Honoré de Balzac
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit
Honoré de Balzac

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Frau de la Chanterie

An einem schönen Septemberabend des Jahres 1836 stand ein Mann von ungefähr dreißig Jahren an die Brüstung gelehnt auf dem Quai, von dem man die Seine gleichzeitig stromauf vom Botanischen Garten bis zu Notre-Dame und stromabwärts über das weite Ufergelände bis zum Louvre überblickt. Es gibt keinen zweiten solchen Punkt in der Hauptstadt des Geistes. Man befindet sich hier wie auf dem Heck eines gigantischen Schiffes. Die Geschichte von Paris steigt vor Einem auf von den Römern bis zu den Franken, von den Normannen bis zu den Burgundern, das Mittelalter, die Valois, Heinrich IV., Ludwig XIV., Napoleon und Louis Philipp. Jede Herrschaft hat irgendeine Spur hinterlassen oder Monumente, die an sie erinnern. Sainte-Geneviève überragt mit ihrer Kuppel das Quartier latin. Hinter einem erhebt sich der herrliche Chor der Kathedrale. Das Hôtel de Ville erzählt von allen Revolutionen, das Krankenhaus von allem Elend der Stadt Paris. Wenn man die Herrlichkeiten des Louvre betrachtet hat, kann man ein paar Schritte davon die zerfallenen Häuserreste zwischen dem Quai de la Tournelle und dem Hôtel de Ville sehen, die die modernen Schöffen der Stadt jetzt verschwinden lassen.

Im Jahre 1835 besaß dieses wundervolle Bild noch eine Besonderheit mehr: zwischen dem an die Brüstung gelehnten Pariser und der Kathedrale war das Terrain, wie der alte Name dieser einsamen Gegend lautete, noch mit den Ruinen des erzbischöflichen Palais bedeckt. Angesichts so vieler Bilder, die die Phantasie anregen, wo der Geist Vergangenheit und Gegenwart der Stadt Paris umfaßt, scheint die Religion hier eine Stätte gefunden zu haben, von der aus sie beide Hände über die Schmerzen beider Ufer des Flusses ausbreitet und den Raum vom Faubourg Saint-Antoine bis zum Faubourg Saint-Marceau umfaßt. Wir wollen hoffen, daß eine so erhabene Harmonie durch die Errichtung eines erzbischöflichen Palais in gotischem Stil vervollkommnet wird, das an die Stelle des baufälligen, charakterlosen Gebäudes zwischen dem Terrain, der Rue d'Arcole, der Kathedrale und dem Quai de la Cité tritt.

Dieser Punkt, das Herz des alten Paris, ist zugleich seine einsamste und melancholischste Stelle. Die Wogen der Seine prallen hier geräuschvoll an, die Kathedrale wirft bei Sonnenuntergang ihren Schatten darüber hin. Man versteht, daß hier bei einem Manne, der an einer seelischen Krankheit litt, ernste Gedanken lebendig wurden. Wahrscheinlich gefesselt von dem Einklang zwischen seinen momentanen Gedanken und denen, die der Anblick so verschiedener Bilder in ihm wachrief, blieb der Spaziergänger, die Hände auf die Brüstung gestützt, stehen, versunken in die zwiefache Betrachtung von Paris und von sich selbst! Die Schatten wuchsen länger, Lichter wurden in der Ferne angezündet, er aber ging nicht weiter, versunken in tiefes Nachdenken über die Zukunft, die das Überdenken der Vergangenheit so ernst macht. In diesem Augenblick hörte er, wie zwei Personen sich näherten, deren Stimmen er schon von der steinernen Brücke her vernommen hatte, die die Cité-Insel mit dem Quai de la Tournelle verbindet. Die beiden Personen glaubten ohne Zweifel, daß sie allein seien und sprachen daher lauter, als sie es an besuchten Orten oder in Gegenwart eines Fremden getan hätten. Von der Brücke her ließen die Stimmen erkennen, wie aus einigen an das Ohr des unfreiwilligen Zeugen der Szene gelangten Worten hervorging, daß es sich um eine Bitte, Geld zu borgen, handelte. Als sie in die Nähe des Spaziergängers gelangt waren, trennte sich der, der wie ein Arbeiter gekleidet war, von dem andern mit einer verzweifelten Gebärde. Der andere wandte sich um, rief den Arbeiter zurück und sagte zu ihm: »Sie haben ja keinen Sou Brückengeld. Hier,« fuhr er fort und gab ihm ein Geldstück, »und denken Sie daran, daß es Gott selbst ist, der zu uns spricht, wenn wir einen guten Gedanken haben.«

Diese letzten Worte ließen den Träumer erzittern. Der Mann, der sie gesprochen hatte, ahnte nicht, daß er, um einen sprichwörtlichen Ausdruck zu gebrauchen, zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, und daß er sie an ein zweifaches Elend gerichtet hatte: an einen verzweifelten Arbeiter und an eine kranke Seele ohne Kompaß; ein Opfer dessen, was die Hämmel Panurgs »Fortschritt« nennen und die Franzosen »Gleichheit«. Die an sich so einfachen Worte erhielten eine gewisse Größe durch den Ton dessen, der sie gesprochen hatte und durch seine reizvolle Stimme. Gibt es nicht solche sanften, süßen Stimmen, die auf uns wie der Anblick des Ultramarins wirken?

An der Kleidung erkannte der Pariser einen Priester und erblickte bei dem letzten Licht der Dämmerung ein bleiches, erhabenes, aber abgezehrtes Antlitz. Der Anblick eines Priesters, der in Wien aus dem schönen Stephansdom heraustrat, um einem Sterbenden die letzte Wegzehrung zu bringen, bestimmte den berühmten Dramatiker Werner, katholisch zu werden. Fast ebenso ging es dem Pariser beim Anblick des Mannes, der ihm eben, ohne es zu ahnen, Trost gebracht hatte; an dem mit dunklen Wolken drohenden Horizont seiner Zukunft erblickte er einen langen hellen Streifen, in dem das Blau des Äthers hindurchschien, und er ging diesem Lichte nach wie die Hirten des Evangeliums der Stimme, die ihnen von oben her zurief: »Der Heiland ist geboren!« Der Mann, der das heilbringende Wort gesprochen hatte, ging an der Kathedrale entlang und lenkte seine Schritte, dem Zufall gehorchend, der manchmal so planvoll ist, der Straße zu, aus der der Spaziergänger gekommen war, und in die ihn die Fehler, die er in seinem bisherigen Leben begangen hatte, zurückführten.

Dieser Spaziergänger hatte den Namen Gottfried. Der Leser dieser Geschichte wird verstehen, aus welchen Gründen nur die Vornamen der vorkommenden Personen genannt werden. Es soll nun berichtet werden, warum Gottfried, der in dem Viertel der Chaussée d'Antin wohnte, sich um diese Stunde am Chor von Notre-Dame befand.

Sohn eines Detailhändlers, der durch Sparsamkeit ein ziemliches Vermögen zusammengebracht hatte, konzentrierte sich der ganze Ehrgeiz von Vater und Mutter auf ihn, die ihn als Pariser Notar zu sehen hofften. Er wurde daher mit sieben Jahren in dem Institut des Abbé Liautard untergebracht, zusammen mit Kindern vieler vornehmer Familien, die unter der Regierung des Kaisers aus Anhänglichkeit an die Religion, die in den Lyzeen ein wenig vernachlässigt wurde, ihre Söhne in dieser Schule erziehen ließen. Die sozialen Unterschiede konnten sich unter den Kameraden noch nicht geltend machen; aber im Jahre 1821 mußte Gottfried, der nach Vollendung seiner Studien bei einem Notar in Stellung getreten war, sehr bald gewahr werden, welcher Abstand ihn von denjenigen trennte, mit denen er bisher so vertraut zusammengelebt hatte.

Als er sein Rechtsstudium begann, gehörte er zu der Masse von Bürgersöhnen, die ohne Vermögen und ohne vornehme Herkunft alles nur von ihrer persönlichen Fähigkeit oder ihrem hartnäckigen Fleiß zu erwarten haben. Die Erwartungen, welche Vater und Mutter, die sich inzwischen vom Geschäft zurückgezogen hatten, auf ihn setzten, spornten seine Eigenliebe an, ohne ihm doch den nötigen Ernst zu verleihen. Die Eltern lebten nach holländischer Weise sehr bescheiden und verbrauchten nur den vierten Teil ihrer Rente von zwölftausend Franken; ihre Ersparnisse und die Hälfte ihres Kapitals hatten sie zum Ankauf eines Notariats für ihren Sohn bestimmt. Da er sich selbst in dieses sparsame häusliche Leben fügen mußte, hielt er ein solches Dasein den Zukunftshoffnungen seiner Eltern und seinem eigenen für so wenig entsprechend, daß er verzagte. Bei schwachen Naturen entsteht aus solchem Kleinmut Neid. Während andere, bei denen die harte Notwendigkeit, der Wille und die Einsicht die Begabung ersetzen, geradeaus und entschlossen den Weg verfolgen, der den ehrgeizigen Ansprüchen des Bürgertums vorgezeichnet ist, empörte sich Gottfried dagegen; er wollte glänzen, erschien überall, wo es hoch herging, und fühlte sich dann verletzt.

Er versuchte emporzukommen, aber alle seine Anstrengungen ließen ihn nur seine Ohnmacht erkennen. Als ihm endlich das Mißverhältnis zwischen seinen Ansprüchen und dem, was er erreicht hatte, klar wurde, ergriff ihn ein Haß gegen die sozialen Vorrechte, er wurde ein Liberaler und versuchte, sich durch ein Buch berühmt zu machen; aber der Erfolg war nur, daß er das wirkliche Talent mit denselben Augen ansah wie den Adel. Da seine Versuche mit dem Notariat, der Anwaltschaft, der Literatur nacheinander gescheitert waren, wollte er Beamter werden.

Da starb sein Vater. Weil die alte Mutter mit einer Rente von zweitausend Franken auskommen konnte, so überließ sie ihm fast das ganze Vermögen. Mit fünfundzwanzig Jahren im Besitz einer Rente von zehntausend Franken hielt er sich für reich und war es auch im Vergleich mit seinen bisherigen Verhältnissen. Bis dahin war sein Leben von einem Handeln ohne Energie, von ohnmächtigen Ansprüchen erfüllt; um mit seiner Zeit mitzugehen, um zu handeln und eine Rolle zu spielen, versuchte er es jetzt, in irgendeinen Gesellschaftskreis mit Hilfe seines Vermögens hineinzugelangen. Er stieß zuerst auf den Journalismus, der ja stets seine Arme dem ersten besten Kapital, das sich ihm nähert, entgegenstreckt. Besitzer einer Zeitung sein, das bedeutet, daß man eine Persönlichkeit geworden ist: man beutet die Intelligenz der andern aus und genießt die Annehmlichkeiten ihrer Stellung, ohne ihre Arbeit verrichten zu müssen. Nichts ist für untergeordnete Köpfe verlockender, als so, auf die Fähigkeiten anderer gestützt, emporzukommen. Paris hat mehrere solcher Parvenüs erlebt, deren Erfolg eine Schande für ihre Zeit und für diejenigen ist, die sich zu solchen Diensten hergegeben haben.

In dieser Sphäre wurde Gottfried von dem groben Machiavellismus der einen oder der Verschwendung der andern, von reichen ehrgeizigen Kapitalisten oder geistvollen Redakteuren in den Schatten gestellt; er wurde aber bald in das ungebundene Leben, zu dem die Beschäftigung mit der Literatur und der Politik Anlaß gibt, hineingezogen, in das Treiben der Kritiker hinter den Kulissen und in die Zerstreuungen, die stark beschäftigte geistige Arbeiter brauchen. Er bewegte sich also in schlechter Gesellschaft, wo man ihm übrigens klar machte, daß er ein unbedeutendes Gesicht habe und daß eine seiner Schultern sichtlich höher sei als die andere, ohne daß dieses Mißverhältnis durch Bosheit oder durch Herzensgüte wettgemacht würde. Mit dem schlechten Ton machen sich die Künstler im voraus bezahlt, wenn sie die Wahrheit sagen.

Klein, schlecht gewachsen, ohne Geist und ohne klares Ziel – damit war einem jungen Mann das Urteil gesprochen in einer Zeit, wo in jeder Karriere der Erfolg selbst bei höchsten Fähigkeiten noch vom Glück abhängig ist oder von der Hartnäckigkeit, die das Glück herbeiruft.

Die Revolution von 1830 war Balsam für Gottfrieds Wunden, und er faßte wieder den Mut zu hoffen, der dem Mut der Verzweiflung gleichkommt; er ließ sich, wie so viele unbekannte Journalisten, einen Posten in der Verwaltung übertragen, auf dem ihn seine liberalen Anschauungen, die in Widerspruch zu den Anforderungen der neuen Regierung gerieten, zu einem widerspenstigen Instrument machten. Vom Liberalismus durchdrungen, verstand er nicht, wie verschiedene hervorragende Männer, sich für die Partei zu entscheiden. Den Ministern gehorchen, das hieß für ihn, seine Ansichten wechseln. Außerdem schien ihm die Regierung den Prinzipien, auf Grund deren sie ans Ruder gekommen war, nicht zu entsprechen. Gottfried bekannte sich als Anhänger des »Fortschritts«, als es darauf ankam, diesen aufzuhalten, und er kehrte fast arm, aber den Doktrinen der Opposition getreu, nach Paris zurück.

Erschreckt durch die Übergriffe der Presse und noch mehr erschreckt durch die Attentate der republikanischen Partei, zog er sich in das Dasein zurück, das allein für den paßt, dessen Begabung mangelhaft ist, der keine Kraft fühlt, um den starken Stürmen des politischen Lebens standzuhalten, dessen Leiden und Kämpfe sich geräuschlos abspielen, der durch das Scheitern seiner Pläne ermattet ist, der keine Freunde hat, weil Freundschaft hervorragende Vorzüge oder Mängel verlangt und der ein mehr unklares als tiefes Empfinden besitzt. War das nicht das einzige, was einem jungen Menschen übrigblieb, den die Erwartung von Freuden schon mehrfach getäuscht hatte und den die Berührung mit einer ebenso unruhigen wie beunruhigenden Gesellschaft bereits hatte altern lassen?

Seine Mutter, deren Leben in dem friedlichen Dorfe Auteuil zu Ende ging, rief ihren Sohn zu sich, einerseits um ihn bei sich zu haben, dann aber auch, um ihm einen Weg zu weisen, auf dem er das gleichmäßige harmlose Glück finden konnte, das für solche Seelen angemessen ist. Sie hatte schließlich Gottfrieds Wesen richtig erkannt, da sie sah, wie er mit achtundzwanzig Jahren so viel Vermögen eingebüßt hatte, daß seine Rente nur noch viertausend Franken betrug, wie seine Wünsche kraftlos geworden, seine angeblichen Fähigkeiten erschöpft, seine Arbeitskraft erloschen, sein Ehrgeiz gedemütigt und sein Haß gegen alles, was berechtigterweise emporkam, durch seine getäuschten Hoffnungen nur noch verstärkt war. Sie versuchte, Gottfried mit einem jungen Mädchen, der einzigen Tochter eines Kaufmannsehepaars, das sich vom Geschäft zurückgezogen hatte, zu verheiraten, die sollte der kranken Seele ihres Sohnes Hilfe bringen; aber der Vater besaß jenen nüchtern rechnenden Verstand, der einen früheren Kaufmann bei der Festsetzung von Ehekontrakten nicht im Stiche läßt, und nachdem Gottfried ein Jahr lang als Nachbar sich um das Mädchen bemüht hatte, wurde sein Antrag abgelehnt. Nach der Ansicht dieser eingefleischten Bourgeois' mußte der Bewerber in Anbetracht seines früheren Lebens ein durchaus unmoralischer Mensch sein; außerdem hatte er im Verlaufe dieses Jahres noch mehr von seinem Kapital verbraucht, weil er den Eltern zu imponieren und der Tochter zu gefallen wünschte. Diese, übrigens sehr verzeihliche Prunksucht gab den Ausschlag für die Ablehnung von seiten einer Familie, bei der eine solche Verschwendung Schrecken erregte, nachdem sie erfahren hatte, daß Gottfried in sechs Jahren hundertfünfzigtausend Franken von seinem Vermögen verlorengegangen waren.

Dieser Schlag traf sein schon so schwer verwundetes Herz um so stärker, als das junge Mädchen durchaus keine Schönheit war. Gottfried hatte aber, von seiner Mutter darauf hingewiesen, an seiner Zukünftigen ein ernsthaftes Wesen und den großen Vorzug eines gesunden Verstandes schätzen gelernt; er hatte sich an ihr Gesicht gewöhnt und sich in seinen Ausdruck vertieft, er liebte den Klang ihrer Stimme, ihr Gebaren und ihren Blick. Diese Neigung war sein letzter Einsatz für seine Lebensaussichten gewesen; um so bitterer war seine Enttäuschung. Als die Mutter nun starb, sah er, dessen Bedürfnisse sich dem steigenden Luxus angepaßt hatten, sich im Besitze von fünftausend Franken Rente als ganzem Einkommen und der Gewißheit, niemals irgendeinen Verlust wieder gutmachen zu können, da er sich unfähig fühlte, den Fleiß zu entwickeln, den das furchtbare Wort: »Geldverdienen« erfordert.

Eine solche ungeduldige und grämliche Schwachmütigkeit kann sich nicht entschließen, sogleich klein beizugeben. Daher versuchte Gottfried während seiner Trauerzeit in Paris sein Glück: er speiste an der Table d'hôtel, ließ sich in unvorsichtiger Weise mit Fremden ein, verkehrte in der Gesellschaft und fand nur Gelegenheiten, Geld auszugeben. Wenn er auf den Boulevards spazierenging, litt er innerlich so sehr, daß schon der Anblick einer von einer heiratsfähigen Tochter begleiteten Mutter ihm die gleiche schmerzhafte Empfindung verursachte wie der eines jungen Mannes, der ins Bois ritt, oder eines Parvenüs in einer eleganten Equipage oder eines ordengeschmückten Beamten. Das Bewußtsein seiner Ohnmacht sagte ihm, daß er weder auf eine anständige Stellung zweiten Ranges noch auf irgendeinen unschwer auszufüllenden Platz hoffen dürfte; und er besaß ein genügendes Feingefühl, um dadurch beständig verletzt zu werden, und genug Geist, um Trauerlieder voller Galle darüber anzustimmen. Unfähig zum Kampfe mit den Dingen und sich bewußt, daß er wohl eine höhere Begabung besitze, aber nicht die Willenskraft, sie in Tätigkeit umzusetzen, in dem Gefühl dieser Unvollkommenheit ohne Kraft, etwas Großes zu unternehmen, wie ohne Widerstand gegen die Ansprüche, die er von seinem früheren Leben, seiner Erziehung und seiner Sorglosigkeit her beibehalten hatte, wurde er von mehreren krankhaften Zuständen aufgezehrt, von denen ein einziger genügt hätte, einem jungen Manne, der den religiösen Glauben verloren hatte, das Dasein zu vergällen. Und so zeigte Gottfried jenes Gesicht, das man bei so vielen Männern findet, daß es für den Pariser typisch geworden ist; man liest auf ihm getäuschten oder erloschenen Ehrgeiz, durch das tägliche Schauspiel des Pariser öffentlichen Lebens genügend beschäftigten und dadurch abgestumpften Haß, eine Blasiertheit, die nach Anreiz verlangt, ein Sichbeklagen ohne Berechtigung, eine Grimasse der Kraftanstrengung, eine von früheren Mißerfolgen vergiftete Gesinnung, die dazu antreibt, sich über alles zu mokieren, alles, was aufwärts strebt, zu verhöhnen, die unumgänglichsten gesetzlichen Vorschriften zu mißachten, sich zu freuen, wenn sie auf Schwierigkeiten stoßen, und keine Gesellschaftsordnung anzuerkennen. Dieses Pariser Laster bedeutet für die tatkräftige, andauernde Verschwörung der Leute mit Energie dasselbe wie der Splint für den Saft des Baumes: es behütet sie, es unterstützt sie, und es hält sie geheim.

Seiner selbst überdrüssig, wollte Gottfried eines Morgens ein neues Leben beginnen, nachdem er einem Kameraden begegnet war, der die Rolle der Schildkröte in Lafontaines Fabel gespielt hatte, während er selbst der Hase gewesen war. Während sich zwischen ihnen eine Unterhaltung entspann, wie sie unter Schulkameraden, die sich wieder begegnen, vor sich zu gehen pflegt, und sie in der Sonne auf dem Boulevard des Italiens auf und ab gingen, war er betroffen, zu vernehmen, daß der andere, der anscheinend weniger begabt und weniger wohlhabend als er war, seinen Weg gemacht hatte, weil er an jedem Morgen noch dasselbe wie am Abend vorher gewollt hatte. Der Bedrückte beschloß daher, dieses einfache Tun nachzuahmen.

»Das soziale Leben ist wie die Erde,« hatte sein Kamerad zu ihm gesagt, »sie bringt uns um so mehr Früchte, je mehr wir sie bearbeiten.«

Gottfried hatte bereits Schulden gemacht. Als erste Strafe, als erste Buße hatte er sich auferlegt, bescheiden im verborgenen zu leben und von seinem Einkommen seine Schulden zu bezahlen. Für einen Mann, der gewöhnt war, sechstausend Franken auszugeben, wenn er nur fünftausend einnahm, war es kein kleines Unternehmen, seinen Unterhalt mit zweitausend Franken bestreiten zu wollen. Er las alle Morgen die »Kleinen Anzeigen , weil er hoffte, darin ein Asyl zu finden, wo er seine Ausgaben begrenzen und die Einsamkeit finden könnte, die für einen Menschen erforderlich waren, der sich sammeln, sich prüfen und einen andern Weg für sich finden wollte. Das Leben in den bürgerlichen Pensionen des Quartier latin verletzte seine Empfindlichkeit, die Sanatorien hielt er für ungesund, und er verfiel bereits wieder in die fatale Unschlüssigkeit der Leute ohne festen Willen, als sein Auge von folgender Anzeige gefesselt wurde:

»Kleines Logis für siebzig Franken monatlich, für einen Geistlichen geeignet. Es wird ein ruhiger Mieter gewünscht; er kann Verpflegung und Möblierung der Wohnung zu mäßigen Preisen nach Übereinkunft erhalten.

Man wende sich an den Kolonialwarenhändler Millet, Rue Chanoinesse, in der Nähe der Notre-Dame- Kirche, der alle erforderlichen Auskünfte erteilt.«

Angezogen von der biederen Form dieser Anzeige und der bürgerlichen Atmosphäre, die sie verriet, war Gottfried gegen vier Uhr bei dem Kolonialwarenhändler erschienen, der ihm sagte, daß Frau de la Chanterie jetzt bei Tisch sei und niemanden empfangen könne. Die Dame sei abends nach sieben Uhr und morgens von zehn bis zwölf Uhr zu sprechen. Während er das sagte, warf Herr Millet prüfende Blicke auf Gottfried und stellte, wie der amtliche Ausdruck lautet, eine erste Vernehmung mit ihm an. »Ist der Herr Junggeselle? Die gnädige Frau möchte jemanden haben, der ein regelmäßiges Leben führt: das Haus wird spätestens um elf Uhr geschlossen. Der Herr scheint übrigens«, sagte er schließlich, »in den Jahren zu sein, wie es Frau de la Chanterie wünscht.«

»Für wie alt halten Sie mich denn?« fragte Gottfried.

»So etwa um vierzig«, erwiderte der Kaufmann.

Diese naive Antwort verursachte bei Gottfried einen Anfall von Menschenhaß und Trübsinn. Er speiste am Quai de la Tournelle und kehrte dann zurück, um Notre-Dame zu betrachten in dem Moment, wo die Strahlen der untergehenden Sonne sich an den vielen Strebebögen des Chors brachen und sie mit ihrem Licht übergossen. Der Quai liegt schon im Schatten, wenn die Türme noch vom Glanze umstrahlt sind, und dieser Gegensatz ergriff Gottfried, der noch unter dem bitteren Eindruck der grausamen naiven Äußerung des Kolonialwarenhändlers stand.

Der junge Mann schwankte noch zwischen verzweifelten Entschlüssen und den zu Herzen gehenden frommen harmonischen Klängen der Kirchenglocken, als er mitten in der Dunkelheit, der Stille und beim Schein des Mondes die Worte des Priesters vernahm. Obgleich wenig gläubig, wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, empfand er doch ein Gefühl der Rührung und kehrte wieder in die Rue Chanoinesse, wohin er eigentlich nicht mehr hatte gehen wollen, zurück.

Der Priester und Gottfried waren gleich?erweise erstaunt, als sie beide in die Rue Massillon, gegenüber dem kleinen Portal der Kathedrale, und dann zusammen in die Rue Chanoinesse einbogen, dort, wo sie, in der Gegend der Rue de la Colombe, Rue des Marmousets heißt. Als Gottfried vor der rundbogigen Tür des Hauses, in dem Frau de la Chanterie wohnte, stillhielt, wandte sich der Priester nach ihm um und betrachtete ihn beim Schein einer Laterne, die zweifellos eine der letzten sein wird, die im Herzen des alten Paris verschwindet.

»Wollen Sie zu Frau de la Chanterie, mein Herr? fragte der Priester.

»Jawohl«, erwiderte Gottfried. »Die Worte, die ich Sie eben an den Arbeiter richten hörte, haben mich überzeugt, daß dieses Haus, wenn Sie darin wohnen, für meinen Seelenfrieden heilbringend sein muß.«

»Sie waren also Zeuge meines Mißerfolges?« sagte der Priester und erhob den Türklopfer; »ich habe ja nichts erreicht.«

»Es schien mir im Gegenteil, daß es der Arbeiter war, der ziemlich energisch Geld von Ihnen verlangte.«

»Ach«, antwortete der Priester, »es gehört mit zu dem schlimmsten Unglück, das die Revolutionen über Frankreich gebracht haben, daß jede von ihnen eine neue Prämie für den Ehrgeiz der unteren Klassen gestiftet hat. Um sich aus seinem Stande herauszuarbeiten und ein Vermögen zu erlangen, was man heute als die einzige Sicherheit in sozialer Beziehung betrachtet, gibt sich dieser Arbeiter mit ungeheuerlichen Plänen ab, die, wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind, ihn nebst seinen Spekulationen in Konflikt mit der menschlichen Gerechtigkeit bringen müssen. Das kommt manchmal bei einem Liebesdienst heraus.«

Der Pförtner öffnete eine schwere Tür, und der Priester sagte zu Gottfried: »Kommen Sie vielleicht wegen der kleinen Wohnung?«

»Jawohl, mein Herr.«

Der Priester und Gottfried durchschritten nun einen ziemlich großen Hof, in dessen Hintergrund sich im Dunkeln ein hohes Haus abzeichnete, neben dem sich ein viereckiger, sichtlich sehr alter Turm noch über die Dächer erhob. Wer die Geschichte der Stadt Paris kennt, weiß, daß hier das Terrain vor und rings um die Kathedrale sich so erhöht hat, daß keine Spur mehr von den zwölf Stufen vorhanden ist, über die man einstmals zu ihr hinaufstieg. Heute befindet sich die Basis der Säulen der Vorhalle in gleicher Höhe mit dem Pflaster. Das ursprüngliche Erdgeschoß des Hauses stellte daher jetzt den Keller dar. Vor dem Eingang zum Turm befand sich eine Freitreppe, von der man zu einer Wendeltreppe gelangte, die um einen Stamm in Form einer Rebe hinaufführte. Der Stil erinnerte an den Ludwigs XII. bei den Treppen im Schlosse Blois und geht ins vierzehnte Jahrhundert zurück. Von diesen unzähligen Zeichen des Altertums gefesselt, konnte sich Gottfried nicht enthalten, lächelnd zu dem Priester zu sagen: »Von gestern stammt der Turm nicht her.«

»Er hat, wie es heißt, dem Angriff der Normannen widerstanden und soll einen Teil des ersten Königspalastes in Paris gebildet haben; nach der Tradition war er aber wahrscheinlicher die Wohnung des berühmten Domherrn Fulbert, des Oheims der Héloise.«

Während er so sprach, öffnete der Priester die Tür der Wohnung, die das Erdgeschoß zu sein schien und die sich, nach dem ersten und zweiten Hof zu – denn es war daselbst noch ein kleiner innerer Hof –, im ersten Stock befand.

Im ersten Zimmer arbeitete bei einer kleinen Lampe ein Dienstmädchen mit einer Batisthaube, die mit getollten Falten als einzigem Schmuck besetzt war; sie steckte die eine Nadel ins Haar und behielt ihr Strickzeug in der Hand, während sie sich erhob, um die Tür eines nach dem inneren Hof zu gelegenen Salons zu öffnen. Ihre Kleidung glich der der Grauen Schwestern.

»Gnädige Frau, ich bringe Ihnen einen Mieter«, sagte der Priester und führte Gottfried in das Zimmer, wo drei Personen auf Sesseln neben Frau de la Chanterie saßen.

Diese drei und auch die Hausherrin erhoben sich; als der Priester dann einen Sessel für Gottfried herangeschoben und der künftige Mieter auf ein Zeichen der Frau de la Chanterie und ihre altmodische Äußerung: »Lassen Sie sich nieder!« Platz genommen hatte, glaubte sich der Pariser meilenfern von Paris, in der südlichen Bretagne oder in Hinterkanada.

Die Stille hat wohl verschiedene Grade. Gottfried, schon unter dem Eindruck der Stille in den Rues Massillon und Chanoinesse, durch die nicht zwei Wagen im Monat fahren, und der Stille im Hofe und im Turme, mußte sich wie im Mittelpunkte des Schweigens in diesem Salon fühlen, der von so viel alten Straßen, alten Höfen und alten Mauern beschirmt war.

Dieser Teil der Seineinsel, Le Cloître genannt, hat seinen allen Klöstern eigenen Charakter bewahrt; er erscheint feucht und kalt und verharrt auch in den lärmendsten Tagesstunden im tiefsten mönchischen Schweigen. Es muß auch erwähnt werden, daß dieser ganze Teil der Cité, der zwischen der Seitenfront von Notre-Dame und dem Fluß eingeklemmt ist, nach Norden zu und im Schatten der Kathedrale liegt. Der Wind weht hier, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, und die Seinenebel werden gewissermaßen von den schwarzen Seitenwänden der alten Metropolitankirche festgehalten. Daher wird sich niemand wundern, daß Gottfried in diesen alten Räumen in Gegenwart der vier schweigenden Personen, die ebenso feierlich wie ihre Umgebung wirkten, ein eigenartiges Gefühl empfand. Er blickte nicht um sich, weil sich seine Neugier auf Frau de la Chanterie konzentrierte, deren Namen ihm schon zu denken gegeben hatte. Diese Dame stammte augenscheinlich aus einem andern Jahrhundert, um nicht zu sagen, aus einer andern Welt. Ihr Gesicht hatte einen milden Ausdruck, einen matten kühlen Teint, eine Adlernase, eine Stirn, auf der Güte thronte, braune Augen und ein Doppelkinn: das Ganze umrahmt von silbernen Locken. Ihr Kleid hätte man als Futteral bezeichnen können, so eng lag es an, entsprechend der Mode des achtzehnten Jahrhunderts. Der Stoff, karmeliterbraune Seide mit dichten schmalen grünen Streifen, schien ebenfalls noch aus dieser Zeit herzustammen. Der obere Teil, mit dem unteren aus einem Stück geschnitten, war unter einem Umhang aus matter, mit Spitzen garnierter Seide verborgen, der über der Brust von einer Nadel mit einem Miniaturbilde zusammengehalten wurde. Die Füße in schwarzsamtenen Hausschuhen ruhten auf einem kleinen Kissen. Ebenso wie ihre Dienerin strickte Frau de la Chanterie Strümpfe und hatte unter ihrer Spitzenhaube eine Nadel in ihre gekräuselten Locken gesteckt.

»Haben Sie mit Herrn Millet gesprochen?« sagte sie zu Gottfried mit einer Kopfstimme, wie sie den alten Herzoginnen eigen war, um den fast stumm Gewordenen zum Sprechen zu veranlassen.

»Jawohl, gnädige Frau.«

»Ich fürchte, daß Ihnen die Wohnung nicht zusagen wird«, fuhr sie fort und warf einen Blick auf den eleganten, neuen, frischen Anzug ihres zukünftigen Mieters.

Gottfried trug Lackstiefel, gelbe Handschuhe, wertvolle Hemdknöpfe und eine schöne Uhrkette auf seiner schwarzseidenen blaugeblümten Weste. Frau de la Chanterie zog eine kleine silberne Pfeife aus der Tasche. Auf ihren Pfiff trat das Dienstmädchen herein.

»Manon, mein Kind, zeig dem Herrn die Wohnung. Wollen Sie den Herrn begleiten, mein lieber Vikar?« wandte sie sich an den Priester. »Wenn die Zimmer,« sagte sie, indem sie sich wieder erhob und Gottfried ansah, »Ihnen doch gefallen sollten, können wir ja über die Bedingungen reden.«

Gottfried verbeugte sich und ging hinaus. Er vernahm das Klappern von Schlüsseln, die Manon aus einer Schublade hervorholte, und sah, wie sie die Kerze in einem großen Handleuchter aus gelbem Kupfer anzündete. Ohne ein Wort zu sagen, ging Manon voraus. Als Gottfried sie auf der Treppe einholte und in die oberen Stockwerke hinaufstieg, kamen ihm Zweifel, ob er in der Wirklichkeit lebe; er träumte im Wachen, er betrachtete die Welt um sich wie einen der phantastischen Romane, die er in müßigen Stunden gelesen hatte. Jeder Pariser, der wie er aus einem der neuen Viertel, aus luxuriös möblierten Häusern, aus eleganten Restaurants und Theatern, aus dem bewegten Treiben der inneren Stadt hierher gekommen wäre, hätte ebenso empfunden. Der Leuchter in der Hand des Dienstmädchens erhellte nur schwach die Wendeltreppe, über die Spinnen ihre verstaubten Netze gezogen hatten. Manon trug einen weiten faltigen Rock aus grobem Wollstoff; ihre Taille war vorn und hinten viereckig, ihr ganzes Kleid aus einem Stück geschnitten. Als sie im dritten Stock, der als der zweite galt, angelangt waren, hielt Manon still, schloß ein altes Türschloß auf und öffnete eine Tür, deren Anstrich in plumper Weise astiges Mahagoniholz imitierte.

»Hier«, sagte sie und trat zuerst hinein.

War es ein Geizhals oder ein verhungerter Maler oder ein Zyniker, der sich um die Welt nicht bekümmerte, oder irgendein Geistlicher, der ganz zurückgezogen lebte, gewesen, der diese Räume bewohnt hatte? Man mußte sich solche Fragen vorlegen, wenn man die Atmosphäre des Elends einatmete, die Fettflecke an den verräucherten Tapeten, die geschwärzte Decke, die Fenster mit den kleinen staubigen Scheiben, die dunkel gewordenen Steine des Fußbodens und die Holzteile mit ihrem klebrigen Überzug betrachtete. Eine feuchte Kälte entströmte den Kaminen mit gemalten Skulpturen, deren Spiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert stammten. Die Wohnung umfaßte, wie das Haus, rechtwinklig den inneren Hof, den Gottfried, da es Nacht war, nicht erkennen konnte.

»Wer hat denn hier gewohnt?« fragte Gottfried den Priester.

»Ein früherer Parlamentsrat, ein Großonkel der gnädigen Frau, ein Herr von Boisfrelon. Kindisch geworden zur Zeit der Revolution, ist der alte Mann 1832 im Alter von sechsundneunzig Jahren gestorben, und die Hausherrin konnte sich nicht gleich entschließen, einen Fremden hier einziehen zu lassen; sie kann aber nicht länger den Mietzins entbehren.«

»Oh, die gnädige Frau wird die Wohnung reinigen lassen und so möblieren; daß der Herr zufrieden sein wird«, bemerkte Manon.

»Es wird darauf ankommen, was Sie mit ihr vereinbaren«, sagte der Priester. »Es ließe sich hier ein hübsches Sprechzimmer, ein großes Schlafzimmer und ein Kabinett einrichten, die rückwärts nach dem Hof gelegenen beiden kleinen Räume könnten gut als Arbeitszimmer dienen. So ist meine Wohnung, die unter dieser liegt, eingerichtet und ebenso die darüber gelegene.

»Ja,« sagte Manon, »Herrn Alains Wohnung ist dieselbe wie die Ihrige, aber sie hat die Aussicht auf den Turm.«

»Ich meine, man müßte die Wohnung und das Haus noch einmal am Tage ansehen . . .«, sagte Gottfried ängstlich.

