der Gabe des zweiten Gesichts und die Dämonischen aller Art – diese Opfer des Mittelalters – der Gegenstand so natürlicher Erklärungen geworden, daß oft ihre Einfachheit für mich der Stempel der Wahrheit zu sein schien. Die wunderbaren Gaben, die die römisch-katholische Kirche, die auf alle Mysterien eifersüchtig war, mit dem Scheiterhaufen bestrafte, waren nach Louis das Resultat gewisser Verwandtschaften zwischen den Grundelementen der Materie und denen des Gedankens, die beide aus der gleichen Quelle stammen. Der Mensch mit der Wünschelrute in der Hand gehorcht, wenn er Quellen findet, irgend einer Sympathie oder Antipathie, die ihm selbst unbekannt ist. Diese Art Wirkungen mußten schon sehr merkwürdiger Natur sein, sollte ihnen eine historische Bedeutung gegeben werden. Sympathien sind überhaupt selten festgelegt worden. Leute, die so glücklich sind, diese Gabe zu besitzen, sprechen nicht gern öffentlich davon, nur im kleinen Kreise, wo dann alles schnell vergessen wird. Aber die Antipathien, die aus einer Nicht-Verwandtschaft herrühren, sind zum Glück festgehalten worden, wenn sie bei berühmten Menschen anzutreffen waren. So weiß man, daß Bayle Krämpfe bekam, wenn er Wasser sprudeln hörte, daß Skaliger blaß wurde, wenn er Kresse sah, und daß Erasmus Fieber bekam, wenn er Fisch roch. Diese drei Antipathien rühren von den Substanzen des Wassers her. Der Herzog von Epernon wurde beim Anblick eines Hasen ohnmächtig, Tycho de Brahe, wenn er einen Fuchs, Heinrich III., wenn er eine Katze, der Marschall von Albert wenn er ein Wildschwein sah: alles Antipathien, die durch die Ausdünstungen von Tieren hervorgerufen und schon in großen Entfernungen gespürt wurden. Dem Chevalier de Guise, Maria von Medici und mehreren anderen Personen wurde beim Anblick einer Rose, sogar einer gemalten, übel. Ob der Kanzler Bacon von einer Mondfinsternis vorher Kenntnis hatte oder nicht, er bekam einen Schwächeanfall, sobald sie eintrat. Und sein Leben, das während der Dauer dieses Phänomens wie aufgehört hatte, setzte sofort nachher wieder ein, ohne das geringste Gefühl von Unbehagen zurückzulassen. Diese Dokumente authentischer Antipathien, die aus all denen herausgegriffen wurden, die die Laune der Geschichte berühmt gemacht hat, mögen genügen, um die Wirkungen der unbekannten Sympathie zu verstehen. Diese Bruchstücke der Forschung, deren ich mich unter all den Beweisführungen Lamberts noch entsinne, geben einen Begriff von der Methode, nach der er in seinen Werken vorging. Ich glaube nicht noch auf den Zusammenhang hinweisen zu müssen, der zwischen dieser Theorie und den gleichartigen Wissenschaften besteht, die von Gall und Lavater begründet wurden. Sie waren ihre notwendigen Folgen und jeder einigermaßen wissenschaftlich gebildete Geist wird die Stellen erkennen, wo sich notwendigerweise die phrenologischen Beobachtungen des einen und die physiognomischen Dokumente des anderen abzweigen. Die wichtigen, aber bisher wenig geschätzten Entdeckungen Meßmers sind schon ganz und gar in einem einzigen Abschnitt dieser Abhandlung enthalten, obgleich Louis die im übrigen kurzgefaßten Werke des berühmten Schweizer Arztes nicht kannte. Eine logische und einfache Deduktion dieser Grundsätze ließ ihn erkennen, daß der Wille sich durch eine zusammenziehende Bewegung des inneren Wesens konzentrieren, sich dann durch eine andere Bewegung nach außen projizieren und sogar auf materielle Objekte übertragen lassen konnte. Danach mußte der Mensch die Fähigkeit haben, auf die anderen zu wirken und sie mit einer ihnen fremden Essenz zu durchdringen, sobald sie sich gegen diesen Angriff nicht wehrten. Die Beweise dieser Theoreme der Wissenschaft vom Menschen sind naturgemäß zahlreich; aber nichts kann sie authentisch begründen. Es war schon das gewaltige Unglück eines Marius notwendig und seine Rede an einen der Cimbern, der beauftragt war, ihn zu töten, oder der gewaltige Befehl einer Mutter an den Löwen von Florenz, um durch die Geschichte einige dieser gewaltigen Äußerungen des Denkens kennen zu lernen. Für ihn waren also Willen und Denken lebendige Kräfte; und er sprach so davon, daß man seinen Glauben teilen mußte. Für ihn war das Denken langsam oder schnell, schwer oder leicht, hell oder dunkel; er schrieb ihm alle Eigenschaften handelnder Wesen zu, ließ es aufspringen, sich aufrichten, aufwachen, wachsen, alt werden, sich zusammenziehen, absterben, sich wieder beleben. Er belauschte sein Leben, benannte alle seine Äußerungen mit den bizarren Ausdrücken unserer Sprache; er stellte seine Schnelligkeit und seine Kraft, kurz, alle Eigenschaften mit einer Art Intuition fest, mittelst der er alle Phänomene dieser Substanz erkennen konnte.
»Oft, inmitten von Ruhe und Stille«, so sagte er zu mir, »wenn unsere inneren Kräfte schlafen, wenn wir uns dem Genuß der Ruhe hingeben und sich eine Art Dunkel in uns ausbreitet und wir uns die äußeren Dinge anschauen, dann steigt eine Idee auf, geht blitzschnell durch den unendlichen Raum, den wir durch unser inneres Gesicht wahrnehmen können. Diese leuchtende Idee taucht wie ein Irrlicht auf und verlischt ohne Wiederkehr: vergängliches Dasein, jenen Kindern gleich, die den Eltern eine grenzenlose Freude und einen grenzenlosen Schmerz bereiten; eine Art totgeborene Blüte in den Feldern des Denkens. Zuweilen aber beginnt die Idee, anstatt gewaltsam emporzuschießen und ohne Bestand zu sterben, langsam zu keimen, schwebt in den unbekannten Regionen der Organe, wo sie empfangen wird. Sie braucht unsere Kräfte durch eine lange Schwangerschaft auf, entfaltet sich, wächst, wird fruchtbar und wirkt nach außen durch die Anmut der Jugend und ist mit allen Attributen eines langen Lebens ausgestattet. Neugierige Blicke richten sich auf sie, sie zieht sie an und ermüdet sie nie: die Prüfung, zu der sie herausfordert, hat eine Bewunderung zur Folge, wie sie ausgearbeitete Werke hervorrufen. Bald entstehen die Ideen in Schwärmen, eine zieht die andere nach sich, sie verketten sich ineinander, sind herausfordernd, übersprudelnd, wie toll! Bald erheben sie sich: blaß, verwirrt und vergehen, weil ihnen die Kraft oder die Nahrung, kurz, die zeugende Substanz fehlt. An bestimmten Tagen stürzen sie sich in die Abgründe, um die unermeßlichen Tiefen zu erhellen; sie erschrecken uns und ermatten unsere Seele. Die Ideen sind ein vollständiges System in uns, wie eines der Naturreiche, eine Art Blüte, die einst ein Genie beschreiben wird, das man dann vielleicht für verrückt hält. Ja, alles in uns und außer uns bezeugt das Leben dieser bezaubernden Geschöpfe, die ich mit Blumen vergleichen möchte, wobei ich einer Offenbarung der Natur gehorche. Daß ihre Entstehung der Zweck des Menschen sei, ist übrigens nicht erstaunlicher, als es Duft und Farbe der Pflanze sind. Vielleicht sind Düfte Ideen. Wenn man bedenkt, daß an der Stelle, wo unser Fleisch aufhört und der Nagel beginnt, das unerklärliche und unsichtbare Geheimnis der dauernden Umwandlung unserer weichen Säfte in Horn liegt, dann muß man erkennen, daß nichts unmöglich ist in den wunderbaren Verwandlungen der menschlichen Substanz. Aber begegnet man denn nicht in der geistigen Natur der Phänomene auch Bewegung und Schwere, wie in der körperlichen? Die »Erwartung«, um ein Beispiel zu wählen, das jeder deutlich verstehen kann, ist nur so schmerzhaft durch die Wirkung des Gesetzes, nach welchem die Schwere eines Körpers durch seine Schnelligkeit vervielfacht wird. Wächst die Schwere des Gefühls, die die Erwartung hervorbringt, nicht durch ein dauerndes Hinzuzählen der vergangenen Leiden zu dem gegenwärtigen Schmerz? Auf was sonst als auf eine elektrische Substanz kann man schließlich die Kraft zurückführen, mittelst der der Wille so gebieterisch in die Blicke dringt, um die Hindernisse auf Befehl des Genies niederzureißen, in der Stimme zum Ausdruck kommt oder, trotz aller Heuchelei, durch die menschliche Hülle hindurchdringt? Die Strömung dieses erhabenen Fluidums, das unter dem hohen Druck des Gedankens oder des Gefühls sich in Wogen verbreitet oder sich verringert und schwindet und sich dann aufsammelt, um in Blitzen vorzuschießen, ist das okkulte Werkzeug, dem sowohl die verhängnisvollen wie die wohltuenden Wirkungen von Kunst und Leidenschaft zuzuschreiben sind, ebenso der Ton der Stimme, die abwechselnd rauh ist oder sanft, furchtbar, wollüstig; schauerlich, verführerisch und je nach unserem Willen im Herzen, in den Eingeweiden oder im Gehirn vibriert; wie auch alle Zauber des Tastsinns, aus denen die inneren Verwandlungen so vieler Künstler herrühren, deren schöpferische Hände nach tausend leidenschaftlichen Studien die Natur heraufzubeschwören imstande sind, und wie schließlich die unendlichen Abstufungen des Auges, von seiner matten Lebensäußerung an bis zu dem Schleudern schreckenerregender Blitze. Bei diesem System verliert Gott nicht eines seiner Rechte. Der materielle Gedanke hat mir vielmehr erneut Großes von ihm enthüllt.«
