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Als Lucien die schmutzige, übelriechende Treppe seines Hauses hinaufging, als seine Tür knarrte, als er den unsauberen Fußboden und den armseligen Kamin seines kahlen, ärmlichen Zimmers wiedersah, flößte ihm der Gegensatz zu der Umgebung, aus der er kam, Gefühle ein, die ihm jeder nachempfinden kann, der nicht Diogenes ist. Auf dem Tisch fand er das Manuskript seines Romans und folgende Zeilen von Daniel d'Arthez:
»Unsere Freunde sind mit Ihrem Werk fast völlig zufrieden, lieber Dichter. Sie können es, sagen sie, mit viel Vertrauen Ihren Freunden und Ihren Feinden vorlegen. Wir haben Ihren reizenden Artikel über das Panorama dramatique gelesen, und Sie müssen bei den Literaten ebensoviel Neid erregen wie Bedauern bei uns.
Daniel.«
»Bedauern! Was meint er damit?« rief Lucien, der von dem höflichen Ton des Briefchens überrascht war.
War er denn für den Freundeskreis ein Fremder geworden? Nachdem er von den wunderbaren Früchten gekostet hatte, die ihm die Eva der Kulissenwelt gereicht hatte, lag ihm nur um so mehr an der Achtung und Zuneigung seiner Freunde aus der Rue des Quatre-Vents. Er blieb ein paar Augenblicke in Nachdenken versunken, dachte über sein gegenwärtiges Leben in diesem Zimmer und seine Zukunft in dem Coralies nach. Während seine Gedanken zwischen Ehre und Schande hin und her schwankten, ließ er sich nieder, um zu prüfen, in welchem Zustande ihm seine Freunde sein Werk zurückgaben. Wie groß war sein Staunen! Von Kapitel zu Kapitel hatte die geschickte Feder dieser noch unbekannten großen Männer mit Hingabe seine Kümmerlichkeiten in Schätze verwandelt. Ein reicher, gedrängter, kraftvoller Dialog war an die Stelle seiner Gespräche getreten, die, wie er jetzt einsah, im Vergleich mit diesen Reden, in denen der Geist der Zeit atmete, nur Geschwätz gewesen waren. Seine recht schwächlich hingestellten Porträts kamen jetzt kräftig und farbig heraus; alle schlossen sich durch physiologische Bemerkungen, die ohne Frage Bianchon zu verdanken waren, an absonderliche Phänomene des Menschenlebens an und waren voller Leben. Seine wortreichen Schilderungen waren gehaltvoll und lebendig geworden. Er hatte den Freunden ein armselig gekleidetes Kind gegeben und empfing von ihnen ein entzückendes erwachsenes Mädchen in weißem Gewande und mit rosafarbenem Gürtel, ein köstliches Geschöpf, zurück. Diese Seelengröße seiner Freunde überwältigte ihn, er empfand die Bedeutung der Lektion, die er empfing, er bewunderte die Korrekturen, die ihn mehr über die Literatur und die Kunst lehrten als die vier Jahre, in denen er gelesen, verglichen und studiert hatte, und er saß, als es schon ganz dunkel geworden war, noch immer mit Tränen in den Augen über seinem Manuskript. Die Verbesserung einer verunglückten Zeichnung, ein meisterhafter Zug im lebendigen Stoff sagen immer mehr als alle Theorien und Betrachtungen.
»Was für Freunde! Was für Herzen! Wie glücklich bin ich!« rief er aus, als er das Manuskript wieder zusammenschnürte.
Hingerissen von der Begeisterung, die den poetischen und beweglichen Menschen eigen ist, eilte er zu Daniel. Als er die Treppe hinaufging, hatte er aber doch das Gefühl, daß er dieser Herzen, die nichts vom Pfade der Ehre abwendig machen konnte, nicht mehr so würdig sei. Eine Stimme sagte ihm, daß Daniel, wenn er Coralie geliebt hätte, Camusot nicht mit in Kauf genommen hätte. Er kannte auch die tiefe Verachtung, die der Freundeskreis gegen die Journalisten hegte, und er fühlte sich schon ein wenig als Journalist. Er fand seine Freunde, außer Meyraux, der eben weggegangen war, in einer Verzweiflung, die auf allen Gesichtern zu lesen war.
»Was habt ihr, meine Freunde?« fragte Lucien.
»Wir erfahren eben von einem furchtbaren Unglück: der größte Geist unserer Zeit, unser geliebtester Freund, der zwei Jahre lang unsere Leuchte gewesen ist ...«
»Louis Lambert!« rief Lucien.
» ...befindet sich in einem Zustand der Starrsucht, der keine Hoffnung mehr läßt«, sagte Bianchon.
»Er stirbt, sein Leib wird nichts davon spüren, und sein Kopf wird im Himmel sein«, fügte Michel Chrestien feierlich hinzu.
»Er stirbt, wie er gelebt hat«, sagte d'Arthez.
»Die Liebe kam wie ein Feuer über das unermeßliche Reich seines Gehirns und hat es entzündet«, sagte Léon Giraud.
»Ja,« sagte Joseph Bridau, »sie hat ihn so sehr entrückt, daß wir ihn aus dem Auge verlieren.«
»Nur wir sind zu beklagen«, sagte Fulgence Ridal.
»Vielleicht wird er sich erholen«, rief Lucien.
»Nach dem, was uns Meyraux gesagt hat, ist keine Heilung möglich«, erwiderte Bianchon. »Sein Kopf ist der Schauplatz von Vorgängen, auf die die Medizin keinen Einfluß hat.«
»Es gibt jedoch wirksame Kräfte«, sagte d'Arthez.