»Das kann geschehen«, erwiderte Manon.

Der Priester und Gottfried gingen wieder hinab, während die Dienerin die Türen schloß und dann nachkam, um ihnen zu leuchten. Als Gottfried in den Salon zurückgekehrt war, konnte er, da er sich an die Umgebung gewöhnt hatte, während er sich mit Frau de la Chanterie unterhielt, die Personen und die Sachen um ihn herum einer Prüfung unterziehen.

Der Salon hatte alte rote Fenstervorhänge, die mit seidenen Schnüren zurückgenommen waren. Rote Fliesen waren rings um einen alten gewebten Teppich sichtbar, der den Fußboden nicht völlig bedeckte. Die Holztäfelung war grau angestrichen. Die Decke wurde durch einen mächtigen Balken in zwei Teile geteilt, der vom Kamin ausging und eine dem Luxusbedürfnis nachträglich gemachte Konzession zu sein schien. Die Sessel aus weiß gestrichenem Holz waren mit Stickereien bezogen. Eine elende Uhr zwischen zwei Leuchtern aus vergoldetem Kupfer war der Kaminschmuck. Neben Frau de la Chanterie stand ein alter Tisch mit Kirschfüßen, auf dem Wollknäuel in einem Weidenkorbe lagen. Eine hydrostatische Lampe erleuchtete den Raum.

Die vier Männer, die steif, unbeweglich und schweigend wie Bronzefiguren dasaßen, hatten, ebensowie Frau de la Chanterie, offenbar ihr Gespräch abgebrochen, als sie den Fremden zurückkommen hörten. Alle zeigten kalte, verschwiegene Gesichter, die in Einklang mit dem Salon, dem Hause und dem Stadtviertel standen. Frau de la Chanterie hielt die Bemerkungen Gottfrieds für gerechtfertigt und erwiderte ihm, daß sie nichts machen lassen würde, bevor sie nicht die Wünsche ihres Mieters oder besser gesagt ihres Pensionärs erfahren hätte. Wenn der Mieter sich den Gewohnheiten des Hauses anpassen wolle, könne er ihr Pensionär werden, aber diese Gewohnheiten seien von den in Paris üblichen so sehr verschieden! Man lebe in der Rue Chanoinesse wie in der Provinz: Um zehn Uhr müßten alle zu Hause sein; man dulde keinen Lärm; weder Frauen noch Kinder dürften hier verkehren, die die hier übliche Lebensweise stören würden. Frau de la Chanterie wünschte vor allem einen Mieter, der ein bescheidenes, bedürfnisloses Leben führe; sie könne die Wohnung nur mit dem unbedingt Notwendigen möblieren. Herr Alain (sie wies dabei auf einen der vier Herren) sei übrigens damit zufrieden, und sie würde ihren neuen Mieter ebenso wie die alten behandeln.

»Ich glaube nicht,« sagte jetzt der Priester, »daß der Herr bereit ist, Mitglied unserer Klostergemeinde zu werden.

»Ei, warum denn nicht?« fragte Herr Alain; »wir befinden uns hier wohl, es geht uns doch durchaus nicht schlecht.«

»Gnädige Frau,« erklärte Gottfried und erhob sich, »ich werde mir die Ehre geben, Sie morgen wieder aufzusuchen.«

Obwohl er ein junger Mann war, erhoben sich auch die vier alten Herren und ebenso Frau de la Chanterie, und der Vikar begleitete ihn bis auf die Freitreppe. Ein Pfiff ertönte. Auf dieses Zeichen erschien der Pförtner mit einer Laterne, nahm Gottfried in Empfang, führte ihn auf die Straße und schloß dann die riesige gelbliche, schwere, gefängnisartige Tür, die mit Schlössern in Arabesken, die aus einer schwer zu bestimmenden Zeit herrührten, versehen war.

Als Gottfried in seinem Kabriolett nach den belebten, hellen, erwärmten Teilen von Paris gelangte, erschien ihm alles, was er gesehen hatte, wie ein Traum, und seine Eindrücke hatten, als er auf dem Boulevard des Italiens promenierte, bereits die Form einer Erinnerung an weit Entferntes angenommen. Er fragte sich: »Werde ich morgen wieder zu diesen Leuten hingehen?«

Als er am andern Morgen inmitten der Raffiniertheiten des modernen Luxus und des englischen Komforts erwachte, erinnerte sich Gottfried an alle Einzelheiten seines Besuchs im Kloster Notre-Dame, und machte sich die Bedeutung der Dinge, die er gesehen hatte, klar. Die vier Unbekannten, deren Kleidung, Haltung und Schweigsamkeit noch jetzt auf ihn wirkten, mußten ebenso wie der Priester Pensionäre sein. Das feierliche Wesen der Frau de la Chanterie erschien ihm als die schweigende Würde, mit der sie ein großes Unglück ertrug. Aber trotzdem er sich das so erklärte, konnte Gottfried sich doch nicht enthalten, hinter diesen verschwiegenen Gesichtern irgendetwas Geheimnisvolles zu vermuten. Er musterte seine Möbel, um festzustellen, welche er behalten wollte, welche ihm unentbehrlich waren; aber wenn er sie im Geiste in die abscheuliche Wohnung in der Rue Chanoinesse versetzte, mußte er bei der Vorstellung, wie merkwürdig sie sich dort ausnehmen würden, lachen, und er beschloß, alles zu verkaufen, schon um Schulden zu bezahlen, und sich von Frau de la Chanterie einrichten zu lassen. Er mußte ein neues Leben beginnen, und alle Gegenstände, die ihn an seine frühere Lage erinnern könnten, würden ihm einen unangenehmen Anblick gewähren. In seinem Verlangen nach Umgestaltung, denn er gehörte zu den Leuten, die sich gleich mit dem ersten Sprung weit vorwärts in eine neue Situation stürzen, anstatt wie andere Schritt für Schritt vorzurücken, kam er während des Frühstücks auf neue Gedanken: Er wollte sein Vermögen flüssig machen, seine Schulden bezahlen und den Rest seines Kapitals bei dem Bankhause anlegen, mit dem schon sein Vater in Verbindung gestanden hatte.

Dieses Haus war die Firma Mongenod und Kompanie, gegründet im Jahre 1816 oder 1817, deren ehrenhaftes Renommee inmitten der kaufmännischen Verderbtheit, in die mehr oder weniger gewisse Pariser Firmen verfallen waren, niemals auch nur im geringsten angezweifelt worden war. Daher wurden, trotz ihres ungeheuren Reichtums, die Firmen Nucingen und Du Tillet, die Gebrüder Keller, Palma und Kompanie heimlich oder, wenn man will, von Mund zu Mund beredet, verachtet. Mit den übelsten Mitteln hatten sie so glänzende Resultate erreicht, und ihre politischen Erfolge, ihre dynastischen Grundsätze verhüllten ihre unsaubere Herkunft so gut, daß im Jahre 1834 niemand mehr an den Schmutz dachte, in dem diese majestätischen Stämme, diese Stützen des Staates, wurzelten. Und trotzdem gab es unter diesen Bankiers keinen einzigen, für den der lobenswerte Ruf des Hauses Mongenod nicht eine brennende Wunde war. Gleich den englischen Bankiers entfaltete das Haus Mongenod keinerlei äußeren Luxus; alles vollzog sich dort geräuschlos, man begnügte sich damit, Bankgeschäfte mit kluger Vorsicht und einer Ehrlichkeit zu machen, die den Operationen von einem Ende der Welt bis zum andern Sicherheit gewährten.

Der gegenwärtige Chef, Friedrich Mongenod, war der Schwager des Vicomte von Fontaine. Dessen zahlreiche Familie war auch durch den Baron von Fontaine mit dem Herrn Grossetête, dem Generalsteuereinnehmer, dem Bruder des Inhabers der Firma Grossetête und Kompanie in Limoges, mit Vandenesse und Planat de Baudry, dem anderen Generalsteuereinnehmer, verbunden. Diese Verwandtschaft, die dem verstorbenen alten Mongenod von großem Nutzen bei seinen Finanzoperationen unter der Restauration gewesen war, hatte ihm das Vertrauen der vornehmsten alten Adelsfamilien eingetragen, deren Kapitalien und ungeheuren Ersparnisse in seiner Bank angelegt wurden. Fern davon, nach der Pairschaft zu streben, wie die Kellers, die Nucingens und die Du Tillets, hielten sich die Mongenods von der Politik fern und wußten von ihr nicht mehr, als ein Bankhaus wissen muß.

Die Firma Mongenod war in einem prächtigen Hause in der Rue de la Victoire zwischen Hof und Garten untergebracht, wo auch die alte Frau Mongenod und ihre beiden Söhne, alle drei Geschäftsteilhaber, wohnten. Die Vicomtesse von Fontaine war beim Tode des alten Mongenod im Jahre 1827 ausbezahlt worden. Friedrich Mongenod, ein schöner junger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, von kühlem, schweigsamem Wesen, zurückhaltend wie ein Genfer, gepflegt wie ein Engländer, hatte sich bei seinem Vater alle für seinen schwierigen Beruf erforderlichen Eigenschaften angeeignet. Besser gebildet als die meisten anderen Bankiers, hatte ihn seine Erziehung mit den umfassenden Kenntnissen, die der polytechnische Unterricht verleiht, ausgerüstet; wie viele Bankiers hatte er eine Liebhaberei außerhalb seines Berufs, eine Vorliebe für Mechanik und Chemie. Der zweite Mongenod, um zehn Jahre jünger als Friedrich, arbeitete bei seinem älteren Bruder wie der erste Gehilfe eines Notars oder eines Anwalts; Friedrich bildete ihn, wie ihn selbst sein Vater ausgebildet hatte, in allen Fächern des richtigen Bankiers aus, der für das Geld dasselbe bedeutet wie der Schriftsteller für die Ideen: Der eine wie der andere muß über alles Einschlägige unterrichtet sein. Als er seinen Familiennamen nannte, merkte Gottfried, welche Achtung sein Vater hier genossen hatte, denn er durfte durch die Bureaus hindurch sich bis an das Arbeitszimmer Mongenods begeben. Dieses Zimmer hatte nur Glastüren, so daß Gottfried, der nicht die Absicht hatte, zu horchen, das Gespräch, das drinnen geführt wurde, mit anhören mußte.

»Gnädige Frau, Ihre Abrechnung beläuft sich in Einnahme und Ausgabe auf eine Million sechshunderttausend Franken,« sagte der jüngere Mongenod. »Ich kenne die Absichten meines Bruders nicht, er allein kann beurteilen, ob ein Vorschuß von hunderttausend Franken möglich sein wird . . . Sie waren nicht vorsichtig . . . Man steckt doch nicht eine Million sechshunderttausend Franken in Handelsgeschäfte . . .«

»Nicht so laut, Louis,« sagte eine weibliche Stimme, »dein Bruder hat dir doch angeraten, immer nur leise zu sprechen. Es kann doch jemand in dem kleinen Salon nebenan sein.«

In diesem Augenblick öffnete Friedrich Mongenod die Verbindungstür zwischen seiner Wohnung und seinem Arbeitszimmer, bemerkte Gottfried und durchschritt das Arbeitszimmer, während er die Person, mit der sein Bruder sprach, respektvoll grüßte. »Mit wem habe ich die Ehre . . .?« sagte er zu Gottfried und ließ ihn vorangehen.

Als Gottfried seinen Namen genannt hatte, ließ ihn Friedrich Platz nehmen, und während der Bankier seinen Schreibtisch öffnete, erhoben sich Louis Mongenod und eine Dame, die niemand anders als Frau de la Chanterie war, und gingen auf Friedrich zu. Alle drei traten in eine Fensternische und sprachen leise mit Frau Mongenod, der alle Geschäftsangelegenheiten unterbreitet wurden. Diese Frau hatte seit dreißig Jahren ihrem Gatten wie ihren Söhnen so viele Beweise ihrer Fähigkeiten gegeben, daß sie tätiger Geschäftsteilhaber mit dem Recht, die Firma zu zeichnen, geworden war. In einem Kasten sah Gottfried Akten mit der Aufschrift: »Konto de la Chanterie« mit den Nummern 1 bis 7. Als die Besprechung mit der Aufforderung des Bankiers an seinen Bruder: »Also geh zur Kasse« beendet war, wandte sich Frau de la Chanterie um, erblickte Gottfried, konnte noch eine Gebärde des Erstaunens zurückhalten und richtete mit leiser Stimme Fragen an Mongenod, auf die er mit wenigen Worten ebenso leise antwortete.

Frau de la Chanterie trug kleine dunkelblaue Schuhe und grauseidene Strümpfe, dasselbe Kleid wie am Abend vorher und darüber eine Art venezianischen Umhang, der wieder in Mode gekommen war, ferner einen Kapotthut »bonne femme« aus grüner Seide, der mit weißer Seide gefüttert war. Sie hielt sich sehr gerade, und ihre Haltung verriet, wenn nicht eine vornehme Abstammung, so doch, daß sie gewohnt war, in aristokratischer Umgebung zu leben. Ohne ihre außergewöhnliche Liebenswürdigkeit würde sie wohl als unnahbar erschienen sein. Jedenfalls machte sie einen imponierenden Eindruck.

»Es ist weniger ein Zufall, als ein Wink der Vorsehung, der uns hier zusammenführt, mein Herr«, sagte sie zu Gottfried; »ich war schon fast entschlossen, einen Pensionär abzulehnen, dessen Lebensgewohnheiten zu denen meines Hauses nicht zu passen schienen; aber Herr Mongenod hat mir eben Auskünfte über Ihre Familie gegeben, die mich . . .«

»Oh, gnädige Frau . . . Mein Herr,« sagte Gottfried, indem er sich gleichzeitig an Frau de la Chanterie und an den Bankier wandte, »ich habe keine Familie mehr; ich kam nur her, um den früheren Bankier meines Vaters um Rat zu fragen, mit welcher neuen Lebensweise ich mich meinen Vermögensverhältnissen anpassen müßte.«

Und mit wenigen Worten erzählte Gottfried von seinem bisherigen Leben und äußerte den Wunsch, ein anderes anzufangen.

»Früher« , sagte er, »wäre ein Mann in meiner Lage ins Kloster gegangen; aber wir haben ja keine Mönchsorden mehr . . .«

»Ziehen Sie nur zu der gnädigen Frau, wenn sie Sie als Pensionär aufnehmen will,« sagte Friedrich Mongenod, nachdem er mit Frau de la Chanterie einen Blick gewechselt hatte; »verkaufen Sie Ihre Rentenpapiere nicht, sondern lassen Sie sie mir. Geben Sie mir ein genaues Verzeichnis Ihrer Verpflichtungen, ich werde die Zahlungsfristen mit Ihren Gläubigern vereinbaren, Sie werden dann ungefähr hundertfünfzig Franken monatliches Einkommen haben. Zwei Jahre dauert es, bis Ihre Angelegenheiten geordnet sein werden. Während dieser zwei Jahre werden Sie an Ihrem neuen Aufenthaltsorte genügend Muße haben, an einen anderen Beruf zu denken, vor allem im Zusammenleben mit Persönlichkeiten, die Ihnen gute Ratschläge geben können.«

Louis Mongenod brachte jetzt hundert Banknoten zu tausend Franken und übergab sie Frau de la Chanterie. Dann reichte Gottfried seiner zukünftigen Wirtin den Arm und führte sie zu ihrem Wagen.

»Also auf baldiges Wiedersehn«, sagte sie in freundlichem Tone.

»Um welche Zeit treffe ich Sie zu Hause, gnädige Frau?« fragte Gottfried.

»In zwei Stunden«.

»Dann habe ich Spielraum, meine Möbel inzwischen zu verkaufen« , sagte er und empfahl sich.

Während der kurzen Zeit, wo er Arm in Arm mit Frau de la Chanterie gegangen war, sah Gottfried sie immer mit der Glorie umstrahlt, die die Worte Louis Mongenods: »Ihr Saldo beträgt eine Million sechshunderttausend Franken« über diese Frau ausgegossen hatten, deren Leben sich in der Verborgenheit des Klosters Notre-Dame abspielte. Der Gedanke: sie muß reich sein! ließ sie ihn mit völlig andern Augen betrachten. ›Wie alt mag sie wohl sein?‹ fragte er sich. Und vor seinem Geiste spielte sich schon ein Roman während seines Aufenthaltes in der Rue Chanoinesse ab. ›Sie hat ein so vornehmes Auftreten! Sollte sie Bankgeschäfte machen?‹ sagte er sich.

In unserer Zeit würden von tausend jungen Männern in Gottfrieds Lage neunhundertneunundneunzig auf den Gedanken gekommen sein, diese Frau zu heiraten.

Ein Möbelhändler, der auch ein wenig Tapezierer und hauptsächlich Vermieter möblierter Zimmer war, gab Gottfried ungefähr dreitausend Franken für alles, was er verkaufen wollte, und überließ ihm die Möbel noch für die Tage, während deren die häßliche Wohnung in der Rue Chanoinesse in Ordnung gebracht wurde, in die sich der Gemütsleidende nun sofort begab. Er ließ einen Maler, dessen Adresse ihm Frau de la Chanterie nannte, kommen, der es übernahm, binnen einer Woche die Decke weiß anzustreichen, die Fenster zu säubern und das Holzwerk und den Fußboden neu zu malen. Gottfried maß die Zimmer aus, um sie vollständig mit billigem grünem Teppichstoff ausschlagen zu lassen. Er wünschte seine Zellen mit schlichtester Einförmigkeit auszustatten. Frau de la Chanterie stimmte dem zu. Sie berechnete mit Manons Hilfe, wieviel Schirting für die Fenstervorhänge und für die eines bescheidenen eisernen Bettes erforderlich war; dann übernahm sie die Anschaffung und Herstellung für einen Preis, dessen Billigkeit Gottfried überraschte. Mit den mitgebrachten Möbeln kostete ihn die Ausstattung seiner Wohnung nicht mehr als sechshundert Franken.

»Ich werde also ungefähr tausend Herrn Mongenod übergeben können.«

»Wir führen hier«, sagte Frau de la Chanterie, »ein christliches Leben, das, wie Sie wissen, sich mit dem vielen überflüssigen Luxus, an dem Sie noch zu sehr hängen, schlecht verträgt.«

Während sie ihrem zukünftigen Pensionär Ratschläge gab, betrachtete sie einen Diamanten, der in dem Ring funkelte, mit dem Gottfrieds blaue Krawatte zusammengehalten wurde.

»Ich spreche mit Ihnen nur davon,« fuhr sie fort, »weil ich sehe, daß Sie die Absicht haben, mit dem Leben der Zerstreuungen, über das Sie sich gegen Herrn Mongenod beklagt haben, zu brechen.«

Gottfried betrachtete Frau de la Chanterie, während er sich an dem Wohlklang ihrer klaren Stimme erfreute; er prüfte ihr ganz weißes Gesicht, das einem jener ernsten kalten holländischen ähnelte, die der Pinsel der Flämischen Schule so gut wiedergegeben hat und auf denen man sich keine Runzeln denken kann.

›Sie ist weiß und rund!‹ sagte er sich, als er fortging; ›aber sie hat sehr viel weiße Haare . . .‹

Wie alle schwachen Naturen hatte sich Gottfried schnell damit ausgesöhnt, ein neues Leben, das er für ein glückliches erachtete, zu führen, und so wollte er seinen Umzug nach der Rue Chanoinesse beschleunigen; dennoch konnte er sich der Vorsicht oder, wenn man will, des Mißtrauens nicht ganz entschlagen. Zwei Tage vor seinem Umzug begab er sich wieder zu Herrn Mongenod, um noch einige Erkundigungen über das Haus, in dem er seinen Aufenthalt nehmen wollte, einzuziehen. Während der kurzen Augenblicke, die er in seiner künftigen Wohnung verweilt hatte, um die Umgestaltungen nachzuprüfen, hatte er ein Kommen und Gehen mehrerer Personen beobachtet, deren Wesen und Haltung, wenn auch nicht etwas Geheimnisvolles, so doch die Ausübung irgendeines Berufes, irgendeiner heimlichen Tätigkeit der Hausbewohner vermuten ließ. Es war zu dieser Zeit viel die Rede von Versuchen der älteren Linie des Hauses Bourbon, wieder auf den Thron zu gelangen, und Gottfried glaubte an irgendeine Verschwörung. Als er in dem Arbeitszimmer des Bankiers und unter dessen forschendem Blick seine Fragen stellte, schämte er sich seiner selbst, da er ein sardonisches Lächeln die Lippen Friedrich Mongenods umspielen sah.

»Frau Baronin de la Chanterie«, antwortete dieser, »ist eine der unbekanntesten, aber zugleich eine der ehrenhaftesten Persönlichkeiten von Paris. Haben sie einen bestimmten Grund, um sich bei mir über sie zu erkundigen?«

Gottfried beschränkte sich auf eine banale Antwort: Er solle für lange Zeit mit Fremden zusammenleben, man müsse doch wissen, mit wem man in so enge Verbindung trete, usw. Aber das Lächeln des Bankiers wurde immer ironischer, und Gottfried, der mehr und mehr in Verlegenheit geriet, schämte sich seines Schrittes, der von keinerlei Erfolg begleitet war, denn er wagte keine Fragen mehr zu stellen, weder in bezug auf Frau de la Chanterie noch auf ihre Hausgenossen.

Zwei Tage danach, an einem Montagabend, nachdem er zum letztenmal im Café Anglais gespeist und die beiden ersten Stücke im Théâtre des Variétés gesehen hatte, erschien er um zehn Uhr in der Rue Chanoinesse und wurde von Manon in seine Wohnung geführt. Die Einsamkeit hat Reize, die mit denen des Lebens in der Wildnis verglichen werden können, die jeder Europäer, der einmal dort weilte, empfunden hat. Das mag seltsam erscheinen in einer Zeit, wo jeder so sehr für den andern lebt, daß sich einer über den andern den Kopf zerbricht und ein Privatleben bald nicht mehr existieren wird, so keck und so wißbegierig dringen die Augen der Zeitung, dieses modernen Argus, in es ein; trotzdem wird diese Ansicht durch die Autorität der ersten sechs Jahrhunderte des Christentums gestützt, in denen kein Einsiedler in das gesellige Leben zurückkehrte. Es gibt wenige Seelenwunden, die die Einsamkeit nicht zu heilen vermag. So wurde auch Gottfried zuerst von der tiefen Ruhe und der vollkommenen Stille seiner neuen Wohnung gefangen genommen, ganz wie ein müder Reisender sich in einem Bade ausruht.

Am Tage, nachdem er sich bei Frau de la Chanterie in Pension gegeben hatte, sah er sich zu einer Selbstprüfung genötigt, da er sich von allem Bisherigen getrennt fühlte, selbst von Paris, obwohl er sich noch im Schatten der Kathedrale befand. Aller weltlichen Eitelkeiten beraubt, sollte er für sein Handeln keine andern Zeugen mehr haben als sein Gewissen und die Hausgenossen der Frau de la Chanterie. Das hieß, die breite Straße des Weltlebens verlassen und einen unbekannten Weg betreten; aber wohin würde ihn dieser Weg führen? Was für eine Tätigkeit sollte er aufnehmen?

Seit zwei Stunden hatte er sich diesen Überlegungen hingegeben, als Manon, die einzige Dienerin des Hauses, an seine Tür klopfte und ihm sagte, daß das zweite Frühstück aufgetragen sei und man ihn erwarte. Es schlug zwölf Uhr. Der neue Pensionär ging sofort hinab, voll Verlangen, die fünf Personen, unter denen sich von jetzt ab sein Leben abspielen sollte, näher kennenzulernen. Als er den Salon betrat, fand er dort alle Bewohner des Hauses stehend und ebenso gekleidet vor, wie an dem Tage, als er hier seine ersten Erkundigungen eingezogen hatte.

»Haben Sie gut geschlafen?« fragte ihn Frau de la Chanterie.

»Ich bin erst um zehn Uhr aufgewacht«, antwortete Gottfried und verbeugte sich vor den vier Hausgenossen, die alle seinen Gruß ernst erwiderten.

»Das haben wir uns gedacht«, sagte lächelnd der Alte, der den Namen Alain trug.

»Manon hat mich zum zweiten Frühstück gerufen,« fuhr Gottfried fort, »mir scheint, daß ich ohne Absicht gegen die Hausordnung gefehlt habe . . . Wann pflegen Sie aufzustehen?«

»Wir stehen nicht ganz so früh auf, wie die ehemaligen Mönche,« erwiderte Frau de la Chanterie liebenswürdig, »aber so früh wie die Arbeiter . . . im Winter um sechs, im Sommer um einhalb vier Uhr. Und wir gehen auch mit der Sonne zu Bett. Wir schlafen im Winter stets um neun, im Sommer um elf Uhr. Morgens nehmen wir alle ein wenig Milch, die von unserm Pachtgut kommt, zu uns, nachdem wir gebetet haben, mit Ausnahme des Herrn Abbé de Vèze, der im Sommer um sechs, im Winter um sieben Uhr die erste Messe in Notre-Dame liest, die diese Herren täglich hören, ebenso wie Ihre ergebenste Dienerin.«

Frau de la Chanterie beendete diese Auseinandersetzung bei Tisch, nachdem die fünf Teilnehmer Platz genommen hatten.

Das Speisezimmer, ganz in Grau gemalt und mit Holztäfelung im Stil Ludwigs XIV. versehen, stieß an den vorzimmerartigen Raum, in dem sich Manon aufhielt, und war dem Zimmer der Frau de la Chanterie parallel gelegen, das seinerseits jedenfalls mit dem Salon verbunden war. Das Eßzimmer hatte keinen andern Schmuck als alte Wandborde. Das Mobiliar bestand aus sechs Stühlen mit ovaler Rücklehne, deren Stickereien offenbar von Frau de la Chanterie verfertigt waren, zwei Büfetts und einem Mahagonitisch, auf den Marion zum Frühstück kein Tischtuch auflegte. Das Frühstück, von klösterlicher Einfachheit, bestand aus einer kleinen Steinbutte mit weißer Soße und Kartoffeln, Salat und vier Schüsseln mit Früchten: Pfirsiche, Weintrauben, Erdbeeren und grünen Mandeln; als Vorgericht Honig in der Wabe, wie in der Schweiz, Butter, Radieschen, Gurken und Sardinen. Aufgetragen wurde es auf Porzellan, das mit Kornblumen und kleinen grünen Blättern verziert war und unter Ludwig XVI. sicher als sehr luxuriös galt, das aber die erhöhten Ansprüche des modernen Lebens sehr gewöhnlich gemacht haben.

»Wir haben Fastenessen«, sagte Herr Alain. »Da wir jeden Morgen die Messe hören, werden Sie begreifen, daß wir blindlings alle, selbst die strengsten Vorschriften der Kirche befolgen.«

»Und Sie werden damit beginnen, es ebenso zu machen«, sagte Frau de la Chanterie und warf einen Seitenblick auf Gottfried, den sie neben sich gesetzt hatte.

Von den fünf Tischgenossen kannte Gottfried bereits die Namen der Frau de la Chanterie, des Abbé de Vèze und des Herrn Alain; es blieb ihm also noch übrig, die Namen der beiden letzten Personen zu erfahren. Diese verhielten sich schweigend und aßen mit der Aufmerksamkeit, die Geistliche auch den geringsten Einzelheiten ihrer Mahlzeiten zuzuwenden pflegen.

»Kommen diese schönen Früchte auch von Ihrem Pachtgut, gnädige Frau?« sagte Gottfried.

»Jawohl«, erwiderte sie. »Wir haben, ganz wie die Regierung, unser kleines Mustergut, dort ist unser Landhaus; es liegt drei Meilen von hier an der Straße nach Süden, nahe bei Villeneuve-Saint-Georges.

»Es ist eine Besitzung, die uns allen gehört, und die auf den letzten Überlebenden von uns übergeht«, sagte der biedere Alain.

»Oh, es hat keinen erheblichen Wert«, fügte Frau de la Chanterie hinzu, die zu fürchten schien, daß Gottfried diese Erklärung für einen Köder halten könnte.

»Es sind«, sagte der eine der beiden Unbekannten, »dreißig Morgen Ackerland, sechs Morgen Wiesen und vier eingefriedigte Morgen um unser Haus, vor dem das Pächterhaus liegt.«

»Aber ein solches Gut«, entgegnete Gottfried, »muß einen Wert von mehr als hunderttausend Franken haben.«

»Oh, wir haben nicht viel anderes davon als unsern Bedarf an Lebensmitteln«, antwortete dieselbe Persönlichkeit.

Es war ein großer, hagerer, würdevoller Mann. Auf den ersten Anblick schien er ein früherer Soldat zu sein, seine weißen Haare verkündeten deutlich genug, daß er die Sechzig überschritten hatte, und sein Gesicht trug die Spuren schweren Kummers, der von der Religion gemildert war.

Der andere Unbekannte, der gleichzeitig einem Gymnasialprofessor und einem Geschäftsmann ähnelte, war von mittlerem Wuchs, dick, aber trotzdem beweglich; sein Gesicht trug den Stempel von Gemütlichkeit, wie ihn die Pariser Notare und Anwälte zur Schau tragen.

Die Kleidung der vier Männer zeigte die Sauberkeit, die durch peinliche Sorgsamkeit erreicht wird. Man erkannte Manons Hand an den kleinsten Einzelheiten. Die Anzüge waren vielleicht zehn Jahre alt und geschont, wie sich die Kleidungsstücke der Pfarrer durch die heimliche Kunst der Dienerin bei ständigem Gebrauch erhalten. Diese Männer trugen sozusagen die Livree einer systematisch geordneten Lebensweise, sie gehorchten alle demselben Gedanken, in ihren Blicken ließ sich dieselbe Anschauung lesen, ihr Gesichtsausdruck verkündete stille Ergebung und eine sich den andern mitteilende Seelenruhe.

»Wäre es indiskret, gnädige Frau,« sagte Gottfried, »nach dem Namen der Herren zu fragen? Ich bin bereit, ihnen die Geschichte meines Lebens mitzuteilen; kann ich nicht auch von dem ihrigen so viel erfahren, wie ich schicklicherweise wissen darf?«

»Dieser Herr«, erwiderte Frau de la Chanterie und wies auf den großen hageren Mann, »heißt Herr Nikolaus; er ist pensionierter Gendarmerieoberst mit dem Range eines Brigadegenerals. – Dieser Herr«, fuhr sie fort und zeigte auf den kleinen dicken Mann, »ist ein ehemaliger Rat am obersten Pariser Gerichtshof, der sein Amt im Jahre 1850 aufgegeben hat; er heißt Herr Joseph. Obgleich Sie erst seit gestern bei uns sind, will ich Ihnen doch mitteilen, daß Herr Nikolaus in der Gesellschaft den Namen Marquis de Montauran trug, und Herr Joseph den Namen Lecamus, Baron de Tresnes; aber für uns wie für jeden andern existieren diese Namen nicht mehr, die Herren besitzen keine Erben; sie haben die Vergessenheit, in die ihre Familien geraten werden, vorweggenommen und sind ganz einfach Herr Nikolaus und Herr Joseph geworden, wie Sie Herr Gottfried sein werden.«

Als er die beiden Namen nennen hörte, den einen in den Annalen des Royalismus durch die Katastrophe, die den Aufstand der Chouans zu Beginn des Konsulats beendete, so berühmt geworden, den andern in den Annalen des alten Pariser Parlaments mit solcher Verehrung genannt, konnte Gottfried ein Erzittern nicht unterdrücken; aber als er diese zwei Reste der beiden stärksten Stützen der zusammengebrochenen Monarchie, des Adels und des Richterstandes, betrachtete, bemerkte er keinerlei Bewegung in ihren Gesichtszügen, keinerlei Veränderung des Ausdrucks, der einen weltlichen Gedanken verriet. Die beiden Männer erinnerten sich nicht mehr oder wollten sich nicht mehr an das erinnern, was sie einstmals gewesen waren. Das war eine erste Lektion für Gottfried.

»Jeder dieser Namen, meine Herren, enthält eine ganze Geschichte«, sagte er respektvoll.

»Die Geschichte unserer Zeit,« antwortete Herr Joseph, »die Geschichte von Ruinen.«

»Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft«, bemerkte Herr Alain lächelnd.

Dieser Mann kann mit zwei Worten beschrieben werden: er war ein Pariser Kleinbürger, ein gutmütiger Bürger mit einem runden, von weissen Haaren umrahmten Gesicht, das infolge eines beständigen Lächelns etwas fade wirkte.

Was den Priester, den Abbé de Vèze anlangt, so sagte sein Stand alles. Einen Priester, der seinen Beruf ausfüllt, erkennt man auf den ersten Blick, den er Einem oder den man ihm zuwirft.

Was Gottfried gleich anfangs auffiel, das war die tiefe Verehrung, die die vier Pensionäre der Frau de la Chanterie bezeigten; sie schienen sich alle, selbst der Priester, trotz der erhabenen Position, die ihm sein Amt verlieh, in Gegenwart einer Königin zu befinden. Gottfried fiel auch die Mäßigkeit aller Tischgenossen auf. Jeder aß nur so viel, wie das Nahrungsbedürfnis erforderte. Frau de la Chanterie nahm, wie fast alle andern, nur einen einzigen Pfirsich und eine halbe Weintraube; aber sie sagte zu ihrem neuen Pensionär, er solle diese Zurückhaltung nicht nachahmen, und bot ihm nacheinander von jedem Gerichte an.

Durch diesen Beginn des Zusammenlebens wurde Gottfrieds Neugier aufs äußerste erregt. Als man nach dem Frühstück in den Salon zurückkehrte, ließ man ihn allein, und Frau de la Chanterie hielt in einer Fensternische eine kleine geheime Besprechung mit den vier Freunden ab, diese Konferenz währte ohne jede Erregung beinahe eine halbe Stunde. Man sprach mit leiser Stimme und wechselte Worte, die jeder wohlüberlegt zu haben schien. Von Zeit zu Zeit blätterten Herr Alain und Herr Joseph in einem Notizbuche.

»Gehen Sie in den Faubourg«, sagte Frau de la Chanterie zu Herrn Joseph, der sich entfernte.

Das war das erste Wort, das Gottfried verstehen konnte.

»Und Sie in das Viertel Saint-Marceau«, fuhr sie fort und wandte sich an Herrn Nikolaus. »Bearbeiten Sie den Faubourg Saint-Germain und versuchen Sie, dort das, was wir brauchen, zu finden . . . fuhr sie, den Abbé de Vèze ansehend, fort, der sich sogleich entfernte.

»Und Sie, mein lieber Alain,« sagte sie lächelnd zu dem letzten, »machen Sie sich an die Zusammenstellung . . . So, jetzt ist die Arbeit für heute verteilt «, sagte sie und begab sich wieder zu Gottfried. Sie setzte sich in ihren Sessel, nahm von einem kleinen Tisch von ihr zurechtgeschnittene Wäsche und begann zu nähen, als ob sie ein Pensum zu erledigen hätte.

Gottfried in sein Grübeln versunken und eine royalistische Verschwörung vermutend, hielt die Worte seiner Wirtin für eine Einleitung und unterwarf sie einer Beobachtung, indem er sich neben sie setzte. Er war erstaunt über die besondere Geschicklichkeit, mit der diese Frau, bei der alles die vornehme Dame verriet, ihre Arbeit ausführte; sie besaß die Gewandtheit einer Arbeiterin, denn jeder vermag an gewissen Handgriffen das Tun eines Handwerkers und das eines Dilettanten zu erkennen.

»Sie arbeiten,« sagte Gottfried, »als ob Sie das Handwerk verstünden!«

»Ach,« antwortete sie, ohne den Kopf zu erheben, »ich habe es einstmals gezwungen ausüben müssen . . .

Zwei dicke Tränen perlten in den Augen der alten Dame, rannen an ihren Wangen hinab und fielen auf das Wäschestück, das sie in der Hand hielt.

»Oh, verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, rief Gottfried.

Frau de la Chanterie sah ihren neuen Pensionär an und las auf seinem Gesicht ein so tiefes Bedauern, daß sie ihm freundlich zunickte. Nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, nahm ihr Antlitz sofort wieder den Ausdruck seiner gewohnten Ruhe an; es war weniger kalt als kühl.