Wenn ich ihn so sprechen hörte und wenn sein Blick wie ein Lichtstrahl in meine Seele fiel, dann war es schwer, nicht von seinen Überzeugungen geblendet, von seinen Überlegungen hingerissen zu sein. So erschien auch mir der Gedanke als eine durchaus physische Macht, begleitet von seinen unermeßlich zahlreichen Produkten. Er war eine neue Menschheit unter einer anderen Form. Diese einfache Darstellung der Gesetze, die Lambert für die Formel unseres Geistes hielt, muß genügen, um sich die wunderbare Aktivität vorzustellen, mit der seine Seele sich selbst aufzehrte. Lambert hatte nach Beweisen für seine Ideen in der Geschichte großer Männer gesucht, deren Leben, wie ihre Biographen es darstellen, merkwürdige Einzelheiten über die Wirksamkeit ihres Verstandes liefern. Sein Gedächtnis setzte ihn in den Stand, sich all dieser Tatsachen zu erinnern, sodaß sie dazu dienen konnten, seine Behauptungen zu illustrieren, und er hatte sie jedem Kapitel, dem sie als Beweis dienten, hinzugefügt, wodurch mehrere seiner Maximen eine fast mathematische Gewißheit erhielten. Die Werke des Cardanus, eines Mannes, der eine eigenartige Sehergabe besaß, lieferten ihm wertvolles Material. Er hatte weder Apollonius von Thyana vergessen, der in Asien den Tod des Tyrannen voraussagte, und dessen Todesstrafe in eben der Stunde schilderte, da dieser sie in Rom erlitt; noch Plotin, der, von Porphyrius getrennt, dessen Absicht sich zu töten fühlte und zu ihm eilte, um ihn davon abzuhalten; noch auch eine Tatsache, die im letzten Jahrhundert, angesichts der spöttischsten Ungläubigkeit, die es je gegeben hat, festgestellt wurde und die all die Menschen in Erstaunen setzte, die daran gewöhnt sind, den Zweifel als einzige Waffe zu führen, die jedoch für einige Gläubige ganz natürlich war: Alphonse-Maria de Liguori, Bischof von Sankt-Agathe, spendete dem Papst Gangenelli Trost, welcher ihn sah, hörte und ihm antwortete; und zur gleichen Zeit wurde der Bischof bei sich zu Hause – weit von Rom entfernt – in seinem Sessel, in dem er nach der Messe zu sitzen pflegte, in Ekstase gesehen. Als er wieder zu sich kam, sah er seine Diener vor sich knien, die ihn für tot hielten – »Freunde», sagte er zu ihnen, »der heilige Vater ist soeben verschieden.« Zwei Tage darauf bestätigte ein Kurier diese Nachricht. Die Todesstunde des Papstes fiel mit derjenigen zusammen, in der der Bischof wieder zu sich gekommen war. Lambert hatte auch das merkwürdige Abenteuer nicht vergessen, das noch kürzlich, erst im vergangenen Jahrhundert, einer jungen Engländerin zugestoßen war, die einen Seemann leidenschaftlich liebte, aus London abgereist war, um ihn aufzusuchen, und ihn allein, ohne Führer, in der Wüste Nordamerikas wiederfand, wohin sie gerade kam, um ihm das Leben zu retten. Außerdem hatte Louis auch die Mysterien des Altertums herangezogen, die Märtyrertaten, die der schönste Ruhm für den menschlichen Willen sind, die Dämonologien des Mittelalters, die Kriminalprozesse, die medizinischen Untersuchungen, indem er überall die wirkliche Tatsache, das wahrscheinliche Phänomen mit bewundernswertem Scharfblick erkannte. Diese reichhaltige Sammlung von wissenschaftlichen Anekdoten, die aus so vielen Büchern gesammelt und zum größten Teil durchaus glaubwürdig sind, wurde sicher zu Papiertüten verwendet; und die zum mindesten eigenartige Arbeit, die von dem außergewöhnlichsten menschlichen Gedächtnis geschaffen wurde, mußte verloren gehen. Unter allen Beweisen, die Lamberts Buch füllten, befand sich auch eine Geschichte, die in seiner Familie vorgekommen war und die er mir erzählte, noch ehe er seine Abhandlung schrieb. Dieses Ereignis, das sich auf die »Nachexistenz« des inneren Wesens bezog (wenn ich ein neues Wort prägen darf, um eine bisher unbenannte Wirkung wiederzugeben), berührte mich so tief, daß es mir im Gedächtnis geblieben ist. Louis' Eltern führten einen Prozeß, der ihre Redlichkeit, das einzige Gut, das sie auf der Welt besaßen, beflecken mußte, wenn sie ihn verloren. Die Aufregung war natürlich groß, als es sich um die Frage handelte: sollte man den ungerechten Angriffen des Klägers nachgeben oder sollte man sich gegen ihn verteidigen? Die Beratung fand eines Herbstabends am Torffeuer statt, in der Stube der Gerbersleute. Zu diesem Familienrat waren auch noch zwei oder drei Verwandte gerufen worden und Louis' Urgroßvater mütterlicherseits, ein alter gebrechlicher Bauer, der aber ein ehrfurchtgebietendes und majestätisches Gesicht hatte, klare Augen und einen mit der Zeit gelb gewordenen Schädel, auf dem noch ein paar spärliche Locken zu sehen waren. Gleich dem »Obi« der Neger und dem »Sagamore« der Wilden war er eine Art Orakel, das man bei wichtigen Gelegenheiten befragte. Seine Felder wurden von seinen Enkeln bebaut, die ihn ernährten und für ihn sorgten. Er prophezeite ihnen Regen und gutes Wetter und bezeichnete ihnen den Zeitpunkt, an dem sie die Felder mähen oder die Ernte einbringen sollten. Die Barometer-Genauigkeit seiner Worte war berühmt geworden und erhöhte das Vertrauen und die Verehrung, die man ihm entgegenbrachte. Er blieb ganze Tage unbeweglich in seinem Stuhl sitzen. Dieser Zustand von Ekstase war ihm seit dem Tode seiner Frau, die er tief und treu geliebt hatte, eigentümlich. Jene Unterredung also fand in seinem Beisein statt, ohne daß er besonders auf sie aufzumerken schien. Als er gebeten wurde, seine Ansicht zu äußern, erwiderte er: »Kinder, diese Angelegenheit ist zu ernst, um sie allein zu entscheiden; ich muß meine Frau um Rat fragen.« Der gute Mann stand auf, nahm seinen Stock und ging zum Erstaunen der Anwesenden, die ihn für kindisch geworden hielten, hinaus. Bald kam er wieder herein und sagte: »Ich brauchte nicht erst auf den Friedhof zu gehen, eure Mutter ist mir entgegengekommen; ich traf sie am Bache. Sie hat mir gesagt, daß ihr bei einem Notar in Blois Quittungen finden werdet, durch die ihr euren Prozeß gewinnt.« Diese Worte wurden mit fester Stimme gesprochen. Haltung und Aussehen des Alten bewiesen, daß diese Erscheinung nichts Außergewöhnliches für ihn war. Und tatsächlich fanden sich die besagten Quittungen und der Prozeß unterblieb.
Dieses Ereignis spielte sich im väterlichen Hause vor Louis' Augen ab, als er neun Jahre alt war, und trug viel dazu bei, daß er an die wunderbaren Gesichte Swedenborgs glaubte, der zu seinen Lebzeiten mehrere Beweise von der Macht der Visionen seines inneren Wesens gegeben hat. Je älter er wurde und je mehr sich seine Intelligenz entfaltete, desto mehr wurde Lambert dahin geführt, in den Gesetzen der menschlichen Natur die Ursachen des Wunderbaren zu suchen, das seine Aufmerksamkeit von Kindheit an beschäftigt hatte. Wie soll man den Zufall benennen, der ihm die Tatsachen und Bücher in die Hand gab, die sich auf diese Phänomene bezogen und die ihn selbst zum Schauplatz und zum Darsteller der größten Wunder des Gedankens machten? Wenn Louis kein anderes Verdienst hätte als dieses: mit fünfzehn Jahren den psychologischen Grundsatz aufgestellt zu haben: »Den Geschehnissen, die die Wirkungen der Menschheit bezeugen und die das Produkt ihrer Intelligenz sind, liegen Ursachen zugrunde, in denen sie vorempfunden sind, wie auch unsere Handlungen schon in unsern Gedanken vollzogen sind, noch ehe sie sich nach außen hin auswirken; Ahnungen und Prophezeiungen sind die Offenbarung jener Ursachen.« Schon allein dann müßte man, glaube ich, in ihm den Verlust eines Genies beklagen, das einem Pascal, einem Lavoisier, einem Laplace würdig an die Seite gestellt werden kann. Möglich, daß seine Phantasien über die Engel seine Arbeiten allzulange beherrscht haben; aber haben die Gelehrten bei ihren Versuchen, Gold zu machen, nicht unbewußt die Chemie geschaffen? Wenn jedoch Lambert später vergleichende Anatomie, Physik, Geometrie und die Wissenschaften studierte, die sich auf seine Entdeckungen bezogen, so geschah es gewiß in der Absicht, Tatsachen zu sammeln und analytisch vorzugehen, denn die Analyse ist die einzige Fackel, die uns heute durch die Dunkelheiten der unbegreiflichsten aller Naturen führt. Er besaß zu viel Verstand, um in den Wolken von Theorien zu schweben, die sich mit ein paar Worten darlegen lassen. Ist heute die einfachste Beweisführung, die sich auf Tatsachen stützt, nicht wertvoller als die schönsten Systeme, die nur durch mehr oder minder kluge Schlußfolgerungen erklärt werden? Aber da ich ihn nicht in der Epoche seines Lebens gekannt habe, in der er am erfolgreichsten nachgedacht haben muß, so kann ich mir die Bedeutung seiner Werke nur nach der Bedeutung seiner ersten Darlegungen vorstellen.
Es ist leicht, das herauszugreifen, woran es in seiner »Abhandlung über den Willen« fehlt. Denn obgleich er mit den Fähigkeiten eines bedeutenden Mannes ausgestattet war, war er doch damals noch ein Kind. Obgleich er fruchtbar und geschickt im abstrakten Denken war, so barg sein Gehirn doch noch eine entzückende Gläubigkeit, wie sie jede Jugend umschwebt. Die Ergebnisse seines Denkens grenzten also an einigen Stellen an die reifen Früchte eines Genies, und an tausend anderen waren sie so winzig wie Keime. Dichterischen Gemütern wäre sein größter Fehler gewiß als köstlicher Vorzug erschienen.
Sein Werk trug die Spuren des Kampfes, der sich in dieser schönen Seele zwischen den beiden großen Prinzipien: Spiritualismus und Materialismus abspielte, um die sich schon so viele große Geister bemüht haben, ohne daß sie gewagt hätten, sie in ein einziges Prinzip zu verschmelzen. Louis, der zuerst Spiritualist gewesen war, wurde unmerklich dahin geführt, die Materialität des Gedankens anzuerkennen. Die Ergebnisse der Analyse überzeugten ihn zu einer Zeit, da sein Herz noch liebevoll zu den am Himmel Swedenborgs verstreuten Wolken hinaufsah; doch besaß er damals noch nicht die Kraft, ein einheitliches und festes System zu entwerfen, das wie aus einem Guß war. Daher auch einige Widersprüche, wie sie in dem Abriß, den ich von seinen ersten Versuchen gegeben habe, zum Ausdruck kommen. So unvollkommen aber auch seine Arbeit sein mag, ist sie nicht der Entwurf zu einer Wissenschaft, deren Mysterien er später gewiß noch vertieft, deren Grundlagen er noch befestigt, deren Entwicklungen er geprüft, abgeleitet und mit einander verknüpft hätte?