»Ja,« antwortete Bianchon, »er ist nur kataleptisch, wir können ihn blödsinnig machen.«
»Warum kann man dem Geist des Bösen nicht einen andern Kopf statt des seinen anbieten! Ich gäbe den meinen her«, rief Michel Chrestien.
»Und was würde aus der europäischen Föderation?« fragte d'Arthez.
»Oh, das ist wahr,« erwiderte Michel Chrestien, »man gehört der Menschheit mehr als einem einzelnen Menschen.«
»Ich kam mit vollem Herzen hierher, um euch allen zu danken«, begann Lucien. »Ihr habt meine schlechte Legierung in Dukatengold verwandelt.«
»Dank! Wofür hältst du uns?« erwiderte Bianchon.
»Die Sache hat uns Vergnügen gemacht«, fügte Fulgence hinzu.
»Und nun sind Sie also Journalist geworden?« sagte Léon Giraud zu ihm. »Die Kunde von Ihrem Debüt ist schon bis ins Quartier Latin gedrungen.«
»Ich bin es noch nicht«, antwortete Lucien.
»Ich habe es euch ja gesagt,« rief d'Arthez, »Lucien gehört zu den Herzen, die den Preis eines reinen Gewissens kennen. Ist es nicht eine stärkende Wegzehrung, wenn man abends seinen Kopf aufs Kissen legen und sich sagen kann: Ich habe nicht über die Taten anderer gerichtet, ich habe niemandem Leid zugefügt; mein Witz hat nicht wie ein Dolch die Seele eines Unschuldigen zerstochen; meine Späße haben kein Glück zerstört, haben nicht einmal das Philisterbehagen aufgeschreckt, haben den Genius nicht ungerecht verfolgt; ich habe die billigen Triumphe des Spottes verschmäht; kurz, ich habe nie meine Überzeugungen verleugnet?«
»Aber«, sagte Lucien, »ich glaube, man kann so sein und trotzdem für eine Zeitung arbeiten. Wenn ich schließlich kein weiteres Mittel hätte, meine Existenz zu finden, müßte ich schon Journalist werden.«
»Oh! oh! oh!« rief Fulgence und stieg bei jedem dieser Ausrufe einen Ton höher, »wir ergeben uns!«
»Er wird Journalist werden«, sagte Léon Giraud bekümmert. – »Ach, Lucien! wenn du es mit uns zusammen sein wolltest; wir werden ein Blatt herausgeben, in dem die Wahrheit und die Gerechtigkeit nie verletzt wird, in dem wir die Lehren verbreiten, die der Menschheit nützlich sind, vielleicht ...«
Lucien unterbrach Léon und sagte mit ironischem Lächeln: »Ihr werdet keinen einzigen Abonnenten haben.«
»Wir werden fünfhundert haben, die fünfmalhunderttausend wert sind«, versetzte Michel Chrestien.
»Ihr werdet ein großes Kapital brauchen«, fuhr Lucien fort.
»Nein,« sagte d'Arthez, »aber Hingebung.«
»Man sollte meinen, wir wären hier in einem Friseurladen«, rief Michel Chrestien und näherte seine Nase mit einer komischen Bewegung Luciens Kopf. »Man hat dich in einem prächtigen Wagen gesehen, der von einem köstlichen Paar Pferde gezogen wurde, und neben dir saß Coralie, die aussieht wie die Geliebte eines Fürsten.«
»Und«, sagte Lucien, »was ist Schlimmes daran?«
»Du sagst das, als ob Schlimmes daran wäre«, rief Bianchon entgegen.
»Ich hätte für Lucien eine Beatrice gewünscht,« sagte d'Arthez, »eine edle Frau, die ihn im Leben gestützt hätte ...«
»Aber, Daniel, gleicht die Liebe nicht überall sich selbst?« fragte der Dichter.
»Oh!« rief der Republikaner, »darin bin ich Aristokrat. Ich könnte keine Frau lieben, die ein Schauspieler vor dem Publikum auf die Wange küßt, die in den Kulissen geduzt wird, die sich vor einem Parterre erniedrigt und ihm zulächelt, vor ihm tanzt, die Röcke hochhebt und sich als Mann kleidet, um zu zeigen, was ich allein sehen will. Oder wenigstens, wenn ich eine solche Frau liebte, müßte sie das Theater verlassen, ich würde sie mit meiner Liebe reinigen.«
»Und wenn sie das Theater nicht verlassen könnte?«
»Dann käme ich vor Kummer, vor Eifersucht, vor tausend Leiden fast um. Man kann die Liebe nicht, wie man einen Zahn zieht, aus dem Herzen reißen.«
Lucien wurde ernst und nachdenklich. ›Wenn sie hören, daß ich mir Camusot gefallen lasse, werden sie mich verachten‹, sagte er sich.
»Weißt du,« sagte der Republikaner in schrecklich gutmütigem Tone zu ihm, »vielleicht wirst du ein großer Schriftsteller, aber du wirst nie etwas anderes sein als ein kleiner Possenreißer.«
Er nahm seinen Hut und ging.
»Recht hart ist Michel Chrestien«, sagte der Dichter.