»Sie befinden sich hier, Herr Gottfried – Sie wissen ja bereits, daß wir Sie nur mit ihrem Vornamen nennen werden –, mitten unter den Trümmern eines großen Zusammenbruchs. Wir alle sind schwer verwundet in unserm Herzen, unsern Familienangelegenheiten und unserm Vermögen durch den vierzig Jahre dauernden Orkan, der das Königtum und die Religion gestürzt und die Grundlagen des alten Frankreichs vernichtet hat. Scheinbar gleichgültige Worte können uns alle verletzen, das ist der Grund der Schweigsamkeit, die hier herrscht. Wir sprechen selten von uns selbst; wir sind für uns in Vergessenheit geraten und haben das Mittel gefunden, an Stelle unseres früheren Lebens ein anderes zu setzen. Das ist der Grund, warum ich nach Ihren Bekenntnissen bei Mongenod an eine Übereinstimmung zwischen Ihrer und unserer Situation geglaubt und meine vier Freunde dazu bestimmt habe, Sie in unsern Kreis aufzunehmen; wir brauchen außerdem noch einen Mönch mehr für unser Kloster. Aber was werden Sie nun beginnen? Man kann sich nicht in die Einsamkeit zurückziehen ohne moralischen Fonds.«

»Ich wäre nach solchen Worten sehr glücklich, gnädige Frau, wenn Sie über meine Zukunft bestimmen wollten.«

»Sie sprechen wie ein Weltmann,« entgegnete sie, »Sie versuchen, mir zu schmeicheln, mir, einer Frau von sechzig Jahren! . . . Mein liebes Kind,« fuhr sie fort, »Sie müssen wissen, daß Sie sich unter Leuten befinden, die streng gottesgläubig sind, die seine Hand verspürt und die sich ihm fast ganz so wie Trappisten hingegeben haben. Haben Sie auf das ungeheure Sicherheitsgefühl der echten Priester geachtet, die sich dem Herrn ganz hingegeben haben, seine Stimme vernehmen und sich bemühen, ein gelehriges Instrument in der Hand der Vorsehung zu sein?  . . . Sie kennen keine Eitelkeit, keine Selbstliebe, nichts von dem, was den Weltleuten beständig Wunden beibringt; sie besitzen die Ruhe des Fatalisten, ihre Ergebung läßt sie alles ertragen. Der echte Priester, ein solcher wie der Abbé de Vèze, lebt dann wie ein Kind bei seiner Mutter, denn die Kirche, mein lieber Herr, ist eine gute Mutter. Nun, man kann auch ein Priester werden ohne Tonsur, nicht alle Priester gehören zu einem Orden. Sich dem Guten angeloben, das heißt, es dem echten Priester gleichtun, das heißt, Gott gehorchen! Ich predige Ihnen nicht, ich will Sie nicht bekehren, ich will Ihnen nur unser Leben erklären.«

»Belehren Sie mich, gnädige Frau,« sagte Gottfried hingerissen, »damit ich Ihre Vorschriften in keinem Punkte übertrete.«

»Damit hätten Sie zuviel zu tun, das werden Sie von Stufe zu Stufe lernen, vor allem sprechen Sie hier niemals von Ihrem Unglück, das eine Kinderei ist im Vergleich mit den schrecklichen Katastrophen, die Gott über die, mit denen Sie jetzt zusammenleben, hat hereinbrechen lassen . . .«

Während sie so sprach, hatte Frau de la Chanterie immerfort ihre Stiche mit verzweifelter Regelmäßigkeit gemacht; jetzt aber erhob sie das Haupt und sah Gottfried an, auf den die bezaubernde Süße ihrer Stimme, die, wie man sagen muß, eine himmlische Milde besaß, einen tiefen Eindruck machte. Der gemütskranke junge Mann betrachtete voller Verehrung die wahrhaft ungewöhnliche Erscheinung dieser Frau, deren Antlitz leuchtete. Ein rosiger Hauch hatte sich über ihre wachsbleichen Wangen ergossen, ihr Auge strahlte, ein jugendlicher Geist belebte ihre leichten Runzeln, die ihr einen eigenen Reiz verliehen, und alles an ihr forderte liebevolle Zuneigung heraus. Gottfried ermaß in diesem Moment die Tiefe des Abgrunds, der diese Frau von niedrigen Empfindungen trennte; er sah, daß sie den unzugänglichen Gipfel erreicht hatte, auf den sie von der Religion geführt war, und er war noch zu weltlich gesinnt, als daß er davon nicht stark betroffen worden wäre und nicht gewünscht hätte, in den Graben hinabzusteigen und die schmale Höhe zu erklimmen, auf der Frau de la Chanterie stand, um sich neben sie zu stellen. Während er diese Frau einer eingehenden Prüfung unterwarf, erzählte er ihr von den Enttäuschungen seines Lebens und von allem, was er bei Mongenod nicht hatte sagen können, wo seine Bekenntnisse sich auf die Darlegung seiner Lage beschränkt hatten.

»Armes Kind! . . .«

Dieser mütterliche Ausruf, der den Lippen der Frau de la Chanterie entschlüpfte, legte sich wie Balsam auf das Herz des jungen Mannes.

»Was kann ich an die Stelle so vieler getäuschter Hoffnungen, so vieler verratener Liebe setzen?« fragte er endlich und sah seine Wirtin an, die nachdenklich geworden war.

»Ich bin hierher gekommen, um nachzudenken und einen Entschluß zu fassen. Ich habe meine Mutter verloren, treten Sie an ihre Stelle . . .«

»Werden Sie auch wie ein Sohn gehorchen? . . .« sagte sie.

»Ja, wenn Sie mir die volle Zuneigung entgegenbringen, der man so gern gehorcht.«

»Also, wir wollen es versuchen«, versetzte sie.

Gottfried streckte die Hand aus, um die Hand seiner Wirtin zu ergreifen, die sie ihm, seine Absicht ahnend, reichte, und führte sie respektvoll an seine Lippen. Frau de la Chanteries Hände waren von wunderbarer Schönheit, ohne Runzeln, weder fett noch mager, so weiß, daß sie den Neid einer jungen Frau erregen konnten, und von einer Form, daß sie ein Bildhauer hätte abbilden mögen. Gottfried bewunderte die Hand, und fand, daß sie zu dem Reiz der Stimme und der himmlischen Bläue der Augen paßte.

»Bleiben Sie!« sagte Frau de la Chanterie, erhob sich und ging in ihr Zimmer.

Gottfried empfand eine heftige Erregung und wußte nicht, was er von ihrem Fortgehen denken sollte; aber sein Erstaunen dauerte nicht lange, denn sie kam mit einem Buch in der Hand zurück.

»Hier, mein liebes Kind , sagte sie, »haben Sie die Vorschriften eines großen Seelenarztes. Wenn die Verhältnisse des alltäglichen Lebens uns das Glück, das wir erwarteten, nicht zuteil werden ließen, dann muß man das Glück in dem höheren Leben suchen, und hier haben Sie den Schlüssel zu dieser neuen Welt. Lesen Sie jeden Abend und jeden Morgen ein Kapitel dieses Buches; aber lesen Sie es mit vollster Aufmerksamkeit, studieren Sie die Worte, als ob es sich um eine fremde Sprache handele . . . Nach Verlauf eines Monats werden Sie ein anderer Mensch sein. Seit zwanzig Jahren lese ich täglich ein Kapitel, und meine drei Freunde, die Herren Nikolaus, Alain und Joseph, versäumen das ebensowenig wie das Schlafengehen und Aufstehen; machen Sie es ebenso aus Liebe zu Gott, aus Liebe zu mir.« Sie sprach mit himmlischer Freudigkeit und erhabenem Vertrauen.

Gottfried wandte das Buch um und las auf dem Rücken in Goldbuchstaben: »Die Nachahmung Christi«. Die Einfachheit dieser Frau, ihre kindliche Reinheit, ihre Überzeugung, daß sie ihm eine Wohltat erwiesen habe, verwirrten den Exdandy. Die Haltung und die Freude der Frau de la Chanterie glich vollständig denen einer Frau, die einem Kaufmann, der im Begriff ist, Konkurs anzumelden, hunderttausend Franken darbietet.

»Ich habe mich seiner seit zwanzig Jahren bedient. Gebe Gott, daß das Buch ansteckend wirke! Gehen Sie nun, und kaufen Sie mir ein anderes; es ist jetzt die Zeit, wo Leute zu mir kommen, die nicht gesehen werden dürfen.«

Gottfried empfahl sich der Frau de la Chanterie und ging in sein Zimmer hinauf, wo er das Buch auf den Tisch warf und ausrief: »O die arme gute Frau! . . .« Das Buch hatte sich wie alle oft gelesenen Bücher an einer Stelle aufgeklappt. Gottfried setzte sich, um sich zu sammeln, denn er hatte an diesem Vormittag mehr Aufregung empfunden als während der bewegtesten Monate seines Lebens, und besonders seine Neugierde war noch niemals so angestachelt worden. Als er seine Blicke planlos herumschweifen ließ, wie es Leute tun, die in Nachdenken versunken sind, betrachtete er mechanisch die beiden aufgeschlagenen Seiten des Buches und las, ohne es zu wollen, die Überschrift:

»Kapitel XII.
Von dem erhabenen Wege des heiligen Kreuzes.«

Er nahm das Buch auf. Und wie eine Flammenschrift fesselte ein Satz dieses herrlichen Kapitels seinen Blick:

»Er ist vor euch gewandelt mit seinem Kreuz beladen, und er ist für euch gestorben, damit auch ihr euer Kreuz traget und verlanget, an ihm zu sterben. Gehet, wohin ihr wollt, suchet, soviel ihr möget, ihr werdet keinen erhabeneren und keinen sichereren Weg finden, als ›den Weg des heiligen Kreuzes‹.

Machet und ordnet alles, wie es eurem Verlangen und eurer Einsicht entspricht, und ihr werdet stets aufgerufen werden, Mühsal zu erleiden, ob ihr nun wollet oder nicht, und immer werdet ihr auf das Kreuz stoßen; denn ihr werdet die Schmerzen des Körpers fühlen und die Qualen der Seele erdulden. Wenn ihr von Gott verlassen seid, werden euch die Menschen zu schaffen machen. Und noch mehr: ihr werdet euch oft selbst zur Last sein, und keine Hilfe wird euch gebracht, kein Trost euch zuteil werden; bis es Gott gefallen wird, dem ein Ende zu machen, werdet ihr leiden müssen, denn Gott will, daß ihr leiden lernet ohne Trost, damit ihr euch rückhaltlos seinem Willen unterwerfet, und damit ihr unter der Last der Drangsale demütiger werdet.«

»Was für ein Buch!« sagte er und blätterte weiter in dem Kapitel.

Und sein Auge fiel auf die Worte:

»Wenn ihr soweit gekommen seid, die Trübsal als süß zu empfinden und sie zu begehren aus Liebe zu Jesus Christus, dann werdet ihr euch glücklich fühlen, denn dann habt ihr das Paradies in dieser Welt gefunden.«

Betroffen über diese einfachen Worte, die darum gerade so stark wirkten, und ärgerlich, daß er sich von diesem Buche geschlagen fühlte, schloß er es; aber noch auf dem grünen Maroquinleder des Einbands las er in Goldbuchstaben die Mahnung:

»Trachtet nur nach dem, was ewig ist!«

»Und haben sie das hier gefunden? . . .« fragte er sich.

Er brach auf, um ein schönes Exemplar der »Nachahmung Christi« zu besorgen, da er daran dachte, daß Frau de la Chanterie abends ein Kapitel daraus zu lesen pflegte, ging hinunter und trat auf die Straße hinaus. Einige Augenblicke blieb er wenige Schritte vor der Tür stehen, unschlüssig, welchen Weg er nehmen, und überlegend, wo und in welcher Buchhandlung er das Buch kaufen solle; da vernahm er das dumpfe Geräusch des schweren Haustors, das geschlossen wurde.

Wenn man den Charakter dieses alten Hauses recht begriffen hat, wird man verstehen, worin sich die alten Häuser von andern unterscheiden. Als Manon Gottfried am Morgen herunterholen kam, hatte sie ihn, deutlich lächelnd, gefragt, wie er die erste Nacht im Hause de la Chanterie geschlafen habe. Zwei Männer verließen das Haus de la Chanterie. Gottfried folgte, ohne irgendwie spionieren zu wollen, den beiden Männern, die ihn für einen Passanten hielten und in dieser stillen Gegend so laut sprachen, daß er ihrer Unterhaltung folgen konnte. Die beiden Unbekannten gingen die Rue Massillon entlang, an Notre-Dame vorbei und quer über den Platz.

»Na, mein Alter, du siehst, daß es ziemlich leicht war, Geld von ihnen herauszuholen . . . man muß ihnen zum Munde reden . . . das ist alles.«

»Aber wir schulden es doch.«

»Wem?«

»Nun, der Dame.«

»Das möchte ich sehen, ob mich die alte Schachtel verklagen würde, ich würde ihr . . .«

»Du würdest ihr . . . du würdest ihr zurückzahlen . . .«

»Du hast recht, denn wenn ich es ihr zurückzahle, würde ich später mehr als heute bekommen . . .«

»Wäre es nicht besser, wenn wir ihren Rat befolgten und ein Geschäft anfingen?«

»Ach, Unsinn!«

»Sie würde uns doch stille Teilhaber verschaffen, hat sie gesagt.«

»Dann müßte man auch ein anderes Leben anfangen . . .«

»Das jetzige habe ich bis hierher, man ist doch kein Mensch mehr; wenn man immer benebelt herumläuft . . .«

»Jawohl; aber der Abbé hat doch neulich den alten Marin im Stiche gelassen und ihm alles abgeschlagen.«

»Ach, der alte Marin wollte eine knifflige Sache unternehmen, wie sie nur Millionäre durchsetzen können.«

In diesem Moment wandten sich die beiden Männer, ihrem Äußern nach Werkmeister, um nach der Place Maubert über den Pont de l'Hôtel-Dieu zu gehen; Gottfried trat beiseite, aber als sie bemerkten, daß er so dicht hinter ihnen war, wechselten sie einen mißtrauischen Blick, und ihr Gesicht verriet, daß sie bedauerten, laut gesprochen zu haben.

In Gedanken hierüber ging er zu einem Buchhändler in der Rue Saint-Jacques und kehrte mit einem sehr kostbaren Exemplar der besten Ausgabe der »Nachahmung Christi«, die in Frankreich erschienen war, zurück. Als er langsamen Schrittes heimging, um pünktlich zur Essensstunde einzutreffen, rief er sich noch einmal die Empfindungen, die er an diesem Vormittage verspürt hatte, ins Gedächtnis zurück und fühlte sich innerlich aufs köstlichste erquickt. Er war von einer heißen Neugier geplagt, aber seine Neugierde trat zurück vor einem unerklärlichen Verlangen, das ihn zu Frau de la Chanterie hinzog; er empfand ein heftiges Begehren, sich an sie anzuschließen, sich für sie aufzuopfern, ihr zu gefallen, sich ihr Lob zu verdienen; er war von einer platonischen Liebe ergriffen, er ahnte bei ihr eine unerhörte Seelengröße, er wollte ihr Inneres ganz kennenlernen. Er brannte darauf, in die Geheimnisse der Existenz dieser Katholiken von reiner Frömmigkeit einzudringen. Und innerhalb dieses kleinen Kreises der Getreuen verband sich die Erhabenheit des frommen Handelns so vortrefflich mit dem, was die Französin Hohes besitzen kann, daß er beschloß, alles zu tun, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Solche Gefühle wären bei einem beschäftigten Pariser sehr flüchtige gewesen; aber Gottfried war, wie man gesehen hat, in der Lage des Schiffbrüchigen, der sich an die gebrechlichsten Planken anklammert, weil er sie für tragfähig hält, und seine Seele war durchfurcht und bereit, jeden Samen in sich aufzunehmen.

Er traf die vier Freunde im Salon, überreichte das Buch Frau de la Chanterie und sagte:

»Ich wollte Sie Ihrer Lektüre heute abend nicht berauben . . .«

»Gebe Gott,« erwiderte sie, während sie den prächtigen Band betrachtete, »daß das Ihre letzte verschwenderische Handlung gewesen sein möge!«

Da er sah, daß bei den vier Personen die Kleidung bis ins geringste auf Sauberkeit und Zweckmäßigkeit beschränkt, und daß dieser Grundsatz im Hause auch bis in die kleinsten Einzelheiten durchgeführt war, begriff Gottfried die Bedeutung des so liebenswürdig ausgedrückten Vorwurfs.

»Gnädige Frau,« sagte er, »die Leute, denen Sie heute morgen Ihre Unterstützung gewährt haben, sind schlechte Kerle; ohne es zu wollen, habe ich mit angehört, was sie für Dinge planten, als sie von hier fortgingen; was sie sagten, zeugte von der schwärzesten Undankbarkeit . . .«

»Das sind die beiden Schlosser aus der Rue Mouffetard,« sagte Frau de la Chanterie zu Herrn Nikolaus, »das gehört in Ihr Ressort . . .«

»Der Fisch entschlüpft mehr als einmal, bevor er sich fangen läßt«, entgegnete lächelnd Herr Alain. Die völlige Unempfindlichkeit der Frau de la Chanterie bei der Nachricht der sofortigen Undankbarkeit der Leute, denen sie sicher Geld gegeben hatte, setzte Gottfried in Erstaunen und ließ ihn nachdenklich werden.

Das Essen verlief heiter, dank Herrn Alain und dem ehemaligen Gerichtsrat; aber der alte Soldat blieb ernst, traurig und kühl, sein Gesicht trug den unverwischbaren Ausdruck bitteren Kummers und unvertilgbaren Schmerzes. Frau de la Chanterie war gegen alle gleich aufmerksam. Gottfried fühlte sich beobachtet von diesen Leuten, deren Vorsicht ihrer Frömmigkeit gleichkam; seine Eitelkeit ließ ihn ihre Zurückhaltung nachahmen, und er achtete sehr auf seine Worte.

Dieser erste Tag sollte viel bewegter sein als die folgenden. Gottfried, der sich von allen wichtigen Besprechungen ausgeschlossen sah, war genötigt, während mehrerer Morgen- und Abendstunden, die er allein in seiner Wohnung verbrachte, die »Nachahmung Christi« aufzuschlagen, und er studierte das Buch schließlich, wie man ein Buch studiert, wenn man nur ein einziges besitzt und sich in Gefangenschaft befindet. Es geht Einem dann mit einem solchen Buche wie mit einer Frau, mit der man sich zusammen in der Einsamkeit befindet; ebenso wie man dann die Frau hassen oder lieben muß, ebenso läßt man sich entweder ganz von dem Geiste des Verfassers durchdringen, oder man liest keine zehn Zeilen von ihm.

Nun ist es unmöglich, daß man von der »Nachahmung Christi« nicht gepackt werde, die für die Glaubenslehre dasselbe ist wie die Ausführung für den Gedanken. Der Katholizismus lebt, bewegt sich, zittert darin und setzt sich mit dem menschlichen Leben selbst auseinander. Das Buch ist ein zuverlässiger Freund. Es spricht über alle Leidenschaften, alle Schwierigkeiten, selbst die der Weltleute; es besiegt alle Einwände, es ist beredter als alle Prediger; denn seine Sprache ist deine Sprache, es wächst aus deinem Herzen empor und redet zu deiner Seele. Es ist das übertragene Evangelium, angepaßt allen Zeiten, angewandt auf alle Lebenslagen. Es ist merkwürdig, daß die Kirche Gerson nicht heiliggesprochen hat, denn der Heilige Geist hat ihm sicherlich die Feder geführt.

Für Gottfried barg das Haus de la Chanterie außer dem Buche auch eine Frau, und er verliebte sich mit jedem Tage mehr in diese Frau; er entdeckte bei ihr unter dem Schnee des Winters vergrabene Blüten, er empfand die Seligkeit einer solchen geheiligten Liebe, die die Religion gestattet, der die Engel zulächeln, die schon die fünf Menschen untereinander verband, und bei der kein schlechter Gedanke aufkommen konnte. Es gibt ein Empfinden, das über allen andern steht, eine geistige Liebe, jenen Blumen ähnlich, die auf den höchsten Gipfeln der Erde wachsen, eine Liebe, von der ein oder zwei Beispiele alle Jahrhunderte einmal der Menschheit geschenkt werden, in der sich seltsame Liebende vereinigen, und die Beweise für eine Liebestreue gibt, die im gewöhnlichen Leben unerklärlich wäre. Das ist eine Liebe ohne Irrungen, ohne Zwiste, ohne Eitelkeiten, ohne Kämpfe, selbst ohne jede Gegensätzlichkeit, so sehr fließt das geistige Empfinden beider in eins zusammen. Die Seligkeit dieses tiefen, grenzenlosen Gefühls, das in der katholischen Nächstenliebe wurzelt – Gottfried ahnte sie. Manchmal vermochte er an das Schauspiel, das er vor Augen hatte, nicht zu glauben und suchte nach Gründen für die erhabene Freundschaft dieser fünf Menschen, die zu seinem Staunen echte Katholiken waren, Christen aus den ersten Zeiten der Kirche, mitten in dem Paris von 1835.

Acht Tage nach seinem Einzug war Gottfried schon Zeuge eines so großen Zustroms von Leuten und hatte Bruchstücke von Gesprächen aufgefangen, bei denen es sich um so schwerwiegende Dinge handelte, daß er merkte, welche ungeheure Tätigkeit die fünf Personen entfalteten. Er nahm wahr, daß keine von ihnen mehr als sechs Stunden schlief.

Alle hatten gewissermaßen schon eine erste Tagesarbeit vor dem zweiten Frühstück hinter sich. Fremde brachten oder holten Geldbeträge, die zuweilen sehr erheblich waren. Häufig kam der Kassenbote Mongenods, und zwar immer ganz früh, so daß sein Dienst unter diesen Gängen nicht litt, die vor den Bankkunden ausgeführt wurden.

Herr Mongenod erschien selbst eines Abends, und Gottfried fiel dabei eine gewisse familiäre Vertraulichkeit auf, die er im Verein mit tiefem Respekt Herrn Alain ebenso wie den drei andern Pensionären der Frau de la Chanterie bezeigte.

An diesem Abend richtete der Bankier nur einige gleichgültige Fragen an Gottfried: Ob er sich hier wohl fühle, ob er bleiben wolle usw., wobei er ihm empfahl, bei seinem Entschlusse zu verharren.

»Mir fehlt nur eins, um mich glücklich zu fühlen«, sagte Gottfried.

»Und das wäre?« fragte der Bankier.

»Eine Beschäftigung.«

»Eine Beschäftigung?« bemerkte der Abbé de Vèze.

»Sie haben also Ihre Absichten geändert? Sie sind doch in unser Kloster gekommen, um hier Ruhe zu suchen?«

»Ruhe ohne die Gebete, die die Klöster beleben, ohne die Meditationen, die die Thebais erfüllte, macht krank,« sagte Herr Joseph belehrend.

»Lernen Sie doch Buchführung«, sagte Herr Mongenod lächelnd, »Sie könnten sich dann in einigen Monaten meinen Freunden sehr nützlich machen . . .«

»Oh, mit großem Vergnügen,« rief Gottfried.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Frau de la Chanterie wünschte, daß ihr Pensionär sie in das Hochamt begleite.

»Das ist der einzige Zwang, den ich Ihnen aufzuerlegen wünsche,« sagte sie. »Schon manchmal habe ich im Verlauf dieser Woche mit Ihnen von Ihrem Seelenheil sprechen wollen, aber ich hielt den Augenblick dafür noch nicht gekommen. Sie würden sehr in Anspruch genommen werden, wenn Sie an unserer Glaubensbetätigung teilnähmen, denn Sie würden dann auch an unsern Arbeiten teilnehmen.

Bei der Messe fiel Gottfried die Inbrunst der Herren Nikolaus, Joseph und Alain auf; und da er sich während der wenigen Tage ihres Zusammenseins von der Überlegenheit, dem Scharfsinn, der umfassenden Kenntnis und dem bedeutenden Geist der Herren hatte überzeugen können, so kam ihm der Gedanke, daß, wenn sie sich so demütigten, die katholische Religion Geheimnisse in sich bergen müsse, die ihm bisher entgangen waren.

»Schließlich«, sagte er sich, »ist es ja doch die Religion Bossuets, Pascals, Racines, des heiligen Ludwig, Raffaels, Michelangelos, Ximenes', Bayards, du Guesclins, und ich Armseliger kann mich mit diesen Geistern, diesen Staatsmännern, Künstlern, Heerführern doch nicht vergleichen.«

Wenn diese kleinen Einzelheiten nicht wichtige Fingerzeige gäben, wäre es töricht, sich heutzutage damit aufzuhalten; aber sie sind für diese Erzählung unentbehrlich, der unser jetziges Publikum schon schwer genug Glauben schenken wird, und die mit einer fast lächerlich erscheinenden Tatsache beginnt: mit der Herrschaft einer sechzigjährigen Frau über einen jungen, von allem enttäuschten Mann.

»Sie haben nicht gebetet,« sagte Frau de la Chanterie zu Gottfried an der Tür von Notre-Dame, »für niemanden, nicht einmal für die Seelenruhe Ihrer Mutter.«

Gottfried errötete und schwieg.

»Tun Sie mir die Liebe«, sagte Frau de la Chanterie, »gehen Sie in Ihre Wohnung und kommen Sie erst in einer Stunde in den Salon. Wenn Sie mich liebhaben,« fügte sie hinzu, »so werden Sie über ein Kapitel der ›Nachahmung Christi‹ nachdenken, das erste des dritten Buches, das betitelt ist ›Von dem Gespräch mit sich selbst‹.«

Gottfried empfahl sich kühl und ging in seine Wohnung hinauf.

›Der Teufel soll mich holen!‹ sagte er sich, ernstlich in Wut geratend. ›Was wollen sie denn hier von mir? Was für Machenschaften haben sie vor? . . . Alle Weiber, selbst die frommen, sind gleich schlau; und wenn die gnädige Frau,‹ meinte er, indem er seine Wirtin so nannte, wie die übrigen Pensionäre es taten, ›mich jetzt nicht haben will, so ist das, weil etwas gegen mich angezettelt werden soll.‹

In solchen Gedanken versuchte er, durch sein Fenster in den Salon zu sehen, aber die örtliche Lage gestattete ihm nicht, etwas zu erkennen. Er stieg eine Etage hinab, kehrte aber schnell wieder zurück, denn er überlegte, daß bei den strengen Grundsätzen der Hausbewohner ein Akt der Spionage ihm sofort die Verabschiedung eintragen würde. Die Achtung der fünf Personen einzubüßen, schien ihm ebenso unerträglich, wie wenn er sich öffentlich entehrt sehen würde. Er wartete etwa drei Viertelstunden und beschloß dann, Frau de la Chanterie zu überraschen, indem er vor der angegebenen Zeit erschien. Er erfand eine Lüge, um sich zu rechtfertigen: er wollte sagen, daß seine Uhr nicht richtig gehe, und stellte sie zwanzig Minuten vor. Dann ging er, ohne das leiseste Geräusch zu machen, hinunter. Er gelangte so bis an die Tür des Salons und öffnete sie plötzlich.

Hier sah er einen noch jungen, ziemlich berühmten Mann, einen Dichter, den er häufig in Gesellschaften getroffen hatte, Victor de Vernisset, vor sich, auf ein Knie vor Frau de la Chanterie gesunken und den Saum ihres Kleides küssend. Wäre der Himmel aus Kristall, wie die Alten glaubten, und wäre dieser Himmel krachend zusammengebrochen, so wäre Gottfried davon weniger überrascht worden als von dem Schauspiel, das sich ihm hier bot. Die häßlichsten Gedanken stiegen in ihm auf, und er empfand einen noch fürchterlicheren Stoß, als er bei der ersten sarkastischen Bemerkung, die sich ihm auf die Lippen drängte, Herrn Alain in einer Ecke des Salons wahrnahm, der damit beschäftigt war, Tausendfrankenscheine zu zählen.

Im nächsten Augenblick war Vernisset auf den Beinen, und der gute Alain hielt verdutzt inne. Frau de la Chanterie warf Gottfried einen Blick zu, der ihn erstarren ließ; denn der zweideutige Ausdruck auf dem Gesichte des neuen Gastes war ihm nicht entgangen.

»Der Herr«, sagte sie zu dem jungen Dichter und zeigte auf Gottfried, »gehört zu den Unsrigen . . .«

»Sie sind sehr glücklich, mein lieber Herr,« sagte Vernisset, »Sie sind gerettet! Gnädige Frau,« wandte er sich dann an Frau de la Chanterie, »und wenn ganz Paris mich so gesehen hätte, so wäre ich glücklich darüber gewesen, nichts kann meine Dankbarkeit gegen Sie wettmachen! . . . Ich bin Ihnen für alle Zeiten verpflichtet! Ich gehöre Ihnen ganz und gar. Befehlen Sie mir, was es auch sei, und ich werde gehorchen! Meine Erkenntlichkeit wird unbegrenzt sein. Ich verdanke Ihnen das Leben, es gehört Ihnen . . .«

»Na, na,« sagte der gute Alain, »seien Sie vernünftig, junger Mann, arbeiten Sie nur, und vor allem greifen Sie in Ihren Werken niemals die Religion an. Und endlich denken Sie daran, daß Sie eine Schuld übernommen haben!

Und er reichte ihm einen mit den Bankbilletten, die er gezählt hatte, gefüllten Umschlag. Victor de Vernisset hatte die Augen voller Tränen, küßte ehrfurchtsvoll Frau de la Chanterie die Hand und entfernte sich, nachdem er Herrn Alain und Gottfried die Hand gedrückt hatte.

»Sie sind ungehorsam gegen die gnädige Frau gewesen, sagte der Biedermann feierlich mit einem so traurigen Gesicht, wie es Gottfried noch nie bei ihm gesehen hatte, »das ist ein schweres Vergehen; noch ein solches, und wir sind geschiedene Leute . . . Das wird sehr hart für Sie sein, da wir Sie unseres Vertrauens für würdig gehalten haben . . .«

»Mein lieber Alain,« sagte Frau de la Chanterie, »erweisen Sie mir die Freundlichkeit, über diese Unbesonnenheit zu schweigen . . . Man muß nicht zuviel von einem Neuling verlangen, der großes Unglück durchgemacht hat, der keine Religion besitzt, dessen ganzes Sinnen in einer außerordentlich starken Neugierde besteht und der noch kein Vertrauen zu uns hat.«

»Verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, erwiderte Gottfried, »von nun ab will ich mich Ihrer würdig erweisen; ich unterwerfe mich jeder Prüfung, die Sie für nötig erachten, bevor Sie mich in die Geheimnisse Ihrer Tätigkeit einweihen, und wenn der Herr Abbé de Vèze es auf sich nehmen will, mich zu erleuchten, so werde ich mich ihm mit Geist und Herz hingeben.«

Diese Worte machten Frau de la Chanterie so glücklich, daß ihre Wangen sich mit einer zarten Röte bedeckten; sie drückte Gottfried die Hand und sagte mit merkwürdiger Erregung: »Es ist gut.«

Abends nach dem Essen sah Gottfried einen Generalvikar der Pariser Diözese, zwei Domherren, zwei ehemalige Pariser Bürgermeister und eine Barmherzige Schwester erscheinen. Es wurde nicht gespielt, die allgemeine Unterhaltung war heiter, ohne oberflächlich zu sein.

Ein Besuch, der Gottfried sehr überraschte, war der der Gräfin Cinq-Cygne, einer Dame der höchsten Aristokratie, deren Salon der Bourgeoisie und den Parvenüs verschlossen war. Die Anwesenheit dieser vornehmen Dame im Salon der Frau de la Chanterie war an sich schon sehr merkwürdig; aber die Art, mit der die beiden Damen sich begrüßten und sich gegeneinander benahmen, war für Gottfried unerklärlich; denn sie bekundete eine Vertraulichkeit und einen ständigen Verkehr, die Frau de la Chanterie eine ungeheure Bedeutung verliehen. Frau de Cinq-Cygne war liebenswürdig und freundschaftlich gegen die vier Freunde ihrer Freundin und respektvoll gegen Herrn Nikolaus. Man sieht, daß Gottfried noch von der gesellschaftlichen Eitelkeit beherrscht war; denn der bis dahin noch immer Unschlüssige beschloß nun, mit oder ohne Überzeugung, alles zu tun, was Frau de la Chanterie und ihre Freunde von ihm verlangen würden, um in ihren Orden aufgenommen oder in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden, wobei er sich nur noch die definitive Entscheidung vorbehielt.

Am andern Morgen begab er sich zu einem Buchhalter, den ihm Frau de la Chanterie bezeichnet hatte, vereinbarte mit ihm die Stunden, in denen sie zusammen arbeiten wollten, und hatte nun seine Zeit vollkommen ausgefüllt; denn der Abbé de Vèze unterrichtete ihn vormittags, zwei Stunden täglich verbrachte er bei dem Buchhalter, und zwischen dem zweiten Frühstück und dem Mittagessen arbeitete er an fingierten Geschäftsbüchern, die sein Lehrer ihn führen ließ.

So vergingen mehrere Tage, bei deren Verlauf Gottfried den Reiz einer Lebensführung empfand, bei der jede Stunde in bestimmter Weise ausgefüllt ist. Die zu festgesetzter Zeit regelmäßig wiederkehrende bekannte Arbeit erklärt das Glück vieler Existenzen und beweist, wie tief die Gründer religiöser Orden über das Wesen des Menschen nachgedacht haben. Gottfried, der sich vorgenommen hatte, den Abbé de Vèze anzuhören, empfand schon Besorgnisse wegen seines künftigen Lebens und fing an zu erkennen, daß er nichts von der schwerwiegenden Bedeutung der religiösen Fragen wußte. Dazu ließ Frau de la Chanterie, bei der er ungefähr eine Stunde nach dem zweiten Frühstück zu verweilen pflegte, ihn täglich neue Schätze ihres Innern entdecken; niemals hatte er eine so vollkommene und so umfassende Güte für möglich gehalten. Eine Frau in dem Alter, das Frau de la Chanterie zu haben schien, besitzt keine der Schwächen junger Frauen mehr; sie ist eine Freundin, die einem alle weibliche Zartheit entgegenbringt, die die Grazie und Feinheit entfaltet, welche die Natur der Frau für den Mann mitgegeben hat, und die sie nicht mehr verkauft: sie ist abscheulich oder vollkommen; denn alles Verlangen schlummert unter ihrer Oberfläche oder ist abgestorben; und Frau de la Chanterie gehörte zu den Vollkommenen. Sie schien niemals jung gewesen zu sein, ihr Blick erzählte nichts von einer Vergangenheit. Fern davon, Gottfrieds Neugierde zu befriedigen, verdoppelten die immer genauere Bekanntschaft mit diesem erhabenen Charakter und die täglich neuen Entdeckungen sein Verlangen, das frühere Leben dieser Frau kennenzulernen, die ihm wie eine Heilige erschien. Hatte sie jemals geliebt? War sie verheiratet gewesen? War sie Mutter gewesen? Nichts an ihr verriet die alte Jungfer, sie entfaltete alle Reize der Frau von vornehmer Geburt, und man mußte aus ihrer robusten Gesundheit, aus der eigentümlichen Art ihrer Unterhaltung auf ein heiliges Leben und auf eine Unkenntnis des Weltgetriebes schließen. Ausgenommen den heiteren Alain, hatten alle diese Menschen Leiden erfahren; aber selbst Herr Nikolaus schien die Palme des Martyriums Frau de la Chanterie zu reichen, und trotzdem wurde die Erinnerung an ihr Unglück so vollkommen von der katholischen Ergebung und ihrer geheimnisvollen Tätigkeit zurückgedrängt, daß sie immer glücklich zu sein schien.

»Sie bedeuten«, sagte Gottfried eines Tages zu ihr, »das Leben für Ihre Freunde, Sie sind das Band, das sie umschlingt, Sie sind sozusagen die häusliche Leiterin eines großen Werkes; und da wir alle sterblich sind, so frage ich mich, was aus ihrer Vereinigung einmal werden soll ohne Sie . . .«

»Das macht ihnen auch Sorge; aber die Vorsehung, der wir auch unsern Buchführer zu verdanken haben,« sagte sie lächelnd, »wird schon helfen. Übrigens werde ich mich nach Ersatz umsehen.«

»Wird Ihr Buchführer bald seinen Dienst in Ihrem Geschäftshause antreten?« fragte Gottfried lachend.