Sechs Monate nach der Beschlagnahme der »Abhandlung über den Willen« verließ ich die Anstalt. Unsere Trennung war eine plötzliche. Meine Mutter, die ein Fieber beunruhigte, das ich seit einiger Zeit nicht loswerden konnte und dem meine körperliche Schlaffheit die Symptome der Schlafkrankheit verlieh, nahm mich innerhalb von vier bis fünf Stunden aus dem Institut fort. Bei der Nachricht von meinem Abgang wurde Lambert von einer erschreckenden Traurigkeit befallen. Wir versteckten uns, um zu weinen.
»Werde ich dich je wiedersehen?« sagte er mit seiner sanften Stimme zu mir und preßte mich in seine Arme. »Du wirst leben,« fuhr er fort, »ich aber werde sterben. Wenn ich kann, werde ich dir erscheinen.«
Man muß jung sein, um dergleichen Worte mit einem solchen Ton der Überzeugung auszusprechen, und um sie wie eine Prophezeiung aufzunehmen, wie ein Versprechen, vor dessen unheimlicher Erfüllung man sich fürchtet. Lange Zeit habe ich an diese versprochene Erscheinung gedacht. Und noch heute gibt es Tage des Mißmuts, der Angst, des Entsetzens, der Einsamkeit, in denen ich die Erinnerung an diesen traurigen Abschied verscheuchen muß, der jedoch nicht der letzte sein sollte. Als ich über den Hof schritt, der zum Ausgang führte, stand Lambert an einem der vergitterten Fenster des Refektoriums, um mich vorbeigehen zu sehen. Auf meine Bitten erhielt meine Mutter die Erlaubnis, daß er mit uns im Gasthof essen durfte. Am Abend begleitete ich ihn dann wiederum bis zu der verhängnisvollen Schwelle der Anstalt. Wohl nie haben zwei Liebende bei der Trennung mehr Tränen vergossen, als wir es taten.
»Leb wohl! Ich werde also allein sein in dieser Wüste,« sagte er zu mir und wies auf die Höfe, in denen zweihundert Kinder spielten und tobten. »Wenn ich müde bin, halb tot von meinen langen Wanderungen durch die Felder der Gedanken, in wessen Herz werde ich mich dann ausruhen? Ein Blick genügte mir, um dir alles zu sagen. Wer wird mich jetzt verstehen? Lebe wohl, ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet, ich wüßte dann nicht, was mir alles fehlen wird.«
»Und ich,« sagte ich, »was wird aus mir? Ist meine Lage nicht noch viel schrecklicher als die deine? Ich habe hier nichts, was mich trösten kann,« fügte ich hinzu und schlug mich vor die Stirn.
Er schüttelte den Kopf mit einer anmutvollen Traurigkeit und wir trennten uns. Louis Lambert war damals fünf Fuß zwei Zoll groß; seitdem ist er nicht mehr gewachsen. Sein Gesicht, das sehr ausdrucksvoll geworden war, sprach von der Güte seines Charakters. Eine himmlische Geduld, die durch schlechte Behandlung entwickelt worden war, eine dauernde Konzentration, die sein kontemplatives Leben verlangte, hatte seinem Blick jenen kühnen Stolz genommen, der gewissen Gesichtern so gut steht und mit dem er unsere Lehrer unsicher gemacht hatte. Auf seinem Gesicht lagen friedliche Gefühle, lag eine entzückende Heiterkeit, die weder durch Ironie, noch durch Hohn entstellt wurde, denn die ihm angeborene Güte milderte das Bewußtsein seiner Kraft und seiner Überlegenheit. Er hatte hübsche, gut gegliederte, fast immer feuchte Hände. Sein Körper war ein Wunderwerk, das eines Bildhauers würdig gewesen wäre. Aber unsere stahlgraue Uniform mit den goldenen Knöpfen, unsere kurzen Hosen gaben uns eine so ungeschickte Figur, daß die Vollkommenheit von Lamberts Gestalt und seine Zartheit nur beim Baden zur Geltung kam. Wenn wir in unserer Badeanstalt im Loir-Flüßchen schwammen, zeichnete sich Louis durch die Weiße seiner Haut aus, zum Unterschied von unsern Mitschülern, deren Haut durch die Kälte ganz fleckig oder durch das Wasser ganz blau war. Louis war von zarten Formen, schöner Hautfarbe, anmutig in den Bewegungen und fröstelte nie außerhalb des Wassers, wohl weil er den Schatten mied und immer in die Sonne lief; so glich er jenen Blumen, die ihre Kelche schließen, wenn der Wind kommt und die sich nur unter einem reinen Himmel voll entfalten. Er aß sehr wenig, trank nur Wasser und mied aus Instinkt oder aus Neigung jede Bewegung, die einen Kräfteaufwand verlangte. Seine Gesten waren sparsam und einfach, wie bei den Orientalen oder Wilden, bei denen Würde ein natürlicher Zustand zu sein scheint. Im allgemeinen liebte er nichts, was ein ihm hätte geziert erscheinen können. Gewöhnlich neigte er seinen Kopf nach links und stützte seinen Ellenbogen so viel auf, daß die Ärmel seiner neuen Anzüge jedesmal schnell durchgestoßen waren. – Diesem flüchtigen äußeren Bild muß ich noch eine Skizze seines inneren Menschen hinzufügen, denn ich glaube, ihn heute unparteiisch beurteilen zu können.
Obgleich Louis von Natur fromm war, billigte er doch all die kleinlichen Andachtsübungen der römisch-katholischen Kirche nicht. Seine Anschauungen stimmten vor allem mit denen der heiligen Therese und Fénélon überein, sowie mit denen verschiedener Kirchenväter und Heiligen, die man in unsern Tagen als Ketzer und Atheisten behandeln würde. Während des Gottesdienstes war er teilnahmslos. Sein Gebet war ein Sich-Emporschwingen, ein Sich-Erheben der Seele und war an keine bestimmte Form gebunden. Er gab ganz seiner Natur nach und wollte zu keiner bestimmten Stunde beten oder denken. Er konnte in der Kapelle ebensogut an Gott denken, wie über eine philosophische Idee grübeln. Jesus Christus war für ihn der schönste Typus seines Systems. Das »et verbum caro factum est!« (Ev. Joh. I, 14. Und das Wort ward Fleisch!) schien ihm ein göttliches Wort, das dazu bestimmt war, die hergebrachte Formel für den sichtbar gewordenen Willen, das sichtbar gewordene Wort, die sichtbar gewordene Tat auszudrücken. Denn Christus, der seinen Tod nicht spürt, da er das innere Wesen durch göttliche Werke so sehr vervollkommnet hat, daß die unsichtbare Form eines Tages seinen Jüngern erscheinen konnte, die Mysterien des Evangeliums, die magnetischen Heilungen Christi und das Zungenreden bestätigten ihm seine Lehre. Ich entsinne mich bei dieser Gelegenheit von ihm gehört zu haben, daß die schönste Arbeit heute die wäre, die Geschichte der ersten Kirche zu schreiben. Nie erhob er sich zu so dichterischer Höhe als in dem Augenblick, da er in einer abendlichen Unterhaltung von den Wundern sprach, die durch die Macht des Willens in jener großen Epoche des Glaubens vollbracht worden waren. Er fand die stärksten Beweise seiner Theorie bei fast allen Martyrien, die in dem ersten Jahrhundert n. Chr. – der großen Ära des Gedankens, wie er es benannte – erduldet worden waren. »Beweisen nicht die Phänomene, die bei den meisten Qualen, die von den Christen für die Aufrechterhaltung ihres Glaubens so heldenhaft ausgehalten wurden, daß die materiellen Kräfte nie gegen die Kraft der Ideen oder gegen den Willen des Menschen aufkommen können?« sagte er. »Ein jeder kann aus dieser Wirkung durch den Willen aller auf die Wirkung seines eigenen Willens schließen.«
An dieser Stelle glaube ich nicht von seinen Ideen über die Poesie und über die Geschichte reden zu sollen, noch über seine Urteile über die Hauptwerke unserer Sprache. Es wäre nicht besonders interessant, wollte ich hier Meinungen aufzeichnen, die heute fast gang und gäbe geworden sind, die aber damals und in dem Munde eines Kindes als etwas Außergewöhnliches erscheinen mußten. Louis war eben allem gewachsen. Um in zwei Worten seine Fähigkeiten zu schildern: er hätte Zadig ebenso geistvoll schreiben können wie Voltaire; er hätte den Dialog zwischen Sulla und Eukrates ebenso tief durchdacht wie Montesquieu. Die strenge Lauterkeit seiner Ideen verlangte von jedem Werk eine gewisse Nützlichkeit, wie sein feiner Geist vom Gedanken eine gewisse Neuheit der Form forderte. Alles, was diese Bedingungen nicht erfüllte, verursachte ihm einen tiefen Abscheu. Eine seiner bedeutsamsten literarischen Äußerungen, die gleichzeitig den Sinn aller anderen und die Schärfe seines Urteils verstehen läßt, ist diejenige, die mir in der Erinnerung geblieben ist: »Die Apokalypse ist eine geschriebene Ekstase.« Er sah die Bibel als einen Teil der überlieferten Geschichte der antediluvianischen Völker an, in die sich die neue Menschheit geteilt hatte. Nach seiner Auffassung hing die griechische Mythologie sowohl mit der hebräischen Bibel zusammen wie auch mit den heiligen Büchern Indiens, welche die von Anmut beseelten Griechen auf ihre Weise übersetzt hatten.