»Hart und heilsam wie die Zange des Zahnarztes«, erwiderte Bianchon. »Michel sieht deine Zukunft voraus, und vielleicht weint er in diesem Augenblick auf der Straße um dich.«
D'Arthez war milde und trostreich, er versuchte, Lucien wieder aufzurichten. Als der Dichter nach einer Stunde den Freundeskreis verließ, peinigte ihn sein Gewissen, das ihm zurief: ›Du wirst Journalist!‹ wie die Hexe Macbeth zurief: ›Du wirst König!‹ Auf der Straße blickte er noch einmal nach den Fenstern des geduldigen d'Arthez, die von einem schwachen Licht erleuchtet waren, und begab sich traurigen Herzens und gequälter Seele nach Hause. Eine Art Vorahnung sagte ihm, daß seine wahren Freunde ihn zum letztenmal ans Herz gedrückt hatten. Als er über die Place de la Sorbonne in die Rue de Cluny ging, sah er die Equipage Coralies. Die Schauspielerin war vom Boulevard du Temple bis zur Sorbonne gefahren, um ihren Dichter einen Augenblick zu besuchen und ihm rasch Guten Abend zu sagen. Lucien fand seine Geliebte ganz in Tränen über den Anblick seiner Dachkammer; sie wollte arm sein wie ihr Geliebter, sie weinte, während sie die Hemden, Handschuhe, Halsbinden und Taschentücher in seiner elenden Kommode ordnete. Diese Verzweiflung war so aufrichtig und so groß, sie sprach von so viel Liebe, daß Lucien, dem man vorgeworfen hatte, eine Schauspielerin zu lieben, in Coralie eine Heilige sah, die bereit war, das härene Hemd der Armut zu tragen. Um kommen zu können, hatte das entzückende Geschöpf den Vorwand genommen, ihrem Freund die Mitteilung zu machen, daß die Gesellschaft Camusot, Coralie und Lucien sich bei der Gesellschaft Matifat, Florine und Lousteau für ihr Souper revanchiere, und Lucien zu fragen, ob er eine Einladung vorschlagen wollte, die ihm nützlich wäre; Lucien antwortete ihr, er würde darüber mit Lousteau sprechen. Die Schauspielerin ging nach einigen Augenblicken wieder, ohne Lucien mitzuteilen, daß Camusot sie unten erwartete. Am nächsten Morgen begab sich Lucien schon um acht Uhr zu Etienne, fand ihn nicht und eilte zu Florine. Der Journalist und die Schauspielerin empfingen ihren Freund in dem hübschen Schlafzimmer, in dem sie sich wie ein Ehepaar häuslich niedergelassen hatten, und sie setzten sich zu dritt an ein üppiges Frühstück.
»Lieber Freund,« sagte Lousteau zu ihm, als sie so am Tische saßen, nachdem Lucien ihm die Mitteilung von dem Souper gemacht hatte, das Coralie geben wollte, »ich rate dir, mit mir Félicien Vernou zu besuchen, ihn einzuladen und dich ihm so weit anzuschließen, wie es bei einem so absonderlichen Menschen nur möglich ist. Félicien wird dir vielleicht den Zugang zu der politischen Zeitung verschaffen, für die er das Feuilleton zu machen hat, und vielleicht bringst du es dahin, daß du über dem Strich in diesem Blatt so viel große Artikel, wie du willst, bringen kannst. Dieses Blatt gehört wie unseres der liberalen Partei; du wirst Liberaler sein, das ist die Partei, die jetzt volkstümlich ist; und überdies, wenn du dich auf die Seite des Ministeriums schlagen wolltest, hättest du mehr Vorteile, wenn sie dich erst fürchten gelernt haben. Haben dich Hector Merlin und seine Madame du Val-Noble nicht mit Coralie zum Diner geladen? Dort verkehren etliche große Tiere, die jungen Stutzer und die Millionäre«
»O ja,« erwiderte Lucien, »und du wirst mit Florine auch dort sein.«
Lucien und Lousteau hatten am Freitag in ihrer Bezechtheit und während ihres Diners am Montag angefangen, sich zu duzen.
»Nun also, wir werden Merlin auch beim Blatte haben, er wird sich Finot eng anschließen; du wirst guttun, ihn gut zu behandeln. Lade ihn mit seiner Geliebten zu deinem Souper ein; er wird dir vielleicht binnen kurzem nützlich sein, denn gehässige Menschen brauchen alle Welt, und er wird dir zu Diensten sein, um im Notfall deine Feder zu haben.«
»Ihr Debüt hat so viel Aufsehen gemacht, daß Sie kein Hindernis finden werden,« sagte Florine zu Lucien; »eilen Sie sich und machen Sie es sich zunutze, sonst werden Sie schnell vergessen.«
»Das Geschäft,« fing Lousteau wieder an, »das große Geschäft ist fix und fertig! Dieser Finot, dieser talentlose Bursche ist Herausgeber und Chefredakteur von Dauriats Wochenblatt, ist Besitzer eines Sechstels, das ihm nichts kostet, und bezieht sechshundert Franken im Monat. Ich, mein Lieber, bin seit diesem Morgen Chefredakteur unseres Blättchens. Alles ging, wie ich es jüngst voraussagte: Florine war großartig, sie sticht Talleyrand aus.«
»Wir packen die Männer bei ihrer Lust,« sagte Florine, »die Diplomaten packen sie nur bei der Selbstsucht; die Diplomaten sehen nur, wie sie sich zieren, und wir sehen, wie sie Dummheiten machen; wir sind also die Stärkeren.«
»Als er abschloß,« sagte Lousteau, »hat Matifat den einzigen Witz gemacht, den er je in seinem Drogistendasein aussprechen wird: ›Das Geschäft‹, sagte er, ›fällt nicht aus dem Rahmen meiner kaufmännischen Tätigkeit!‹«
»Ich habe Florine im Verdacht, daß sie ihm das souffliert hat«, rief Lucien.