»Das hängt von ihm ab«, entgegnete sie lächelnd. »Er muß erst wahrhaft gläubig und fromm geworden sein, keinerlei Eigenliebe mehr besitzen, sich nicht um die Reichtümer unseres Hauses bekümmern und daran denken, sich über die kleinlichen gesellschaftlichen Bedenken zu erheben mit den beiden Flügeln, die Gott uns gegeben hat . . .«

»Welche sind das . . .?«

»Die Einfalt und die Reinheit«, erwiderte Frau de la Chanterie. »Ihre Unkenntnis verrät mir deutlich genug, daß Sie die Lektüre unseres Buches vernachlässigt haben,« fuhr sie fort, über die harmlose List lächelnd, mit der sie in Erfahrung gebracht hatte, ob Gottfried in der ›Nachahmung Christi‹ las. »Dann aber machen Sie sich die Epistel des heiligen Paulus über die Nächstenliebe zu eigen. Nicht Sie werden uns dienen, sagte sie mit erhabenem Ausdruck, »sondern wir werden Ihnen dienen, und es wird Ihnen erlaubt sein, viel gewaltigere Reichtümer zu sammeln, als je ein König besessen hat; Sie werden sie genießen, wie wir sie genießen; und lassen Sie mich Ihnen sagen, daß die Schätze Aladins, wenn Sie sich an ›Tausendundeine Nacht‹ erinnern, nichts sind im Vergleich mit dem, was wir besitzen . . . Daher wissen wir auch seit einem Jahre nicht mehr, wie wir es machen sollen, wir sind nicht ausreichend dafür, wir müssen einen Buchführer haben . . .«

Während sie so sprach, beobachtete sie Gottfrieds Gesicht, der nicht wußte, was er von dieser merkwürdigen Eröffnung halten solle; da er sich aber häufig an die Szene erinnerte, die sich zwischen Frau de la Chanterie und der alten Frau Mongenod abgespielt hatte, so verharrte er zwischen Zweifel und Vertrauen.

»Oh, Sie werden sehr glücklich sein«, sagte sie.

Gottfried wurde dermaßen von Neugier verzehrt, daß er sofort beschloß, die Zurückhaltung der vier Freunde zu besiegen und sie über sie selbst auszufragen. Nun war von allen Hausgenossen der Frau de la Chanterie derjenige, zu dem sich Gottfried am meisten hingezogen fühlte, und der am meisten die Sympathie der Leute jeder Klasse zu gewinnen schien, der gute, heitere, harmlose Alain. In welcher Absicht mochte die Vorsehung dieses treuherzige Wesen in dieses Kloster ohne Gelübdezwang geführt haben, dessen Mönche sich einer festgesetzten Regel unterwarfen, mitten in Paris, ganz freiwillig, aber so, als ob sie den strengsten Oberen hätten? Welches Drama, welches Ereignis hatte sie von ihrem weltlichen Wege hinweggeführt, um mitten durch das Elend der Hauptstadt diesen Pfad zu wandeln?

Eines Abends wollte Gottfried seinem Nachbar einen Besuch machen, mit der Absicht, seine Neugierde zu befriedigen, die durch die Unmöglichkeit irgendwelcher Umwälzung in dieser Existenz mehr erregt wurde als durch die gespannte Erwartung bei der Erzählung einer furchtbaren Episode aus dem Leben eines Seeräubers. Bei dem Worte: Herein!, das auf sein diskretes Anklopfen erfolgte, drehte Gottfried den Schlüssel, der immer im Schloß stak, herum und fand Herrn Alain am Feuer sitzend und vor dem Schlafengehen ein Kapitel in der »Nachahmung Christi« lesend, beim Lichte zweier Kerzen, jede mit einem grünen beweglichen Lampenschirm, wie ihn die Whistspieler benutzen, versehen.

Der Biedermann trug ein langes Beinkleid und einen Schlafrock von hellgrauem Flanell und hatte die Füße am Kamin auf einem Kissen, das ebenso wie seine Pantoffeln von Frau de la Chanterie gestickt war. Sein schönes greises Haupt, wie das eines Mönchs mit feinen weißen Haaren schön umkränzt, hob sich scharf von dem dunklen Hintergrunde des Überzugs seines riesigen Lehnsessels ab.

Herr Alain legte behutsam sein an allen vier Ecken stark abgenutztes Buch auf einen kleinen Tisch mit gedrehten Säulen, wies mit der anderen Hand auf einen andern Sessel für seinen jungen Freund und nahm seine Brille ab, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war.

»Sind Sie leidend, daß Sie zu dieser Stunde Ihre Wohnung verlassen?« fragte er Gottfried.

»Verehrter Herr Alain,« erwiderte Gottfried freimütig, »ich bin von einer Neugierde geplagt, die ein einziges Wort von Ihnen sehr unschuldig oder sehr indiskret erscheinen lassen kann; und damit werden Sie genügend beurteilen können, in welchem Sinne ich eine Frage an Sie richten will.«

»Und was ist das für eine Frage? sagte Alain und sah den jungen Mann beinahe boshaft an.

»Was für ein Ereignis hat Sie bestimmt, das Leben, das Sie hier führen, zu wählen? Denn um sich zu einem solchen Verzicht auf jedes Interesse zu entschließen, muß Einem das weltliche Leben zum Ekel geworden sein, oder man muß in ihm eine Wunde empfangen oder vielleicht einen andern verwundet haben.«

»Wie denn, mein Kind,« entgegnete der Greis und verzog seine breiten Lippen zu einem Lächeln, das seinen roten Mund so liebenswürdig machte, wie das nur ein Malergenie erdenken kann, »kann man nicht vom tiefsten Mitleid ergriffen werden beim Anblick des Elends, das die Mauern von Paris umschließen? Bedurfte der heilige Vincent a Paula des Stachels von Gewissensbissen oder verletzter Eitelkeit, um sich der ausgesetzten Kinder zu erbarmen?«

»Das verschließt mir um so mehr den Mund, als wenn jemals ein Geist dem dieses christlichen Helden ähnlich war, dies sicherlich der Ihrige ist«, antwortete Gottfried.

Trotz der Unempfindlichkeit, die das Alter seiner gelblichen, runzeligen Gesichtshaut verliehen hatte, überzog eine tiefe Röte das Antlitz des Greises; denn es sah aus, als ob er dieses Lob provoziert hätte, woran er bei seiner allen bekannten Bescheidenheit nicht gedacht haben konnte. Gottfried wußte recht gut, daß die Hausgenossen der Frau de la Chanterie keinerlei Gefallen an solchem Weihrauch fanden. Trotzdem war die außergewöhnliche Bescheidenheit des guten Alain von diesem Skrupel mehr beunruhigt als ein junges Mädchen von irgendeinem schlimmen Gedanken.

»Wenn ich auch noch sehr weit hinter seiner moralischen Höhe zurückstehe«, bemerkte Herr Alain, »so bin ich ihm wenigstens in meinem äußern ähnlich . . .«

Gottfried wollte etwas erwidern, aber er wurde daran durch eine Bewegung des Alten gehindert, dessen Nase in der Tat so knollig wie die des Heiligen war, und dessen Antlitz, ähnlich dem eines alten Weinbergsarbeiters, wie ein Duplikat des gewöhnlichen runden Gesichts des Begründers der Findelhäuser aussah.

»Was mich anlangt, so haben Sie recht,« fuhr er fort; »meine Berufung zu unserm Werke wurde entschieden durch ein Gefühl der Reue, aus Anlaß eines Abenteuers . . .«

»Sie, und ein Abenteuer?« rief Gottfried leise aus, den dieses Wort das, was er dem Alten zuerst antworten wollte, vergessen ließ.

»Oh, wahrhaftig, was ich Ihnen erzählen werde, wird Ihnen gewiß als eine Kleinigkeit, als etwas Unerhebliches erscheinen; aber vor dem Richterstuhl des Gewissens steht es anders damit. Wenn Sie bei Ihrem Wunsche, an unserer Arbeit teilzunehmen, verharren werden, nachdem Sie mich angehört haben, dann werden Sie begreifen, daß das Gefühl im Verhältnis zu der Seelenstärke steht, und daß ein Geschehnis, das einen starken Geist nicht beunruhigt, sehr wohl das Gewissen eines schwachen Christen bedrücken kann.«

Man kann sich schwer vorstellen, welchen Grad die Neugierde des Neophyten nach dieser Art von Vorrede erreicht hatte. Was konnte das Verbrechen dieses Biedermanns sein, den Frau de la Chanterie ihr »Osterlamm« nannte? Das mußte ebenso interessant sein wie ein Buch mit dem Titel: »Die Verbrechen eines Lammes.« Vielleicht sind die Lämmer grausam gegen die Kräuter und Blumen? Nach der Meinung eines der gemäßigtsten Republikaner dieser unserer Zeit ist auch der beste Mensch immer noch grausam gegen irgend etwas. Aber der gute Alain! Er, der, wie der Onkel Tobias Sternes, eine Fliege, die ihn zwanzigmal gestochen hatte, nicht töten konnte. Und diese edle Seele war von Reue gefoltert!

Diese Überlegung füllte die Pause aus, die der Greis nach den Worten: »Hören Sie mich an!« machte, während er sein Kissen Gottfried unter die Füße schob, damit er es mit ihm teile.

»Ich war damals etwas über dreißig Jahre alt«, sagte er, »es war im Jahre 98, wie mir erinnerlich ist, eine Zeit, wo junge Leute die Erfahrung Sechzigjähriger haben mußten. Eines Morgens um neun Uhr, kurz vor meinem Frühstück, meldet mir meine alte Wirtschafterin einen der wenigen Freunde, die ich mir inmitten der Revolutionsstürme noch erhalten hatte. Mein erstes Wort war daher, ihn zum Frühstück einzuladen. Mein Freund, er hieß Mongenod, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, nahm an, aber sichtlich bedrückt; ich hatte ihn seit dem Jahre 1793 nicht gesehen . . .«

»Mongenod? . . .« rief Gottfried aus, »der . . .«

»Wenn Sie das Ende vor dem Anfang erfahren wollen,« bemerkte der Alte lächelnd, »wie soll ich Ihnen dann meine Geschichte erzählen?«

Gottfried machte ein Zeichen, das absolutes Stillschweigen versprach.

»Als Mongenod sich gesetzt hatte,« fuhr der gute Alain fort, »bemerkte ich, daß seine Schuhe furchtbar abgenutzt waren. Seine getüpfelten Strümpfe waren so oft gewaschen worden, daß ich sie nur mit Mühe als seidene erkennen konnte. Sein aprikosenfarbenes Kaschmirbeinkleid, das jede Frische verloren hatte, zeigte, wie lange es getragen war, was noch durch die verblichene Farbe an den am meisten gefährdeten Stellen bezeugt wurde, und die Schnallen schienen mir, statt von Stahl, von gewöhnlichem Eisen zu sein; die der Schuhe zeigten das gleiche Metall. Seine weiße geblümte Weste, die vom Tragen gelb geworden, wie sein Hemd, dessen steifes Jabot zerknittert war, verrieten ein schreckliches, aber verheimlichtes Elend. Das Aussehen seiner Huppelande (so nannte man damals einen Überzieher mit nur einem Kragen, nach Art eines Mantels à la Crispin) vollendete bei mir den Eindruck, daß mein Freund ins Unglück geraten war. Dieser außerordentlich schäbige Mantel von nußbraunem Tuch, der aufs peinlichste abgebürstet war, hatte einen von Pomade oder Puder befleckten Kragen und rot gewordene Metallknöpfe. Der ganze schäbige Anzug war so jammervoll, daß ich ihn nicht länger zu betrachten wagte. Sein Klapphut, eine Art halbrunder Filz, den man damals nicht auf dem Kopf, sondern unter dem Arm zu tragen pflegte, mußte schon mehrere Regierungen erlebt haben. Trotzdem mußte mein Freund eben einige Sous bei einem Barbier ausgegeben haben, denn er war frisch rasiert. Und sein Haar, hinten zusammengenommen, mit einem Kamm festgehalten und stark gepudert, roch nach Pomade. Ich nahm auch zwei parallele Uhrketten aus matt gewordenem Stahl an seiner Hose wahr, aber keine Spur einer Taschenuhr an seiner Westentasche. Es war Winter, und Mongenod besaß keinen warmen Mantel, denn mehrere dicke Tropfen von geschmolzenem und von den Dächern, an denen er entlang gegangen sein mußte, herabgefallenem Schnee rannen von dem Kragen seiner Huppelande herunter. Als er seine Handschuhe von Kaninchenfell auszog, sah ich au seiner rechten Hand die Spuren von Arbeit, aber von mühseliger Arbeit. Sein Vater, Advokat beim Großen Rat, hatte ihm einiges Vermögen hinterlassen, das ihm eine Rente von fünf- bis sechstausend Franken abwarf. Ich begriff sofort, daß Mongenod gekommen war, um mich anzuborgen. Ich besaß in einem Versteck zweihundert Louisdor, eine für die damalige Zeit enorme Summe, denn sie betrug ich weiß nicht wie viele hunderttausend Franken Assignaten. Mongenod und ich hatten dieselbe Schule besucht, bei den Grassins, und uns dann bei demselben Anwalt wiedergefunden, einem ehrenwerten Manne, dem guten Bordin. Wenn man seine Jugend mit einem Kameraden zusammen verbracht und die gleichen Jugendtorheiten gemacht hat, so entsteht eine nahe, fast geheiligte Sympathie zwischen ihm und uns, seine Stimme, sein Blick schlagen gewisse Saiten in unserm Herzen an, die nur unter dem Eindruck der dabei wiedererwachenden Erinnerungen erklingen. Wenn man auch Grund zur Klage über einen solchen Kameraden hat, so sind damit doch noch nicht alle Freundschaftsrechte verjährt. Aber es hatte zwischen uns auch nicht die geringste Entzweiung stattgefunden. Beim Tode seines Vaters im Jahre 1787 war Mongenod reicher als ich; wenn ich auch nie etwas von ihm geliehen hatte; so hatte ich ihm doch gewisse Annehmlichkeiten zu verdanken, die die väterliche Strenge mir versagte. Ohne meinen freigebigen Kameraden hätte ich die erste Vorstellung von ›Figaros Hochzeit‹ nicht sehen können. Mongenod war damals, was man einen scharmanten Kavalier nannte, er hatte auch galante Abenteuer; ich hatte an ihm zu tadeln, daß er zu leicht Freundschaft schloß und zu entgegenkommend war; seine Börse stand andern zu leicht offen, er lebte auf großem Fuße, er hätte jedem als Sekundant gedient, den er nur zweimal gesehen hatte . . . – Ach, Sie haben mich da auf die Wege meiner Jugend zurückgelockt«, rief der gute Alain aus, sah Gottfried lustig lächelnd an und machte eine Pause.

»Sind sie mir deshalb böse?« sagte Gottfried.

»Ach nein! Aber an der Ausführlichkeit meiner Erzählung können Sie sehen, welche Rolle dieses Ereignis in meinem Leben gespielt hat . . . Mongenod, ein vortreffliches Herz und ein mutiger Mann, ein wenig Voltairianer, war geschaffen, als vornehmer Herr aufzutreten«, fuhr Alain in seiner Erzählung fort; »seine Erziehung bei den Grassins, wo er mit adligen Kameraden zusammen aufwuchs, und seine galanten Beziehungen hatten ihm das abgeschliffene Auftreten der Leute, die man damals Aristokraten nannte, beigebracht. Sie können sich daher vorstellen, wie groß meine Überraschung war, als ich nun bei ihm alle Anzeichen eines Elends wahrnahm, die den jungen eleganten Mongenod von 1787 so verändert erscheinen ließen, sobald meine Blicke sich von seinem Gesicht auf seine Kleidung richteten. Da aber in dieser unseligen Zeit manche schlauen Menschen äußerlich elend auftraten und genügend Gründe für andere vorlagen, sich zu verkleiden, so erwartete ich eine Aufklärung, die ich direkt erbat. ›Wie siehst du denn aus, mein bester Mongenod?‹ sagte ich und nahm eine Prise Tabak, die er mir in einer Tabaksdose aus nachgemachtem Gold anbot. ›Sehr traurig‹, erwiderte er. ›Es ist mir nur noch ein Freund geblieben . . . und dieser Freund bist du. Ich habe alles versucht, um diesen Schritt zu vermeiden, aber ich komme jetzt, um hundert Louisdor von dir zu verlangen. Das ist eine große Summe‹, sagte er, als er mein Erstaunen bemerkte; ›aber wenn du mir nur fünfzig geben würdest, so wäre ich außerstande, sie dir jemals zurückzugeben, während, wenn mir das, was ich vorhabe, mißglückt, mir immer noch fünfzig Louisdor bleiben, um mein Glück auf einem andern Wege zu versuchen; ich weiß augenblicklich noch nicht, was die Verzweiflung mir dann anraten wird.‹ ›Du hast nichts mehr?‹ fragte ich. ›Ich besitze noch‹, bemerkte er, indem er eine Träne zurückdrängte, ›fünf Sous, die ich auf mein letztes Geldstück herausbekommen habe. Um bei dir erscheinen zu können, habe ich mir die Stiefel putzen und mich frisieren lassen. Ich besitze nur das, was ich an mir trage. Aber‹, fuhr er fort und machte eine Bewegung, ›ich schulde meiner Wirtin tausend Taler Assignaten, und unser Garkoch gibt mir seit gestern keinen Kredit mehr. Ich bin also ohne jedes Hilfsmittel.‹ ›Und was gedenkst du zu tun?‹ sagte ich, mich schon in Dinge einmischend, die er allein zu entscheiden hatte. ›Mich als Soldat anwerben zu lassen, wenn du mir meine Bitte abschlägst.‹ ›Du Soldat, du, Mongenod?‹ ›Ich werde fallen oder der General Mongenod werden.‹ – ›Nun‹, sagte ich tiefbewegt, ›frühstücke in Ruhe mit mir, ich bin im Besitze von hundert Louisdor . . .‹ Ich hielt es hierbei«, sagte der Biedermann mit einem schlauen Blick auf Gottfried, »für nötig, als Darleiher ein bißchen zu lügen.«

›Das ist alles, was ich auf der Welt besitze‹, sagte ich zu Mongenod, ›ich wartete auf den Moment, wo die Staatsanleihen so tief als möglich ständen, um dieses Geld darin anzulegen; aber ich will es dir übergeben, und du wirst mich als deinen Sozius ansehen, ich überlasse es deiner Rechtschaffenheit, wann und wo du mir das Ganze zurückgeben wirst. Das Gewissen eines Ehrenmannes‹, fuhr ich fort, ›ist das sicherste Staatsschuldenbuch.‹ Mongenod sah mich bei diesen Worten starr an und schien sie in sein Herz einzugraben. Er streckte seine rechte Hand aus, ich legte meine Linke hinein, und wir drückten uns die Hände, ich tiefbewegt, er, ohne diesmal zwei dicke Tränen zurückzuhalten, die an seinen abgezehrten Wangen herabrannen. Der Anblick dieser Tränen zerriß mir das Herz. Ich wurde noch mehr ergriffen, als Mongenod in diesem Augenblick, alles vergessend, ein schlechtes, ganz zerrissenes indisches Taschentuch herauszog, um sich die Augen abzutrocknen. – ›Bleib hier‹, sagte ich zu ihm und ging eilig zu meinem Versteck, so tiefbewegt, als ob ich eine Frau mir ihre Liebe hätte gestehen hören. Und ich kam zurück mit zwei Goldrollen, jede zu fünfzig Louisdor. – ›Hier, zähl sie nach . . .‹ Er wollte sie nicht zählen und blickte um sich, um ein Schreibzeug zu suchen und mir, wie er sagte, eine Quittung auszustellen. Ich weigerte mich rundweg, irgendein Schriftstück an mich zunehmen. – ›Wenn ich sterben sollte‹, sagte ich zu ihm, ›würden meine Erben dich drängen. Das muß unter uns bleiben.‹ Als er sah, was er für einen Freund an mir besaß, verschwand der Ausdruck von Kummer und Angst auf Mongenods Gesicht, und er wurde heiter. Meine Wirtschafterin servierte uns Austern, Weißwein, eine Omelette, geröstete Nieren, den Rest einer Pastete aus Chartres, die meine alte Mutter mir geschickt hatte, dann den Nachtisch, Kaffee und Inselliköre. Mongenod, der seit zwei Tagen nichts gegessen hatte, lebte wieder auf. Wir sprachen über unser Leben vor der Revolution und blieben bis drei Uhr nachmittags bei Tische als die besten Freunde von der Welt sitzen. Mongenod erzählte mir, wie er sein Vermögen verloren hatte. Zuerst hatte ihm die Verkürzung der städtischen Renten zwei Drittel seines Einkommens genommen, denn sein Vater hatte den größten Teil seines Vermögens in Stadtanleihen angelegt; dann, nachdem er sein Haus in der Rue de Savoie verkauft hatte, war er gezwungen worden, den Preis in Assignaten entgegenzunehmen; er hatte sich damals in den Kopf gesetzt, eine Zeitung herauszugeben, ›Die Schildwache‹, nach deren sechsmonatigem Erscheinen er genötigt war, zu fliehen. Jetzt setzte er seine ganze Hoffnung auf eine komische Oper, betitelt ›Die Peruaner‹. Dieses letzte Bekenntnis ließ mich erzittern. Mongenod als Theaterdichter, der vorher sein Geld in seiner ›Schildwache‹ begraben hatte und jetzt sicherlich beim Theater lebte, in Beziehungen zu den Sängern des Theaters Feydeau, mit Musikern und der eigenartigen Gesellschaft, die sich hinter dem Vorhang verbirgt, schien mir nicht mehr derselbe Mongenod zu sein. Ich empfand ein leichtes Frösteln. Aber wie sollte ich meine hundert Louisdor wieder zurücknehmen? Ich sah die beiden Rollen in jeder Tasche seiner Hose stecken wie zwei Pistolenläufe. Mongenod entfernte sich. Als ich mich allein sah, nicht mehr vor dem Bilde dieses bitteren, furchtbaren Elends, mußte ich gegen meinen Willen Erwägungen anstellen, indem ich nüchtern wurde: ›Mongenod‹, dachte ich jetzt, ›ist sicher tief verdorben, er hat mir eine Komödie vorgespielt.‹ Seine Fröhlichkeit, als er gesehen hatte, wie ich ihm gutmütig eine so riesige Summe gab, schien mir der Freude der Diener im Lustspiel zu gleichen, die irgendeinen Geronte erwischt haben. Ich endete damit, womit ich hätte anfangen sollen, ich beschloß, Erkundigungen über meinen Freund Mongenod einzuziehen, der mir seine Adresse auf die Rückseite einer Spielkarte geschrieben hatte. Aus Zartgefühl wollte ich ihn nicht schon am nächsten Tage aufsuchen; er hätte in meiner Eile ein Zeichen von Mißtrauen sehen können. Zwei Tage später nahmen andere Sorgen mich völlig in Anspruch, und erst nach vierzehn Tagen begab ich mich, da ich Mongenod nicht mehr zu sehen bekommen hatte, eines Morgens aus dem Croix-Rouge, wo ich wohnte, nach seiner Wohnung in der Rue des Moineaux. Mongenod hauste in einem möblierten Hause unterster Sorte, dessen Vermieterin eine sehr anständige Frau war, die Witwe eines Generalpächters, der auf dem Schafott geendet hatte, die, vollständig ruiniert, mit einigen Louisdor sich dem aussichtsreichen Gewerbe einer Zimmermieterin zugewendet hatte. Sie hat seitdem sieben Häuser im Viertel Saint-Roch innegehabt und ein Vermögen erworben. – ›Der Bürger Mongenod ist nicht anwesend,‹ sagte mir die Dame, ›aber es sind Leute bei ihm oben‹. Diese Äußerung erregte meine Neugierde. Ich stieg in das fünfte Stockwerk hinauf. Eine reizende Person öffnete mir die Tür . . . Oh, eine junge Person von wunderbarster Schönheit, die ziemlich argwöhnisch auf der Schwelle der halb geöffneten Tür verharrte. ›Ich bin Alain, Mongenods Freund,‹ sagte ich. Sogleich öffnet sich die Tür völlig, und ich trete in eine abscheuliche Bodenkammer ein, die aber trotzdem von der jungen Person sehr sauber gehalten war. Sie schiebt mir einen Stuhl vor einen Kamin voller Asche, aber ohne Feuer, in dessen Winkel ich eine gewöhnliche irdene Wärmpfanne erblicke. Es war eisig kalt. ›Ich bin sehr glücklich, mein Herr‹, sagte sie, ergriff meine Hand und drückte sie liebevoll, ›daß ich Ihnen meine Dankbarkeit bezeugen kann, denn Sie sind unser Retter. Ohne Sie hätte ich Mongenod vielleicht nie wiedergesehen . . . Er hätte sich . . . ach! . . . ins Wasser gestürzt. Er war in Verzweiflung, als er Sie aufsuchen ging . . .‹ Als ich die junge Person genauer betrachtete, war ich ziemlich erstaunt darüber, daß sie rings um den Kopf einen Schal trug und daß am Hinterkopf und an den Schläfen ein dunkler Schatten erschien; als ich näher hinsah, entdeckte ich, daß ihr Haupt geschoren war. ›Sind Sie leidend?‹ fragte ich mit Bezug auf dieses seltsame Aussehen. ›Jawohl‹ bemerkte sie hastig, ›ich hatte furchtbare Kopfschmerzen, und war genötigt, mein schönes Haar, das mir bis auf die Hacken reichte, abzuschneiden.‹ ›Habe ich die Ehre, mit Frau Mongenod zu sprechen?‹ fragte ich. ›Jawohl, mein Herr‹, erwiderte sie und warf mir einen wahren Engelsblick zu. Ich empfahl mich der armen kleinen Frau und ging hinunter, um die Hauswirtin auszuforschen, aber diese war weggegangen. Ich hatte den Eindruck, daß die junge Frau ihr Haar hatte verkaufen müssen, um Brot anzuschaffen. Stehenden Fußes ging ich zu einem Holzhändler und schickte ihr eine halbe Klafter Holz, wobei ich den Träger und die Holzschneider bat, der kleinen Frau eine quittierte, auf den Namen des Bürgers Mongenod ausgestellte Quittung zu übergeben. –

Hier endet die Periode dessen, was ich lange Zeit hindurch ›meine‹ Dummheit genannt habe«, sagte der gute Alain, faltete die Hände und erhob sie ein wenig, als wollte er mit dieser Bewegung seine Reue ausdrücken.

Gottfried konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, aber dieses Lächeln beruhte, wie man sehen wird, auf einem großen Irrtum.

»Zwei Tage darauf«, fuhr der gute Alte fort, »begegnete ich einer von den Personen, die Einem weder befreundet noch gleichgültig sind, zu denen man entfernte Beziehungen hat, die man eben ›eine Bekanntschaft‹ nennt, einen Herrn Barillaud, der sich bei der zufälligen Erwähnung der ›Peruaner‹ als Freund des Autors bezeichnete. ›Du kennst den Bürger Mongenod?‹ sagte ich.

»Damals waren wir alle verpflichtet, uns zu duzen «, bemerkte Alain in Parenthese.

»Dieser Bürger sah mich an«, nahm Alain seine Erzählung wieder auf, »und rief: ›Ich wollte, ich hätte ihn nie gekannt, denn er hat wiederholt Geld von mir entliehen und bezeigt mir Freundschaft genug, um es mir nicht wiederzugeben. Das ist ein merkwürdiger Kerl, ein guter Junge, aber voller Illusionen! . . . Oh, er besitzt eine glühende Einbildungskraft. Ich will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: er hat nicht die Absicht, zu betrügen; aber da er sich selbst über alles täuscht, kommt er schließlich dazu, sich wie ein Betrüger aufzuführen.‹ ›Aber wieviel schuldet er dir denn? ›Ach, etliche hundert Taler . . . Er ist ein Verschwender. Niemand weiß, wo sein Geld hinkommt, vielleicht weiß er es selbst nicht.‹ ›Besitzt er Hilfsquellen? ›Oh ja‹, sagte Barillaud lachend. ›Augenblicklich spricht er davon, daß er Ländereien bei den Wilden in den Vereinigten Staaten kaufen will.‹ Ich trug diesen Tropfen Essig, den die üble Nachrede mir eingeträufelt hatte, mit mir fort und ließ alle meine guten Vorsätze davon anfressen. Ich suchte meinen alten Chef auf, um seinen Rat einzuholen. Kaum hatte ich ihm das Geheimnis meiner Geldleihe an Mongenod und die Art, wie ich dabei verfahren war, mitgeteilt, so rief er aus: ›Was! Einer von meinen Gehilfen bekommt so etwas fertig? Sie hätten das doch auf den nächsten Tag hinausschieben und zu mir kommen müssen. Da hätten Sie erfahren, daß ich Mongenod nicht mehr empfange. Schon seit einem Jahre hat er von mir mehr als hundert Taler in Silber entliehen, einen enormen Betrag! Und drei Tage, bevor er Sie zu diesem Frühstück besuchte, ist er mir auf der Straße begegnet und hat mir sein Elend mit so erschütternden Worten geschildert, daß ich ihm zwei Louisdor gegeben habe!‹ ›Wenn ich das Opfer eines geschickten Komödianten geworden bin, um so schlimmer für ihn, nicht für mich‹, sagte ich. ›Aber was soll ich nun tun?‹ ›Wenigstens müssen Sie von ihm ein Anerkenntnis bekommen, denn ein Schuldner, wie faul er auch sein mag, kann einmal wieder fein werden, und dann erhält man sein Geld wieder.‹ Daraufhin holte Bordin aus einer Mappe seines Schreibtisches einen Umschlag, auf dem der Name Mongenod stand, und zeigte mir drei Empfangsbescheinigungen, jede über hundert Franken. ›Sobald er wiederkommt, werde ich die Zinsen hinzurechnen, die zwei Louisdor, die ich ihm gegeben habe, und das, worum er mich noch bitten wird; dann muß er mir über alles eine Bescheinigung ausstellen mit dem Anerkenntnis, daß die Zinsen vom Tage des Leihens ab laufen. So ist die Sache wenigstens ordnungsmäßig, und ich habe die Möglichkeit, wieder einmal zu meinem Gelde zu kommen.‹ ›Könnten Sie nicht‹, sagte ich zu Bordin, ›meine Sache ebenso ordnen? Sie sind ein Ehrenmann, und was Sie machen, ist richtig.‹ ›Auf diese Weise bleibt man Herr des Schlachtfeldes‹, erwiderte mir der frühere Anwalt. ›Wenn man so handelt, wie Sie es getan haben, ist man einem Menschen ausgeliefert, der sich über Sie lustig machen kann. Ich will aber nicht, daß man sich über mich lustig mache! Einen früheren Anwalt am Châtelet zum Narren halten! . . . Unsinn! Jeder Mensch, dem Sie Geld borgen, wie Sie es unbedacht Ihrem Mongenod geliehen haben, glaubt nach Verlauf einer gewissen Zeit, daß es ihm gehöre. Es ist nicht mehr Ihr Geld, sondern sein Geld, und Sie werden sein Gläubiger, also ein unbequemer Mann. Der Schuldner sucht sich dann Ihrer zu entledigen, indem er sich mit seinem Gewissen abfindet; und fünfundsiebzig von hundert solchen Menschen werden sich bemühen, Ihnen für den Rest ihrer Tage nicht wieder zu begegnen . . .‹ ›Sie meinen also, daß es unter hundert Menschen nur fünfundzwanzig anständige gibt?‹ ›Habe ich so viele gesagt?‹ bemerkte er mit boshaftem Lächeln. ›Das ist viel.‹ Vierzehn Tage später erhielt ich einen Brief, in dem Bordin mich bat, zu ihm zu kommen, um meine Papiere in Empfang zu nehmen. Ich ging zu ihm. ›Ich habe versucht, Ihnen fünfzig Louisdor wieder zurückzuholen,‹ sagte er zu mir (ich hatte ihm meine Unterhaltung mit Mongenod mitgeteilt). ›Aber die Vögel sind davongeflogen. Sagen Sie Ihren Goldstücken Lebewohl! Ihre Kanarienvögel sind nach wärmeren Gegenden gezogen. Wir haben es mit einem Schwindler zu tun. Hat er nicht mir gegenüber behauptet, daß seine Frau und sein Schwiegervater nach den Vereinigten Staaten gegangen sind, um dort mit sechzig von Ihren Louisdor Grundstücke zu kaufen, und daß er dort mit ihnen zusammenzutreffen gedenke, das heißt also, um ein Vermögen zu erwerben und dann zurückzukommen, um seine Schulden zu bezahlen, deren vollständiges ordnungsmäßiges Verzeichnis er mir übergeben hat, mit der Bitte, ihn wissen zu lassen, was aus seinen Gläubigern inzwischen geworden ist. Hier ist das genaue Verzeichnis,‹ sagte Bordin und zeigte mir einen Umschlag, auf dem die Gesamtsumme angegeben war: ›Siebzehntausend Franken in Silber,‹ sagte er, ›eine Summe, für die man ein Haus haben kann, das eine Rente von zweitausend Talern abwirft!‹ Und nachdem er das Aktenstück wieder verwahrt hatte, übergab er mir einen Wechsel über den Betrag von hundert Louisdors, umgerechnet in Assignaten, nebst einem Briefe, in dem Mongenod anerkannte, hundert Louisdors in Gold empfangen zu haben und mir auch deren Zinsen zu schulden. – ›Meine Sache ist also in Ordnung‹, sagte ich zu Bordin. ›Er kann Ihnen die Schuld nicht ableugnen,‹ erwiderte mein ehemaliger Chef; ›aber wo nichts ist, da hat der König, das heißt das Direktorium, sein Recht verloren.‹ Nach diesen Worten entfernte ich mich. In dem Glauben, in einer Weise, die der Strafbarkeit nicht unterliegt, bestohlen worden zu sein, entzog ich Mongenod meine Achtung und tröstete mich recht philosophisch.