»Es ist unmöglich«, sagte er, »die Priorität der asiatischen Schriften in Zweifel zu ziehen. Wer diese historische Tatsache mit gutem Glauben erkennen kann, für den erweitert sich die Welt auf wunderbare Weise. Haben sich nicht auf die asiatische Hochebene die wenigen Menschen geflüchtet, die jene Katastrophe überleben konnten, die unsere Erde durchmachen mußte, wenn Menschen vor dieser Umwälzung überhaupt gelebt haben? Eine ernste Frage, deren Lösung auf dem Grunde des Meeres geschrieben steht. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen, wie sie in der Bibel steht, ist also nur die Genealogie eines Schwarmes, der aus dem Menschheits-Bienenstock herauskam und sich an die bergigen Abhänge Tibets hing zwischen die Gipfel des Himalaya und des Kaukasus. Der Charakter jener Horde, das sein Gesetzgeber das auserwählte Volk nannte, – zweifellos um ihm dadurch eine Einheit zu geben und vielleicht auch, um es zu veranlassen, seine eigenen Gesetze und sein Regierungssystem beizubehalten, denn die Bücher Mose sind religiöse, politische, bürgerliche Gesetzbücher, – dieser Charakter also trägt den Stempel des Schreckens. Die Zuckungen des Erdballs wurden von gewaltigen Geistern als eine Rache von oben ausgelegt. Da es keine jener Freuden kannte, die ein Volk genießt, das auf patriarchalischem Boden seßhaft ist, hat das Ungemach diesem wandernden Stamm nur düstere, gewaltige und blutige Dichtungen diktiert. Den Hindus dagegen hat der Anblick des schnellen Wiederaufblühens der Erde, der wunderbaren Wirkungen der Sonne, deren erste Zeugen sie waren, die lachende Auffassung von glücklicher Liebe, den Kult des Feuers, die unendlichen Verkörperungen der Wiedergeburt eingegeben. Diese wundervollen Bilder fehlen dem Werk der Hebräer. Ein dauerndes Bedürfnis nach Erhaltung auf den gefahrvollen Wanderschaften durch die Länder bis zu einem endlichen Ruhepunkt erzeugte das exklusive Gefühl dieses Volkes und seinen Haß gegen die andern Völker. Diese drei Schriften sind die Archive der untergegangenen Welt. Dort liegt das Geheimnis der unerhörten Größe dieser Sprachen und ihrer Mythen. Eine große Geschichte der Menschheit ruht unter diesen Namen von Menschen und Orten begraben, unter diesen Dichtungen, die uns unwiderstehlich anziehen, ohne daß wir wissen warum. Vielleicht atmen wir hier die Heimatlust unserer neuen Menschheit.«
Für Lambert enthielt also diese dreifache Literatur alle Gedanken des Menschen. »Es ist«, wie er sagt, »kein Buch entstanden, dessen Gegenstand nicht im Keim dort zu finden wäre.« Diese Ansicht zeigt, wie klug und tief seine ersten Studien über die Bibel waren und bis wohin sie führten. Da er immer über der Gesellschaft schwebte, die er nur aus Büchern kannte, beurteilte er sie kalt. »Die Gesetze«, sagte er, »hemmen nie die Unternehmungen der Großen und Reichen, sondern treffen immer nur die Kleinen, die doch viel eher des Schutzes bedürfen.« Seine Güte gestattete ihm also nicht, mit den politischen Ideen zu sympathisieren. Sein System führte jedoch zum passiven Gehorsam, wofür ihm Jesus Christus das Beispiel gab. Während der letzten Zeit meines Aufenthaltes in Vendôme empfand Louis nicht mehr den Reiz des Ruhmes; er hatte den Ruhm gewissermaßen in der Idee genossen. Und nachdem er ihn zerlegt hatte, wie die alten Opferpriester taten, die die Zukunft im Herzen der Menschen suchten, hatte er nichts in den Eingeweiden dieser Chimäre gefunden. Er verachtete daher ein rein persönliches Gefühl. »Der Ruhm«, so sagte er mir, »ist der vergöttlichte Egoismus.«
Einige Tage vor unserer Trennung sagte mir Lambert: »Abgesehen von den allgemeinen Gesetzen, deren Formulierung vielleicht dereinst mein Ruhm sein wird, und die die Gesetze unseres Organismus sein müssen, besteht das Leben des Menschen aus Bewegung, die sich, in jedem Wesen besonders, nach mir noch unbekannten Einflüssen des Gehirns, des Herzens oder der Nerven abwandelt. Aus diesen drei durch jene abgegriffenen Worte dargestellten Konstitutionen entstammen die unendlich vielen Arten innerhalb der Menschheit, die alle aus den Verhältnissen herrühren, in denen diese drei zeugenden Prinzipien sich mehr oder weniger gut mit den Substanzen verbunden finden, denen sie sich in dem Milieu, in dem sie leben, angleichen.« Er hielt inne, schlug sich gegen die Stirn und sagte zu mir: »Eine merkwürdige Tatsache! Alle großen Menschen, deren Porträts meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten, haben einen kurzen Hals. Vielleicht will die Natur, daß bei ihnen das Herz dem Gehirn näher ist.« Dann fuhr er fort: »Daher stammt eine gewisse Gesamtheit von Handlungen, die die Gesellschaft ausmacht. Dem Nervenmenschen ist die Tat oder die Kraft eigen, dem Gehirnmenschen das Genie, dem Herzmenschen der Glaube. Aber«, fügte er traurig hinzu, »zum Glauben gehören die Wolkenhüllen des Heiligtums, nur der Engel besitzt die Klarheit.« Nach seiner eigenen Definition war Lambert ganz Herz und ganz Gehirn.
Für mich teilt sich das Leben seines Geistes in drei Phasen. Von Kindheit an war er einem Tätigkeitsdrang unterworfen, der zweifellos auf irgend einer Krankhaftigkeit oder aber auf einer Vollkommenheit seiner Organe beruhte. Von Kindheit an zehrten sich seine Kräfte durch das Spiel seiner inneren Sinne oder durch eine übermäßige Produktion nervösen Fluidums auf. Als Ideenmensch mußte er dem Verlangen seines Gehirns nachgeben, das sich alle Ideen zu eigen machen wollte. Daher seine Lektüre. Und aus seiner Lektüre stammten seine Reflexionen, die ihm die Gabe verliehen, die Dinge auf ihren einfachsten Ausdruck zu reduzieren, sie in sich selbst aufzunehmen, um sie in ihrer Wesensart zu studieren. Der Ertrag dieser wunderbaren Epoche, die bei andern Menschen erst nach langem Studium eintritt, entfiel bei Lambert in seine körperliche Kindheit. Glückliche Kindheit, die erfüllt war von der beseligenden Arbeit des Dichters. Der Endpunkt, zu dem die meisten Gehirne schließlich hingelangen, war für das seine der Ausgangspunkt auf der Suche nach neuen geistigen Welten. Damit hatte er sich, ohne es noch zu wissen, das anspruchsvollste und unersättlichste Leben geschaffen. Mußte er nicht, um zu leben, unablässig Nahrung in den Schlund werfen, den er in sich aufgerissen hatte? War er nicht in Gefahr, wie gewisse Wesen der Erdregionen, zu sterben, nur weil ihm die Nahrung für seinen großen unbefriedigten Hunger fehlte? Hatte in seiner Seele nicht eine Ausschweifung platzgegriffen, und mußte sie nicht wie die Körper, die sich mit Alkohol vollsaugen, einer augenblicklichen Verbrennung zum Opfer fallen? Diese erste Phase des Gehirns habe ich nicht gekannt; erst heute kann ich mir die wunderbaren Früchte und Wirkungen derselben erklären. Damals war Lambert dreizehn Jahre alt.
Ich hatte dann das Glück, Zeuge der ersten Tage des zweiten Lebensabschnittes zu sein. Lambert verfiel damals – und das rettete ihn vielleicht – in alle Miseren des Schullebens und verausgabte dort den Überfluß seiner Gedanken. Nachdem er von den Dingen zu ihrem reinen Ausdruck, von den Worten zu ihrem ideellen Sinn, von diesem Sinn zu den Grundideen gekommen war, nachdem er alles abstrahiert hatte, strebte er, um zu leben, nach anderen geistigen Auswirkungen. Durch die unglückseligen Verhältnisse in der Anstalt und durch die Krisen seines physischen Lebens gebändigt, blieb er nachdenklich, erriet Gefühle, ahnte neue Wissenschaften, wahre Ideenmassen! Da er in seinem Lauf aufgehalten und dazu noch zu schwach war, um die höheren Sphären erschauen zu können, schaute er in sein Inneres. Er offenbarte mir also den Kampf des Gedankens, der auf sich selbst zurückwirkt und der die Geheimnisse seiner eigenen Natur zu ergründen sucht, gleich einem Arzt, der den Fortgang seiner eigenen Krankheit studiert. In diesem Zustand von Kraft und Schwäche, von kindlicher Anmut und übermenschlicher Macht war Louis Lambert das Wesen, das mir die poetischste und wahrste Vorstellung von jenen Geschöpfen gab, die wir »Engel« nennen – mit Ausnahme einer Frau jedoch, deren Züge, Person und Leben ich vor der Welt verheimlichen möchte, um allein das Geheimnis ihres Daseins zu besitzen und um es im Grunde meines Herzens zu verbergen.
Die dritte Phase sollte mir freilich entgehen. Sie begann damals, als ich von Louis getrennt wurde, der erst mit achtzehn Jahren, gegen Mitte 1815, die Schule verließ. Seine Eltern hatte Louis ungefähr ein halbes Jahr vorher verloren. Da er in der Familie niemanden traf, mit dem seine immer mitteilungsbedürftige, aber seit unserer Trennung immer auf sich selbst angewiesene Seele sympathisieren konnte, flüchtete er zu seinem Onkel, der zu seinem Vormund ernannt und als ein auf die Verfassung vereidigter Geistlicher von seiner Pfarre verjagt worden war und in Blois lebte. Louis blieb einige Zeit bei ihm. Aber bald war er von dem Wunsche erfüllt, seine Studien, die er für unvollkommen ansehen mußte, zu vollenden, und ging nach Paris, um Madame de Staël wiederzusehen und um die Wissenschaft an ihren Quellen zu schöpfen. Der alte Priester, der eine große Liebe für seinen Neffen hegte, hinderte Louis nicht daran, seine Erbschaft während seines dreijährigen Aufenthaltes in Paris, wo er freilich im größten Elend lebte, aufzubrauchen. Diese Erbschaft bestand in einigen tausend Franken. Louis kam zu Anfang des Jahres 1820 nach Blois zurück, aus Paris durch die Miseren vertrieben, denen Leute ohne Vermögen dort ausgesetzt sind. So lange er dort war, mußte er oft das Opfer geheimer Stürme geworden sein, jener fürchterlichen Kämpfe der Gedanken, von denen Künstler stets aufgewühlt werden, wenn man nach der einzigen Begebenheit urteilen darf, an die sein Onkel sich erinnerte, und nach dem einzigen Brief, den der gute Mann von all denen aufbewahrt hat, die Louis Lambert ihm zu jener Zeit geschrieben hatte, und den er vielleicht auch nur aufgehoben hat, weil er der letzte und zugleich der längste von allen gewesen war.
Hier zunächst die Begebenheit selbst. Louis war eines Tages im Théâtre Français und hatte einen Platz auf einer Bank im zweiten Rang neben einem der Pfeiler, zwischen denen sich die Logen des dritten Ranges befinden. Als er in der ersten Pause aufstand, sah er eine junge Dame, die soeben die Nachbarloge betreten hatte. Der Anblick dieses Wesens, das jung und schön war, gut gekleidet, vielleicht sogar tief dekolletiert und von einem Verehrer begleitet, für den ihr Gesicht sich mit allen Reizen der Liebe belebte, übte auf Lamberts Seele und Sinne eine so grausame Wirkung aus, daß er den Raum verlassen mußte. Wenn er nicht noch einem letzten Strahl von Vernunft, der im ersten Augenblick dieser brennenden Leidenschaft noch nicht ganz verlöscht war, nachgegeben hätte, dann wäre er vielleicht dem fast unbezwinglichen Verlangen verfallen und hätte den jungen Mann getötet, auf den sich der Blick dieser Frau richtete. War das nicht inmitten unserer Pariser Gesellschaft wie das Aufblitzen der Liebe eines Wilden, der sich auf das Weib wirft wie auf seine Beute, die Wirkung eines tierischen Instinktes, vereint mit dem jähen Aufstrahlen einer von Gedanken erdrückten Seele? War dies nicht endlich der eingebildete Messerstich, den das Kind einst gespürt hatte und der beim Manne blitzartig zum gewaltigsten Begehren wurde, zur Liebe?