»Also, mein Lieber,« fuhr Lousteau fort, »du hast den Fuß im Steigbügel.«
»Sie sind ein Glückskind«, meinte Florine. »Wie viele junge Leute sehen wir, die in Paris jahrelang warten müssen, ohne einen einzigen Artikel in einer Zeitung unterzubringen! Sie werden Erfolg haben wie Emile Blondet. Binnen einem halben Jahr sehe ich Sie als gemachten Mann!« Dabei lächelte sie ihn mit leichtem Spotte an.
»Bin ich nicht seit drei Jahren in Paris,« sagte Lousteau, »und erst seit gestern gibt mir Finot für die Chefredaktion dreihundert Franken festes Gehalt monatlich, zahlt mir für die Spalte hundert Sous und in seinem Wochenblatt hundert Franken für den Bogen.«
»Nun, Sie sagen gar nichts?« rief Florine und sah Lucien an.
»Wir wollen sehen«, antwortete Lucien.
»Mein Lieber,« versetzte Lousteau mit gekränkter Miene, »ich habe alles für dich arrangiert, wie wenn du mein Bruder wärst; aber ich bürge nicht für Finot. In den nächsten zwei Tagen wird Finot von sechzig Burschen bestürmt werden, die ihm Vorschläge machen und sich gegenseitig unterbieten. Ich habe für dich zugesagt, wenn du willst, kannst du ihm absagen. – Du hast keine Ahnung von deinem Glück«, fing der Journalist nach einer Pause wieder an. »Du wirst zu einer Clique gehören, deren Verbündete ihre Feinde in mehreren Blättern angreifen und sich wechselseitig unterstützen.«
»Suchen wir vor allem Félicien Vernou auf«, erwiderte Lucien, der es eilig hatte, sich mit diesen gefürchteten Raubvögeln zu verbinden.
Lousteau ließ ein Kabriolett holen, und die beiden Freunde fuhren nach der Rue Mandar, in der Vernou wohnte. Lucien war sehr erstaunt, diesen schroffen, hochmütigen und stolzen Kritiker in einem überaus gewöhnlichen Speisezimmer zu finden, das eine höchst geschmacklose Tapete hatte. An den Wänden hingen Bilder in Aquatinta in vergoldeten Rahmen. Er saß mit einer Frau am Tisch, die zu häßlich war, um nicht legitim zu sein, und zwei kleine Kinder saßen auf sehr hohen Stühlen mit einer Vorrichtung, die das Herausfallen verhinderte. Man sah Félicien an, daß es ihm nicht recht war, in einem Schlafrock überrascht zu werden, der aus den Resten eines Morgenkleides seiner Frau zurechtgemacht war.
»Hast du gefrühstückt, Lousteau?« fragte er, während er Lucien einen Stuhl anbot.
»Wir kommen von Florine«, erwiderte Etienne, »und haben dort gefrühstückt.«
Lucien mußte nur immer Frau Vernou ansehen, die wie eine biedere, plumpe Köchin aussah, ziemlich sauber, aber unbeschreiblich gewöhnlich. Frau Vernou trug ein Tuch über einer Haube, deren Bänder so fest gebunden waren, daß die Backen wie ein Wulst hervorquollen. Ihr Morgenrock hatte keinen Gürtel, war am Hals mit einem Knopf geschlossen, fiel in großen Falten herunter und saß ihr so schlecht, daß man bei ihrem Anblick an einen Grenzpfahl denken mußte. Sie war sehr kränklich, ihre Backen hatten einen fast violetten Ton, und die Finger saßen ihr an den Händen wie Würste. Diese Frau erklärte Lucien mit einemmal, warum Vernou in seinem Verkehr mit der Welt so niedergedrückten Wesens sei. Er litt unter seiner Ehe, hatte nicht die Kraft, Frau und Kinder zu verlassen, war aber Dichter genug, um immer davon gequält zu werden, und ärgerte sich in dieser Stimmung über jeden Erfolg, den ein anderer hatte; er mußte mit allem unzufrieden werden, weil er unzufrieden mit sich war. Lucien verstand nun den scharfen Ausdruck, der die neidischen Mienen dieses Mannes fast zu Eis erstarrte, die Bitterkeit seiner Repliken, all die Herbheit seiner Sprache, die immer spitzig war und wie ein Dolch zustieß.
»Gehen wir in mein Arbeitszimmer,« sagte Félicien und stand auf, »es handelt sich jedenfalls um literarische Angelegenheiten.«
»Ja und nein«, versetzte Lousteau. »Alter Freund, es handelt sich um ein Souper.«
»Ich wollte Sie«, sagte Lucien, »im Namen Coralies bitten ...«
Hier hob Frau Vernou den Kopf in die Höhe.
» ... heute über acht Tage mit uns zu soupieren«, fuhr Lucien fort. »Sie finden die Gesellschaft bei ihr, die Sie bei Florine getroffen haben, und dazu noch Frau du Val-Noble, Merlin und etliche andere. Wir werden spielen.«
»Aber, mein Lieber, an dem Tag müssen wir zu Frau Mahoudau gehen«, sagte die Frau.
»Ja, und was macht das?« sagte Vernou. »Wenn wir nicht hingingen, wäre sie ärgerlich, und du kannst sie gut brauchen, da sie dir deine Buchhändlerwechsel diskontiert.«
»Mein Lieber, diese Frau begreift nicht, daß ein Souper, das um zwölf Uhr nachts beginnt, einen nicht hindert, in eine Gesellschaft zu gehen, die um elf Uhr aufhört. Und ich arbeite neben ihr!« fügte er hinzu.