Wenn ich solches Gewicht auf diese so gewöhnlichen und anscheinend so unerheblichen Einzelheiten lege, so geschieht das nicht ohne Absicht,« fuhr der Biedermann fort und sah Gottfried an; »ich versuche, Ihnen zu erklären, weshalb ich dazu veranlaßt wurde, so wie die Mehrzahl der Menschen zu handeln, auf gut Glück und unter Verachtung der Grundsätze, die selbst die Wilden bei den unbedeutendsten Dingen beobachten. Viele Leute würden sich damit rechtfertigen, daß sie sich auf einen würdigen Mann wie Bordin berufen; aber heute finde ich keine Entschuldigung dafür. Wenn es sich darum handelt, einen unseresgleichen zu verdammen und ihm für immer unsere Achtung zu entziehen, darf man sich nur auf sich selbst berufen, und auch das kaum! . . . Dürfen wir aus unserm Herzen ein Tribunal machen, vor das wir unsern Nächsten laden? Auf Grund welchen Gesetzes? Und nach welchem Bewertungsmaßstab? Was bei uns Schwäche ist, ist das nicht Stärke bei unseren Nachbarn? So viele Wesen, so viele verschiedene Maßstäbe für jede Tatsache, denn es gibt nicht zwei gleiche Geschehnisse innerhalb der Menschheit. Die Gesellschaft allein hat das Recht der Unterdrückung gegenüber ihren Gliedern; denn das Recht zur Bestrafung bestreite ich ihr: Unterdrücken genügt, und auch das bringt noch Grausamkeit genug mit sich. Als ich diese Ansichten eines Pariser Kindes hörte und dabei die Klugheit meines früheren Chefs bewunderte, verurteilte ich also Mongenod«, fuhr Alain in seiner Geschichte fort, nachdem er seine edlen Folgerungen daraus gezogen hatte. »Man kündigte die Aufführung der ›Peruaner‹ an. Ich erwartete, von Mongenod eine Eintrittskarte für die erste Vorstellung zu erhalten; ich maßte mir eine Art von Oberherrlichkeit über ihn an. Mein Freund erschien mir, weil er Geld von mir geliehen hatte, wie eine Art von Vasall, der mir eine Menge von Dingen schuldete, abgesehen von den Zinsen meines Geldes. So pflegen wir zu handeln! Mongenod sandte mir nun nicht nur keine Eintrittskarte, sondern ich sah ihn auch von weitem in der dunklen Passage unter dem Theater Feydeau, gut, beinahe elegant gekleidet; er tat, als ob er mich nicht bemerkt hätte; dann, als er mich überholt hatte, und ich ihm nacheilen wollte, war mein Schuldner in einer Querpassage verschwunden. Dieser Umstand ärgerte mich sehr. Und mein Ärger wurde, fern davon, zu verschwinden, mit der Zeit noch größer, und zwar deshalb: Einige Tage nach dieser Begegnung schrieb ich an Mongenod etwa folgende Zeilen: ›Lieber Freund, Sie dürfen nicht annehmen, daß alles Gute und Schlimme, was Ihnen passiert, mir gleichgültig ist. Sind Sie mit dem Erfolg der ›Peruaner‹ zufrieden? Sie haben mich, was Ihr Recht war, bei der ersten Vorstellung, wo ich lebhaft geklatscht haben würde, vergessen. Wie dem auch sei, ich wünsche, daß Sie ein Peru finden möchten, denn ich habe jetzt eine Gelegenheit für die Anlage meines Geldes gefunden und rechne auf Sie am Verfalltage. Ihr Freund Alain.‹ Nachdem ich vierzehn Tage ohne eine Antwort hierauf geblieben war, begab ich mich nach der Rue des Moineaux. Die Wirtin teilte mir mit, daß die kleine Frau tatsächlich mit ihrem Vater zu der Zeit, die Mongenod Bordin angegeben hatte, abgereist war. Mongenod verlasse seine Dachkammer früh sehr zeitig und komme erst spät in der Nacht heim. So vergingen weitere vierzehn Tage, dann schrieb ich folgenden neuen Brief an Mongenod: ›Mein lieber Mongenod, ich sehe Sie nicht, und Sie antworten nicht auf meine Briefe; ich verstehe Ihr Verhalten nicht. Was würden Sie von mir denken, wenn ich mich so gegen Sie benähme?‹. Ich unterschrieb nicht mehr: ›Ihr Freund‹, sondern nur: ›Viele Grüsse.‹ Ein Monat verging, ohne daß ich irgendeine Nachricht von Mongenod erhielt. Die ›Peruaner‹ hatten nicht den großen Erfolg gehabt, auf den Mongenod gerechnet hatte. Ich ging auf meine Kosten zur zwanzigsten Aufführung, es war wenig Publikum da. Frau Scio spielte gleichwohl vortrefflich. Im Foyer erzählte man mir, daß das Stück nur noch einige Male gegeben werden würde. Siebenmal zu verschiedenen Zeiten ging ich zu Mongenod, ohne ihn anzutreffen, und jedesmal hinterließ ich meinen Namen bei seiner Wirtin. Dann schrieb ich ihm: ›Mein Herr, wenn Sie nicht auch noch meine Achtung einbüßen wollen, nachdem Sie meine Freundschaft eingebüßt haben, dann werden Sie mich jetzt wie einen Fremden behandeln, das heißt mit Höflichkeit, und mir mitteilen, ob Sie in der Lage sind, Ihren Wechsel einzulösen. Ich werde mich entsprechend Ihrer Antwort hierauf verhalten. Ihr ergebener Alain.‹ – Keine Antwort. Wir schrieben damals 1799; in zwei Monaten wäre bereits ein Jahr verflossen gewesen. Am Verfalltage suchte ich Bordin auf. Bordin nahm den Wechsel an sich, ließ ihn protestieren und einklagen. Die unglücklichen Feldzüge der französischen Armeen hatten die Kurse derart herabgedrückt, daß man die Fünffrankenrente für sieben Franken kaufen konnte. Für die hundert Louisdor in Gold hätte ich also fast fünfzehnhundert Franken Rente haben können. Alle Morgen, wenn ich meinen Kaffee trank, sagte ich beim Lesen der Zeitung: ›Verdammter Mongenod! Ohne ihn hätte ich jetzt tausend Taler Rente gehabt!‹ Mongenod war mein Sündenbock geworden, ich wetterte gegen ihn, wenn ich durch die Straßen ging. – ›Bordin ist ja da,‹ sagte ich mir, ›er wird ihn schon fassen, und das geschieht ihm recht!‹ Mein Haß entlud sich in Verwünschungen, ich verfluchte diesen Menschen und dichtete ihm alle Laster an. Oh, Herr Barillaud hatte ganz recht mit allem, was er mir über ihn gesagt hatte. Endlich eines Morgens sehe ich meinen Schuldner hereintreten, nicht verlegener, als wenn er mir keinen Centime geschuldet hätte; als ich ihn so sah, empfand ich all die Scham, die er hätte fühlen müssen. Ich war wie ein auf frischer Tat ertappter Verbrecher. Mir war übel zumute. Der 18. Brumaire war gewesen, alles ging vortrefflich, die Staatspapiere stiegen. Bonaparte war abgereist, um die Schlacht von Marengo zu schlagen. – ›Es ist bedauerlich, mein Herr,‹ sagte ich zu Mongenod, den ich stehend empfing, ›daß ich Ihren Besuch nur dem Drängen des Gerichtsvollziehers zu verdanken habe.‹ Mongenod nahm einen Stuhl und setzte sich. ›Ich komme, um dir mitzuteilen,‹ antwortete er, ›daß ich außerstande bin, dich zu bezahlen.‹ ›Sie haben es mir unmöglich gemacht, mein Geld vor der Rückkehr des Ersten Konsuls anzulegen, zu einer Zeit, wo ich mir damit ein kleines Vermögen geschaffen hätte . . .‹ ›Das weiß ich, Alain,‹ sagte er, ›das weiß ich. Aber was hat es für einen Zweck, mich zu verklagen und mich durch die mir auferlegten Kosten noch mehr mit Schulden zu belasten? Ich habe Nachrichten von meinem Schwiegervater und meiner Frau erhalten, sie haben Grundstücke gekauft und mir ein Verzeichnis der für ihre Einrichtung notwendigen Sachen geschickt; ich habe alle meine Mittel für diese Anschaffungen verwenden müssen. Jetzt werde ich, ohne daß mich jemand daran hindern kann, auf einem holländischen Schiff in Vlissingen, wohin ich alle meine geringe Habe gesandt habe, abfahren. Bonaparte hat die Schlacht bei Marengo gewonnen, der Frieden wird unterzeichnet werden, ich kann ohne Besorgnis mich mit meiner Familie vereinigen, denn meine teure kleine Frau war bei ihrer Abreise schwanger.‹ ›Sie haben mich also Ihren Interessen geopfert? . . .‹ sagte ich. ›Jawohl,‹ erwiderte er, ›denn ich habe geglaubt, Sie seien mein Freund.‹ In diesem Moment fühlte ich mich niedriger als Mongenod, so erhaben erschien er mir, als er dieses einfache und doch so bedeutungsvolle Wort sprach. ›Habe ich das Ihnen nicht gesagt?‹ fuhr er fort. ›War ich nicht voller Offenherzigkeit gegen Sie, hier, an dieser selben Stelle? Ich war zu Ihnen gekommen, Alain, als zu dem einzigen Menschen, der mich verstehen konnte. Fünfzig Louisdor, habe ich gesagt, würden verloren sein; aber hundert würde ich Ihnen zurückgeben. Ich habe keinen Termin dafür genannt; konnte ich den Tag wissen, an dem mein langer Kampf mit dem Unglück enden würde? Sie waren mein letzter Freund. Alle meine andern Freunde, selbst unser alter Chef Bordin, verachteten mich, weil ich Geld von ihnen entliehen hatte. Oh, Sie kennen das furchtbare Gefühl nicht, Alain, das dem ehrenhaften Manne, der mit dem Unglück kämpft, das Herz zusammenpreßt, wenn er zu jemandem um Hilfe bitten kommt! . . . und alles, was sich daraus ergibt! Ich wünsche Ihnen, daß Sie es niemals kennenlernen mögen, es ist schauerlicher als die Todesangst. Sie haben mir Briefe geschrieben, die von meiner Seite in der gleichen Lage Ihnen sehr gehässig erschienen wären. Sie haben von mir Dinge erwartet, die für mich außerhalb jeder Möglichkeit lagen. Sie sind der einzige, vor dem ich mich rechtfertigen will. Trotz Ihres scharfen Vorgehens und trotzdem Sie sich aus einem Freunde in einen Gläubiger verwandelt hatten, damals, als Bordin ein Anerkenntnis für Sie von mir verlangte und so die edle Abmachung, die wir getroffen hatten, als wir uns die Hand drückten und unsere Tränen vereinigten, aufhob – trotzdem habe ich mir die Erinnerung an diesen Morgen bewahrt. Und um dieser Stunde willen bin ich hergekommen, um Ihnen zu sagen: Sie kennen das Unglück nicht, darum erheben Sie keine Anklage! Ich hatte nicht eine Stunde, nicht eine Sekunde frei, um Ihnen zu schreiben und zu antworten! Vielleicht wünschten Sie, daß ich käme, um Ihnen zu schmeicheln? . . . Ebensogut könnte man von einem Hasen, der auf der Flucht vor den Hunden und Jägern ermattet, verlangen, daß er sich in einer Lichtung ausruhen und Gras fressen soll! Ich habe Ihnen keine Eintrittskarte gesandt, nein; ich hatte nicht einmal so viele, um die Wünsche derjenigen, von denen mein Schicksal abhing, zu befriedigen. Ein Neuling beim Theater, wurde ich die Beute der Musiker, der Schauspieler, der Sänger, des Orchesters. Um abreisen und das, was meine Familie drüben braucht, kaufen zu können, habe ich die ›Peruaner‹ dem Direktor verkauft mit noch zwei andern Stücken, die ich verfaßt hatte. Ich reise nach Holland ohne einen Sou in der Tasche; ich werde mich unterwegs von Brot ernähren, bis ich Vlissingen erreicht habe. Meine Überfahrt ist bezahlt, das ist alles. Ohne das Mitleid meiner Wirtin, die Vertrauen zu mir hat, wäre ich genötigt gewesen, die Reise zu Fuß zu machen, mit dem Ränzel auf dem Rücken. Trotzdem Sie also an mir zweifeln, bleibt Ihnen doch meine volle Dankbarkeit erhalten, denn ohne Sie hätte ich meinen Schwiegervater und meine Frau nicht nach New York schicken können. Nein ›Herr‹ Alain, ich werde nicht vergessen, daß die hundert Louisdor, die Sie mir geliehen haben, heute eine Rente von fünfzehnhundert Franken bedeuten. ›Ich möchte Ihnen gern Glauben schenken, Mongenod‹, sagte ich, fast überzeugt durch den Ton, in dem er diese Erklärung vorgebracht hatte. ›Oh, du sagst nicht mehr ›Herr‹ zu mir‹, rief er lebhaft aus und blickte mich freundlich an. ›Weiß Gott, ich würde Frankreich mit weniger Bedauern verlassen, wenn ich hier einen Menschen zurückließe, in dessen Augen ich nicht ein halber Betrüger, ein Verschwender, ein Mann bin, der Illusionen nachjagt. Mitten in meinem Elend habe ich einen Engel lieben dürfen. Ein Mensch, der wahrhaft liebt, Alain, ist niemals ganz verächtlich . . .‹ Nach diesen Worten reichte ich ihm die Hand, er ergriff sie und drückte sie. ›Möge der Himmel dich beschützen!‹ sagte ich. ›Wir sind also immer noch Freunde?‹ fragte er. ›Jawohl‹, erwiderte ich. ›Man soll von mir nicht sagen, daß mein Spielkamerad und Jugendfreund mit meinem Zorn belastet nach Amerika gegangen ist!‹ Mongenod umarmte mich und stürzte zur Tür hinaus. Als ich einige Tage später Bordin begegnete und ihm dieses letzte Zusammentreffen erzählte, sagte er lächelnd: ›Ich wünschte, daß dies keine Theaterszene war! . . . Hat er nichts weiter von Ihnen verlangt?‹ ›Nein‹, antwortete ich. ›Er war auch bei mir, ich bin beinahe ebenso schwach gewesen wie Sie, und er hat von mir so viel erbeten, daß er unterwegs zu leben hätte. Na, wir werden ja sehen, was dabei herauskommen wird.‹ Diese Bemerkung Bordins ließ mich befürchten, daß ich in törichter Weise einer empfindsamen Regung nachgegeben hätte. ›Aber,‹ sagte ich mir, ›auch er, der Anwalt, hat ja ebenso gehandelt wie ich!‹ Ich halte es für überflüssig, Ihnen auseinanderzusetzen, auf welche Weise ich mein ganzes Vermögen verlor, ausgenommen meine andern hundert Louisdor, die ich ins Staatsschuldbuch eintragen ließ, als der Kurs der Renten schon so hoch gestiegen war, daß ich kaum fünfhundert Franken zum Leben hatte, als ich vierunddreißig Jahre alt war. Ich bekam dann auf Empfehlung Bordins eine Stelle bei dem Pfandleihamt in der Rue des Petits-Augustins mit achthundert Franken Gehalt. Ich mußte also sehr bescheiden leben. Ich mietete mir in der Rue des Marais im dritten Stock eine kleine Wohnung von zwei Zimmern und einer Kammer für zweihundertfünfzig Franken. Ich speiste in einer bürgerlichen Pension für vierzig Franken im Monat. Abends verfertigte ich Abschriften. Häßlich, wie ich war, und arm, mußte ich darauf verzichten, mich zu verheiraten.« Als er diese Bemerkung, die der gute Alain über sich selbst mit bewundernswerter Resigniertheit machte, vernahm, entfuhr Gottfried eine Bewegung, die besser als eine Äußerung die Gleichheit ihres Geschicks bestätigte; der biedere Alte machte als Antwort auf diese sprechende Geste eine Pause und schien ein Wort von seinem Zuhörer zu erwarten.

»Sie sind niemals geliebt worden?« fragte Gottfried.

»Niemals!« entgegnete er, »ausgenommen von Frau de la Chanterie, die uns alle mit derselben Liebe umfaßt, die wir alle ihr entgegenbringen, einer Liebe, die ich eine himmlische nennen möchte . . . Sie haben sich ja davon überzeugen können: wir leben ihr Leben, wie sie das unsere lebt; und wenn auch keine ›physischen‹, so sind doch unsere Glücksgefühle nicht weniger warm, denn unsere Existenz beruht allein auf dieser Empfindung unseres Herzens . . . Was wollen Sie, mein Kind,« fuhr er fort, »wenn die Frauen unsere moralischen Vorzüge zu würdigen vermögen, haben sie mit der Außenwelt abgeschlossen und sind alt geworden . . . Ich habe viel gelitten, glauben Sie mir! . . .«

»Ach, und ich desgleichen . . .« sagte Gottfried.

»Unter dem Kaiserreich«, nahm Alain seine Erzählung wieder auf und senkte den Kopf, »wurden die Zinsen nicht pünktlich bezahlt, man mußte damit rechnen, daß die Zahlungen eingestellt werden würden. Von 1802 bis 1814 verging keine einzige Woche, in der ich nicht Mongenod für meine Sorgen verantwortlich gemacht hätte. Ohne Mongenod, sagte ich mir, hätte ich mich verheiraten können. Ohne ihn hätte ich nicht unter Entbehrungen zu leiden brauchen. Manchmal aber sagte ich mir auch: Vielleicht wird der unglückliche Mann dort drüben vom Schicksal verfolgt! Im Jahre 1806, als ich an der Last des Lebens sehr schwer zu tragen hatte, schrieb ich ihm über Holland einen langen Brief. Ich erhielt keine Antwort und wartete drei Jahre, indem ich auf seine Antwort ständig meine Hoffnung setzte, die immer wieder getäuscht wurde. Endlich fand ich mich in mein Schicksal. Zu meinen fünfhundert Franken Rente, zu meinen zwölfhundert Franken Gehalt – es war aufgebessert worden – kam noch hinzu, daß ich Herrn Birotteau, dem Parfümhändler, die Bücher führte, was mir weitere fünfhundert Franken einbrachte. So konnte ich nicht nur existieren, sondern ich legte auch noch achthundert Franken jährlich beiseite. Zu Beginn des Jahres 1814 ließ ich neuntausend Franken Ersparnisse ins Staatsschuldbuch eintragen und hatte so sechzehnhundert Franken Rente für meine alten Tage sichergestellt. Ich bezog fünfzehnhundert Franken beim Pfandleihhause, sechshundert Franken für meine Buchführung, sechzehnhundert Franken Staatsrente, im ganzen dreitausendsiebenhundert Franken. Ich nahm mir eine Wohnung in der Rue de Seine und lebte nun etwas besser. Meine Stellung brachte mich in Beziehungen zu vielen Unglücklichen. Seit zwölf Jahren kannte ich besser als irgendein anderer das öffentliche Elend. Ein- oder zweimal konnte ich armen Leuten helfen. Ich empfand eine lebhafte Freude, wenn ich sah, daß unter zehn solchen sich ein bis zwei Familien wieder emporgearbeitet hatten. Ich kam auf den Gedanken, daß die wahre Wohltätigkeit nicht darin bestehen dürfe, den Leidenden Geld hinzuwerfen. Die Mildtätigkeit im gewöhnlichen Sinne schien mir häufig eine Art Prämie für das Verbrechen zu sein. Ich machte mich daran, diese Frage zu studieren. Ich war damals fünfzig Jahre alt, und mein Leben neigte seinem Ende zu. Wozu bin ich noch gut? fragte ich mich. Wem soll ich mein Vermögen hinterlassen? Wenn ich mein Heim reicher ausstatte, eine gute Köchin engagiere und ein bequemes gesichertes Leben führe, womit soll ich meine Zeit hinbringen? Elf Jahre Revolution und fünfzehn Jahre elenden Daseins hatten die kostbarste Zeit meines Lebens verschlungen und es in unfruchtbarer Arbeit aufgezehrt oder hatten einzig und allein zu seiner Fristung gedient! Niemand kann sich in solchem Alter aus einer dunklen und von der Not niedergedrückten Existenz zu einer glänzenden Zukunft aufschwingen; aber man kann sich immer noch nützlich machen. Ich begriff endlich, daß eine ausgedehnte Überwachung, die mit gutem Rat beisteht, den Wert des gespendeten Geldes zu verzehnfachen vermag, denn die Unglücklichen bedürfen vor allem der Leitung; wenn man sie an dem Ertrage der Arbeit, die sie für andere machen, beteiligt, so fehlt es ihnen nicht an erfinderischem Geist. Einige gute Resultate, die ich erzielte, machten mich sehr stolz. Ich erblickte hierin zugleich ein Ziel und eine Beschäftigung, nicht zu reden von dem köstlichen Genuß, den das Vergnügen, im kleinen die Rolle der Vorsehung zu spielen, gewährt.

»Und heute spielen Sie sie im großen Stil? . . .« fragte Gottfried lebhaft.

»Oh, Sie wollen alles wissen?« sagte der Alte; »ach nein. Würden Sie es glauben? . . .« fuhr er nach einer Pause fort, »die Geringfügigkeit der Mittel, über die ich bei meinem kleinen Vermögen verfügen konnte, lenkte meine Gedanken wieder häufig auf Mongenod. Ohne Mongenod, sagte ich mir, hätte ich viel mehr tun können. Wenn ein schlechter Mensch mir nicht fünfzehnhundert Franken Rente weggenommen hätte, dachte ich oft, so würde ich manche Familie retten können. Indem ich also meine Ohnmacht durch eine Anklage entschuldigte, verwünschten diejenigen, denen ich nur Worte als Trost, schenken konnte, Mongenod mit mir zusammen. Diese Verwünschungen erleichterten mir das Herz. Eines Morgens, im Januar 1816, meldet mir meine Wirtschafterin . . . wen? Mongenod! Herrn Mongenod! Und wer erscheint? . . . Die schöne, jetzt sechsunddreißig Jahre alte Dame, begleitet von drei Kindern; dann Mongenod, jünger aussehend als bei seiner Abreise; denn Reichtum und Glück breiten einen Strahlenkranz um ihre Günstlinge. Mager, bleich, gelb, eingetrocknet war er abgereist, und stark, wohlgenährt, blühend wie ein Stiftsherr, gut gekleidet, kehrte er zurück. Er warf sich in meine Arme, und als er bemerkte, daß ich ihn kühl empfing, waren seine ersten Worte: ›Konnte ich früher kommen, lieber Freund? Die Meere sind erst seit 1815 wieder frei, ich brauchte auch anderthalb Jahre, um mein Vermögen flüssig zu machen, meine Rechnungen abzuschließen und ausstehende Gelder einzuziehen. Ich habe Erfolg gehabt, mein Lieber! Als ich deinen Brief erhielt, im Jahre 1806, bin ich mit einem holländischen Schiffe abgefahren, um dir selbst mein kleines Vermögen zu bringen; aber infolge der Vereinigung Hollands mit dem französischen Kaiserreich haben mich die Engländer abgefangen und nach Jamaika transportiert, von wo ich nur durch einen Zufall entwichen bin. Nach New York zurückgekehrt, wurde ich das Opfer von Fallissements, denn während meiner Abwesenheit vermochte die arme Charlotte sich nicht vor Betrügern zu schützen. Ich war also gezwungen, mein Vermögen von neuem aufzubauen. Aber nun sind wir endlich wieder daheim. An der Art, wie meine Kinder dich anschauen, wirst du wohl merken, daß man ihnen häufig von dem Wohltäter der Familie erzählt hat! ›O ja, mein Herr,‹ sagte die schöne Frau Mongenod, ›es ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht Ihrer gedacht hätten. Bei allen Geschäften ist Ihr Anteil beiseite gelegt worden. Alle haben wir den beglückenden Augenblick herbeigesehnt, an dem wir Ihnen ein Vermögen anbieten können, ohne daß wir etwa glauben, dieser ›Zehnte‹ könne jemals unsere schuldige Dankbarkeit wettmachen.‹ Nach diesen Worten überreichte mir Frau Mongenod die herrliche Kassette, die Sie hier sehen, in der sich hundertfünfzig Scheine zu tausend Franken befanden. – ›Du hast viel gelitten, mein armer Alain, ich weiß es, aber wir ahnten deine Leiden und erschöpften uns in Plänen, wie wir das Geld dir übermitteln sollten, ohne daß es uns gelungen wäre,‹ fuhr Mongenod fort. ›Du hast dich nicht verheiraten können, wie du mir gesagt hast; aber hier steht unsere älteste Tochter, sie ist in dem Gedanken erzogen worden, daß sie deine Frau werden soll, und sie besitzt eine Mitgift von fünfhunderttausend Franken . . .‹ ›Gott behüte mich davor, daß ich sie unglücklich mache,‹ rief ich schnell aus und betrachtete das junge Mädchen, das ebenso schön war wie seine Mutter in ihrem Alter; und ich zog sie an mich und küßte sie auf die Stirn. ›Haben Sie keine Furcht, mein schönes Kind,‹ sagte ich zu ihr. ›Ein Mann von fünfzig Jahren und ein Mädchen von siebzehn! Und ein so häßlicher Mensch, wie ich, nein, niemals!‹ ›Mein Herr,‹ sagte sie, ›der Wohltäter meines Vaters wird in meinen Augen niemals häßlich sein.‹ Diese mit ehrlicher Freimütigkeit gesprochenen Worte ließen mich erkennen, daß alles, was Mongenod berichtet hatte, wahr war; ich reichte ihm die Hand, und wir umarmten uns nochmals. ›Mein lieber Freund,‹ sagte ich, ›ich habe dir unrecht getan, denn ich habe dich oft angeklagt und verwünscht . . .‹ ›Das mußtest du auch, Alain‹, entgegnete er mir errötend; ›du littest, und durch meine Schuld . . .‹ Ich zog nun aus einer Mappe Mongenods Akten und übergab ihm seinen Wechsel quittiert. ›Ihr werdet nun alle mit mir frühstücken,‹ sagte ich zu der Familie. ›Unter der Bedingung, daß du bei uns dinierst,‹ erwiderte Mongenod, ›sobald wir eine Wohnung haben; wir sind erst gestern angekommen. Wir wollen ein Haus kaufen, und ich will in Paris ein Bankhaus für Nordamerika errichten, um es diesem Jungen hier zu hinterlassen.‹ Dabei wies er auf seinen ältesten Sohn, der damals fünfzehn Jahre alt war. Den Rest des Tages verbrachten wir zusammen und gingen abends ins Theater, denn Mongenod und seine Familie waren heißhungrig danach. Am nächsten Tage ließ ich die Summe ins Staatsschuldbuch eintragen und hatte nun etwa fünfzehntausend Franken Rente. Dieses Vermögen erlaubte mir, auf das Buchführen am Abend zu verzichten und meine Stellung aufzugeben, zur großen Befriedigung der Supernumerare. Nach der Gründung des Bankhauses Mongenod & Co., das bei den ersten Anleihen der Restaurationszeit enorme Gewinne machte, starb mein Freund 1827 im Alter von dreiundsechzig Jahren. Seine Tochter, der er dann eine Mitgift von mehr als einer Million gab, heiratete den Vicomte de Fontaine. Der Sohn, den Sie kennen, ist noch nicht verheiratet; er lebt mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder zusammen. Wir bekommen bei ihnen alle Summen, die wir nötig haben könnten. Friedrich – sein Vater hat ihm in Amerika meinen Vornamen gegeben –, Friedrich Mongenod ist mit sechsunddreißig Jahren einer der gewandtesten und ehrenhaftesten Bankiers von Paris. Es ist noch nicht lange her, daß mir Frau Mongenod schließlich eingestanden hat, wie sie ihr Haar für zwei Taler verkauft hatte, um Brot dafür anzuschaffen. Sie spendet alljährlich vierundzwanzig Klafter Holz, die ich an Bedürftige verteile, zum Andenken an die halbe Klafter, die ich ihr einst geschickt habe.«

»Das erklärt mir Ihre Beziehungen zu dem Hause Mongenod, sagte Gottfried, »und Ihr Vermögen . . .«

Der gute Alte sah Gottfried lächelnd, immer noch mit dem Ausdruck freundlichen Spottes an.

»Fahren Sie doch fort . . .«, bemerkte Gottfried, da er Herrn Alain ansah, daß er noch nicht alles gesagt hatte.

»Diese Lösung der Angelegenheit, mein lieber Gottfried, machte auf mich einen tiefen Eindruck. Wenn auch der Mann, der so viel gelitten hatte, wenn auch mein Freund mir meine Ungerechtigkeit verzieh, so konnte ich sie mir selbst doch nicht verzeihen.«

»Oh«, machte Gottfried.

»Ich beschloß, alles für mich Überflüssige, etwa zehntausend Franken jährlich, den Zwecken einer überlegten Wohltätigkeit zu opfern«, fuhr Alain ruhig, fort. »Um diese Zeit machte ich die Bekanntschaft eines Richters am Seinegericht erster Instanz, eines gewissen Popinot, den wir vor drei Jahren zu verlieren das Unglück hatten, und der fünfzehn Jahre hindurch die eifrigste Wohltätigkeit im Stadtviertel Saint-Marcel ausübte. Er hatte zusammen mit dem verehrungswürdigen Vikar von Notre-Dame und mit der gnädigen Frau den Plan zu dem Werk entworfen, an dem wir jetzt mitarbeiten und das seit dem Jahre 1825 im verborgenen manches Gute gestiftet hat. Dieses Werk hat in Frau de la Chanterie seine Seele erhalten, denn sie ist in Wahrheit die Seele dieses Unternehmens. Der Vikar vermochte uns noch frömmer zu machen, als wir vorher waren, indem er uns die Notwendigkeit bewies, selber tugendhaft zu sein, um diese Tugend andern einflößen zu können und mit gutem Beispiel voranzugehen. Je weiter wir auf diesem Wege fortgeschritten sind, um so glücklicher haben wir uns untereinander gefühlt. Es war also die Reue darüber, daß ich das Herz meines Jugendfreundes so verkannt hatte, die mir den Gedanken eingab, freiwillig den Armen das Vermögen zu opfern, das er mir zurückbrachte und das ich annahm, ohne gegen die im Verhältnis zu der geliehenen ungeheure Summe, die er mir wiedergab, Einspruch zu erheben: Eine solche Bestimmung rechtfertigte alles.«

Dieser Bericht, der ohne Emphase mit rührender Natürlichkeit in Ton, Geste und Blick gegeben war, hätte Gottfried den Wunsch, in diese fromme edle Vereinigung einzutreten, einflößen müssen, wenn sein Entschluß dazu nicht schon vorher gefaßt gewesen wäre.

»Sie kennen die Welt wenig,« sagte Gottfried, »wenn Sie solche Skrupel wegen einer Sache haben, die sonst kein Gewissen beunruhigen würde.«

»Ich kenne nur die Unglücklichen«, antwortete der gute Alte. »Ich habe wenig Verlangen, eine Welt kennenzulernen, wo man so wenig Bedenken hat, den andern falsch zu beurteilen. Aber es ist bald Mitternacht, und ich habe noch über mein Kapitel der ›Nachahmung Christi‹ nachzudenken. Gute Nacht.«

Gottfried ergriff die Hand des Alten und drückte sie voller Verehrung.

»Können Sie mir auch die Lebensgeschichte der Frau de la Chanterie erzählen?« fragte Gottfried.

»Das ist ohne ihre Einwilligung unmöglich,« erwiderte Alain, »denn sie hängt mit einem der schrecklichsten Ereignisse der kaiserlichen Politik zusammen. Ich habe die gnädige Frau durch meinen Freund Bordin kennengelernt, er kennt alle Geheimnisse dieses edlen Lebens, und er war es, der mich sozusagen in dieses Haus gebracht hat.«

»Wie dem auch sei,« antwortete Gottfried, »ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie mir Ihr Leben erzählt haben, ich kann daraus Lehren für mich schöpfen.«

»Wissen Sie auch, was die Moral davon ist?«

»Sagen Sie es mir,« entgegnete Gottfried, »denn ich könnte etwas anderes daraus schließen als Sie . . .«

»Also,« sagte der gute Alte, »Genießen ist eine Nebensache in einem christlichen Leben, aber nicht sein Zweck, und das begreifen wir zu spät.«

»Und was gewinnt man, wenn man ein Christ wird?« fragte Gottfried.

»Sehen Sie dorthin!« sagte der Alte.

Und er zeigte mit dem Finger auf eine Inschrift in goldnen Buchstaben auf schwarzem Grunde, die der neue Pensionär noch nicht hatte bemerken können, da er zum ersten Male Alains Zimmer betreten hatte. Gottfried wandte sich um und las: Transire benefaciendo.

»Das ist der Sinn, mein Kind, den man dann dem Leben zu geben hat. Wenn Sie einer der Unseren werden, so wird das Ihre einzige Devise sein. Wir lesen diese Vorschrift, die wir uns selbst gegeben haben, zu jeder Stunde, wenn wir aufstehen, wenn wir uns niederlegen, wenn wir uns ankleiden . . . Ach! Wenn Sie wüßten, welche unendliche Freude die Erfüllung dieser Regel mit sich bringt! . . .«

»Wie das? . . .« sagte Gottfried, in der Hoffnung auf nähere Erklärungen.

»Zunächst sind wir ebenso reich wie der Baron von Nucingen . . . Aber die ›Nachahmung Christi‹ verbietet uns, etwas für uns zu besitzen; wir sind nur die Verteiler, und wenn wir die geringste Regung von Stolz fühlten, wären wir nicht würdig, die Verteiler zu sein. Das wäre nicht transire benefaciendo, das wäre, in dem Gedanken daran einen Genuß zu empfinden. Wenn Sie sich mit etwas aufgeblähten Nasenflügeln sagen würden: Ich spiele die Rolle der Vorsehung!, wie Sie vielleicht hätten denken können, wenn Sie heute morgen an meiner Stelle gewesen wären, als ich einer Familie das Leben wiederschenkte, so würden Sie ein Sardanapal geworden sein, und zwar ein schlimmer! Keiner von den Herren hier denkt an sich, wenn er Gutes tut, man muß sich jeder Eitelkeit entschlagen, jedes Stolzes, jeder Eigenliebe, und das ist schwer, glauben Sie mir! . . .«

Gottfried wünschte Herrn Alain gute Nacht und begab sich in sein Zimmer, tief bewegt von Alains Erzählung; aber seine Neugierde war eher erregt als befriedigt, denn die Hauptfigur dieses Interieurs war Frau de la Chanterie. Das Leben dieser Frau erschien ihm so bedeutungsvoll, daß er dessen Erkundung zum Hauptzweck seines Aufenthalts im Hause de la Chanterie machte. Wohl erkannte er bereits in der Vereinigung der fünf Personen eine gewaltige Wohltätigkeitsorganisation; aber er beschäftigte sich in seinen Gedanken viel weniger damit als mit seiner Heldin.

Der Neophyt verbrachte mehrere Tage damit, die auserlesenen Leute, in deren Gesellschaft er sich befand, genauer, als er es bisher getan hatte, zu beobachten, und dabei vollzog sich in seinem Innern ein Phänomen, das die modernen Philantropen, vielleicht aus Unwissenheit, nicht beachtet haben. Die Sphäre, in der er lebte, übte einen positiven Einfluß auf Gottfried aus. Dem Gesetz, dem die physische Natur, bezüglich des Einflusses des atmosphärischen Milieus auf die Daseinsbedingungen der in ihr sich entwickelnden Existenzen, unterworfen ist, unterliegt in gleicher Weise auch die sittliche Natur; daraus folgt, daß das Zusammenleben verurteilter Gefangener eins der größten sozialen Verbrechen, ihre Isolierung aber einen Versuch von zweifelhaftem Erfolge darstellt. Die Verurteilten sollten religiösen Instituten übergeben und überreich mit dem Guten versorgt werden, anstatt daß sie inmitten des ausgebreitetsten Bösen verharren müssen. Man kann hierbei auf das opfervollste Entgegenkommen der Kirche rechnen; wenn sie Missionare zu wilden oder barbarischen Völkern entsendet, so würde sie auch mit größter Freude religiösen Orden die Mission übertragen, die Wilden der Zivilisation bei sich aufzunehmen, um sie zu bekehren; denn jeder Verbrecher ist ein Gottloser, und häufig, ohne es selbst zu wissen. Gottfried sah, daß die fünf Personen dieselben Eigenschaften besaßen, die sie bei ihm forderten; sie alle waren ohne Stolz, ohne Eitelkeit, wahrhaft bescheiden und fromm und ohne die Ansprüche der Scheinheiligen. Solche Tugenden sind ansteckend; er wurde von dem Verlangen ergriffen, es diesen unbekannten Helden gleichzutun, und kam schließlich dazu, mit Begeisterung das Buch, das er anfangs verschmäht hatte, zu studieren. Binnen vierzehn Tagen gestaltete er sein Leben so einfach, wie es eigentlich sein soll, wenn man es von dem hohen Gesichtspunkte aus betrachtet, zu dem die religiöse Gesinnung hinführt. So bekam auch seine Neugierde, die zuerst so weltlicher Art und auf so niedrigen Beweggründen beruhend gewesen war, einen reineren Charakter; er verzichtete zwar noch nicht auf sie, denn es wäre ihm schwer geworden, sein Interesse in bezug auf Frau de la Chanterie fahren zu lassen; aber er bewies dabei, ohne es zu wollen, eine Diskretion, die von den Männern gewürdigt wurde, bei denen der göttliche Geist eine außerordentliche Vertiefung ihrer Fähigkeiten bewirkt hatte, wie das bei allen Frommen der Fall ist. Die Konzentration der moralischen Kräfte verzehnfacht ihre Wirkung, welches System man auch dabei anwenden mag.

»Unser Freund ist noch nicht bekehrt,« sagte der gute Abbé de Vèze, »aber er verlangt danach, es zu werden . . .«

Ein unvorhergesehenes Ereignis beschleunigte die Enthüllung der Geschichte der Frau de la Chanterie für Gottfried, so daß seine hauptsächlichste Wißbegierde schnell befriedigt wurde.

Paris beschäftigte sich damals mit dem Ausgang eines jener schrecklichen Kriminalprozesse, die in den Annalen unserer Schwurgerichtshöfe einen Markstein bedeuten. Bei diesem Prozeß lenkte sich das Hauptinteresse auf die Verbrecher selbst, die mit ihrer Keckheit, mit ihrem den gewöhnlichen Angeklagten weit überlegenem Geist und ihren zynischen Antworten die Gesellschaft entsetzten. Dabei war nun eins auffällig: keine Zeitung fand Eingang in das Haus de la Chanterie, und Gottfried hörte von der Zurückweisung der von den Verurteilten eingelegten Berufung nur durch seinen Lehrer in der Buchführung, denn der Prozeß selbst war lange vor seinem Einzug bei Frau de la Chanterie verhandelt worden.

»Begegnen Sie auch«, sagte er zu seinen künftigen Freunden, »solchen fürchterlichen Schurken? Und wenn Sie auf sie treffen, wie verhalten Sie sich zu ihnen?«

»Zunächst«, sagte Herr Nikolaus, »gibt es keine fürchterlichen Schurken, sondern das sind kranke Naturen, die nach Charenton gehören; aber abgesehen von solchen krankhaften Ausnahmen, sehen wir nur Menschen, die ihre Vernunft nicht zu gebrauchen wissen, und es ist die Mission hilfreicher Männer, ihre Seelen wiederaufzurichten und die Verirrten wieder auf den rechten Weg zu bringen.«

»Und«, sagte der Abbé de Vèze, »dem Apostel ist alles möglich, er hat Gott für sich . . .«

»Wenn man Sie nun zu diesen beiden Verurteilten entsenden würde, könnten Sie bei ihnen etwas ausrichten?«

»Die Zeit dazu würde mangeln«, bemerkte der gute Alain.