Und hier nun der Brief, in welchem er den Zustand seiner von dem Schauspiel der Pariser Zivilisation ergriffenen Seele schildert. Sein Herz, das in diesem Schlund von Egoismus gewiß dauernd gequält wurde, mußte immer leiden; er traf wohl weder Freunde, die ihn trösten, noch Feinde, an denen er sich reiben konnte. Da er gezwungen war, unablässig nur in sich selbst zu leben, und er mit niemandem seine edlen Freuden teilen konnte, wollte er vielleicht das Werk seines Schicksals durch die Ekstase vollenden und unter einer fast pflanzenhaften Form leben, wie ein Anachoret der ersten Zeit der Kirche, indem er auf diese Weise der Herrschaft des Geistes entsagte. Der Brief scheint diesen Plan anzudeuten, wie ihn große Seelen zu allen Zeiten gesellschaftlicher Erneuerung gefaßt haben. Aber ist solch ein Entschluß nicht wie eine Berufung? Suchen sie nicht ihre Kräfte in einer langen Stille zu konzentrieren, um dann danach fähig sein zu können, die Welt zu regieren, sei es durch das Wort, sei es durch die Tat? Gewiß, Louis hat wohl viel Bitterkeit unter den Menschen erfahren, hat wohl die Gesellschaft – welch furchtbare Ironie! – ausgepreßt, ohne je etwas aus ihr herausbekommen zu haben, daß er einen so gewaltigen Aufschrei hören ließ, daß in ihm, arm wie er war, eine Begierde aufsteigen konnte, die nur gewisse Herrscher, welche der Macht und aller Dinge müde sind, befriedigen können. Vielleicht hatte er auch in seiner Einsamkeit irgend ein großes Werk vollendet, das noch formlos in seinem Hirn kreiste? Wer möchte das nicht gern glauben, wenn er dieses Fragment seiner Gedanken liest, in dem sich die Kämpfe seiner Seele verraten zu einer Zeit, da die Jugend bei ihm aufhörte und die fruchtbare Fähigkeit zu schaffen in ihm aufzugehen begann, der man dann später die Werke des Mannes verdankt hätte? Dieser Brief steht in Beziehung zu dem Erlebnis im Theater. Die tatsächlichen Vorgänge und das Schriftstück erhellen sich gegenseitig, Seele und Körper waren auf den gleichen Ton abgestimmt. Dieser Sturm von Zweifel und Gewißheit, von Wolken und Helle, der sich oft in Blitzen entlädt und der mit einer leidenschaftlichen Sehnsucht zum himmlischen Licht endete, wirft auf die dritte Epoche seiner geistigen Entwicklung genug Helligkeit, um sie als Ganzes zu verstehen. Wenn man diese Seiten liest, die nur so hingeworfen wurden und ganz den Launen des Pariser Lebens entsprungen waren, dann denkt man unwillkürlich an eine Eiche zu der Zeit ihres inneren Wachstums: die schöne grüne Rinde platzt, bedeckt sich mit Rissen und Spalten und bereitet ihre majestätische Form vor, wenn der Blitzstrahl des Himmels oder die Axt des Menschen sie verschont.
Mit diesem Brief endigt also für den Denker und Dichter die gewaltige Kindheit und unverstandene Jugend. Hier endigt der Umriß dieses geistigen Keimes! Philosophen werden es bedauern, daß die Blüten noch in der Knospe vom Frost getroffen wurden, aber einst werden sie die entfalteten Blumen in jenen Regionen wiedersehen, die höher liegen als die höchsten Orte der Erde.
Paris, September-November 1819
Lieber Onkel, ich werde dieses Land, in dem ich nicht leben kann, bald verlassen. Hier ist kein Mensch, der das liebt, was ich liebe, der sich mit dem beschäftigt, was mich beschäftigt, der sich über das verwundert, was mich in Erstaunen setzt. Da ich mich ganz in mich zurückziehen muß, hin ich wie ausgehöhlt und leide. Das lange und beharrliche Studium, dem ich die hiesige Gesellschaft unterzogen habe, hat zu traurigen Schlüssen geführt, in denen der Zweifel vorherrscht. Hier ist das Geld Ausgangspunkt für alles. Man braucht Geld, sogar um Geld entbehren zu können. Aber wenn dieses Metall auch für denjenigen notwendig ist, der ruhig denken will, so habe ich doch nicht den Mut, es zu der einzigen treibenden Kraft meiner Gedanken zu machen. Um ein Vermögen anzuhäufen, muß man einen Stand wählen, muß man, mit andern Worten, durch irgend ein Vorrecht von Stellung oder Kundschaft, durch ein gesetzliches oder geschickt erworbenes Privileg das Recht kaufen, jeden Tag aus dem Geldbeutel des andern eine kleine Summe zu entnehmen, die in einigen Jahren zu einem kleinen Kapital anwächst, das in zwanzig Jahren kaum vier- bis fünftausend Franken Rente abwirft, wenn ein Mensch ehrlich dabei verfährt. In fünfzehn bis sechzehn Jahren nach angespannter Arbeitszeit haben Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, kurz, alle Berufsmenschen, sich für ihre alten Tage ihr Brot verdient. Ich fühle mich zu all diesem nicht geschaffen. Ich ziehe das Denken dem Tun vor, eine Idee einem Geschäft, die Betrachtung der Bewegung. Mir fehlt vor allem die unablässige und notwendige Aufmerksamkeit dessen, der sich ein Vermögen schaffen will. Jedes kaufmännische Unternehmen, jede Notwendigkeit, dem andern Geld abzufordern, würde bei mir schlecht ablaufen, und ich wäre bald ruiniert. Wenn ich auch nichts besitze, so schulde ich in diesem Augenblick auch nichts. Derjenige, der lebt, um im Reiche des Geistes Großes zu vollbringen, braucht materiell wenig; aber wenn mir auch zwanzig Sous pro Tag genügen würden, so besitze ich nicht einmal die Rente für diese arbeitsreiche Muße. Wenn ich nachdenken will, so jagt mich die Not aus dem Heiligtum heraus, in welchem sich mein Gedanke regt. Was soll aus mir werden? Das Elend erschreckt mich nicht. Wenn man die Bettler nicht einsperrte, beschimpfte und verachtete, ich würde betteln, um in Ruhe die Probleme lösen zu können, die mich beschäftigen. Aber dieser erhabene Verzicht, durch den ich meinen Gedanken befreien könnte, indem ich ihn von meinem Körper löste, würde nichts helfen: man braucht Geld, um gewisse Experimente zu machen. Sonst würde ich gern die äußere Armut des Denkers, dem Erde und Himmel gehört, auf mich nehmen. Um groß im Elend zu sein, genügt es, sich niemals zu erniedrigen. Der Mensch, der kämpft und leidet, während er auf ein großes Ziel losgeht, bietet sicher ein schönes Schauspiel; aber wer hat hier Kraft, um zu kämpfen? Man erklimmt Felsen, denn man kann nicht immer im Schmutz waten. Hier aber wird jeder Geist, der der Zukunft zustrebt, in seinem graden Flug zu ihr entmutigt. In einer Höhle der Wüste würde ich mich nicht so fürchten, wie ich mich hier fürchte; in der Wüste wäre ich allein mit mir, ohne Ablenkung; hier empfindet der Mensch eine Menge Bedürfnisse, die ihn erniedrigen. Wer hier ausgeht, in Träume und Gedanken vertieft, den ruft die Stimme des Armen, der um einen Almosen bittet, wieder mitten in diese Welt des Hungers und des Durstes zurück. Man braucht schon Geld, um spazieren zu gehen. Der Organismus, unablässig durch Nichtigkeiten ermüdet, ruht sich nie aus. Die nervöse Konstitution des Dichters wird hier unablässig erschüttert, und was sein Ruhm sein sollte, wird seine Qual: seine Phantasie ist seine ärgste Feindin. Der verunglückte Arbeiter, die arme Wöchnerin, die krankgewordene Dirne, das verlassene Kind, der kranke Greis, das Laster, ja selbst das Verbrechen finden hier ein Asyl und Pflege; aber für den Erfinder, für den Menschen, der nachdenkt, ist die Welt mitleidslos. Hier muß alles einen sofortigen, greifbaren Erfolg haben; über anfangs unfruchtbare Versuche, die aber zu den größten Entdeckungen führen können, macht man sich lustig und man achtet das anhaltende und eingehende Studium nicht, das eine lange Konzentration der Kräfte verlangt. Der Staat sollte das Talent besolden, wie er den Soldaten bezahlt, aber er fürchtet, von dem intelligenten Menschen übervorteilt zu werden, als ob das Genie lange zu unterdrücken wäre! Ach, lieber Onkel, wenn man schon die klösterliche Einsamkeit am Fuße der Berge, unter grünen und stillen Schatten, zerstört hat, sollte man da nicht Hospize für leidende Seelen errichten, die mit einem einzigen Gedanken ganze Völker befruchten oder den Fortschritt einer Wissenschaft verbreiten?