»Sie haben so viel Phantasie«, antwortete Lucien und machte sich mit diesem einen Wort Vernou zum Todfeind.
»Nun,« fing Lousteau wieder an, »du kommst also; aber damit noch nicht genug. Herr von Rubempré wird einer der Unseren; tritt also bei deiner Zeitung kräftig für ihn ein; sage, daß er ein Bursche ist, der in der hohen Literatur tüchtig ist, damit er mindestens zwei Artikel im Monat bringen kann.«
»Ja, wenn er einer der Unseren sein will und unsere Feinde angreift, wie wir die seinen, und für unsere Freunde eintritt, will ich heute abend in der Oper von ihm sprechen«, erwiderte Vernou.
»Schön also, auf morgen, mein Lieber«, sagte Lousteau und drückte Vernous Hand mit allen Zeichen der lebhaftesten Freundschaft. »Wann erscheint dein Buch?«
»Ja,« sagte der Familienvater, »das hängt von Dauriat ab; ich bin fertig.«
»Bist du zufrieden?«
»Ja und nein ...«
»Wir werden tüchtig einheizen, es muß Erfolg haben«, sagte Lousteau, stand auf und grüßte die Frau seines Kollegen.
Dieser plötzliche Aufbruch war wegen des Geschreis der beiden Kinder notwendig geworden, die sich zankten und sich mit den Löffeln ins Gesicht schlugen, wobei sie sich gegenseitig mit Suppe beschmierten.
»Liebes Kind, du hast hier eine Frau gesehen,« sagte Etienne zu Lucien, »die, ohne es zu wissen, in der Literatur wahre Verheerungen anrichtet. Dieser arme Vernou verzeiht uns seine Frau nicht. Man müßte ihn im wohlverstandenen öffentlichen Interesse von ihr befreien. Wir würden uns dann eine Flut wilder Artikel und verhöhnender Notizen gegen alles, was Erfolg und Glück hat, ersparen. Was soll aus einem werden, wenn man eine solche Frau hat und diese zwei gräßlichen Gören dazu? Du hast Rigaudin in dem Stück von Picard gesehen ... genau wie Rigaudin wird Vernou sich nicht schlagen, sondern die andern dazu bringen; er ist imstande sich ein Auge auszustechen, wenn dadurch sein bester Freund seine beiden Augen verliert; er wird über Leichen schreiten, zu jedem Unglück lächeln, die Fürsten, die Herzöge, die Marquis, die Adligen angreifen, weil er ein kleiner Bürger ist; er wird berühmte Männer, die Junggesellen sind, angreifen, weil er seine Frau hat, und wird immer Moral predigen und für die häuslichen Freuden und für die Bürgerpflichten sich ins Zeug legen. Kurz, dieser moralische Kritiker wird gegen niemanden sanft sein, nicht einmal gegen die Kinder. Er lebt in der Rue Mandar, zwischen einer Frau, die den Mamamouschi des ›Bourgeois gentilhomme‹ abgeben könnte, und zwei kleinen Vernous, die zwei häßliche Äffchen sind; er rächt sich am Faubourg Saint-Germain, wo er niemals Zutritt erlangt, und läßt die Herzoginnen reden, wie seine Frau spricht. Das ist so einer, der gegen die Jesuiten loszieht, den Hof beschimpft, ihm nachsagt, er wolle die Feudalrechte und das Erstgeburtsrecht wiederherstellen, und der einen Kreuzzug für die Gleichheit predigt, nur darum, weil er fühlt, daß er mit keinem Menschen auf gleichem Fuß steht. Wäre er unverheiratet, besuchte die gute Gesellschaft, hätte die Allüren der royalistischen Dichter, die eine Pension aus der Schatulle beziehen, und trüge das Kreuz der Ehrenlegion, so wäre er ein Optimist. Der Journalismus hat viele Existenzen der Art, er ist eine große Wurfmaschine, die von einer Summe kleinen Hasses in Bewegung gesetzt wird. Hast du jetzt Lust, dich zu verheiraten? Vernou hat kein Herz mehr, die Galle hat alles aufgefressen. Daher ist er das Urbild des Journalisten, ein zweihändiger Tiger, der alles zerreißt, wie wenn seine Federn tollwütig wären.«
»Er ist ein Weiberfeind«, sagte Lucien. »Hat er Talent?«
»Er hat Witz, ein rechter Artikelschreiber. Vernou macht Artikel und wird immer Artikel schreiben, nichts als Artikel. Und wenn er noch so fleißig arbeitet, wird er auf seine Prosa nie ein Buch pfropfen können. Félicien ist unfähig, ein Werk zu konzipieren, seine Massen richtig zu ordnen, die Personen harmonisch in einen Plan einzugliedern, der einen Anfang, einen Knoten und einen Höhepunkt hat, er hat Ideen, aber keine Ahnung von den Tatsachen, seine Helden sind philosophische oder liberale Utopien, sein Stil schließlich ist von gesuchter Originalität, seine geschwollene Sprache müßte zu Boden fallen, wenn die Kritik nur mit der Nadel hineinstäche. Daher fürchtet er die Zeitungen ungemein, wie alle, welche die Hilfssegel des Lobes brauchen, um sich über Wasser zu halten.«
»Was das für ein famoser Artikel ist, den du da verfaßt!« rief Lucien.
»Artikel von der Art, mein Junge, darf man sich nur sagen, muß sie aber beileibe nicht schreiben.«
»Du wirst Chefredakteur«, erwiderte Lucien.