»Im allgemeinen«, sagte Herr Nikolaus, »wendet man sich an die Religion bei Leuten, die äußerst unbußfertig sind, und verlangt in unzureichender Zeit Wunder. In unsern Händen würden die Leute, von denen Sie sprechen, ganz ausgezeichnete Männer geworden sein, sie besitzen eine ungeheure Energie; aber sobald sie einen Mord begangen haben, ist es nicht mehr möglich, sich mit ihnen zu befassen, die menschliche Gerechtigkeit bemächtigt sich ihrer . . .

»Also«, sagte Gottfried, »sind Sie ein Gegner der Todesstrafe? . . .«

Herr Nikolaus erhob sich schnell und ging hinaus.

»Erwähnen Sie niemals die Todesstrafe vor Herrn Nikolaus; er hat in einem Verbrecher, über dessen Hinrichtung er zu wachen hatte, seinen natürlichen Sohn erkannt . . .«

»Und er war unschuldig!« bemerkte Herr Joseph.

In diesem Moment kehrte Frau de la Chanterie, die sich für einige Augenblicke entfernt hatte, in den Salon zurück.

»Immerhin müssen Sie gestehen,« wandte sich Gottfried an Herrn Joseph, »daß die menschliche Gesellschaft nicht ohne die Todesstrafe bestehen könnte, und daß diejenigen, denen man morgen früh den Hals ab . . .«

Hier fühlte Gottfried, daß ihm von kräftiger Hand der Mund geschlossen wurde, und der Abbé de Vèze führte Frau de la Chanterie, bleich und wie eine Sterbende, hinaus.

»Was haben Sie getan? . . .« sagte Herr Joseph zu Gottfried. »Führen Sie ihn fort, Alain!« sagte er und zog die Hand zurück, mit der er Gottfried zum Schweigen gebracht hatte. Dann folgte er dem Abbé de Vèze in das Zimmer der Frau de la Chanterie.

»Kommen Sie,« sagte Alain zu Gottfried, »Sie haben uns gezwungen, Ihnen die Geheimnisse des Lebens der gnädigen Frau anzuvertrauen.«

Nach einigen Minuten befanden sich die beiden Freunde im Zimmer des biederen Alain in gleicher Weise wie gestern, als der Alte dem jungen Manne seine eigene Lebensgeschichte erzählt hatte.

»Nun?« sagte Gottfried, dessen Gesicht Verzweiflung darüber erkennen ließ, daß er die Ursache dessen gewesen war, was man in diesem geheiligten Hause eine Katastrophe nennen konnte.

»Ich warte, bis Manon uns beruhigt hat«, antwortete der gute Alte, der das Geräusch der Schritte des Mädchens auf der Treppe hörte.

»Die gnädige Frau befindet sich wieder wohl, der Herr Abbé hat ihr eingeredet, daß sie das, was gesagt wurde, mißverstanden hat«, berichtete Manon, wobei sie einen beinahe wütenden Blick auf Gottfried warf.

»Oh, mein Gott!« rief der arme junge Mann aus, dem die Tränen in die Augen kamen.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Alain und nahm selbst Platz.

Und er machte eine Pause, um sich zu sammeln.

»Ich weiß nicht,« sagte der biedere Alte, »ob ich imstande sein werde, in würdiger Weise die Geschichte eines so grausam geprüften Lebens zu erzählen; Sie werden mich entschuldigen, wenn Sie die Worte eines so schlechten Redners nicht auf der Höhe der Handlungen und Katastrophen finden sollten. Bedenken Sie, daß es schon lange her ist, seitdem ich die Schule verlassen habe, und daß ich das Kind einer Zeit bin, wo man sich mehr mit dem Inhalt als mit dem Ausdruck beschäftigte, einer prosaischen Zeit, wo man die Dinge nur bei ihrem Namen zu nennen verstand.«

Gottfried machte eine zustimmende Bewegung, aus der der biedere Alain eine aufrichtige Verehrung entnehmen konnte, und die zu sagen schien ›Ich höre zu.‹

»Sie haben eben gesehen, mein junger Freund,« begann der Alte wieder, »daß Sie unmöglich länger unter uns weilen können, ohne einige der furchtbaren Ereignisse in dem Leben dieser heiligen Frau zu kennen. Es gibt Ansichten, Anspielungen, verhängnisvolle Worte, die in diesem Hause vollkommen verpönt sind, wenn man nicht bei der gnädigen Frau Wunden aufreißen will, deren Schmerzen im Wiederholungsfalle tödlich für sie sein könnten . . .«

»Oh, mein Gott!« rief Gottfried, »was habe ich nur getan? . . .«

»Ohne Herrn Joseph, der Ihnen das Wort abschnitt, da er ahnte, daß Sie das verhängnisvolle Instrument der Hinrichtung erwähnen wollten, hätten Sie die arme Frau zu Boden geschmettert . . . Es ist Zeit, daß Sie alles erfahren, denn Sie werden zu uns gehören, davon sind wir heute alle überzeugt.«

»Frau de la Chanterie«, sagte er nach einer Pause, »stammt von einer der ersten Familien der Niedernormandie ab. Ihr Name war Fräulein Barbe-Philiberte de Champignelles, aus der jüngeren Linie dieses Hauses. Sie war daher dazu bestimmt, den Schleier zu nehmen, wenn sie nicht eine Heirat unter der obligaten Verzichtleistung auf ihre rechtmäßigen Erbansprüche würde machen können, wie das bei armen Familien so üblich war. Nun wollte ein Herr de la Chanterie, dessen Familie im Range tief hinabgesunken war, obwohl sie sich bis auf den Kreuzzug Philipp Augusts zurückdatieren konnte, die ihr gebührende Stellung als alter Adel der Normandie zurückerobern. Dieser Edelmann hatte sich äußerst unwürdig betragen, denn er hatte bei Heereslieferungen für die königliche Armee während des Krieges in Hannover dreihunderttausend Taler beiseite gebracht. Indem er allzusehr auf einen solchen Reichtum, der bei den Unruhen in der Provinz noch gewachsen war, baute, hatte der Sohn in Paris ein für einen Familienvater ziemlich beunruhigendes Leben geführt. Fräulein von Champignelles Verdienste hatten ihr im Lande Bessin eine ziemliche Berühmheit verschafft. Der Alte, dessen kleines Lehnsgut de la Chanterie zwischen Caen und Saint-Lô lag, hörte, wie man es beklagte, daß ein so vortreffliches Fräulein, so geeignet, einen Mann glücklich zu machen, seine Tage in einem Kloster beschließen sollte; auf seinen Wunsch, diesem Fräulein näherzutreten, ließ man ihn hoffen, daß er, allerdings ohne Mitgift, die Hand des Fräuleins Philiberte für seinen Sohn würde erhalten können. Er begab sich nach Bayeux, hatte mehrere Zusammenkünfte mit der Familie de Champignelles und war entzückt von den hervorragenden Eigenschaften der jungen Dame. Schon mit sechzehn Jahren verriet Fräulein de Champignelles, was dereinst aus ihr werden würde. Sie ließ eine unerschütterliche Frömmigkeit, einen unverrückbaren gesunden Verstand, ein unbeugsames Rechtsgefühl und einen Charakter erkennen, der sich niemals von einer Hingabe, sei sie auch eine anbefohlene, abbringen ließ. Der alte, durch seine schlechten Lieferungen reich gewordene Edelmann erkannte in diesem reizenden Mädchen die Frau, die seinen Sohn durch das Beispiel ihrer Tugenden und durch ihre bei aller Milde unerschütterliche Charakterfestigkeit stützen konnte; Sie haben ja selbst gesehen, daß niemand milder sein kann als Frau de la Chanterie; aber niemand konnte auch vertrauensseliger sein; sie wird sich bis zu ihrer Lebensneige die Reinheit der Unschuld bewahren; sie wollte früher nicht an das Böse glauben; das wenige von Mißtrauen, was Sie bei ihr bemerken, war die Folge der Schicksalsschläge, die sie betroffen haben. Der Alte verpflichtete sich den Champignelles gegenüber, im Ehekontrakt anzuerkennen, daß Fräulein Philiberte ihr rechtmäßiges Erbteil empfangen habe; dafür versprachen die Champignelles, die mit den großen Adelsfamilien in naher Beziehung standen, daß das Lehen de la Chanterie zur Baronie erhoben werden sollte, und sie hielten ihr Wort. Die Tante des zukünftigen Gatten, Frau de Boisfrelon, die Frau des Parlamentsrats, der in Ihrer Wohnung gestorben ist, versprach, ihr Vermögen ihrem Neffen zu hinterlassen. Als alle diese Abmachungen zwischen den beiden Familien erledigt waren, ließ der Vater seinen Sohn kommen. Berichterstatter über die Bittschriften im Großen Rat, fünfundzwanzig Jahre alt, hatte der junge Mann zusammen mit den anderen jungen Adligen dieser Zeit zahlreiche Torheiten begangen, indem er ebenso wie sie lebte; deshalb hatte der alte Armeelieferant schon mehrmals erhebliche Schulden für ihn bezahlt. Der arme Vater, der weitere Verschwendungen seines Sohnes voraussah, war recht froh, daß seine künftige Schwiegertochter ein gewisses Vermögen haben würde; aber er hatte solche Bedenken, daß er die Nachfolge in dem Lehen de la Chanterie auf die Kinder männlichen Geschlechts, die aus dieser Ehe entsprießen würden, übertrug. – Die Revolution«, bemerkte Alain in Parenthese, »hat diese Vorsicht überflüssig gemacht. – Schön wie ein Engel, von wunderbarer Gewandtheit in allen körperlichen Übungen, besaß der junge Berichterstatter die Gabe der Verführung«, fuhr er fort. »Fräulein de Champignelles verliebte sich also, wie Sie sich leicht denken können, sehr in ihren Bräutigam. Der Alte, überglücklich darüber, daß die Ehe so begann, und auf eine Sinnesänderung seines Sohnes vertrauend, schickte selbst die Neuvermählten nach Paris. Das geschah zu Beginn des Jahres 1788. Dieses Jahr war beinahe ein Glücksjahr zu nennen. Frau de la Chanterie wurde die bis ins einzelne gehende Fürsorge und die zarteste Aufmerksamkeit zuteil, wie sie nur ein liebevoller Ehemann an eine Frau, die er allein liebt, verschwenden kann. Wie kurz der Honigmond auch war, er hat doch das Herz dieser so edlen und so unglücklichen Frau mit seinem Glanze erfüllt. Sie wissen, daß die Mütter damals ihre Kinder selbst nährten, und die gnädige Frau hatte eine Tochter geboren. Diese Periode, während deren eine Frau der Gegenstand verdoppelter Zärtlichkeit hätte sein müssen, war im Gegenteil der Anfang unerhörten Unglücks. Der Berichterstatter war genötigt, alles, worüber er verfügen konnte, zu verkaufen, um alte Schulden, die er verheimlicht hatte, und neue Spielschulden, die er machte, zu bezahlen. Bald darauf verfügte die Nationalversammlung die Auflösung des Großen Rats, des Parlaments und aller so teuer gekauften Justizämter. Der junge Hausstand, noch durch eine Tochter vermehrt, stand also ohne andere Einkünfte da als die der vererbten Güter und der anerkannten Mitgift der Frau de la Chanterie. Nach zwanzig Monaten sah sich die reizende, siebzehneinhalb Jahre alte Frau genötigt, mit ihrer Tochter, die sie nährte, von dem Ertrage der Arbeit ihrer Hände in einer obskuren Gegend, in die sie übergesiedelt war, zu leben. Sie war damals völlig von ihrem Manne verlassen, der in Gesellschaft von Kreaturen schlimmster Sorte von Stufe zu Stufe herabsank. Niemals machte die Frau ihrem Manne einen Vorwurf, niemals beklagte sie sich auch nur im geringsten. Sie sagte uns, daß sie während dieser schlimmen Tage für ihren teuren Heinrich zu Gott gebetet habe. – Dieses schlechte Subjekt hieß Heinrich,« bemerkte der gute Alte, »das ist ein Name, der hier nie genannt werden darf, ebensowenig der Name Henriette. – Ich fahre nun fort. Da sie ihr kleines Zimmer in der Rue de la Corderie du Temple nur verließ, um Nahrungsmittel einzukaufen oder sich Arbeit zu holen, so konnte Frau de la Chanterie ihren Unterhalt bestreiten, dank einem Zuschuß von hundert Franken monatlich, den ihr Schwiegervater, von solch tugendhaftem Verhalten gerührt, ihr zukommen ließ. Trotzdem hatte die arme junge Frau, in der Befürchtung, daß diese Hilfe einmal ausbleiben könnte, sich dem schweren Gewerbe einer Korsettmacherin zugewendet und arbeitete bei einer berühmten Schneiderin. Und in der Tat wurde, als der alte Steuerpächter starb, seine Erbschaft, dank der Aufhebung der Gesetze der Monarchie, von seinem Sohne schnell verbraucht. Der ehemalige Berichterstatter, der einer der blutgierigsten Vorsitzenden des Revolutionstribunals geworden war, wurde der Schrecken der Normandie und konnte jetzt allen seinen Leidenschaften frönen. Nach dem Sturze Robespierres seinerseits eingekerkert, war er durch den Haß seines Departements dem sicheren Tode geweiht. Frau de la Chanterie erfuhr aus einem Abschiedsbriefe, welches Los ihren Gatten erwarte. Sofort vertraute sie ihre kleine Tochter einer Nachbarin an und begab sich mit einigen Louisdors, die ihr ganzes Vermögen ausmachten, nach der Stadt, wo der Elende gefangen saß; diese Louisdors dienten ihr dazu, in sein Gefängnis einzudringen; es gelang ihr, ihren Mann, indem sie ihn in ihre Kleider steckte, unter ähnlichen Umständen zu retten, wie sie später der Frau de la Valette zu Hilfe kamen. Sie wurde zum Tode verurteilt, aber man scheute sich, das Urteil zu vollstrecken; und dasselbe Tribunal, dem einst ihr Mann präsidiert hatte, begünstigte unter der Hand ihre Flucht aus dem Gefängnis. Zu Fuß kehrte sie nach Paris zurück, ohne Beistand, indem sie in Bauernhäusern schlief und sich oft von Almosen ernährte.

»Mein Gott!« rief Gottfried aus.

»Warten Sie nur, . . .« fuhr Alain fort, »das ist noch gar nichts. Während acht Jahren sah die arme Frau dreimal ihren Gatten wieder. Beim erstenmal blieb der Herr zweimal vierundzwanzig Stunden in der bescheidenen Wohnung seiner Frau und nahm ihr all ihr Geld ab, indem er sie mit Zärtlichkeiten überhäufte und sie an seine völlige Bekehrung glauben ließ. ›Ich war‹, sagte sie, ›kraftlos einem Manne gegenüber, für den ich alle Tage betete und der mein ganzes Denken ausschließlich beherrschte.‹ Das zweitemal erschien Herr de la Chanterie bei ihr todkrank und an was für einer Krankheit leidend! . . . Sie pflegte ihn und heilte ihn; dann versuchte sie, ihn wieder an anständige Gesinnung und Lebensweise zu gewöhnen. Nachdem er alles, worum ihn dieser Engel bat, versprochen hatte, versank der Revolutionär wieder in ein furchtbar wüstes Leben und entging der Verfolgung des Staatsanwalts nur, indem er sich zu seiner Frau flüchtete, bei der er in Sicherheit starb.

Oh, das ist alles noch nichts!« rief der biedere Alain aus, da er sah, welches Erstaunen sich auf Gottfrieds Gesicht malte. »Niemand in der Welt, in der er lebte, wußte, daß dieser Mensch verheiratet war. Zwei Jahre nach dem Tode des Elenden erfuhr Frau de la Chanterie, daß noch eine zweite Frau de la Chanterie existierte, Witwe wie sie und ebenso ruiniert wie sie. Dieser Bigamist hatte zwei Engel gefunden, die unfähig waren, ihn zu verraten.

Gegen das Jahr 1803«, begann Alain nach einer Pause wieder, »kam Herr de Boisfrelon, der Onkel der Frau de la Chanterie, nachdem er von der Liste der Emigrierten gestrichen war, nach Paris zurück und übergab ihr eine Summe von zweihunderttausend Franken, die ihm einstmals der alte Steuerpächter anvertraut hatte, mit dem Auftrag, sie für die Kinder seiner Nichte aufzuheben. Er veranlaßte seine Nichte, in die Normandie zurückzukehren, wo sie die Erziehung ihrer Tochter vollendete und wo sie, immer von dem früheren Beamten beraten, unter den günstigsten Bedingungen ein Lehnsgut erwarb.«

»Ah!« rief Gottfried.

»Auch das ist noch nichts,« sagte Alain »wir sind noch nicht bei den Stürmen angelangt. Ich fahre fort. Im Jahre 1807, nach vier ruhigen Jahren, verheiratete Frau de la Chanterie ihre einzige Tochter mit einem Edelmanne, dessen Frömmigkeit, Vorleben und Vermögen jede Garantie darboten, einem Manne, der nach der vulgären Bezeichnung ›Hahn im Korbe‹ bei der besten Gesellschaft des Hauptortes der Präfektur war, wo die gnädige Frau und ihre Tochter den Winter verbrachten. Bemerken Sie dabei, daß diese Gesellschaft aus sieben bis acht Familien bestand, die zum hohen Adel Frankreichs gehörten, den d'Esgrignons, den Troisvilles, den Casterans, den Nouâtres und anderen. Nach anderthalb Jahren verließ dieser Mensch seine Frau und verschwand in Paris, nachdem er seinen Namen geändert hatte. Frau de la Chanterie erfuhr den Grund dieser Trennung, als die Blitze des Gewitters, das über sie hereinbrach, Klarheit brachten. Ihre Tochter, die mit peinlichster Sorgsamkeit und nach den Grundsätzen reinster Frömmigkeit erzogen worden war, bewahrte absolutes Schweigen über dieses Ereignis. Dieser Mangel an Vertrauen verletzte das Empfinden der Frau de la Chanterie schwer. Schon mehrfach hatte sie bei ihrer Tochter Züge wahrgenommen, die den Abenteurercharakter des Vaters verrieten, noch verstärkt durch eine fast männliche Festigkeit. Der Gatte hatte sich aus freiem Antriebe entfernt und seine Angelegenheiten in einem jammervollen Zustande zurückgelassen. Frau de la Chanterie ist heute noch erstaunt über diese Katastrophe, die keine menschliche Macht hätte verhindern können. Alle Leute, die sie vorsichtig um Rat gefragt hatte, hatten ihr erklärt, daß das Vermögen des zukünftigen Schwiegersohnes einwandsfrei und liquide sei und aus hypothekenfreiem Landbesitz bestünde, während es bereits seit zehn Jahren über seinen Wert hinaus belastet war. So wurden jetzt die Besitzungen verkauft, und die junge Frau, die nur noch ihr eigenes Vermögen besaß, kehrte zu ihrer Mutter zurück. Frau de la Chanterie hat später erfahren, daß dieser Mensch von den ehrenwertesten Leuten des Landes im Interesse ihrer Forderungen gestützt wurde; der Elende schuldete allen mehr oder weniger erhebliche Beträge. Daher war Frau de la Chanterie, sobald sie sich in der Provinz niedergelassen hatte, als gute Beute angesehen worden. Abgesehen davon gab es für die Katastrophe aber noch andere Gründe, die Sie aus einem vertraulichen Bericht ersehen werden, der dem Kaiser vorgelegt wurde. Jener Mensch hatte sich außerdem das Wohlwollen der royalistischen Führer des Departements durch seine Hingebung an die königliche Sache während der stürmischsten Zeiten der Revolution zu erschleichen verstanden. Einer der tätigsten Sendboten Ludwigs XVIII., war er von 1793 an in alle Verschwörungen verwickelt; aber er wußte sich so klug und gewandt herauszuziehen, daß er schließlich Verdacht erregte. Von Ludwig XVIII. entlassen und von allen Unternehmungen ferngehalten, war er seit langer Zeit auf seine überschuldeten Güter zurückgekehrt. Diese damals noch geheimnisvollen Vorgänge (die in die Geheimnisse des königlichen Kabinetts Eingeweihten bewahrten über einen so gefährlichen Mitarbeiter Stillschweigen) machten den Menschen zu einem Gegenstande abgöttischer Verehrung in einer den Bourbonen ergebenen Stadt, wo die grausamsten Taten der Chouannerie als rechtmäßige Kriegführung angesehen wurden. Die d'Esgrignons, die Casterans, der Ritter von Valois, kurz, die ganze Aristokratie und die Kirche öffneten diesem royalistischen Diplomaten ihre Arme und nahmen ihn in ihren Schutz. Diese Protektion wurde noch durch den Wunsch verstärkt,daß seine Gläubiger ihr Geld wiederbekommen wollten. Der Elende, ein Gegenstück zu dem verstorbenen de la Chanterie, verstand es, sich so drei Jahre lang zu halten; er trug die größte Scheinheiligkeit zur Schau und wußte seine Laster zu unterdrücken. Während der ersten Monate, die die Neuvermählten zusammen verbrachten, übte er einen gewissen Einfluß auf seine Frau aus; er versuchte, sie durch seine Doktrinen, wenn anders der Atheismus eine Doktrin ist, und durch den scherzenden Ton, mit dem er über die heiligsten Grundsätze sprach, zu verderben. Dieser Diplomat niederer Ordnung stand seit seiner Rückkehr in die Heimat in intimen Beziehungen zu einem jungen Manne, der, wie er, mit Schulden überhäuft war, sich aber durch ebensoviel Freimütigkeit und Mut auszeichnete wie jener durch Heuchelei und Feigheit. Dieser Genosse, dessen Anmut, Charakter und abenteuerliches Leben auf ein junges Mädchen Einfluß ausüben mußten, war in den Händen des Gatten wie ein Instrument, dessen er sich bediente, um seine niederträchtigen Lehren zu unterstützen. Niemals ließ die Tochter die Mutter wissen, in welchen Abgrund sie das Geschick gestürzt hatte; denn man kann nicht mehr von menschlicher Voraussicht sprechen, wenn man an die peinlichsten Vorsichtsmaßregeln denkt, die Frau de la Chanterie traf, als es sich um die Heirat ihrer einzigen Tochter handelte. Dieser letzte Schlag, der das so opfervolle, so reine, so fromme Leben einer Frau traf, die schon so viel Unglück erfahren hatte, machte Frau de la Chanterie mißtrauisch gegen sich selbst, und dies Mißtrauen trennte sie um so mehr von ihrer Tochter, als diese, zum Ausgleich für ihr trauriges Geschick, fast völlige Freiheit für sich verlangte, ihre Mutter beherrschte und sie manchmal sogar hart anließ. So in allen ihren liebevollen Neigungen zurückgestoßen, in ihrer Hingebung und Liebe für ihren Gatten, dem sie ohne ein Wort der Klage ihr Glück, ihr Vermögen, ihr Leben geopfert hatte, getäuscht, vergeblich bemüht, ihrer Tochter eine streng religiöse Erziehung zu geben, von der Gesellschaft sogar bei der Verheiratung der Tochter betrogen und von dem Herzen, in das sie nur edle Gesinnungen zu säen versucht hatte, nicht anerkannt, vereinigte sie sich aufs innigste mit Gott, dessen Hand sie so schwer getroffen hatte. Diese fast wie eine Nonne lebende Frau ging jeden Morgen in die Kirche, erfüllte die strengen klösterlichen Vorschriften und sparte sich Geld ab, um die Armen zu unterstützen.

Hat es schon einmal ein heiligeres und schwerer geprüftes Leben gegeben als das dieser edlen Frau, die so sanft trotz ihres Mißgeschicks, so mutig in der Gefahr und immer so wahrhaft christlich gesinnt ist?« sagte der wackere Alain, als er Gottfrieds erstauntes Gesicht sah. »Sie kennen die gnädige Frau, Sie können beurteilen, ob es ihr an Verstand, Urteil, Überlegung mangelt; sie besitzt alle diese Eigenschaften im höchsten Grade. Nun, diese Unglücksfälle, die genügen würden, zu sagen, daß ein solches Leben alle anderen an Mißgeschick überträfe, sind nichts im Vergleich mit dem, was Gott dieser Frau noch vorbehalten hatte. Befassen wir uns zunächst nur mit der Tochter der Frau de la Chanterie«, mit diesen Worten nahm der gute Alte den Faden seiner Erzählung wieder auf.

»Mit achtzehn Jahren, zur Zeit als sie sich verheiratete, war Fräulein de la Chanterie ein junges Mädchen von zarter Konstitution, brünett, von frischen Farben, schlank, mit einem reizenden Gesicht. Über einer Stirn von edlem Schnitt sah man das schönste schwarze Haar, das vortrefflich zu den braunen Augen und dem heiteren Gesichtsausdruck paßte. Eine gewisse Zierlichkeit ihrer Physiognomie täuschte über ihren wahren Charakter und ihre männliche Entschlossenheit. Sie hatte kleine Hände und Füße und etwas Zartes und Schwächliches in ihrer ganzen Erscheinung, das jeden Gedanken an Kraft und Lebhaftigkeit ausschloß. Da sie immer bei ihrer Mutter gelebt hatte, so war sie von vollkommener Sittenreinheit und bemerkenswerter Frömmigkeit. Das junge Mädchen war ebenso wie Frau de la Chanterie den Bourbonen bis zum Fanatismus ergeben, eine Feindin der Französischen Republik und sah auch die Regierung Napoleons nur als eine Strafe an, die die Vorsehung Frankreich für die Attentate von 1793 auferlegt hatte. Die Übereinstimmung der Ansichten von Schwiegermutter und Schwiegersohn war, wie immer bei solchen Gelegenheiten, einer der für die Heirat entscheidenden Gründe gewesen, für die sich ja auch die ganze Aristokratie des Landes interessierte. Der Freund des Elenden hatte seit der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten im Jahre 1799 einen Trupp der Chouans befehligt. Es scheint, daß der Baron (der Schwiegersohn der Frau de la Chanterie war Baron), als er seine Frau und seinen Freund zusammenbrachte, keine andere Absicht dabei hatte, als sich dieser Neigung zu bedienen, um dann Hilfe und Unterstützung von ihnen zu verlangen. Obgleich mit Schulden überhäuft und ohne Existenzmittel, lebte der jugendliche Abenteurer sehr gut und konnte in der Tat den Begünstiger royalistischer Verschwörungen leicht unterstützen.

Hier muß ich einige Worte über eine Vereinigung einfügen, die damals viel Lärm machte«, unterbrach Alain seine Erzählung. »Ich will von den ›Chauffeurs‹ reden. Jede Provinz im Westen war damals mehr oder minder von diesem Räuberunwesen bedroht, das weit weniger auf Raub ausging als auf ein Wiederanfachen des Royalistenkrieges. Man bediente sich, wie es heißt, der großen Anzahl von Leuten, die sich dem Gesetz über die Conskription widersetzt hatten, das damals, wie Sie wissen, bis zum Übermaß durchgeführt wurde. Zwischen Mortagne und Rennes und selbst noch darüber hinaus bis zu den Ufern der Loire fanden nächtliche Streifzüge statt, die in bestimmten Teilen der Normandie, hauptsächlich gegen die, die Nationalgüter zurückbehielten, erfolgten. Diese Banden verbreiteten einen furchtbaren Schrecken auf dem Lande. Ich sage Ihnen nichts Falsches, wenn ich Sie darauf hinweise, daß in gewissen Departements die Hand der Justiz lange Zeit völlig gelähmt war. Dieses letzte Aufflackern des Bürgerkriegs machte nicht so viel Aufsehen, wie Sie glauben könnten, da wir heute an die beunruhigende Verbreitung in der Öffentlichkeit gewöhnt sind, die die Presse auch den unbedeutendsten politischen und privaten Prozessen zuteil werden läßt. Die kaiserlichen Regierungsmaximen waren dieselben wie die aller absoluten Herrscher. Die Zensur ließ nichts bekannt werden, was sich auf die Politik bezog, ausgenommen vollendete Tatsachen, und auch diese wurden entstellt. Wenn Sie sich die Mühe machen wollten, den ›Moniteur‹ zu durchblättern oder andere damalige Zeitungen, selbst diejenigen der westlichen Gebiete, so würden Sie darin nicht ein Wort über die vier oder fünf Kriminalprozesse finden, die sechzig bis achtzig Briganten das Leben kosteten. Diese Bezeichnung, die während der Revolutionszeit den Vendéern, den Chouans und allen denen gegeben wurde, die für das Haus Bourbon die Waffen ergriffen, wurde auch unter dem Kaiserreich von Gerichts wegen auf die royalistischen Opfer einiger vereinzelter Verschwörungen angewendet. Für manche leidenschaftlichen Gemüter waren der Kaiser und seine Regierung der Feind; alles was ihn angriff, war ihnen willkommen. Ich erkläre Ihnen diese Anschauungen, ohne mir anzumaßen, ein Urteil über sie abzugeben, und fahre nun fort.

Stellen Sie sich nun vor,« sagte er nach einer Pause, die bei so langen Berichten unvermeidlich ist, »daß diese durch den Bürgerkrieg von 1793 ruinierten Royalisten in die leidenschaftlichste Erregung geraten waren; daß es ungewöhnliche Naturen wie die des Schwiegersohns der Frau de la Chanterie und des früheren Anführers waren, die von der Not bedrängt wurden, und Sie werden verstehen, daß sie sich hinreißen lassen konnten, im eigenen Interesse räuberische Taten auszuführen, die ihre politische Überzeugung gegen die kaiserliche Regierung zugunsten der guten Sache zuließ. Der junge Anführer ging nun daran, den Brand der Chouannerie wiederanzufachen, um im geeigneten Moment loszuschlagen. Der Kaiser machte damals eine schreckliche Krise durch, als er, auf der Insel Lobau eingeschlossen, dem vereinigten Angriff der Engländer und Österreicher unterliegen zu müssen schien. Der Sieg bei Wagram machte die innere Verschwörung ziemlich bedeutungslos. Die Hoffnung, die Fackel des Bürgerkrieges in der Bretagne, der Vendée und einem Teil der Normandie wiederanzufachen, traf in verhängnisvoller Weise mit der Zerrüttung der Vermögensverhältnisse des Barons zusammen, der mit dem Gedanken einer Unternehmung liebäugelte, deren Ertrag ausschließlich dazu dienen sollte, seine Besitzungen zu retten. In ihrem vornehmen Empfinden weigerten sich seine Frau und sein Freund, im Privatinteresse die Gelder beiseitezubringen, die mit bewaffneter Hand aus der Staatskasse geraubt werden sollten, um die Aufrührer und Chouans zu besolden und Waffen und Munition zu beschaffen, um eine Erhebung der Parteigänger ins Werk zu setzen. Als nach anzüglichen Diskussionen der junge Anführer, unterstützt von der Frau, sich definitiv weigerte, dem Ehemann hunderttausend Franken zu überlassen, deren Raub zugunsten der königlichen Armee an einer der Generalstaatskassen des Westens verübt werden sollte, verschwand der Baron, um sich mehreren dringenden Haftbefehlen zu entziehen. Seine Gläubiger wollten sich an das Vermögen der Frau halten, aber der Elende hatte das Interesse verscherzt, das eine Gattin dazu bringt, sich für ihren Mann zu opfern. Alles das war der armen Frau de la Chanterie unbekannt; aber auch das ist noch nichts im Vergleiche mit dem Komplott, das hinter dieser einleitenden Auseinandersetzung verborgen war.

Heute abend«, sagte der gute Alte, nachdem er auf die kleine Kaminuhr gesehen hatte, »ist es schon zu spät geworden, und wir würden noch lange Zeit brauchen, wenn ich Ihnen den Rest dieser Geschichte erzählen wollte. Der alte Bordin, mein Freund, der durch die Führung des Prozesses Simeuse bei der royalistischen Partei berühmt geworden ist, der in dem Kriminalprozeß der sogenannten Chauffeurs von Mortagne die Anklage vertrat, hat mir nach meiner Niederlassung hier zwei Schriftstücke übergeben, die ich aufbewahrt habe; denn er ist bald darauf gestorben. Sie werden darin die Dinge in viel gedrängterer Darstellung, als ich sie Ihnen zu geben vermöchte, lesen können. Es sind so zahlreiche Tatsachen, daß ich mich in Einzelheiten verlieren würde und mehr als zwei Stunden darüber reden müßte, während Sie sie hier zusammengefaßt in Händen haben. Morgen früh werde ich Ihnen das, was Frau de la Chanterie betrifft, zu Ende erzählen; Sie werden nach der Lektüre so gut Bescheid wissen, daß ich nur noch wenige Worte hinzuzufügen brauche.« Darauf übergab der Wackere Gottfried einige vom Alter vergilbte Papiere; dieser wünschte seinem Nachbar gute Nacht und zog sich in sein Zimmer zurück, wo er vor dem Einschlafen folgende beiden Aktenstücke durchlas:

»Anklageakte.

Sondergericht für Strafsachen des Departements l'Orne.

Der Generalstaatsanwalt beim Kaiserlichen Gerichtshof von Caen, der mit der gleichen Funktion bei dem besonderen Strafgerichtshof in Alençon durch Kaiserliches Dekret vom September 1809 betraut ist, unterbreitet dem Gerichtshof als Ergebnis des Untersuchungsverfahrens folgenden Tatbestand:

Ein von langer Hand und mit unerhörter Frechheit vorbereitetes räuberisches Komplott, das in Zusammenhang mit dem Aufstand der weltlichen Departements steht, hat mehrfache Attentate auf Bürger und ihre Besitzungen, vor allem aber einen Angriff und eine Beraubung eines Wagens, der am . . . Mai 180 . . . die Staatskasse von Caen transportierte, mit bewaffneter Hand zur Folge gehabt. Dieses Attentat, das an den beklagenswerten, glücklicherweise erloschenen Bürgerkrieg erinnert, war die Ausführung verbrecherischer Pläne, die sich durch keine Gewalt der Leidenschaften rechtfertigen lassen.

Von seinem Beginn bis zu seiner Ausführung ist das Komplott so verwickelt und seine Einzelheiten so zahlreich, daß die Untersuchung mehr als ein Jahr gedauert hat; nun aber ist über alle einzelnen Schritte des Verbrechens, über die Vorbereitungen, die Ausführung und die Folgen Klarheit geschaffen worden.

Der erste Gedanke des Komplotts ist einem gewissen Charles-Amédée-Louis-Joseph Rifoël, der sich Chevalier du Vissard nennt, da er in Vissard, einer Gemeinde von Saint-Mexme bei Ernée geboren ist, einem ehemaligen Anführer der Rebellen, zuzuschreiben.

Dieser Schuldige, der von Seiner Majestät dem Kaiser und König anläßlich der definitiven Beendigung der Unruhen begnadigt wurde, und der die Großmut des Souveräns mit neuen Verbrechen beantwortete, hat seine zahlreichen Missetaten bereits mit dem Tode gebüßt; aber es ist nötig, auf einige seiner Taten zurückzugreifen, denn er hat seinen Einfluß auf die jetzt vor Gericht stehenden Angeklagten ausgeübt und steht in Beziehung zu jeder Einzelheit des Prozesses.

Dieser gefährliche Agitator, der sich, entsprechend den Gewohnheiten der Rebellen, unter dem Namen Pierrot verbarg, trieb sich in den weltlichen Departements herum und sammelte die Elemente für eine neue Verschwörung um sich; sein sicherstes Asyl aber war das Schloß Saint-Savin, der Wohnsitz einer Dame Lechantre und ihrer Tochter, der Dame Bryond, in der Gemeinde Saint-Savin im Bezirk von Mortagne gelegen. Dieser strategische Punkt ist mit den furchtbarsten Erinnerungen an den Aufstand von 1799 verknüpft. Hier wurde der Postkondukteur ermordet und sein Wagen von einer Räuberbande unter dem Befehl einer Frau, der der allzuberüchtigte Marche-à-Terre Beistand leistete, ausgeplündert. Die Räuberei ist also in dieser Gegend sozusagen endemisch.

Intime Beziehungen, die wir nicht näher bezeichnen wollen, bestanden seit mehr als einem Jahre zwischen der Dame Bryond und dem Manne, der sich Rifoël nannte.