20. September
Das Studium hat mich, wie du weißt, hierher geführt. Ich habe hier Menschen gefunden, die in der Mehrzahl wirklich und erstaunlich gebildet sind. Aber das Fehlen jeder Einheitlichkeit in den wissenschaftlichen Arbeiten macht fast alle Versuche zunichte. Weder Unterricht noch Wissenschaft haben Führer. Im Museum beweist einem ein Professor, daß der andere in der Rue Saint-Jacques einem die absurdesten Dinge gesagt habe. Der Lehrer an der École de Médecine gibt demjenigen vom Collège de France eine Ohrfeige. Als ich hier ankam, hörte ich einen alten Akademiker, der fünfhundert jungen Leuten beibrachte, daß Corneille ein gewaltiges und erhabenes Genie sei, Racine elegisch und zart, Molière unnachahmlich, Voltaire eminent geistvoll, Bossuet und Pascal unerhört groß. Ein Philosophieprofessor wird dadurch berühmt, daß er erklärt, wie Platon Platon sei. Ein anderer trägt die Entwicklung des Wortes vor, ohne dabei an die Idee zu denken. Dieser erklärt Äschylus, jener beweist erfolgreich, daß die Kommunen nichts anderes sind als eben Kommunen. In diesen neuen und geistvollen Bemerkungen, die einem ein paar Stunden lang vorgetragen werden, besteht der hohe Unterricht, der das Wissen der Menschen mit Riesenschritten vorwärtsbringen soll. Wenn die Regierung eines Gedankens fähig wäre, ich hätte sie im Verdacht, daß sie Angst hat vor den wirklich Überlegenen, die, einmal erwacht, die Gesellschaft unter das Joch einer Geistesmacht stellen würden. Die Völker würden zu bald zu weit vorwärts kommen; daher sind die Professoren beauftragt, Dummköpfe zu erziehen. Wie könnte man sonst einen Lehrerstand erklären, der weder Methode noch eine Idee von der Zukunft hat? Das Institut könnte über die geistige und ethische Welt herrschen; aber erst kürzlich nahm man ihm alle Macht, indem man es durch Statuten in einzelne Akademien zerspaltete. Die menschliche Wissenschaft ist also ohne Führer und ohne System und hängt in der Luft ohne vorgeschriebenen Weg. Dieses Gehenlassen, diese Unsicherheit besteht sowohl in der Politik wie in der Wissenschaft. In der natürlichen Ordnung der Dinge sind die Mittel einfach, ist das Ziel groß und wunderbar; hier in der Wissenschaft wie bei der Regierung sind die Mittel unermeßlich groß, das Ziel dagegen winzig. Diese Kraft, die in der Natur mit gleichmäßigem Schritt vorwärts geht und deren Summe sich dauernd selbst erhöht, dieses A plus A, das alles hervorbringt, wirkt in der Gesellschaft zerstörend. Die gegenwärtige Politik stellt die menschlichen Kräfte einander gegenüber, um sie zu neutralisieren anstatt sie für ein Ziel zu verbinden, damit sie zusammen arbeiten. Wenn ich nur Europa betrachte, so erkenne ich von Cäsar bis Konstantin, vom kleinen Konstantin bis zum großen Attila, von den Hunnen bis zu Karl dem Großen, von Karl dem Großen bis Leo X., von Leo X. bis Philipp II., von Philipp II bis Ludwig XIV., von Venedig bis England, von England bis Napoleon, von Napoleon wieder bis England keine Beständigkeit in der Politik, und ihre dauernde Beweglichkeit hat keine Fortschritte gezeitigt. Die Nationen bezeugen ihre Größe durch Monumente und ihr Glück durch persönliches Wohlbefinden. Sind nun die modernen Denkmäler den alten ebenbürtig? Ich bezweifle es. Die Künste, die unmittelbar am einzelnen Menschen teilhaben, die Erzeugnisse seines Geistes und seiner Hände haben wenig Fortschritte gemacht. Die Genüsse des Lucullus sind ebenso viel wert wie die eines Samuel Bernard, eines Beaujon oder des Königs von Bayern. Die lange Lebensdauer des Menschen hat abgenommen. Wollen wir also ehrlich sein, so hat sich nichts geändert, der Mensch ist immer der gleiche: die Kraft ist immer sein einziges Gesetz, der Erfolg seine einzige Weisheit. Jesus Christus, Mohammed und Luther haben nichts anderes getan, als den Kreis, in dem die jungen Völker sich entwickelt haben, verschieden zu färben. Keine Politik hat die Zivilisation mit all ihren Reichtümern, ihren Sitten, ihrem Vertrag zwischen den Starken gegen die Schwachen, ihren Ideen und Begierden daran gehindert, von Memphis nach Tyrus, von Tyrus nach Baalbeck, von Tadmor nach Karthago, von Karthago nach Rom, von Rom nach Konstantinopel, von Konstantinopel nach Venedig, von Venedig nach Spanien, von Spanien nach England zu gehen, ohne daß heute von Memphis, Tyrus, Karthago, Rom, Venedig oder Madrid auch nur eine Spur übrig geblieben wäre. Der Geist dieser großen Körper ist entflohen. Keines konnte sich vor dem Untergang schützen und keines hat das Wort verstanden: »Wenn die hervorgebrachte Wirkung keine Beziehung mehr zu ihrer Ursache hat, dann entsteht Auflösung.« Das scharfsinnigste Genie kann keine Verbindung zwischen diesen großen sozialen Ereignissen entdecken. Keine politische Theorie war wirklich jemals lebendig. Die Regierungen vergehen wie die Menschen, ohne sich gegenseitig zu belehren; und kein System hat je ein vollkommeneres erzeugt. Was kann man von der Politik sagen, wenn auch die auf Gott gestützte Regierungsform in Indien und Ägypten untergegangen ist, wenn die Regierung von Säbel und Priesterbinde vorüberging, wenn die Regierung eines Einzelnen nicht Bestand hatte, wenn die Regierung Aller nie lebensfähig war; wenn keine Form geistiger Kräfte, auf die materiellen Interessen angewendet, dauern konnte, sodaß alles heute wieder neu zu schaffen ist wie in all den Epochen, in denen der Mensch schrie: »ich leide!« – Der »Code«, den man als das größte Werk Napoleons ansieht, ist das drakonischste Werk, das ich kenne. Die Teilbarkeit des Grundbesitzes muß, wenn sie bis ins Unendliche getrieben wird, und die gleichmäßige Verteilung der Güter zum Prinzip hat, die Zerrüttung der Völker und den Tod der Künste und Wissenschaften zum Gefolge haben. Der Grund und Boden, der zu viel aufgeteilt wird, trägt nur Getreide und Gemüse; Wälder und Wasserläufe verschwinden; es wird weder Ochse noch Pferd aufgezogen. Es fehlen die Mittel zum Angriff wie zur Verteidigung. Kommt ein Überfall, dann wird das Volk vernichtet, es hat seine großen Hilfsquellen, seine Anführer verloren. Dann beginnt die Geschichte der Wüsten. Die Politik ist also eine Wissenschaft ohne feste Grundsätze, ohne mögliche Beständigkeit. Sie ist die Eingebung des Augenblicks, die dauernde Anwendung der Kraft, je nach der Forderung des Tages. Der Mann, der zwei Jahrhunderte weit schauen würde, würde auf dem Marktplatz unter den Verwünschungen des Volkes sterben oder würde – was mir noch schlimmer scheint – von den tausend Ruten der Lächerlichkeit geschlagen werden. Die Völker sind Individuen, die weder klüger noch stärker sind als der einzelne Mensch, und ihre Geschicke sind die gleichen. Wenn man über den einzelnen Menschen nachdenkt, heißt das nicht, sich mit den Völkern beschäftigen? Angesichts dieser Gesellschaft, die unablässig in ihren Grundlagen wie in ihren Auswirkungen, in ihren Beweggründen wie in ihren Handlungen erschüttert wird, für die die Philantropie ein wunderbarer Irrtum und der Fortschritt ein Unsinn ist, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß das Leben in uns ist und nicht außerhalb unser, daß sich über die Menschen erheben, um sie zu befehligen, die gewaltige Rolle eines großen Regenten ist, und daß die Menschen, die stark genug sind, um bis zu dem Punkte zu gehen, von wo aus sie die Welt überschauen können, nicht nach unten sehen dürfen.
5. November
Ich bin mit ernsten Gedanken beschäftigt, ich gehe bestimmten Entdeckungen entgegen, eine unbezwingliche Kraft zieht mich zu einem Licht hin, das schon frühzeitig in der Dunkelheit meines geistigen Lebens gebrannt hat; aber was für einen Namen soll ich der Macht geben, die mir die Hände bindet, den Mund verschließt und mich in eine meiner Neigung entgegengesetzte Richtung zerrt? Ich muß Paris verlassen, den Büchern, den Bibliotheken Lebewohl sagen, diesen hellen schönen Stätten, den liebenswürdigen, entgegenkommenden Gelehrten, den jungen Geistern, die mir lieb geworden sind. Was treibt mich? Ist es der Zufall, ist es die Vorsehung? Die beiden Ideen, die diese Worte darstellen, sind nicht zu vereinen. Wenn es keinen Zufall gibt, dann muß man den Fatalismus annehmen oder die gewaltsame Koordination der Dinge, die einem allgemeinen Plan unterstellt sind. Warum sträuben wir uns also? Wenn der Mensch nicht mehr frei ist, was wird dann aus dem Gerüst seines Geistes? Und wenn er sich sein Schicksal selbst bereiten kann, wenn er aus freiem Willen die Ausführung eines allgemeinen Planes hindern kann, was wird dann aus Gott? Warum bin ich auf die Welt gekommen? Wenn ich mich prüfe, so weiß ich es: in mir finde ich Gedanken, die zu entwickeln wären. Aber warum besitze ich so große Fähigkeiten, wenn ich sie nicht nutzen kann? Wenn meine Qualen noch jemandem als Beispiel dienen könnten, würde ich sie begreifen; aber ich leide im Verborgenen. Diese Tatsache ist ebenso sehr Vorsehung wie das Schicksal einer unbekannten Blume, die im Grunde eines unbetretenen Waldes verblüht, ohne daß jemand ihren Duft eingeatmet oder ihre Pracht bewundert hätte. Wie sie nutzlos ihren Duft in die Einsamkeit ausströmen läßt, so bringe ich hier in einer Dachkammer Ideen zur Welt, die niemand aufgreift: gestern Abend aß ich zusammen mit einem jungen Mediziner namens Meyraux Brot und Weintrauben an meinem Fenster. Wir sprachen miteinander wie Leute, die durch das Unglück Brüder geworden sind, und ich sagte zu ihm: »Ich gehe jetzt fort, Sie bleiben hier, nehmen Sie meine Gedanken und entwickeln Sie sie.« – »Das kann ich nicht,« antwortete er mir mit bitterer Traurigkeit, »meine allzu schwache Gesundheit würde meinen Arbeiten nicht standhalten; ich muß im Kampf mit der Not jung sterben.« – Wir sahen zum Himmel auf und drückten einander die Hände. Wir hatten uns im Kolleg über vergleichende Anatomie und in den Museen getroffen, beide durch das gleiche Studium der geologischen Zusammenhänge dort hingeführt. Ihn zog das Vorgefühl des Genies, das ausgesandt war, um in den Brachfeldern des Geistes einen neuen Weg zu erschließen; mich die Folgerichtigkeit eines allgemeinen Systems. Mein Gedanke ist, die wirklichen Beziehungen, die zwischen dem Menschen und Gott bestehen können, zu bestimmen. Ist das nicht ein Bedürfnis unserer Zeit? Ohne feste Gewißheit kann man unmöglich die Gesellschaft bändigen, die der Geist des Forschens entfesselt hat und die heute schreit: »Führt uns auf einen Weg, auf dem wir gehen können, ohne auf Abgründe zu stoßen!