»Wo soll ich dich absetzen?« fragte ihn Lousteau.
»Bei Coralie.«
»Ah! wir sind verliebt«, sagte Lousteau. »Sehr verkehrt! Mach aus Coralie, was ich aus Florine mache, eine Wirtschafterin, aber die Freiheit über alles!«
»Du könntest Heilige der Verdammnis übergeben«, rief Lucien und lachte.
»Man verdammt Dämonen nicht«, erwiderte Lousteau.
Der leichte, glänzende Ton seines neuen Freundes, die Art, wie er das Leben behandelte, seine Paradoxa, denen die wahren Maximen des Pariser Machiavellismus beigemischt waren, übten, ohne daß er es merkte, ihre Wirkung auf Lucien. In der Theorie erkannte unser Dichter die Gefahr dieser Gedanken, aber in der Praxis fand er sie nützlich. Als die beiden Freunde beim Boulevard du Temple angelangt waren, verabredeten sie, sich zwischen vier und fünf Uhr auf der Redaktion zu treffen, wo sie Hector Merlin sicherlich vorfinden würden. Lucien war in der Tat eine Beute der aufrichtigen Liebe der Kurtisanen geworden, die ihre Enterhaken an den zartesten Plätzen der Seele einschlagen, sich mit einer unglaublichen Schmiegsamkeit allen Wünschen anpassen und die erschlaffenden Gewohnheiten begünstigen, in denen ihre Stärke wurzelt. Er dürstete schon nach den Pariser Genüssen, er liebte das leichte, üppige und prächtige Leben, das ihm die Schauspielerin bei sich zu Hause bereitete. Er fand Coralie und Camusot außer sich vor Freude. Das Gymnase hatte für nächste Ostern einen Engagementsantrag gemacht, dessen im einzelnen formulierte Bedingungen Coralies kühnste Hoffnungen übertrafen.
»Wir verdanken Ihnen diesen Triumph«, sagte Camusot.
»O gewiß! Ohne ihn wäre der Alkalde durchgefallen«, rief Coralie. »Es wäre kein Artikel geschrieben worden, und ich wäre noch sechs Jahre an diesem Boulevardtheater.«
Sie fiel ihm, ohne auf Camusot zu achten, um den Hals. Die Hingebung dieser Schauspielerin hatte in ihrer Plötzlichkeit etwas Weiches, in all ihrer Leidenschaftlichkeit etwas Sanftes: sie liebte! Wie es alle Menschen tun, wenn sie großen Schmerz empfinden, senkte Camusot seine Augen zu Boden und sah am Rande von Luciens Stiefeln die farbige Naht, wie sie von den berühmten Schuhmachern angebracht wird, die sich in dunklem Gelb von dem leuchtenden Schwarz des Schaftes abhob. Die originelle Farbe dieses Fadens hatte ihn während seines Monologs über die rätselhafte Anwesenheit eines Paars Herrenstiefel vor Coralies Kamin beschäftigt. Er hatte auf dem weißen, zarten Leder des Futters in schwarzen Lettern die Adresse eines damals berühmten Schuhmachers gelesen: »Gay, Rue de la Michodière«.
»Sie haben sehr schöne Stiefel«, sagte er zu Lucien.
»Es ist alles schön an ihm«, erwiderte Coralie.
»Ich möchte mir gern bei Ihrem Schuhmacher meine Stiefel machen lassen.«
»Oh!« rief Coralie, »das ist echte Rue des Bourdonnais, jemanden nach der Adresse eines Handwerkers zu fragen! Wollen Sie Schuhwerk wie ein junger Mann tragen? Sie, würden sich hübsch ausnehmen! Behalten Sie doch Ihre Stulpenstiefel, wie sie sich für einen gesetzten Mann gehören, der Frau, Kinder und Geliebte hat.«
»Trotzdem würde mir der junge Herr einen großen Dienst erweisen, wenn er einen seiner Stiefel ausziehen wollte«, sagte Camusot hartnäckig.
»Ich könnte sie ohne einen Stiefelanzieher nicht wieder anbekommen«, sagte Lucien und wurde rot.
»Berenice kann einen holen. Es kann nichts schaden, wenn einer da ist«, antwortete Camusot mit einer ingrimmig spöttischen Miene.
»Papa Camusot,« sagte Coralie und warf ihm einen Blick der stärksten Verachtung zu, »haben Sie doch den Mut Ihrer Feigheit! Sagen Sie doch alles, was Sie denken. Sie finden, die Stiefel des Herrn sehen gerade so aus wie meine? – Ich verbiete Ihnen, Ihre Stiefel auszuziehen«, sagte sie zu Lucien. »Ja, Herr Camusot, jawohl, die Stiefel sind genau die nämlichen wie die, die jüngst vor meinem Kamin standen, und sie gehörten dem Herrn, der hier im Nebenzimmer versteckt war und hier die Nacht zugebracht hat. Nicht wahr, das denken Sie? Denken Sie es, ich will es! Es ist die reine Wahrheit. Ich betrüge Sie. Und was weiter? Es beliebt mir so!«
Sie setzte sich, ohne Zorn und mit der ruhigsten Miene von der Welt, und betrachtete Camusot und Lucien, die es nicht wagten, einander anzusehen.