In dieser Gemeinde fand nun im Monat April des Jahres 1808 eine Zusammenkunft zwischen Rifoël und einem gewissen Boislaurier, Oberbefehlshaber und bekannt unter dem Namen August bei den verhängnisvollen Aufständen im Westen, statt, der der leitende Kopf in der dem Gerichtshof vorliegenden Sache gewesen ist.

Der dunkle Punkt bezüglich der Beziehungen der beiden Anführer, der durch zahlreiche Zeugen vollkommen aufgeklärt ist, wurde auch durch den Spruch des Gerichtshofes bei der Verurteilung Rifoëls klargestellt.

Boislaurier verabredete damals mit Rifoël, gemeinsam vorzugehen.

Beide, und zwar zuerst allein, teilten sich ihre blutigen Projekte mit, angestachelt durch die Abwesenheit Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät, die damals die Armeen in Spanien befehligte. Zu dieser Zeit müssen sie, um eine Grundlage für ihre Operationen zu haben, den Raub der staatlichen Kassen beschlossen haben.

Kurze Zeit danach sandte ein gewisser Dubut aus Caen einen Boten nach dem Schlosse Saint-Savin, einen gewissen Hiley, genannt der Laboureur und seit langem als Posträuber bekannt, um Angaben über die Leute, denen man Vertrauen schenken könne, zu machen.

So geschah es, daß das Komplott auf Hileys Veranlassung von Anfang an sich die Mitwirkung eines gewissen Herbomez, genannt der Général-Hardi, eines ehemaligen Rebellen vom Schlage eines Rifoël, und wie er als Amnestierter wortbrüchig, sicherte. Herbomez und Hiley warben dann in den umliegenden Gemeinden sieben Banditen an, die hier aufgezählt werden müssen:

  1. Jean Cibot, genannt Pille-Miche, einer der frechsten Briganten des von Montauran im Jahre VII gebildeten Korps, einer der an dem Überfall und der Ermordung des Kondukteurs von Mortagne Beteiligten.
  2. François Lisieux, mit dem Beinamen Grand-Fils, ein Aufständischer aus dem Departement la Mayenne.
  3. Charles Grenier, genannt Fluer-de-Genêt, ein Deserteur der 69. Halbbrigade.
  4. Gabriel Bruce, genannt Gros-Jean, einer der wildesten Chouans der Division Fontaine.
  5. Jacques Horeau, genannt der Stuart, Exleutnant derselben Halbbrigade, einer der Vertrauten Tinténiacs, genügend durch seine Teilnahme an der Expedition von Quibéron bekannt.
  6. Marie-Anne Cabot, genannt Lajeunesse, ehemaliger Bereiter des Herrn Carol d'Alençon.
  7. Louis Minard, Aufständischer.

Diese Angeworbenen wurden in drei verschiedenen Gemeinden untergebracht bei den Herbergs- oder Schankwirten Binet, Mélie und Lavarinière, alles dem Rifoël ergebene Leute.

Die erforderlichen Waffen wurden ihnen sofort durch den Notar Jean-Francois Léveillé, den unverbesserlichen Schriftführer der Briganten, das Bindeglied zwischen ihnen und mehreren sich im verborgenen haltenden Führern, mit dem Beinamen der Confesseur, geliefert; endlich auch durch einen gewissen Felix Courceuil, einen ehemaligen Wundarzt der Rebellenheere der Vendée, beide aus Alençon. Elf Flinten wurden in dem Hause verborgen, das Bryond in einer Vorstadt von Alençon besaß, und zwar ohne sein Wissen; denn er wohnte damals auf seinem Landgute zwischen Alençon und Mortagne. Als der Herr Bryond sich von seiner Frau trennte und sie auf dem verhängnisvollen Wege, den sie einschlagen sollte, allein ließ, wurden die Flinten heimlich aus dem Hause geholt und von der Dame Bryond selbst im Wagen in das Schloß Saint-Savin überführt. So konnten im Departement l'Orne und in den benachbarten Departements diese Räubertaten ausgeführt werden, die die Behörden nicht weniger als die Bewohner dieser Gegenden, die so lange in Frieden gelebt hatten, überraschten, und die beweisen, daß die verabscheuungswürdigen Feinde der Regierung und des französischen Kaiserreichs in das Geheimnis der Koalition von 1809 durch ihr Einvernehmen mit dem Auslande eingeweiht waren.

Der Notar Léveillé, die Dame Bryond, Dubut aus Caen, Herbomez aus Mayenne, Boislaurier aus Le Mans und Rifoël, also die Führer dieser Gesellschaft, zu der auch die mit Rifoël zusammen Verurteilten gehörten, bilden den Gegenstand des jetzigen Anklageverfahrens, und außerdem noch mehrere andere, die sich durch die Flucht oder infolge des Schweigens ihrer Komplicen der strafenden Hand der Justiz entzogen haben.

Von seinem Wohnsitz Caen aus meldete Dubut dem Notar Léveillé den Transport der Kasse. Darauf machte Dubut mehrere Fahrten von Caen nach Mortagne, und Léveillé war ebenfalls auf den Landstraßen unterwegs.

Hier muß erwähnt werden, daß nach der Transportierung der Flinten Léveillé, als er Bruce, Grenier und Cibot in Mélins Hause aufsuchte, sie beim Verstecken der Flinten in einem Schuppen im Inneren des Hauses antraf und ihnen selber dabei Hilfe leistete.

Eine Zusammenkunft aller im Hôtel de l'Écu de France in Mortagne fand dann statt. Alle Angeklagten trafen sich dort in verschiedenen Verkleidungen. Hier versicherten sich nun Léveillé, die Dame Bryond, Dubut, Herbomez, Boislaurier und Hiley, der gewandteste der Complicen zweiten Ranges, wie Cibot der frechste war, der Mitwirkung eines gewissen Vauthier, genannt Vieux-Chêne, eines früheren Dieners des berüchtigten Longuy, der damals Stallknecht in dem Hotel war. Vauthier willigte ein, die Dame Bryond zu benachrichtigen, wann der Wagen mit der Kasse zu erwarten sei, der gewöhnlich in diesem Hotel Station macht.

Der Augenblick des Handelns war bald für die vereinigten angeworbenen Briganten gekommen, die man auf Anordnung von Courceuil und Léveillé an verschiedenen Stellen, bald in der einen, bald in der andern Gemeinde untergebracht hatte. Die Gesellschaft arbeitete unter dem Schutze der Dame Bryond, die den Briganten noch einen andern Zufluchtsort in einem unbewohnten Teile des Schlosses von Saint-Savin gewährte, in dem sie mit ihrer Mutter einige Meilen von Mortagne entfernt seit der Trennung von ihrem Gatten wohnte. Die Briganten, mit Hiley an ihrer Spitze, verbargen sich dort und brachten daselbst mehrere Tage zu. Die Dame Bryond sorgte mit ihrem Kammermädchen Godard selbst dafür, daß alles für die Unterbringung und Ernährung solcher Gäste Erforderliche besorgt wurde. Sie beschaffte sich Strohsäcke dazu, sie besuchte die Briganten in dem Asyl, das sie ihnen verschafft hatte, und erschien mehrmals mit Léveillé bei ihnen. Die Vorräte und Lebensmittel wurden unter der Leitung von Courceuil beschafft, den Rifoël und Boislaurier damit beauftragt hatten.

Die Zeit für die Ausführung kommt nun heran, alle sind mit Waffen versehen; die Briganten verlassen ihr Versteck in Saint-Savin und rücken bei Nacht in der Erwartung der transportierten Kasse aus, und das Land gerät in Schrecken über wiederholte von ihnen verübte Angriffe.

Es ist unzweifelhaft, daß die Attentate in La Sartinière, in Vonay, im Schlosse von Saint-Seny von dieser Bande ausgeführt wurden, deren Frechheit ihrer Schnelligkeit gleichkam und die einen so großen Schrecken zu verbreiten verstand, daß alle ihre Opfer Stillschweigen bewahrten, so daß die Justiz auf Vermutungen angewiesen blieb.

Aber während sie von Käufern von Nationalgütern Geld erpreßten, erforschten sie sorgfältig das Gehölz von le Chesnay, das sie zum Schauplatz ihrer Verbrechen ausgewählt hatten.

Nicht weit davon liegt das Dorf Louvigny. Hier wird eine Herberge von den Brüdern Chaussard gehalten, früheren Jagdwärtern der Herrschaft Troisville; in dieser Herberge sollte das letzte Rendezvous der Briganten stattfinden. Den beiden Brüdern war die Rolle, die sie zu spielen hatten, vorher bekannt; Courceuil und Boislaurier hatten sie seit langer Zeit bearbeitet, um ihren Haß gegen die Regierung unseres erhabenen Kaisers wiederanzufachen, und ihnen angekündigt, daß unter den Gästen, die kommen würden, sich Bekannte von ihnen, der gefürchtete Hiley und der nicht weniger gefürchtete Cibot, befänden.

In der Tat erschienen am sechsten die sieben Banditen unter Führung Hileys bei den Brüdern Chaussard und brachten dort zwei Tage zu. Am achten führte der Anführer die Gesellschaft weg, sagte ihnen, daß sie drei Meilen zu marschieren hätten, und befahl den beiden Brüdern, ihnen Proviant zu verschaffen, der dann an einem Kreuzweg nahe beim Dorfe niedergelegt wurde. Hiley kehrte darauf allein zum Übernachten zurück.

Zwei Leute zu Pferde, die die Dame Bryond und Rifoël gewesen sein müssen – denn es ist bewiesen, daß diese Dame Rifoël bei seinen Streifzügen zu Pferde und als Mann verkleidet begleitete – erschienen am Abend und hatten eine Unterredung mit Hiley.

Am nächsten Tage schrieb Hiley einen Brief an den Notar Léveillé, den einer der Brüder Chaussard besorgte, der auch gleich wieder die Antwort zurückbrachte.

Zwei Stunden später kamen die Dame Bryond und Rifoël an, um mit Hiley zu reden.

Bei all diesen Besprechungen und bei dem Kommen und Gehen stellte sich die Notwendigkeit heraus, in den Besitz eines Beils zu gelangen, um die Kassen aufzubrechen. Der Notar begleitete die Dame Bryond nach Saint-Savin zurück, wo man ebenfalls vergeblich nach einem Beil sucht. Der Notar kehrt zurück und trifft auf halbem Wege Hiley, dem er mitteilt, daß man kein Beil habe.

Hiley begibt sich in die Herberge, bestellt ein Abendessen für zehn Personen und bringt die sieben Briganten herein, die jetzt alle bewaffnet sind. Hiley kommandiert, daß die Waffen in militärischer Weise zusammengestellt werden. Man setzt sich zu Tisch, ißt in Eile, und Hiley verlangt, daß man ihm sehr reichlich Lebensmittel zum Mitnehmen bringe. Dann nimmt er den älteren Chaussard beiseite und fordert von ihm ein Beil. Der Herbergswirt ist, wenn man ihm Glauben schenken darf, über dieses Verlangen erstaunt und weigert sich, eins herzugeben. Courceuil und Boislaurier kommen hinzu, die Nacht verrinnt, und die drei Männer gehen im Zimmer im Gespräch über das Komplott auf und ab. Courceuil, genannt der Confesseur, der durchtriebenste aller Briganten, bemächtigt sich eines Beils, und gegen zwei Uhr morgens entfernen sich alle durch verschiedene Ausgänge.

Die Augenblicke werden kostbar, die Ausführung des Verbrechens war für diesen verhängnisvollen Tag angesetzt. Hiley, Courceuil und Boislaurier bringen ihre Leute heran und weisen ihnen ihre Plätze an. Hiley legt sich mit Minard, Cabot und Bruce rechts vom Gehölz von le Chesnay in den Hinterhalt. Boislaurier, Grenier und Horeau stellen sich in der Mitte auf. Courceuil, Herbomez und Lisieux besetzen einen Engpaß am Ausgang. Alle diese Stellungen sind auf dem beiliegenden topographischen Plan verzeichnet.

Inzwischen war der Wagen, den ein gewisser Rousseau kutschierte, welchen die Ereignisse genügend belasteten, um seine Verhaftung zu rechtfertigen, gegen ein Uhr morgens von Mortagne abgefahren. Er mußte bei langsamer Fahrt gegen drei Uhr im Gehölz von le Chesnay eintreffen.

Ein einziger Gendarm eskortierte den Wagen, in Donnery sollte gefrühstückt werden. Drei Reisende befanden sich in Begleitung des Gendarmen.

Als der Kutscher, der sehr langsam gefahren war, an der Brücke von Chesnay, am Eingang des gleichnamigen Gehölzes anlangt, treibt er seine Pferde mit Gewalt und mit auffallender Eile an und lenkt in einen Umweg ein, der der Weg von Senzey genannt wird. Der Wagen entschwindet den Blicken, sein Weg ist nur durch das Geläut der Schellen erkennbar; der Gendarm und die drei jungen Männer beeilen sich, ihn einzuholen. Ein Schrei ertönt. Es wird geschrien: Halt, ihr Schufte! Und vier Flintenschüsse werden abgefeuert.

Der Gendarm, der nicht getroffen ist, zieht seinen Säbel und jagt in der Richtung vorwärts, in der er den Wagen vermutet. Er wird von vier Männern angehalten, die Feuer auf ihn geben; seine Eile bewahrt ihn vor einer Verwundung, denn er war zu den jungen Leuten hingesprengt, um einem von ihnen zu sagen, er solle in le Chesnay Sturm läuten lassen; aber zwei Briganten stürzen ihm nach und legen auf ihn an, er ist gezwungen, einige Schritte zurückzuweichen, und im Moment, wo er das Gehölz durchsuchen will, erhält er eine Kugel in die linke Schulter, die ihm den Arm zerschmettert; er stürzt zu Boden und sieht sich sofort kampfunfähig gemacht. Die Schreie und das Gewehrfeuer waren bis nach Donnery gehört worden. Der Brigadier und ein Gendarm dieses Ortes kamen herbeigelaufen; ein Pelotonfeuer ließ sie sich nach der Seite des Gehölzes wenden, die derjenigen, wo sich die Plünderung vollzog, entgegengesetzt war. Der Gendarm versucht, durch Schreie die Briganten einzuschüchtern und damit das Herannahen von Hilfsmannschaften vorzuspiegeln. Er ruft: »Vorwärts! Hierher Feuer geben! Wir haben sie! Dorthin noch einmal schießen!«

Die Briganten rufen ihrerseits: »Zu den Waffen! Hierher, Kameraden! So schnell wie möglich!«

Der Lärm der Schüsse gestattet dem Brigadier nicht, die Schreie des verwundeten Gendarmen zu hören, noch auch ein ähnliches Manöver auszuführen wie das, womit der andere Gendarm die Briganten in Schach hält; aber er kann ein Geräusch unterscheiden, das von dem Aufbrechen und Einschlagen der Kassen herrührt. Er geht in dieser Richtung vorwärts, aber vier bewaffnete Banditen gebieten ihm Halt; er ruft ihnen zu: »Ergebt euch, ihr Verbrecher!«

Sie antworten ihm: »Komm nicht näher, oder du bist des Todes!« Der Brigadier stürzt vor, zwei Schüsse gehen los, er ist getroffen; eine Kugel geht ihm durch das Bein und bleibt in der Flanke seines Pferdes stecken. Der tapfere Soldat ist blutüberströmt genötigt, den ungleichen Kampf aufzugeben; er ruft vergeblich: »Hierher! Die Briganten sind in le Quesnay!«

Die Banditen, die dank ihrer Überzahl Herren des Kampfplatzes geblieben sind, plündern nun den Wagen aus, der absichtlich in einen Hohlweg gefahren wurde. Zum Schein hatten sie dem Postillon die Augen verbunden. Man bricht die Kassen auf, und die Geldsäcke bedecken bald die Erde. Die Wagenpferde werden ausgespannt und mit den Geldsäcken beladen. Dreitausend Franken in Scheidemünze läßt man zurück, hundertdreitausend Franken werden auf den vier Pferden weggebracht. Der Zug geht nach dem Weiler von Manneville, der an den Marktflecken Saint-Savin stößt. Die Horde mit ihrer Beute macht an einem einzelstehenden Hause Halt, das den Brüdern Chaussard gehört und in dem ihr Onkel, ein gewisser Bourget, wohnt, der von Anfang an in die Anschläge eingeweiht war. Der Alte nimmt, unterstützt von seiner Frau, die Briganten auf, heißt sie sich still verhalten, packt das Geld von den Pferden ab und bringt den Leuten zu trinken. Sein Weib steht inzwischen beim Schlosse Schildwache. Der Alte führt die Pferde in das Gehölz zurück und übergibt sie wieder dem Postillon; dann macht er die beiden jungen Leute frei, die man, ebenso wie den willfährigen Postillon, gefesselt hatte. Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht haben, machen sich die Banditen wieder auf den Weg. Courceuil, Hiley und Boislaurier versammeln ihre Mitschuldigen um sich, und nachdem man an jeden eine karg bemessene Belohnung ausgeteilt hat, entfernt sich die Bande.

Als sie an einen Ort, der Champ-Landry heißt, gelangt sind, warfen die Verbrecher, der inneren Stimme gehorchend, die alle Schurken zu widerspruchsvollen und falsch berechneten Schritten treibt, ihre Flinten in einem Getreidefelde weg. Dieses gemeinsame Tun ist das letzte Zeichen gegenseitigen Einverständnisses. Voll Schrecken über die Frechheit ihres Attentats und auch über dessen erfolgreichen Ausgang zerstreuen sie sich.

Nachdem dieser Raub mit bewaffneter Hand und ohne vor einem Morde zurückzuschrecken ausgeführt war, werden im Anschluß daran andere Schritte vorbereitet, und andere Akteure treten auf, um das Geraubte seiner Bestimmung zuzuführen.

Rifoël, der sich in Paris verborgen hält, wo alle Fäden des Komplotts in seiner Hand zusammenlaufen, übersendet Léveillé die Anweisung, für ihn so schnell als möglich fünfzigtausend Franken bereitzustellen. Courceuil, der sich für jeden verbrecherischen Plan als der geeignete Mann erwies, hatte schon Hiley abgesandt, um Léveillé zu benachrichtigen, daß der Anschlag gelungen sei und daß er nach Mortagne käme. Dorthin begibt sich auch Léveillé.

Vauthier, auf dessen Treue man rechnen zu können glaubte, macht sich anheischig, den Onkel der Chaussards aufzusuchen; als er in dessen Hause anlangt, bedeutet ihm der Alte, er solle sich an seine Neffen wenden, die namhafte Beträge der Dame Bryond übergeben hätten. Trotzdem heißt er ihn auf der Straße warten und übergibt ihm einen Sack mit zwölfhundert Franken, die Vauthier der Dame Lechantre für ihre Tochter bringt.

Auf das Drängen Léveillés kehrt Courceuil zu Bourget zurück, der ihn diesmal direkt an seine Neffen verweist. Der ältere Chaussard nimmt Vauthier in das Gehölz mit und bezeichnet ihm einen Baum, an dem man einen Sack mit tausend Franken in der Erde vergraben findet. Schließlich machen Léveillé, Hiley und Vauthier immer neue Fahrten, und jedesmal wird ihnen eine im Verhältnis zu dem geraubten Betrage minimale Summe ausgeliefert.

Frau Lechantre nahm diese Summen in Mortagne entgegen und brachte sie auf ein Anweisungsschreiben ihrer Tochter nach Saint-Savin, wohin die Dame Bryond zurückgekehrt war.

Es ist hier jetzt nicht zu untersuchen, ob die Dame Lechantre schon vorher von dem Komplott Kenntnis gehabt hat.

Es genügt in diesem Moment, darauf hinzuweisen, daß die Dame Mortagne verließ, um am Abend vor der Ausführung des Verbrechens sich nach Saint-Savin zu begeben und ihre Tochter von dort abzuholen; daß die Damen sich unterwegs begegnen und nach Mortagne zurückkehren; daß am nächsten Tage der Notar, von Hiley benachrichtigt, sich von Alençon nach Mortagne begibt, sofort zu ihnen kommt und sie dann veranlaßt, die von den Brüdern Chaussard und von Bourget so schwer herausbekommenen Gelder in ein Haus in Alençon, von dem gleich die Rede sein wird und das einem Herrn Pannier, einem Kaufmann, gehört, zu bringen.

Die Dame Lechantre schreibt dem Wächter in Saint-Savin, er solle sie und ihre Tochter in Mortagne abholen und auf geradestem Wege nach Alençon bringen.

Die Gelder, die sich im ganzen auf zwanzigtausend Franken belaufen, werden bei Nacht verpackt, und das Dienstmädchen Godard leistet dabei Hilfe.

Der Notar hatte ihnen den Weg angegeben. Man langt in der Herberge eines Vertrauten, eines gewissen Louis Chargegrain, in der Gemeinde Littray an. Trotz der Vorsichtsmaßregeln des Notars, der dem Wagen vorausgeht, haben sich Zeugen gefunden, die das Ausladen der Felleisen und Säcke, die das Geld enthielten, mitangesehen haben.

Als aber Courceuil und Hiley, als Frauen verkleidet, auf einem Platze in Alençon sich mit dem Herrn Pannier, dem Schatzmeister der Rebellen seit dem Jahre 1794, der Rifoël ganz ergeben war, trafen, um zu verabreden, wie man Rifoël den verlangten Betrag übermitteln solle, war der Schrecken über die bereits erfolgten Verhaftungen und die weiteren Verfolgungen so groß geworden, daß die Dame Lechantre in Angst bei Nacht aus der Herberge, in der sie sich befand, mit ihrer Tochter auf Umwegen entfloh und den Notar Léveillé im Stich ließ, um sich in den im Schlosse Saint-Savin hergestellten Verstecken zu verbergen. Dieselben Alarmnachrichten störten die übrigen Schuldigen auf. Courceuil, Boislaurier und sein Verwandter Dubut wechselten zweitausend Talerstücke in Gold bei einem Kaufmann ein und flohen durch die Bretagne nach England.

In Saint-Savin angelangt, erfahren die Damen Lechantre und Bryond die Verhaftung Bourgets, des Postillons und der Banditen.

Die Gerichte, die Gendarmerie, die Behörden gingen mit so fester Hand vor, daß es dringend nötig erschien, die Dame Bryond den Nachforschungen der Justiz zu entziehen; denn sie war der Gegenstand der Verehrung aller dieser Übeltäter, die sich vor ihr gebeugt hatten. Daher verließ die Dame Bryond Saint-Savin und verbarg sich zuerst in Alençon, wo ihre Getreuen Rat hielten und beschlossen, sie in einem Keller Panniers zu verstecken.

Hier treten neue Ereignisse in die Erscheinung.

Zwei Gendarmen, mit den Nachforschungen nach der Dame Bryond beauftragt, gelingt es, bei Pannier einzudringen, und einer Besprechung beizuwohnen; aber diese des Vertrauens ihrer Vorgesetzten unwürdigen Leute unterliegen, statt die Dame Bryond festzunehmen, der Verführung. Diese unwürdigen Soldaten, namens Ratel und Mallet, bezeigen für die Frau das lebhafteste Interesse und bieten sich an, sie ungefährdet zu den Chaussards zu bringen, um diese zur Herausgabe des Geldes zu zwingen.

Die Dame Bryond reitet, als Mann verkleidet, weg, begleitet von Ratel, Mallet und dem Mädchen Godard. Die Reise wird bei Nacht ausgeführt. Sie kommt an und hat allein mit einem der Brüder Chaussard eine sehr lebhaft geführte Unterredung. Sie war mit einer Pistole bewaffnet und entschlossen, ihren Mitschuldigen, wenn er sich weigerte, niederzuschießen; aber er führt sie in das Gehölz, und sie kehrt mit einem schweren Geldsack zurück. Sie findet darin Scheidemünzen und Zwölfsousstücke im Betrage von fünfzehnhundert Franken.

Man beschließt nun, alle Komplicen bei Chaussard zu versammeln, um sie festzuhalten und sie der Folter zu unterwerfen.

Pannier, von dem Mißerfolg benachrichtigt, kommt wütend dazu und stößt Drohungen aus; und die Dame Bryond, obwohl sie ihrerseits ihm mit dem Zorne Rifoëls droht, ist genötigt, zu fliehen.

Alle diese Einzelheiten ergaben sich aus dem Geständnis Ratels.

Mallet, gerührt von ihrer bedrängten Lage, schlägt der Dame Bryond vor, sie in einem Verstecke unterzubringen. Alle bringen dann die Nacht in dem Gehölz von Troisville zu. Dann begeben sich Mallet und Ratel in Begleitung Hileys und Cibots nachts zu den Brüdern Chaussard; hier aber hören sie, daß die beiden Brüder die Gegend verlassen haben, und daß der Rest des Geldes sicherlich fortgeschafft ist.

Dies war die letzte Anstrengung der Mitglieder des Komplotts, die geraubten Gelder wiederzuerlangen. Es muß nun festgestellt werden, welcher besondere Anteil einem jeden der Anstifter des Komplotts zuzuschreiben ist.

Dubut, Boislaurier, Gentil, Herbomez, Courceuil und Hiley sind als Führer anzusehen, die einen als Anstifter, die andern als Täter.

Boislaurier, Dubut und Courceuil, alle drei flüchtig, gegen die also in contumaciam verhandelt werden muß, sind berufsmäßige Rebellen, Begünstiger von Unruhen und unversöhnliche Feinde Napoleons des Großen, seiner Siege, seiner Dynastie und seiner Regierung, unserer neuen Gesetze und der Verfassung des Kaiserreichs.

Herbomez und Hiley haben frech mit bewaffneter Hand das ins Werk gesetzt, was sie geplant hatten. Die Schuld der Sieben, deren man sich als Instrumente zur Ausführung des Verbrechens bediente, der Cibot, Lisieux, Grenier, Bruce, Horeau, Cabot und Minard, ist klar; sie ergibt sich aus den Geständnissen derjenigen von ihnen, die sich in Haft befinden, denn Lisieux ist während der Untersuchung gestorben, und Bruce ist flüchtig.

Das Verhalten des Postillons Rousseau trägt den Stempel des Einverständnisses mit den Verbrechern an sich. Seine langsame Fahrt unterwegs, die Eile, mit der er die Pferde beim Eingang des Gehölzes antrieb, sein hartnäckiges Betonen, daß ihm die Augen verbunden waren, obwohl der Anführer der Briganten ihm das Taschentuch abnehmen ließ, damit er sie erkenne, was die jungen Leute bezeugt haben: alle diese Umstände lassen sehr klar auf sein Einverständnis schließen.

Was die Dame Bryond und den Notar Léveillé anlangt – kann es eine bündigere und klarere Mitschuld geben als die ihrige? Sie haben fortgesetzt die verbrecherischen Handlungen unterstützt, gekannt und jede Hilfe dabei geleistet. Léveillé war bei jeder Gelegenheit unterwegs. Die Dame Bryond ersann eine List nach der anderen, sie setzte alles, sogar ihr Leben aufs Spiel, um die Herausgabe der Gelder zu erreichen. Sie hat ihr Schloß, ihren Wagen zur Verfügung gestellt, sie war von Anfang an an dem Komplott beteiligt; sie hat auch den Hauptanführer nicht davon abzubringen versucht, indem sie pflichtmäßig ihren Einfluß auf ihn geltend machte, um ihn daran zu verhindern. Sie hat auch ihr Kammermädchen, die Godard, mit hineingezogen. Léveillé war an der Ausführung so sehr beteiligt, daß er sogar versucht hat, den Briganten das Beil, das sie verlangten, zu beschaffen.

Die Frau Bourget, Vauthier, die Chaussards, Pannier, die Dame Lechantre, Mallet und Ratel waren alle in verschiedenem Grade an dem Verbrechen beteiligt, ebenso die Herbergswirte Melin, Linet, Laravinière und Chargegrain.

Bourget ist während der Untersuchung gestorben, nachdem er ein Geständnis abgelegt hat, das jede Ungewißheit bezüglich des Anteils Vauthiers und der Dame Bryond beseitigt; und wenn er dabei versucht hat, die Schuld seiner Frau und seines Neffen Chaussard abzuschwächen, so sind die Gründe seiner Zurückhaltung leicht begreiflich.

Die Chaussards haben als Mitwisser den Briganten Lebensmittel gegeben, sie haben gesehen, daß sie bewaffnet waren, sie waren Zeugen aller Verabredungen, sie haben das zum Aufbrechen der Kasse notwendige Beil wegnehmen lassen, wobei sie wußten, wozu es dienen sollte. Endlich waren sie die Hehler, sie haben gesehen, wie die geraubten Gelder fortgeschleppt wurden, sie haben einen Teil davon versteckt und das meiste verschleudert.

Pannier, der alte Schatzmeister der Rebellen, hat die Dame Bryond versteckt gehalten; er ist einer der gefährlichsten Komplicen des Verbrechens und war von Anfang an darin eingeweiht. Auf ihn weisen noch andere Verdachtsmomente hin, die zwar noch nicht aufgeklärt sind, denen aber die Justiz nachgeht. Er ist der getreue Anhänger Rifoëls, der Vertrauensmann für die geheimen Umtriebe der gegenrevolutionären Partei im Westen; er bedauerte, daß Rifoël Frauen an dem Komplott beteiligt und ihnen Vertrauen geschenkt hat; er hat Geldsummen an Rifoël gesandt und war Hehler der geraubten Gelder.

Was das Verhalten der beiden Gendarmen Ratel und Mallet anlangt, so fordert es die äußerste Strenge der Justiz heraus; denn sie haben ihren Eid gebrochen. Der eine von ihnen, der sein Schicksal voraussah, hat Selbstmord begangen, nachdem er wichtige Eröffnungen gemacht hatte. Der andere, Mallet, hat nichts geleugnet; sein Geständnis beseitigt jede Ungewißheit.

Die Dame Lechantre hat, trotz ihres standhaften Leugnens, von allem gewußt. Das Vorleben dieser heuchlerischen Frau, die es versucht, ihre angebliche Unschuld durch eine äußerliche, lügnerische Frömmigkeit glaubhaft zu machen, beweist ihre Entschlossenheit und Unerschrockenheit in Notfällen. Sie beruft sich darauf, daß sie von ihrer Tochter getäuscht worden sei, daß sie geglaubt habe, es handele sich um Gelder, die dem Herrn Bryond gehörten. Das ist eine plumpe Lüge! Wenn der Herr Bryond Geld besessen hätte, würde er nicht die Gegend verlassen und den Anblick seines wirtschaftlichen Zusammenbruchs vermieden haben. Die Dame Lechantre behauptet, daß sie an einen Raub nicht glauben konnte, da sie sah, daß die Sache von seinem Genossen Boislaurier gebilligt wurde. Aber wie erklärt sie die Anwesenheit Rifoëls in Saint-Savin, die Ausflüge und die Beziehungen dieses jungen Mannes zu ihrer Tochter, den Aufenthalt der Briganten, der ihnen durch das Mädchen Godard und die Dame Bryond ermöglicht wurde? Sie schützt ihren tiefen Schlaf vor, sie versteckt sich hinter ihrer angeblichen Gewohnheit, abends um sieben Uhr zu Bett zu gehen, wußte aber auf die Bemerkung des Untersuchungsrichters, daß sie dann doch mit Tagesanbruch aufstünde und sodann etliche Spuren des Komplotts und die Anwesenheit so vieler Leute hätte bemerken und sich über das nächtliche Fortgehen und Wiederkommen ihrer Tochter beunruhigen müssen, nichts zu erwidern. Sie hielt dem nur entgegen, daß sie im Gebet versunken gewesen sei. Diese Frau ist das Musterbild einer Heuchlerin. Ihre Reise am Tage des Verbrechens, die Mühe, die sie sich gibt, ihre Tochter nach Mortagne zu bringen, ihre Fahrt mit dem Gelde, ihre eilige Flucht, als alles entdeckt war, die Sorgfalt, mit der sie sich versteckt, ihr Verhalten bei ihrer Festnahme – alles beweist, daß sie als Mitschuldige seit langer Zeit beteiligt war. Sie hat nicht gehandelt wie eine Mutter, die ihre Tochter eines besseren belehren und sie der Gefahr entziehen will, sondern wie eine Mitschuldige, die zittert; und ihre Mitschuld war nicht der Ausfluß übermäßiger Zärtlichkeit, sondern die Folge des Parteigeistes, der wohlbekannte Haß gegen die Regierung Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät. Auch ein Übermaß von mütterlicher Zärtlichkeit würde sie nicht entlasten, und es darf nicht übersehen werden, daß ihre seit langem und mit Vorbedacht gegebene Zustimmung den klarsten Beweis ihrer Mitschuld liefert.

Ebenso wie über die Tatsachen des Verbrechens ist auch über seine Anstifter Klarheit geschaffen. Es zeigt sich dabei eine abscheuliche Vereinigung von wütendem Fanatismus mit Verleitung zum Raube und zum Morde, wozu der Parteigeist angestiftet hat, auf den man sich zu berufen versucht, um vor sich selbst die niedrigsten Missetaten zu rechtfertigen. Die Anführer geben das Signal zum Raube von Staatsgeldern, um Geld für die schlimmsten Verbrechen zu beschaffen; elende wilde Söldner übernehmen um niedrigen Lohn die Ausführung und scheuen auch nicht vor dem Morde zurück; und die nicht weniger schuldigen Helfershelfer der Rebellen unterstützen das Verteilen und Verstecken der Beute. Welche menschliche Gesellschaft darf solche Attentate dulden? Keine Strafe ist dafür streng genug.

Deshalb wird der Sondergerichtshof für Strafsachen über die vorbezeichneten Angeklagten Herbomez, Hiley, Cibot, Grenier, Horeau, Cabot, Minard, Melin, Binet, Laravinière, Rousseau, die Frau Bryond, Léveillé, die Frau Bourget, Vauthier, den älteren Chaussard, Pannier, die Witwe Lechantre und Mallet, alle bereits näher bezeichnet und hier anwesend, und die schon benannten Boislaurier, Dubut, Courceuil, Bruce, den jüngeren Chaussard, Chargegrain, das Mädchen Godard, diese sämtlich flüchtig, das Urteil zu fällen haben, ob sie schuldig oder nicht schuldig der in dieser Anklageschrift erwähnten Handlungen sind.

Caen, den 1. Dezember 180 . . .

Die Staatsanwaltschaft.     
Gezeichnet: Baron Bourlac.«

Diese Anklageschrift, die viel kürzer und bestimmter abgefaßt war als die heutigen, die so peinlich genau und eingehend sich mit allen Nebenumständen und besonders mit dem Vorleben der Angeklagten befassen, erregte Gottfried aufs tiefste. Der trockene Stil, in dem die amtliche Feder mit roter Tinte die Hauptumstände der Sache darstellte, setzte seine Phantasie in Tätigkeit. Zusammenfassende, präzise Berichte sind für manche Geister Texte, in die sie sich eingraben, um sich in ihre geheimnisvollen Abgründe zu vertiefen.

Mitten in der Nacht, in der Stille und Dunkelheit, die ihn umgab, und im Nachsinnen über die furchtbaren Beziehungen zwischen diesem Schriftstück und Frau de la Chanterie, die der gute Alain ihn hatte ahnen lassen, wandte Gottfried all seinen Scharfsinn auf, um sich über diesen Punkt Aufklärung zu verschaffen.

Sicher mußte der Name Lechantre der Stammname der de la Chanterie sein, in den man unter der Republik und dem Kaiserreich ihren Aristokratennamen geändert hatte.

Er sah die Landschaft, in der sich diese Tragödie abgespielt hatte, vor sich. Die Figuren der Mitschuldigen zweiten Ranges zogen an seinem Auge vorbei. Seine Phantasie stellte sich nicht einen gewissen Rifoël, sondern einen Chevalier du Vissard vor, einen jungen Mann, der etwa dem Fergus Walter Scotts ähnlich und eine Art französischer Jakobit war. Er erlebte den Roman eines jungen Mädchens mit, das, durch die Niederträchtigkeit ihres Gatten in grober Weise betrogen (solche Romane waren damals modern), einen jungen Rebellenführer, der gegen den Kaiser konspirierte, liebt, sich wie Diana Vernon Hals über Kopf in die Verschwörung stürzt, sich dafür begeistert und, einmal auf diese abschüssige Bahn geraten, nicht mehr haltmacht! War sie bis auf das Schafott gekommen?