« Du wirst mich fragen, was die vergleichende Anatomie mit einer für die Zukunft der Gesellschaft so ernsten Frage zu tun hat. Muß man nicht davon überzeugt sein, daß der Mensch der Zweck aller irdischen Mittel ist, um sich dann zu fragen, ob er denn für gar keinen Zweck das Mittel ist? Wenn der Mensch mit allem verbunden ist, gibt es denn nichts über ihm, an das er sich seinerseits bindet? Wenn er das Ende der unerklärlichen Verwandlungen ist, die bis zu ihm hinaufreichen, muß er da nicht das Band zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Natur sein? Das Wirken der Welt ist nicht sinnlos, es hat ein Ziel, und dieses Ziel darf keine Gesellschaft sein, wie die unsere es ist. Zwischen uns und dem Himmel ist eine furchtbare Lücke. In dem gegenwärtigen Zustand können wir nicht immer genießen, nicht immer leiden; braucht es da nicht einer gewaltigen Wandlung, um ins Paradies und in die Hölle zu kommen, zwei Begriffe, ohne die Gott in den Augen der Menge nicht existiert? Ich weiß, daß man sich aus der Verlegenheit geholfen hat, indem man die Seele erfand; aber ich sträube mich dagegen, Gott mit der menschlichen Niedertracht, mit unsern Enttäuschungen, unsern Widerwärtigkeiten, unserm Untergang zu identifizieren. Und wie kann man ein göttliches Prinzip in uns annehmen, wenn ein paar Gläser Alkohol es besiegen können? Wie kann man sich immaterielle Fähigkeiten vorstellen, die die Materie verwandeln, wenn ihre Wirkung durch einen Tropfen Opium aufgehoben werden kann? Wie soll man sich vorstellen, daß wir noch empfinden, wenn wir der Vorbedingungen für unser Empfindungsvermögen beraubt sind? Warum sollte Gott vergehen, weil die Substanz denkend ist? Sind die Beseelung der Substanz und ihre unzähligen Verschiedenheiten – die Wirkungen ihrer Instinkte – weniger unerklärlich als die Wirkungen des Gedankens? Genügt die Bewegung der Welten nicht, um Gott zu beweisen, ohne sich dabei in die von unserem Hochmut erzeugten Unsinnigkeiten zu verstricken? Wenn wir aus einer vergänglichen Form nach mancherlei Prüfungen in eine bessere Welt eingehen, genügt das nicht für eine Kreatur, die sich nur durch einen vollkommeneren Instinkt von allen andern unterscheidet? Wenn es in der Moral kein Prinzip gibt, das nicht ad absurdum führt oder durch den Augenschein nicht widerlegt wird, ist es da nicht an der Zeit, nach Gesetzen zu suchen, die in der Natur der Dinge selbst begründet sind? Sollte man die Philosophie nicht umkehren? Wir beschäftigen uns sehr wenig mit dem sogenannten Nichts, das uns voranging, wir durchsuchen vielmehr nur das sogenannte Nichts, das uns erwartet. Wir machen Gott für die Zukunft verantwortlich und fordern keine Rechenschaft von ihm für das Vergangene. Aber wir müssen ebenso gut wissen, ob wir nicht im Vergangenen wurzeln, wie wir wissen müssen, ob wir dem Zukünftigen fest verbunden sind. Wir waren nur einseitige Deisten oder Atheisten. Ist die Welt ewig? Ist die Welt geschaffen? Wir erkennen kein Mittleres zwischen diesen beiden Behauptungen an: die eine ist falsch, die andere ist richtig; wählt! Was ihr auch wählen möget, Gott muß, so wie unsere Vernunft ihn sich vorstellt, abnehmen, was der Verneinung seiner Existenz gleichkommt. Wenn die Welt ewig ist, so ist die Frage nicht zweifelhaft: Gott ist ihr unterworfen. Wurde die Welt jedoch geschaffen, dann ist Gott nicht mehr möglich. Wie hätte er eine ganze Ewigkeit lang nicht wissen sollen, daß er einst den Gedanken haben würde, die Welt zu schaffen? Wie hätte er nicht im voraus die Resultate wissen müssen? Wo hat er die Substanz hergenommen? Aus sich selbst notwendigerweise. Wenn aber die Welt aus Gott kommt, wie kann man das Böse zugeben? Wenn das Böse aus dem Guten kommt, dann ist alles Unsinn. Wenn es kein Böses gibt, was wird aus der Gesellschaft und ihren Gesetzen? Überall Abgründe für die Vernunft! Es muß also die ganze soziale Wissenschaft von Grund auf neu gestaltet werden! Denn, lieber Onkel, solange ein erhabener Geist keine Rechenschaft gegeben hat von der offenkundigen Ungleichheit der Intelligenzen, solange wird der allgemeine Sinn der Menschheit, wird das Wort ›Gott‹ unablässig umstritten werden, solange ist die Gesellschaft auf Sand gebaut. Das Geheimnis der verschiedenen geistigen Zonen, durch die der Mensch hindurchgeht, wird sich durch die Analyse des Animalischen finden lassen. Das Animalische wurde bisher nur auf seine Verschiedenheiten, nie auf seine Gleichheiten hin betrachtet; nur in seinem äußeren Organismus, nie in seinen inneren Fähigkeiten. Die animalischen Fähigkeiten vervollkommnen sich mehr und mehr, nach Gesetzen, die noch zu suchen sind. Diese Fähigkeiten hängen mit den Kräften zusammen, die sie ausdrücken, und diese Kräfte sind im wesentlichen materiell und teilbar. Materielle Fähigkeiten! Man denke an diese beiden Worte! Stellen sie nicht eine ebenso unlösbare Frage dar, wie es diejenige der Übertragung der Bewegung auf die Materie ist, ein noch unerforschtes Gebiet, dessen Schwierigkeiten durch das System Newtons mehr verschoben als gelöst wurden? Schließlich verlangt die dauernde Verbindung des Lichts mit allem, was auf der Erde lebt, eine neue Prüfung des Erdballs. Das gleiche Tier sieht in den Tropen anders aus als in Indien oder im Norden. Zwischen den senkrechten und den schrägen Sonnenstrahlen entwickelt sich eine ungleiche und doch gleichartige Natur, die in ihren Prinzipien ähnlich, in ihren Resultaten jedoch verschieden ist. Das Phänomen, das uns in der Welt der Zoologie in die Augen fällt, wenn wir die Schmetterlinge von Bengalen mit denen Europas vergleichen, ist in der Welt des Geistes noch viel bedeutsamer. Es ist ein bestimmter Gesichtswinkel notwendig, eine gewisse Menge Gehirnfalten, um einen Kolumbus, einen Raffael, einen Napoleon, einen Laplace oder einen Beethoven zu schaffen. In einem Tal ohne Sonne werden Kretins geboren; ziehe deine Schlüsse daraus. Warum diese Verschiedenheiten, die der mehr oder minder glücklichen Verteilung des Lichtes im Menschen zuzuschreiben ist? Diese großen leidenden Menschenmassen, die mehr oder minder tätig, mehr oder minder ernährt, mehr oder minder aufgeklärt sind, stellen Schwierigkeiten dar, die gelöst werden wollen und die Gott anklagen. Warum wollen wir immer in der höchsten Freude die Erde verlassen, warum möchte sich derjenige emporschwingen, der die ganze Schöpfung erfaßt hat, erfassen wird? Die Bewegung ist eine große Seele, deren Verbindung mit der Materie ebenso schwer zu erklären ist wie die Erzeugung des Gedankens im Menschen. Heute ist die Wissenschaft eine Einheit; es ist unmöglich, die Politik zu berühren, ohne sich mit Moral zu befassen; und wiederum die Moral spielt in alle wissenschaftlichen Fragen mit hinein. Mir scheint, als wären wir am Vorabend einer großen Menschheitsschlacht; die Streitkräfte sind da, ich sehe nur den Anführer noch nicht.
25. November
Glaube mir, lieber Onkel, es ist schwer, ohne Schmerz auf ein Leben zu verzichten, das uns gemäß ist; ich kehre mit einer heftigen Erregung des Herzens nach Blois zurück. Ich werde dort sterben und nützliche Wahrheiten mit mir ins Grab nehmen. Keine persönlichen Interessen entwürdigen mein Bedauern. Bedeutet der Ruhm demjenigen etwas, der in eine höhere Sphäre gelangen zu können glaubt? Ich empfinde keinerlei Liebe für die beiden Silben ›Lam‹ und ›bert‹; ob sie nun mit Verehrung oder Gleichgültigkeit über meinem Grabe ausgesprochen werden, sie ändern an meinem weiteren Schicksal nichts. Ich fühle mich stark, voller Energie und könnte eine Macht werden; ich fühle ein so strahlendes Leben in mir, daß ich damit eine Welt beleben könnte und bin doch eingeschlossen in eine Art von Mineral wie es vielleicht in der Tat die Farben sind, die wir am Halse der Vögel auf der indischen Halbinsel bewundern. Man müßte die ganze Welt umarmen, sie zusammenpressen, um sie neu zu machen. Aber waren nicht diejenigen, die sie so zusammenpreßten, anfangs nur ein Räderwerk der Maschine? Ich aber werde zermalmt werden. Mohammed gehört der Säbel, Jesus das Kreuz, mir der dunkle Tod; morgen in Blois und ein paar Tage später in einem Sarge.
Weißt du, warum ich wieder bei Swedenborg gelandet bin, nachdem ich unendlich viel über die Religionen studiert habe und mir durch die Lektüre der Arbeiten, die das fleißige Deutschland, die England und Frankreich seit sechzig Jahren veröffentlicht haben, die tiefe Wahrheit meiner Jugendbemerkungen über die Bibel klar gemacht habe? Swedenborg faßt in der Tat alle Religionen zusammen oder vielmehr, die einzige Religion der Menschheit. Wenn ihre Gottesdienste auch unzählige Formen angenommen haben, ihr Sinn und ihre metaphysische Gestaltung haben sich nie gewandelt. Der Mensch hat also stets nur eine Religion gehabt. Der Schivaismus, der Vischnuismus und der Brahmaismus, die drei ersten menschlichen Kulte, die in Tibet, im Tale des Indus und auf den weiten Ebenen des Ganges entstanden sind, haben ein paar tausend Jahre vor Christus den Krieg untereinander beendet, indem sie die hinduistische Lehre von der Trimurti angenommen haben. Aus diesem Dogma ging in Persien die Religion der Magier hervor, in Ägypten die afrikanischen Religionen und der Mosaismus und endlich der Kabirismus und der griechisch-römische Polytheismus. Während diese Ausstrahlungen der Lehre von der Trimurti die Mythen Asiens den Phantasien jedes Landes anpassen, in das sie durch die Weisen eingeführt wurde, die die Menschen dann in Halbgötter wie Mithra, Bacchus, Hermes, Herkules verwandeln, erhebt sich Buddha, der berühmte Reformator der drei ersten Religionen in Indien und gründet dort seine Kirche, die noch heute zweihundert Millionen Anhänger mehr zählt als das Christentum, und aus der die gewaltigen Gedanken eines Christus und eines Konfuzius Kraft geschöpft haben. Das Christentum erhebt sein Banner; später schweißt Mohammed Judentum und Christentum, Bibel und Evangelium in einem Buche, dem Koran, zusammen, und paßte alles dem Geiste der Araber an. Swedenborg nun nimmt aus der Lehre der Magier, aus dem Brahmaismus, dem Buddhismus und dem christlichen Mystizismus, was diese vier großen Religionen Gemeinsames, Wirkliches, Göttliches haben, und gibt ihren Lehren eine sozusagen mathematische Grundlage. Wer sich in diese religiösen Strömungen stürzt, deren Gründer nicht alle bekannt sind, der erkennt, daß Zarathustra, Moses, Buddha, Konfuzius, Jesus Christus, Swedenborg die gleichen Prinzipien haben und daß sie dem gleichen Ziele zustreben. Aber der letzte von allen, Swedenborg, wird vielleicht der Buddha des Nordens werden. So dunkel und weitschweifig seine Bücher auch sein mögen, es sind Stellen von einer geradezu gewaltigen Auffassung darin. Sein Gottesreich ist erhaben und seine Religion die einzige, die einem höheren Geiste Raum läßt. Er allein läßt uns an Gott heranreichen, er flößt uns das Verlangen nach ihm ein, er hat die Majestät Gottes aus den Banden befreit, in die die anderen Kulte ihn eingeschnürt haben. Er hat ihn dort gelassen, wo er ist, und läßt um ihn her seine zahllosen Schöpfungen und Geschöpfe durch dauernde Wandlungen kreisen, die eine viel unmittelbarere, viel natürlichere Zukunft bedeuten, als die Ewigkeitslehre des Katholizismus. Er hat Gott von dem Vorwurf befreit, den zarte Seelen ihm wegen der lang andauernden Rache machen, mit der er die Fehler eines Augenblicks bestraft; ein System ohne Gerechtigkeit und Güte. Jeder Mensch vermag zu wissen, ob es ihm bestimmt ist, in ein anderes Leben überzugehen, und ob jene Welt einen Sinn hat. Diesen Versuch will ich jetzt machen. Dieser Versuch kann die Welt ebensogut retten, wie das Kreuz von Jerusalem und der Säbel von Mekka getan haben. Beide sind sie Kinder der Wüste. Von den dreiunddreißig Jahren, die Jesus alt wurde, sind nur neun bekannt. Sein unbekanntes Leben hatte sein ruhmreiches vorbereitet. Auch ich brauche die Wüste!