»Ich glaube nicht, was Sie wollen, daß ich glaube«, sagte Camusot; »scherzen Sie nicht, ich habe unrecht.«
»Entweder bin ich eine elende Dirne, die in einem Augenblick Lust nach dem jungen Herrn bekommen hat, oder ich bin ein armes, unglückliches Geschöpf, das zum erstenmal die wahre Liebe verspürt hat, nach der alle Frauen lechzen. In beiden Fällen muß man mich verlassen, oder mich nehmen, wie ich bin«, sagte sie und machte dabei eine königliche Gebärde, mit der sie den Kaufmann vernichtete.
»Sollte es wahr sein?« sagte Camusot, der an Luciens Haltung, die den Glauben an eine Täuschung nicht aufkommen ließ, merkte, daß Coralie nicht scherzte.
»Ich liebe das Fräulein«, sagte Lucien.
Als Coralie dieses Wort hörte, das mit bewegter Stimme gesprochen war, warf sie sich ihrem Dichter um den Hals, preßte ihn in ihre Arme und wandte dem Seidenfabrikanten den Kopf zu, wie um ihm die wundervolle Liebesgruppe zu zeigen, die sie mit Lucien bildete.
»Armer Musot, nimm alles zurück, was du mir geschenkt hast, ich will nichts von dir, ich liebe den Knaben da wahnsinnig, nicht wegen seines Geistes, sondern wegen seiner Schönheit. Ich will lieber mit ihm elend sein, als daß mir deine Millionen zur Verfügung stehen.«
Camusot sank in einen Sessel, nahm den Kopf zwischen die Hände und blieb schweigend sitzen.
»Wollen Sie, daß wir fortgehen?« fragte sie ihn mit unglaublicher Grausamkeit.
Lucien lief es kalt über den Rücken, als er sich so mit einer Frau, und dazu einer Schauspielerin, und einem Haushalt bedroht sah.
»Bleibe hier, behalte alles, Coralie,« sagte der Kaufmann mit einer schwachen und schmerzlichen Stimme, die aus der Seele kam, »ich will nichts zurücknehmen. Es stecken hier in den Möbeln allerdings sechzigtausend Franken, aber ich kann den Gedanken nicht fassen, daß meine Coralie ins Elend gehen soll. Und doch wirst du bald genug darin stecken. So viel Talent der Herr auch haben mag, er kann dir keine Existenz bieten. Das ist das Los, das uns alte Männer alle erwartet! Coralie, laß mir das Recht, dich manchmal zu besuchen! Ich kann dir nützlich sein. Außerdem, muß ich gestehen, wäre es mir unmöglich, ohne dich zu leben.«
Die Sanftmut dieses armen Mannes, der in dem Augenblick, wo er der Glücklichste zu sein glaubte, um sein ganzes Glück gebracht war, rührte Lucien herzlich, aber nicht Coralie.
»Komm, armer Musot, komm, sooft du willst,« sagte sie, »ich werde dich lieber haben, wenn ich dich nicht betrüge.«
Camusot schien zufrieden, daß er nicht aus seinem irdischen Paradies verjagt wurde, wo ihm freilich Leiden bevorstanden, wo er aber hoffte, später wieder in alle Rechte eingesetzt zu werden, da er auf die Zufälle des Pariser Lebens und auf die Verführungen baute, denen Lucien ausgesetzt sein würde. Der alte, geriebene Kaufmann dachte, früher oder später würde sich so ein schöner junger Mann Treulosigkeiten erlauben; und um ihm aufzulauern und ihn vor Coralie zu verderben, wollte er beider Freund bleiben. Diese Feigheit der echten Leidenschaft erschreckte Lucien. Camusot lud sie zu Véry im Palais Royal zum Diner ein, und man nahm es an.
»Was für ein Glück!« rief Coralie, als Camusot weg war, »nichts mehr von der Dachkammer im Quartier latin, du bleibst hier, wir verlassen uns nicht; du nimmst, um den Schein zu wahren, eine kleine Wohnung in der Rue Charlot, und dann sei's gewagt!«
Sie fing an, ihren spanischen Tanz wild zu tanzen, eine zügellose Leidenschaft lag darin.
»Ich kann, wenn ich tüchtig arbeite, fünfhundert Franken monatlich verdienen«, sagte Lucien.
»Genau ebensoviel habe ich am Theater, ohne die Spielgelder zu rechnen. Camusot wird mir immer noch die Kleider liefern, er liebt mich! Mit fünfzehnhundert Franken im Monat leben wir wie Krösusse.«
»Und die Pferde, der Kutscher und der Bediente?« fragte Berenice.
»Dann mache ich Schulden«, rief Coralie.
Sie fing wieder an, mit Lucien herumzuwirbeln.
»Jetzt gilt es also Finots Vorschläge anzunehmen«, rief Lucien.
»Also vorwärts,« sagte Coralie, »ich ziehe mich an und fahre dich auf deine Redaktion, ich werde dann mit dem Wagen auf dem Boulevard auf dich warten.«
Lucien setzte sich auf ein Sofa, sah der Schauspielerin zu, während sie sich umkleidete, und überließ sich sehr ernsten Gedanken. Es wäre ihm lieber gewesen, von Coralie zu lassen, als in die Verpflichtungen einer solchen Ehe geworfen zu werden, aber er sah sie so schön, so wohlgestalt und anmutig, daß er von den malerischen Bildern eines solchen Zigeunerlebens angezogen wurde und dem Schicksal den Handschuh zuschleuderte. Berenice erhielt den Auftrag, den Umzug und die neue Einrichtung Luciens zu bewerkstelligen. Dann zog die schöne, triumphierende, glückliche Coralie ihren geliebten Dichter mit fort und fuhr mit ihm durch ganz Paris nach der Rue Saint-Fiacre. Lucien stieg schnell die Treppe hinauf und benahm sich in dem Bureau der Zeitung wie einer, der Bescheid weiß und dazu gehört. Koloquint mit seiner Papiermütze auf dem Kopf und der alte Giroudeau sagten ihm mit der alten gewohnten Heuchelei, es wäre niemand da.