Gottfried sah eine ganze Welt vor sich. Er irrte in den normännischen Gehölzen umher, er erblickte den bretonischen Chevalier und Frau Bryond hinter den Hecken; er lebte mit im Schlosse Saint-Savin; er wohnte den verschiedenen Szenen bei, in denen so viele Menschen verführt wurden, und sah den Notar, den Kaufmann und alle die kühnen Führer der Chouans leibhaft vor sich. Er ahnte, wie fast das ganze Land daran teilhatte, in dem die Erinnerung an die Anschläge des berüchtigten Marche-à-Terre, der Grafen von Bauvan und Longuy, an das Massaker von la Vivetière, an den Tod des Marquis von Mautauran, von dessen Heldentaten ihm schon Frau de la Chanterie erzählt hatte, fortlebte. Diese Art Vision der Dinge, Menschen und Ortschaften ging schnell vorüber. Da er daran dachte, daß es sich um die bedeutende, vornehme, fromme alte Frau handelte, deren edle Eigenschaften einen solchen Einfluß auf ihn ausübten, daß er im Begriff war, ein anderer Mensch zu werden, so nahm Gottfried voll Schrecken die zweite Schrift, die ihm der biedere Alain gegeben hatte, in die Hand; sie war überschrieben:

»Gnadengesuch
für Frau Henriette Bryond des Tours-Minières,
geborene Lechantre de la Chanterie.«

»Hier ist kein Zweifel mehr möglich!« sagte sich Gottfried.

Die Schrift lautete:

»Wir sind verurteilt und schuldig; aber wenn jemals ein Souverän Grund gehabt hat, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen, ist das nicht in der vorliegenden Sache der Fall?

Es handelt sich um eine junge Frau, die erklärt hat, daß sie sich Mutter fühlt, und die zum Tode verurteilt ist.

Auf der Schwelle des Gefängnisses, im Anblick des Schafotts, das sie erwartet, wird diese Frau die reine Wahrheit sagen.

Die Wahrheit wird für sie reden, ihr wird sie die Begnadigung zu verdanken haben.

Der vor dem Strafgerichtshof von Alençon verhandelte Prozeß hat, wie alle Prozesse, bei denen eine große Anzahl Angeklagter in ein gemeinsames Komplott verwickelt ist, das vom Parteigeist angezettelt wurde, ganz unaufgeklärte Teile gezeigt.

Die Kanzlei Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät weiß, was sie heute von der mysteriösen Persönlichkeit des sogenannten Le Marchand zu halten hat, dessen Anwesenheit im Departement l'Orne während der Prozeßverhandlungen vor dem öffentlichen Ankläger nicht geleugnet wurde, den vorzuladen aber die Staatsanwaltschaft sich nicht veranlaßt gesehen hat, während die Verteidigung keine Möglichkeit hatte, ihn vorführen zu lassen, noch ihn überhaupt aufzufinden.

Diese Persönlichkeit ist, wie die Staatsanwaltschaft, die Präfektur, die Pariser Polizei und die Kanzlei Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät wissen, der Herr Bernhard-Polydor Bryond des Tours-Minières, seit 1794 Korrespondent des Grafen von Lille, im Ausland als Baron des Tours-Minières und in den Annalen der Pariser Polizei unter dem Namen Contenson bekannt.

Das ist ein Ausnahmemensch, ein Mann, dessen Adel und Jugend durch so lasterhafte Neigungen, durch eine so tiefe Immoralität, durch so strafbare Verirrungen befleckt sind, daß dieses elende Dasein sicher schon auf dem Schafott geendet hätte, ohne die Kunst, mit der er sich in einer Doppelrolle, entsprechend seinem doppelten Namen, nützlich zu machen verstand. Aber mehr und mehr von seinen Leidenschaften, von immer neuen Bedürfnissen beherrscht, wird er schließlich noch unter die tiefste Stufe des Lasters sinken und bald bei dessen untersten Ausläufern angelangt sein, trotz seiner unbestreitbaren Begabung und seinem bemerkenswerten Verstande.

Als die Vorsicht des Grafen von Lille Bryond nicht mehr erlaubte, Geld im Auslande zu erheben, wollte er der blutigen Arena, in die ihn seine Geldansprüche hinabgezogen hatten, entrinnen.

War seine Karriere nicht ertragreich genug gewesen? Waren es Gewissensbisse oder die Schande, die diesen Mann in das Land zurückführten, wo seine Besitzungen, die bei seiner Abreise mit Schulden überlastet waren, seinem Genie wenig Hilfsmittel darbieten konnten? Es ist unmöglich, das zu glauben. Es ist wahrscheinlicher, anzunehmen, daß er in den Departements, wo noch einige Funken unserer Bürgerkriege glommen, eine Mission zu erfüllen hatte.

Als er die Gegend durchforschte, in der seine hinterlistige Zusammenarbeit mit den von England und dem Grafen von Lille angesponnenen Intrigen ihm das Vertrauen der Familien, die der durch das Genie unseres unsterblichen Kaisers besiegten Partei anhingen, verschafften, begegnete er einem früheren Anführer der Rebellen, zu dem er seit der Unternehmung von Quibéron und der letzten Erhebung der Rebellen im Jahre VII als Abgesandter des Auslandes Beziehungen hatte. Er bestärkte den großen Agitator, der seine Komplotte gegen den Staat mit dem Tode gebüßt hat, in seinen Hoffnungen. So vermochte Bryond die Geheimnisse dieser unverbesserlichen Partei zu erfahren, die den Ruhm Seiner Majestät des Kaisers Napoleon I. und damit die wahren Interessen des Landes, die in seiner geheiligten Person vereinigt sind, verkannte.

Im Alter von sechsunddreißig Jahren, tiefste Frömmigkeit heuchelnd, eine grenzenlose Ergebenheit für die Interessen des Grafen von Lille und eine anbetungsvolle Ergebenheit für die Insurgenten, die ihren Tod bei den Kämpfen im Westen gefunden hatten, wußte er geschickt die Anzeichen seiner erschöpften Jugendkraft, die sich noch durch einige äußerliche Vorzüge empfahl, zu verbergen; und aufs beste unterstützt durch das Schweigen seiner Gläubiger und durch eine unerhörte Gefälligkeit der Junker des Landes, ließ sich dieser Mensch, ein wahres übertünchtes Grab, mit großen Ansprüchen auf Berücksichtigung bei der Dame Lechantre, die für sehr reich galt, einführen.

Man machte ein Komplott, um diesen Schützling der Junker die einzige Tochter der Frau Lechantre, die junge Henriette, heiraten zu lassen.

Priester, frühere Adlige, Gläubiger, jeder aus anderen Beweggründen, die bei den einen loyal waren, bei den andern auf Habgier beruhten, für deren Folgen aber die Mehrzahl blind war, – alle arbeiteten zusammen, um die Heirat Bernhard Bryonds mit Henriette Lechantre zustande zu bringen.

Die Vorsicht des Notars, der die Geschäfte der Frau Lechantre führte, und vielleicht auch etwas Mißtrauen waren die Veranlassung, daß die junge Dame ins Verderben gestürzt wurde. Herr Chesnel, der Notar von Alençon, schloß die Besitzung Saint-Savin, das einzige, was die künftige Ehefrau besaß, von der Gütergemeinschaft aus, wobei er der Mutter die Wohnung und eine bescheidene Rente vorbehielt.

Die Gläubiger, die bei der Dame Lechantre auf Grund ihres Ordnungssinnes und ihrer Sparsamkeit erhebliche Kapitalien vermuteten, sahen sich in ihren Erwartungen getäuscht; alle hielten die Dame für geizig und gingen nun gegen Bryond vor, dessen prekäre Lage jetzt offenbar wurde.

Es brachen scharfe Zwistigkeiten zwischen den jungen Ehegatten aus, bei denen der jungen Frau die Verdorbenheit, die religiöse und politische Gottlosigkeit und – darf ich es sagen? – die Niederträchtigkeit des Mannes klar wurden, an den ihr Geschick so verhängnisvoll geknüpft war. Bryond sah sich genötigt, seine Frau in das Geheimnis der verabscheuungswürdigen Komplotte gegen die kaiserliche Regierung einzuweihen und in seinem Hause Rifoël du Vissard ein Asyl anzubieten.

Der abenteuerliche, tapfere, edelmütige Charakter Rifoëls übte auf alle, die ihm nähertraten, eine verführerische Anziehung aus, wofür eine Unzahl von Beweisen in den Strafprozessen vorliegen, die vor den drei Sondergerichtshösen in Strafsachen geführt worden sind.

Sein unwiderstehlicher Einfluß, seine absolute Herrschaft über eine junge Frau, die sich in einen Abgrund gestürzt sah, wird nur zu deutlich bei der Katastrophe, deren Schrecken sie als Bittflehende vor den Stufen des Thrones niederknien läßt. Was aber die Kanzlei Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät leicht feststellen kann, das ist die niederträchtige Bereitwilligkeit Bryonds, mit der er, weit entfernt, seine Pflicht als Führer und Berater des Kindes, das eine betrogene Mutter ihm anvertraut hatte, zu erfüllen, eine Freude daran fand, das Band der Intimität zwischen der jungen Henriette und dem Rebellenführer nur noch enger zu knüpfen.

Der Plan dieses verabscheuungswürdigen Menschen, der sich rühmt, alles zu verachten und jede Sache nur unter dem Gesichtspunkte seiner Gelüste zu betrachten und der die moralischen und religiösen Vorschriften nur als leicht zu beseitigende Hindernisse betrachtet, dieser Plan war folgender:

Es muß zunächst betont werden, wie vertraut mit einem derartigen Vorgehen ein Mann war, der seit dem Jahre 1794 eine doppelte Rolle spielt und der es acht Jahre hindurch verstanden hat, den Grafen von Lille und seine Anhänger und vielleicht auch die oberste Polizeibehörde des Reichs zu täuschen: dienen solche Menschen nicht demjenigen, der sie am besten bezahlt?

Bryond trieb Rifoël zu dem Verbrechen, er drängte darauf, mit bewaffneter Hand die Staatskassen zu rauben und von den Käufern von Nationalgütern eine hohe Kontribution unter Anwendung scheußlicher Martern zu erheben, die fünf Departements in Schrecken setzen sollten, und die er ausgedacht hatte. Er verlangte, daß ihm dreihunderttausend Franken ausgehändigt würden, um damit die auf seinen Gütern lastenden Schulden abzulösen.

Falls seine Frau oder Rifoël ihm Widerstand leisten würden, hatte er sich vorgenommen, sich für die tiefe Verachtung, die er dieser geradsinnigen Seele eingeflößt hatte, zu rächen, indem er beide der Strenge des Gesetzes ausliefern wollte, sobald sie ein Kapitalverbrechen begangen haben würden.

Als er sah, daß die Anhänglichkeit an die Partei bei diesen beiden Wesen, die er aneinander gebunden hatte, stärker war als die Berücksichtigung seiner Interessen, verschwand er und kehrte nach Paris zurück, versehen mit eingehenden Auskünften über die Situation in den weltlichen Departements.

Die Brüder Chaussard und Vauthier waren Bryonds Korrespondenten, das ist der Kanzlei bekannt.

Heimlich und verkleidet erschien er, sobald das Attentat auf die Kassen von Caen ausgeführt war, wieder im Lande unter dem Namen Le Marchand und setzte sich im geheimen mit dem Herrn Präfekten und den Behörden in Verbindung. Was geschah nun? Niemals ist eine so weit verbreitete Verschwörung, an der so viele Personen der verschiedensten Stufen der gesellschaftlichen Stellung teilnahmen, der Justiz so schnell bekannt geworden wie dieses unerwartete Attentat auf die Kassen von Caen. Alle Schuldigen wurden verfolgt und sechs Tage nach dem Attentat aufgespürt, und zwar mit einer Sicherheit, die die vollkommenste Kenntnis der Pläne und der Individuen beweist. Die Verhaftungen, der Prozeß, der Tod Rifoëls und seiner Mitschuldigen sind der Beweis dafür, den wir nur erwähnen, um zu zeigen, daß wir dessen sicher sind. Der Kanzlei, wir wiederholen es, ist über diesen Punkt mehr bekannt als uns.

Wenn jemals ein Verurteilter sich an die Gnade des Souveräns wenden dürfte, so ist es Henriette Lechantre.

Mitgerissen von ihrer leidenschaftlichen Liebe, von den Ideen der Rebellion, die sie mit der Muttermilch eingesogen hatte, ist sie in den Augen der Justiz sicherlich nicht zu entschuldigen; werden aber von dem großherzigsten der Kaiser der niedrigste Verrat und der heißeste Enthusiasmus nicht zu ihren Gunsten sprechen?

Der größte Feldherr, der unsterbliche Genius, der den Fürsten Hatzfeld begnadigte und, gleich Gott selbst, die verhängnisvollen Triebe des Herzens versteht, wird er nicht zugeben, daß dieser Trieb unüberwindlich ist und ein Verbrechen, so groß es auch sei, zu entschuldigen vermag?

Zweiundzwanzig Köpfe sind bereits durch das Schwert der Gerechtigkeit gefallen, nachdem die drei Strafgerichtshöfe das Urteil gesprochen haben; es ist nur noch der einer jungen Frau von zwanzig Jahren, einer Minderjährigen übrig: wird Kaiser Napoleon der Große sie nicht schonen, damit sie bereuen kann? Wird er die Vergeltung nicht Gott überlassen?

        Für Henriette Lechantre,
die Gattin Bryonds des Tours-Minières,

ihr Verteidiger Bordin,
Advokat am Gerichtshof erster Instanz des Seine-Departements.

Diese furchtbare Tragödie beunruhigte den kurzen Schlaf, den Gottfried fand. Er träumte von der Hinrichtung, wie sie der Arzt Guillotin in philanthropischem Interesse erfunden hat. Mitten in seinem schweren Albdrücken sah er die junge Frau nach den letzten Vorbereitungen auf dem Karren fortgeschleppt, wie sie das Schafott bestieg mit dem Rufe: Es lebe der König!

Die Neugierde peinigte Gottfried. Bei Tagesanbruch erhob er sich, kleidete sich an, ging im Zimmer auf und ab und stellte sich schließlich ans Fenster, indem er mechanisch den Himmel betrachtete und sich, wie es ein moderner Autor machen würde, die Tragödie als einen Roman in mehreren Bänden vor Augen stellte. Beständig sah er von dem dunklen Hintergrunde von Chouans, Landleuten, Provinzedelleuten, Anführern, Gerichtspersonen, Advokaten, Spionen sich strahlend die Figuren der Mutter und der Tochter abheben; der Tochter, die ihre Mutter täuschte, der Frau, die das Opfer eines Ungeheuers geworden war und das Opfer ihrer Zuneigung zu einem jener kühnen Männer, die man später Helden nannte, und dem die Einbildungskraft Gottfrieds eine Ähnlichkeit mit Leuten wie Charette, Georges Cadoudal, mit den Gewaltigen in dem Kampfe zwischen Republik und Monarchie verlieh.

Sobald Gottfried den braven Alain sich in seinem Zimmer bewegen hörte, ging er zu ihm; aber als er die Tür geöffnet hatte, kehrte er wieder um. Der Greis kniete auf seinem Betschemel und sprach sein Morgengebet. Der Anblick dieses weißen, in tiefste Andacht versunkenen Hauptes erinnerte Gottfried an seine versäumte Pflicht, und er kniete nieder, um ein heißes Gebet zum Himmel zu richten.

»Ich erwartete Sie,« sagte der Alte, als er Gottfried eine Viertelstunde später eintreten sah, »ich habe Ihrer Ungeduld Rechnung getragen und bin früher als sonst aufgestanden.«

»Frau Henriette? . . .« fragte Gottfried in sichtlicher Angst.

»Ist die Tochter der gnädigen Frau,« unterbrach der Alte Gottfried. »Die gnädige Frau nennt sich Lechantre de la Chanterie. Unter dem Kaiserreich wurden weder die Adelstitel noch die dem Familien- oder dem ursprünglichen Namen hinzugesetzten anerkannt. So nannte sich die Baronin des Tours-Minières Frau Bryond. Der Marquis d'Esgrignon nahm wieder den Namen Carol an, er wurde der Bürger Carol und später der Herr Carol. Die Troisvilles wurden die Herren Guibelin.«

»Und wie lief die Sache aus? Hat der Kaiser sie begnadigt?«

»Leider nicht!« erwiderte Alain. »Die unselige kleine Frau von einundzwanzig Jahren starb auf dem Schafott. Als der Kaiser die Eingabe Bordins gelesen hatte, antwortete er seinem Justizminister etwa folgendes:

›Weshalb soll ich mich um einen Spion bekümmern? Ein Polizeiagent ist kein gewöhnlicher Mensch mehr, er darf auch keine menschlichen Gefühle haben; er ist ein Rad in einer Maschine, Bryond hat nur seine Pflicht getan. Wenn solche Instrumente nicht das wären, was sie sein müssen, Männer von Eisen, die ihren Geist nur im Sinne des Herrn, dem sie dienen, anstrengen, dann wäre jede Regierung unmöglich. Die Urteilssprüche der Sonderstrafgerichte müssen vollzogen werden, sonst würden meine Beamten weder zu ihnen noch zu mir Vertrauen haben. Übrigens sind die Söldner dieser Leute hingerichtet worden, und sie waren weniger schuldig als die Anführer. Außerdem muß man den Frauen aus dem Westen zeigen, daß sie sich nicht an Komplotten beteiligen sollen. Gerade weil hier eine Frau durch den Spruch des Gerichts betroffen ist, muß der Gerechtigkeit freier Lauf gelassen werden. Gegenüber dem Staatsinteresse kann es keine Entschuldigung geben.‹ Das war ungefähr der Inhalt dessen, was der Justizminister so freundlich war, Bordin aus seiner Unterredung mit dem Kaiser mitzuteilen. Als er erfuhr, daß Frankreich und Rußland sich bald miteinander messen sollten und daß der Kaiser sich siebenhundert Meilen von Paris entfernen mußte, um ein ungeheures ödes Land anzugreifen, begriff Bordin die wahren Gründe der kaiserlichen Ungnade. Um Ruhe im Westen zu haben, der schon Rebellen genug in sich barg, schien es Napoleon notwendig, starken Schrecken zu verbreiten. Daher riet der Justizminister dem Advokaten auch, nichts weiter für seine Klienten zu versuchen.

»Und für seine Klientin?« sagte Gottfried.

»Frau de la Chanterie wurde zu zweiundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt,« sagte Alain. »Da sie schon nach Bicêtre, nahe bei Rouen, überführt war, um ihre Strafe zu verbüßen, durfte man sich mit ihr erst befassen, nachdem ihre Henriette scheinbar gerettet war, die nach der schrecklichen Gerichtsverhandlung ihr so ans Herz gewachsen war, daß ohne Bordins Zusicherung, daß er ihre Begnadigung durchsetzen würde, die gnädige Frau die Verurteilung wohl nicht überlebt hätte. Man täuschte also die arme Mutter. Sie sah ihre Tochter noch, nachdem die andern zum Tode Verurteilten schon hingerichtet waren, ohne zu ahnen, daß dieser Aufschub nur ihrer fälschlichen Angabe, sie sei schwanger, zuzuschreiben war.«

»Ach, nun begreife ich alles!« rief Gottfried.

»Nein, mein Kind, es gibt Dinge, die man sich nicht vorstellen kann. Die gnädige Frau hat ihre Tochter sehr lange Zeit am Leben geglaubt . . .«

»Wie das?«

»Als Frau des Tours-Minières von Bordin die Abweisung ihres Gnadengesuchs erfuhr, hatte die großherzige kleine Frau den Mut, zwanzig Briefe zu verfassen, von Monat zu Monat nach ihrer Hinrichtung datiert, um den Glauben zu erhalten, daß sie noch lebe, und in ihnen die Leiden einer erdichteten Krankheit, die zum Tode führte, zu beschreiben. Diese Briefe umfaßten einen Zeitraum von zwei Jahren. Frau de la Chanterie wurde so auf den Tod ihrer Tochter vorbereitet, aber auf einen natürlichen Tod: von ihrer Hinrichtung erfuhr sie erst im Jahre 1814. Zwei Jahre lang war sie im Kerker zusammen mit den elendesten Geschöpfen ihres Geschlechts in Gefangenenkleidern; nach Ablauf des zweiten Jahres erhielt sie dann auf das dringende Bemühen der Champignelles und der Beauséants ein eigenes Zimmer, in dem sie wie eine Nonne im Kloster lebte.«

»Und was geschah mit den anderen?«

»Der Notar Léveillé, d'Herbomey, Hiley, Cibot, Grenier, Horeau, Cabot, Minard und Mallet wurden zum Tode verurteilt und am gleichen Tage hingerichtet. Pannier, zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt, auch Chaussard und Vauthier wurden gebrandmarkt und in den Bagno geschickt; aber der Kaiser begnadigte Chaussard und Vauthier; Melin, Laravinière und Binet wurden zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, Frau Bourget zu zwanzig Jahren Zuchthaus. Chargegrain und Rousseau wurden freigesprochen. Alle Geflüchteten wurden in contumaciam zum Tode verurteilt, außer dem Mädchen Godard, die niemand anderes ist, Sie ahnen es wohl, als unsere arme Manon . . .«

»Manon? . . .« rief Gottfried verblüfft.

»Oh, Sie kennen Manon noch nicht!« erwiderte der gute Alain. »Dieses aufopfernde Wesen, das zu zweiundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt war, stellte sich freiwillig, um Frau de la Chanterie im Gefängnis als Dienerin beizustehen. Unser verehrter Vikar ist der Priester von Mortagne, der die Baronin des Tours-Minières mit den Sterbesakramenten versah und den Mut hatte, sie auf das Schafott zu geleiten, und der ihren letzten Abschiedskuß empfangen hat. Dieser mutige, hochherzige Priester hat auch dem Chevalier du Vissard beigestanden. Unser teurer Abbé hat also alle Geheimnisse der Verschwörer erfahren . . .«

»Nun weiß ich, was ihm das Haar gebleicht hat!« sagte Gottfried.

»Ach!« fuhr Alain fort, »er hat von Amédée du Vissard das Miniaturbild der Frau des Tours-Minières empfangen, das einzige Bild, das von ihr existiert; daher war der Abbé für Frau de la Chanterie ein Heiliger, als sie glorreich wieder in die Gesellschaft zurückkehrte.«

»Wie das? . . .« fragte Gottfried erstaunt.

»Nun, bei der Rückkehr Ludwigs XVIII. im Jahre 1814. Boislaurier, der jüngere Bruder des Herrn Boisfrelon, hatte vom König den Befehl gehabt, den Westen im Jahre 1809 und dann nochmals im Jahre 1812 aufzuwiegeln. Sein Name ist Dubut, der Dubut aus Caen ist sein Verwandter. Es waren drei Brüder: Dubut de Boisfranc, Präsident des Hilfsgerichts; Dubut de Boisfrelon, Parlamentsrat, und Dubut-Boislaurier, Dragonerrittmeister. Der Vater hatte seinen Söhnen die Namen von drei verschiedenen Besitzungen gegeben, um ihre niedere Herkunft zu verbergen, denn der Großvater der Dubuts war Leinwandhändler. Der Dubut aus Caen, der sich zu retten vermochte, gehörte zu den Dubuts, die Kaufleute geblieben waren, und er hoffte, durch seine Hingabe für die Sache des Königs es zu erreichen, daß er den Titel des Herrn de Boisfranc übertragen bekam. Ludwig XVIII. hat auch den Wunsch dieses treuen Dieners erfüllt, der im Jahre 1815 Generalprofoß und später Generalstaatsanwalt, unter dem Namen de Boisfranc, wurde; er ist als erster Präsident eines Obergerichts gestorben. Der Marquis du Vissard, der ältere Bruder des armen Chevalier, zum Pair von Frankreich ernannt und vom König mit Ehren überhäuft, wurde Leutnant der Maison rouge und nach Auflösung der Maison rouge Präfekt. Der Bruder des Herrn d'Herbomez wurde Graf und Generalsteuereinnehmer. Der arme Bankier Pannier ist kinderlos als Generalleutnant und Gouverneur eines königlichen Schlosses gestorben. Die Herren von Champignelles und von Beauséant, der Herzog von Verneuil und der Großsiegelbewahrer haben Frau de la Chanterie dem König vorgestellt. ›Sie haben um meinetwillen viel gelitten, Frau Baronin; Sie haben Anspruch auf meine Gunst und meine volle Dankbarkeit‹, sagte er zu ihr. ›Sire‹, erwiderte sie, ›Euer Majestät haben so viele Unglückliche zu trösten, ich will Sie nicht noch mit einem untröstlichen Schmerz belasten. In Zurückgezogenheit leben, meine Tochter beweinen und Gutes tun, das soll den Rest meiner Tage ausfüllen. Wenn etwas meinen Jammer versüßen kann, so ist das die Güte meines Königs und die Freude, zu sehen, daß die Vorsehung so viel Hingebung nicht hat vergeblich sein lassen.‹«

»Und was hat Ludwig XVIII. getan?« fragte Gottfried.

»Der König ließ Frau de la Chanterie zweihunderttausend Franken zustellen, denn die Herrschaft Saint- Savin war verkauft worden, um die Prozeßkosten zu decken,« antwortete der Alte. »Die Begnadigungsschreiben für die Frau Baronin und ihre Dienerin sprechen das Bedauern des Königs über die in seinem Dienste ausgestandenen Leiden aus und erwähnen, ›daß der Eifer seiner Diener in der Anwendung der Mittel zu weit gegangen sei‹; aber, schrecklich zu sagen, und was Ihnen als der merkwürdigste Charakterzug dieses Monarchen erscheinen wird: er verwendete Bryond weiter während seiner Regierung in seiner Geheimpolizei.«

»Oh, die Könige, die Könige!« rief Gottfried aus. »Und lebt der Schurke noch?«

»Nein. Der Elende, der seinen Namen wenigstens hinter dem Namen Contenson verbarg, ist Ende 1829 oder Anfang 1830 gestorben. Als er einen Verbrecher verhaften wollte, der auf das Dach eines Hauses geflüchtet war, stürzte er auf die Straße hinab. Ludwig XVIII. teilte die Anschauungen Napoleons über die Polizei. Frau de la Chanterie ist eine Heilige, sie betet für das Seelenheil dieses Ungeheuers und läßt jährlich zwei Messen für ihn lesen. Obgleich von einem der größten Redner und berühmtesten Advokaten der Zeit verteidigt, konnte Frau de la Chanterie, die von der Gefahr, die ihre Tochter lief, erst erfuhr, als das geraubte Geld weggeschafft wurde, und auch erst dadurch, daß ihr Verwandter Boislaurier sie darüber aufklärte, doch niemals ihre Unschuld beweisen. Der Präsident du Ronceret und Blondet, der Vizepräsident des Gerichts von Alençon, versuchten vergeblich, die arme Frau zu retten; der Einfluß des kaiserlichen Gerichtsrats, der dem Sonderstrafgericht präsidierte, des berühmten Mergi, der später Generalstaatsanwalt und ein fanatischer Anhänger von Thron und Altar wurde, auf seine beiden Kollegen war so groß, daß er die Verurteilung der armen Baronin de la Chanterie durchsetzte. Die Herren Bourlac und Mergi bewiesen während des Prozesses eine unglaubliche Hartnäckigkeit. Der Präsident redete die Baronin des Tours mit Frau Bryond und die gnädige Frau mit Frau Lechantre an. Die Namen der Angeklagten wurden nach republikanischem Muster sämtlich verkürzt und beinahe verstümmelt. Der Prozeß zeichnete sich durch ganz ungewöhnliche Umstände aus, von denen ich mich nicht mehr an alle erinnere; nur ein kühner Zug ist mir im Gedächtnis geblieben, der Ihnen beweisen kann, was für Leute die Chouans waren. Die Menschenmassen, die den Prozeßverhandlungen beiwohnen wollten, überstiegen alles, was Sie sich vorstellen können; sie füllten die Korridore an, und auf dem Platze sah es aus wie an einem Markttage. Eines Tages, bei Eröffnung der Sitzung, noch vor Eintreten des Gerichtshofs, sprang Pille-Miche, der berüchtigte Chouan, über die Schranken mitten in die Menge hinein, machte sich mit den Ellbogen Platz, verschwand in der Masse und flüchtete mit dem Strom der erschreckten Menschen, ›sich vorwärts kämpfend wie ein wilder Eber‹, erzählte mir Bordin. Die Gendarmen und die Wache stürmten hinter ihm her, und er wurde erst am Ende der Treppe, gerade als er den freien Platz erreicht hatte, gepackt. Infolge dieses kühnen Wagnisses wurde die Wache verdoppelt. Eine Gendarmerieabteilung wurde auf dem Platze konsigniert; denn man befürchtete, daß sich Chouans finden könnten, die bereit waren, den Angeklagten Schutz und Hilfe zu gewähren. Bei diesen Versuchen wurden drei Menschen im Gedränge totgedrückt. Nachher hat man erfahren, daß Contenson (ebenso wie mein alter Freund Bordin kann ich mich nicht entschließen, ihn den Baron des Tours-Minières oder Bryond, was auch ein alter Adelsname ist, zu nennen), man hat also, sage ich, erfahren, daß dieser Elende sechzigtausend Franken von dem geraubten Gelde beiseite geschafft und verschwendet hat; zehntausend hat er dem jungen Chaussard gegeben und ihn für die Polizei angeworben, wobei er ihn mit seinen Gelüsten und Lastern angesteckt hat; aber keiner seiner Mitschuldigen hat Glück gehabt. Der flüchtige Chaussard wurde von dem Herrn von Boislaurier ins Meer gestürzt, sobald dieser durch ein Wort Panniers den Verrat dieses Schurken erfuhr, dem Contenson geraten hatte, sich mit den flüchtigen Verschwörern zu vereinigen, um sie zu überwachen. Vauthier wurde in Paris ermordet, zweifellos von einem der heimlichen ergebenen Genossen des Chevaliers du Vissard. Der jüngste Chaussard endlich wurde bei einer der besonderen nächtlichen Streifzüge der Polizei ermordet; es ist anzunehmen, daß Contenson sich von seinen Ansprüchen oder seinen Gewissensbissen befreite, indem er ihn, wie man sagt, ›dem Himmel empfahl‹. Frau de la Chanterie ließ ihr Geld ins Staatsschuldbuch eintragen und kaufte dieses Haus, um den Wunsch ihres Oheims, des alten Rats de Boisfrelon, zu erfüllen, der ihr das zum Erwerbe nötige Geld gab. Diese ruhige Gegend liegt in der Nachbarschaft des erzbischöflichen Palais, wo unser teurer Abbé bei dem Kardinal tätig ist. Das war der Hauptgrund der gnädigen Frau, dem Wunsche des Alten zu entsprechen, dessen Vermögen nach fünfundzwanzig Revolutionsjahren auf eine Rente von sechstausend Franken zusammengeschmolzen war. Im übrigen hatte die gnädige Frau das Verlangen, ihrem entsetzlichen Unglück, das sie seit sechsundzwanzig Jahren verfolgte, durch ein klösterliches Leben ein Ende zu setzen. Sie werden sich jetzt die majestätische Größe dieses, wie ich zu sagen wage, erhabenen Opfers erklären können . . .«

»Ja,« sagte Gottfried, »der Druck aller Schicksalsschläge, die sie getroffen haben, hat ihr eine gewisse majestätische Größe verliehen.«

»Jede Wunde, jeder neue Schlag hat ihre Geduld, ihre Ergebung nur verdoppelt«, fuhr Alain fort; »wenn Sie sie aber erst so wie wir kennten, wenn Sie wüßten, wie feinfühlig ihr Empfinden, wie unerschöpflich die Zärtlichkeit ihres Herzens sich betätigt, so würden Sie erschreckt sein, wenn Sie zählen wollten, wieviel Tränen sie vergossen, wieviel heiße Bitten sie an Gott gerichtet hat. Man muß, wie sie, nur eine flüchtige Zeitspanne voll Glückes gekannt haben, um so vielen Schicksalsschlägen widerstehen zu können! Sie hat ein zärtliches Herz, eine sanfte Seele in einem Körper von Eisen, den Entbehrungen, Arbeiten, Kasteiungen nur noch härter gemacht haben.«

»Ihr Leben läßt Einen das lange Leben der Einsiedler begreifen«, sagte Gottfried.

»Zuweilen frage ich mich, welchen Sinn ein solches Leben haben mag . . . Hat Gott diese schlimmsten, grausamsten Prüfungen denjenigen unter seinen Geschöpfen vorbehalten, die sich am Tage nach ihrem Hinscheiden an seine Seite setzen dürfen?« sagte der brave Alain, ohne zu ahnen, daß er damit ganz unbewußt Swedenborgs Lehre von den Engeln wiedergab.

»Aber wie denn,« rief Gottfried aus, »Frau de la Chanterie war zusammengesperrt mit . . .?

»Im Gefängnis hat die gnädige Frau ihre ganze Erhabenheit bewiesen«, erwiderte Alain. »Drei Jahre hindurch hat sie die Dichtung des Vikars von Wakefield in die Tat umgesetzt, denn sie hat etliche von den verdorbenen Weibern, die sie umgaben, bekehrt. Während ihrer Haft hat sie das Leben dieser Zuchthäuslerinnen studiert, und ein heißes Mitleid mit dem Jammer des Volkes hat sie ergriffen, das sie nie verlassen und sie zur Königin der Pariser Wohltätigkeitswerke gemacht hat. In dem scheußlichen Bicêtre bei Rouen hat sie den Plan entworfen, dessen Verwirklichung wir uns geweiht haben. Das war, wie sie sagt, ihr wundervoller Traum, eine himmlische Eingebung inmitten der Hölle; sie glaubte nicht, ihn jemals verwirklichen zu können. Als im Jahre 1819 in Paris die Ruhe wieder eingekehrt zu sein schien, kam sie auf ihren Traum zurück. Die Herzogin von Angoulême, dann die Dauphine, die Herzogin von Berri, der Erzbischof, später der Kanzler und andere fromme Persönlichkeiten spendeten freigebig die ersten erforderlichen Beiträge. Diese Summen wurden um den verfügbaren Anteil unserer Einkünfte vermehrt, von denen jeder von uns nur das unbedingt Notwendige verbraucht.«

Gottfried stiegen die Tränen in die Augen.

»Wir sind die getreuen Verweser einer christlichen Idee, und wir gehören mit Leib und Seele dem Werke, dessen geistiges Haupt und Begründerin die Baronin de la Chanterie ist, die Sie von uns so respektvoll mit ›gnädige Frau‹ anreden hören.«

»Ach, ich will einer der Ihrigen werden«, sagte Gottfried und streckte dem ehrlichen Alten die Hände entgegen.

»Verstehen Sie jetzt, daß gewisse Dinge bei der Unterhaltung nicht berührt werden dürfen, nicht einmal durch eine Anspielung?« fuhr der Alte fort. »Begreifen Sie, welche Verpflichtungen zu taktvollem Verhalten jeder Bewohner dieses Hauses derjenigen gegenüber übernimmt, die wir für eine Heilige halten? Begreifen Sie, welche Anziehungskraft eine Frau auszuüben vermag, die durch so viel Unglück geweiht ist, die so viel erfahren hat, die das Elend bis auf die Neige ausgekostet, aber in jedem Schicksalsschlag nur eine Mahnung gesehen hat, deren edle Tugenden durch die härtesten Prüfungen und durch beständige Tätigkeit doppelt geheiligt sind, deren Seele ohne Fehl, ohne Tadel ist, die von der Mutterschaft nur die Schmerzen, von der ehelichen Liebe nur die Bitterkeiten kennengelernt, der das Lebensglück nur ein paar Monate gelächelt hat, und der im Himmel sicherlich eine Palme zugedacht ist für so viel Ergebung und Sanftmut bei allen Kümmernissen? Steht sie nicht höher als Hiob, sie, die niemals über ihr Elend gejammert hat? Nun werden Sie sich nicht mehr darüber wundern, daß ihre Worte so eindringlich, ihr Alter so jugendlich, ihre Seele so mitteilsam, ihre Blicke so überzeugend sind; sie besitzt außerordentliche Fähigkeiten, in den Seelen der Duldenden zu lesen, denn sie hat selbst alles erduldet. Neben dem ihrigen muß jeder andere Schmerz schweigen.«

»Sie ist das lebende Bild der Barmherzigkeit!« rief Gottfried begeistert aus. »Werde ich zu Ihnen gehören dürfen?«

»Sie müssen sich der Prüfung unterwerfen und vor allem gläubig werden!« sagte der Alte sanft. »So lange Sie den Glauben nicht haben, so lange Sie in Ihr Herz und in Ihren Geist den göttlichen Sinn des Kapitels im heiligen Paulus über die Barmherzigkeit nicht aufgenommen haben, so lange können Sie an unserm Werke nicht mitarbeiten.«

 


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