Trotz der Schwierigkeit des Unterfangens habe ich doch geglaubt versuchen zu sollen, die Jugend Lamberts zu schildern, dieses verborgene Leben, dem ich die einzigen guten Stunden und die einzigen schönen Erinnerungen meiner Kindheit verdanke. Außer diesen zwei Jahren kannte ich nur Unruhe und Kummer. Wenn später das Glück gekommen ist, so war es immer ein unvollkommenes. Ich bin sicher sehr weitschweifig gewesen; aber wenn man nicht in das Herz und das Hirn Lamberts eindringt, zwei Worte, die nur unvollkommen die unendlich vielen Spielarten seines ›inneren Lebens‹ wiedergeben, wäre es fast unmöglich, die zweite Hälfte seiner Geistesgeschichte zu verstehen, die der Welt und mir gleichermaßen unbekannt ist, dessen geheime Entwicklung sich jedoch während weniger Stunden vor mir enthüllt hat. Wem dieses Buch noch nicht aus den Händen geglitten ist, der wird, hoffe ich, die Ereignisse verstehen, die noch zu berichten sind und die gewissermaßen eine zweite Existenz dieses Geschöpfes darstellen; warum sage ich nicht ›dieser Schöpfung‹, in der alles außergewöhnlich sein mußte, auch das Ende?
Als Louis wieder in Blois war, bemühte sich sein Onkel, ihm Zerstreuungen zu verschaffen. Aber der arme Geistliche war in dieser frommen Stadt wie ein wirklicher Aussätziger. Keiner wollte einen Revolutionär, einen auf die Verfassung Vereidigten bei sich aufnehmen. Doch die Gesellschaft bestand auch noch aus einigen Personen von sogenannter liberaler, patriotischer oder konstitutioneller Anschauung, zu denen er ging, um seine Partie Whist oder Boston zu spielen. In dem ersten Hause, in das ihn sein Onkel einführte, begegnete Louis ein junges Mädchen, das durch ihre gesellschaftliche Stellung gezwungen war, in diesen Kreisen, die von den Leuten der großen Welt gemieden wurden, zu bleiben, obgleich ihr Vermögen groß genug war, daß man hätte annehmen können, sie würde später eine Verbindung in der hohen Aristokratie des Landes eingehen. Fräulein Pauline von Villenoix war die einzige Erbin eines Vermögens, das ihr Großvater, ein Jude namens Salomon, erworben hatte, der – entgegen den Gebräuchen seines Volkes – in hohem Alter eine Frau katholischer Konfession geheiratet hatte. Er hatte einen Sohn, der im Glauben der Mutter erzogen wurde. Beim Tode des Vaters kaufte der junge Salomon ein Gut, das Adelsvorrechte verlieh, ließ den Grund und Boden von Villenoix zum Lehn erheben und nahm den Namen seiner Besitzung an. Er war unverheiratet gestorben, hinterließ aber eine natürliche Tochter, der er den größten Teil seines Vermögens vererbte, vor allem seine Besitzung Villenoix. Einer seiner Onkel, Joseph Salomon, wurde von Herrn von Villenoix zum Vormund der Waise bestimmt. Dieser alte Jude liebte sein Mündel derart, daß er große Opfer zu bringen gewillt schien, um sie günstig zu verheiraten. Aber die Herkunft von Fräulein von Villenoix und die Vorurteile, die man in der Provinz gegen Juden hatte, gestatteten es ihr nicht, trotz ihres Vermögens und desjenigen ihres Vormunds, in jene ganz exklusive Gesellschaft hineinzukommen, die sich mit Recht oder Unrecht adelig nennt. Doch Herr Joseph Salomon wollte, da er keinen Provinzedelmann fand, daß sein Mündel nach Paris ginge, um unter den liberalen oder monarchisch gesinnten Pairs einen Gatten zu wählen. Ihr Glück glaubte ihr der gute Vormund durch die Abmachungen eines Ehekontraktes garantieren zu können. Fräulein von Villenoix war damals zwanzig Jahre alt. Ihre große Schönheit, die Anmut ihres Geistes waren für ihr Glück bessere Garantien als diejenigen, die ihr ihr Vermögen verschaffen konnte. Ihre Züge zeigten den reinen Typ der schönen Jüdin, jene ovalen, reinen und kühngeschwungenen Linien, die etwas Ideales an sich haben und die die Wunder des Orients ausströmen, die immer gleich bleibende Bläue seines Himmels, den Glanz seiner Erde und die fabelhaften Reichtümer seines Lebens. Sie hatte schöne Augen mit langen Augenlidern, an denen starke und geschwungene Wimpern hingen. Eine biblische Unschuld lag auf ihrer Stirn. Ihr Teint hatte die mattweiße Farbe der Priestergewänder. Gewöhnlich war sie still und zurückhaltend; aber ihre Gesten, ihre Bewegungen bezeugten eine verborgene Anmut, wie auch ihre Worte den sanften und liebevollen Geist der Frau bekundeten. Aber sie besaß nicht die rosige Frische, jene roten Farben, die die Wangen der Frau in ihren sorglosen Jahren schmücken. Bräunliche Farbtöne, von einigen rötlichen Äderchen durchzogen, ersetzten auf ihrem Gesicht die eigentliche Farbe und verrieten einen energischen Charakter, eine nervöse Reizbarkeit, die viele Männer nicht gern bei einer Frau sehen, die aber für andere wieder ein Zeichen für zarte Keuschheit und stolze Leidenschaft sind. Sobald Lambert Fräulein von Villenoix sah, ahnte er den Engel in dieser Gestalt. Die reichen Gaben seiner Seele, seine Neigung zur Ekstase, alles in ihm löste sich in eine grenzenlose Liebe auf, in die erste Liebe des jungen Mannes, eine Leidenschaft, die schon bei anderen gewaltig ist, die aber bei der lebhaften Glut seiner Sinne, der Natur seiner Ideen und seines Lebens wohl zu unberechenbarer Gewalt führen mußte. Diese Leidenschaft war ein Abgrund, in den der Unglückliche alles hineinwarf, ein Abgrund, in den sein Denken hinunterzusteigen sich fürchtete, da es sich, biegsam und stark, wie es war, darin verlor. Hier wird jetzt alles Mysterium, denn was geschah, geschah in der geistigen Welt, die den meisten Menschen verschlossen ist und deren Gesetze ihm vielleicht zu seinem Unglück offenbar wurden. Als der Zufall mich mit seinem Onkel in Verbindung brachte, führte mich der alte Mann in das Zimmer, das Lambert zu jener Epoche bewohnt hatte. Ich wollte einigen Spuren seiner Werke, wenn er welche hinterlassen hatte, nachgehen. Zwischen den Papieren, deren Unordnung der Greis mit dem edlen Gefühl des Schmerzes respektiert hatte, wie es alten Leuten eigen ist, fand ich einige Briefe, die zu unleserlich waren, als daß sie an Fräulein von Villenoix hätten abgeschickt worden sein können. Da ich Lamberts Schrift kannte, konnte ich mit der Zeit die Hieroglyphen dieser Kurzschrift entziffern, die Ungeduld und unsinnige Leidenschaft erfunden hatten. Von seinen Gefühlen hingerissen, schrieb er, ohne zu merken, wie unleserlich seine Schrift wurde, die für sein Denken viel zu langsam ging. Er hatte seine formlos hingeworfenen Versuche, bei denen die Reihen oft ineinander gingen, gewiß abschreiben müssen. Aber vielleicht hatte er auch Furcht, seine Gedanken nicht klar genug ausgedrückt zu haben, so daß er anfangs seine Liebesbriefe zweimal schrieb. Wie dem auch sei, es brauchte meinen ganzen Eifer, den ich für den Kult zu Ehren seines Gedächtnisses aufbrachte, und eine Art Fanatismus, den solch ein Unterfangen mit sich bringt, um den Sinn der folgenden fünf Briefe zu erraten und zu ergänzen. Diese Papiere, die ich mit einer Art Pietät aufbewahre, sind das einzige greifbare Zeugnis seiner glühenden Leidenschaft. Fräulein von Villenoix hat die an sie abgesandten Briefe wohl vernichtet, diesen beredten Ausdruck eines Rausches, den sie in ihm entfacht hatte. Der erste Brief, der augenscheinlich ein Entwurf war, zeugt in seiner Form und seiner Weitschweifigkeit von dem Zögern, der Verwirrung des Herzens, den unzähligen Befürchtungen, die der Wunsch zu gefallen in ihm erweckte, jenen Wechsel im Ausdruck und die Unsicherheit im Gedanken, die einen jungen Mann überfällt, der zum ersten Mal Liebesbriefe schreibt: Briefe, die man nie mehr vergißt, bei denen jeder Satz die Frucht eines Traumes ist, bei denen jedes Wort zu langem Nachdenken anregt, in denen das ungebändigtste aller Gefühle die Notwendigkeit der bescheidensten Redewendung einsieht und sich wie ein Riese, der sich bückt, um in eine Hütte einzutreten, demütig und klein macht, um die Seele eines jungen Mädchens nicht zu erschrecken. Nie hat ein Altertumsforscher seine Pergamente mit mehr Ehrfurcht gehandhabt als ich diese Dokumente, die ich studierte und zusammensetzte, und die ein tiefes Leid und eine heilige Freude offenbaren, die beide für alle diejenigen geheiligt sind, die die gleiche Glückseligkeit gekannt haben.