»Aber die Redakteure müssen sich doch irgendwo treffen, um die Zeitung zu machen«, entgegnete er.
»Wahrscheinlich; aber die Redaktion geht mich nichts an«, sagte der Kapitän der Kaiserlichen Garde und sortierte wieder seine Streifbänder, wobei er sein ewiges Gebrumm ertönen ließ.
In diesem Augenblick trat durch einen – soll man sagen glücklichen oder unglücklichen? – Zufall Finot herein, um Giroudeau seinen vorgeblichen Rücktritt mitzuteilen und ihm ans Herz zu legen, auf seine Interessen zu achten.
»Der Herr wird nicht diplomatisch behandelt, er gehört zum Blatt«, sagte Finot zu seinem Onkel, während er Lucien die Hand drückte.
»Ah! der Herr gehört zum Blatt!« rief Giroudeau, der über die freundliche Begrüßung, die seitens seines Neffen Lucien zuteil wurde, sehr überrascht war. »Wahrhaftig, Sie haben nicht viel Mühe gehabt, anzukommen.«
»Ich will Ihnen hier alles in Ordnung bringen, damit Sie von Etienne nicht begaunert werden«, sagte Finot und blickte Lucien schlau an. »Der Herr bekommt drei Franken die Spalte für alles, was er schreibt, auch für die Theaterberichte.«
»Du hast niemals jemandem diese Bedingungen bewilligt«, sagte Giroudeau und blickte Lucien erstaunt an.
»Er wird die vier Boulevardtheater haben; du wirst aufpassen, daß ihm seine Logen nicht stibitzt werden und daß er ordnungsgemäß seine Billette erhält. Ich rate Ihnen trotzdem, sie sich direkt schicken zu lassen«, wandte er sich an Lucien. »Der Herr verpflichtet sich, außer seiner Kritik zehn Artikel Vermischtes von ungefähr zwei Spalten für fünfzig Franken monatlich ein Jahr lang zu liefern. – Das paßt Ihnen doch?«
»Ja«, sagte Lucien, den die Umstände in der Hand hatten.
»Onkel,« sagte Finot zu dem Kassierer, »setze den Vertrag auf. Wir unterschreiben ihn, wenn wir gehen.«
»Wer ist der Herr?« fragte Giroudeau, der sich erhoben hatte und seine schwarzseidene Mütze zog.
»Herr Lucien von Rubempré, der Verfasser des Artikels über den Alkalden«, erwiderte Finot.
»Junger Mann,« rief der alte Soldat und tippte Lucien auf die Stirn, »Sie haben Goldminen da drin. Ich verstehe mich nicht auf Literatur, aber Ihren Artikel habe ich gelesen, und er hat mir Vergnügen gemacht. Sapristi, es ist so etwas Lustiges drin! Und so habe ich gesagt, das bringt uns Abonnenten! Und es kam auch so. Wir haben fünfzig Nummern verkauft.«
»Ist mein Vertrag mit Etienne Lousteau in zwei Abschriften zum Unterzeichnen fertig?« fragte Finot seinen Onkel.
»Jawohl«, antwortete Giroudeau.
»Setze auf den, den ich mit dem Herrn mache, das Datum von gestern, damit Lousteau sich an die Abmachungen halten muß!«
Finot nahm den Arm seines neuen Mitarbeiters, und diese scheinbare Kollegialität machte dem Dichter Vergnügen, der sich so zur Treppe führen ließ, während Finot ihm sagte: »Sie haben so eine gesicherte Position. Ich werde Sie selbst meinen Redakteuren und Mitarbeitern vorstellen. Dann wird Sie Lousteau heute abend in den Theatern einführen. Sie können hundertfünfzig Franken monatlich an unserm Blättchen verdienen, das Lousteau leiten wird, bemühen Sie sich also, sich gut mit ihm zu stellen. Er wird es mir ja übelnehmen, daß ich ihm in Ihrer Sache die Hände gebunden habe, aber Sie haben Talent, und ich will nicht, daß Sie den Launen eines Chefredakteurs ausgesetzt sind. Unter uns gesagt, Sie können mir bis zu zwei Bogen monatlich für meine Wochenschrift schreiben, ich zahle Ihnen zweihundert Franken dafür. Sprechen Sie mit niemandem über diese Abmachung, alle möglichen Eitelkeiten werden sich über das Glück eines Anfängers ärgern und mir darüber böse sein. Machen Sie aus Ihren zwei Bogen vier Artikel, unterzeichnen Sie zwei davon mit Ihrem Namen und zwei mit einem Pseudonym, damit es nicht aussieht, als ob Sie anderen das Brot wegessen. Sie verdanken Ihre Stellung Blondet und Vignon, die beide finden, daß Sie eine Zukunft haben. Also, werden Sie mir nicht liederlich. Trauen Sie vor allem Ihren Freunden nicht. Wir zwei wollen immer gut miteinander auskommen. Wie Sie mich bedienen, bediene ich Sie. Sie haben für vierzig Franken Logen und Billette zu verkaufen und für sechzig Franken Bücher zu verklopfen. Das und Ihre Mitarbeit bringt Ihnen vierhundertfünfzig Franken monatlich. Wenn Sie nur ein bißchen Witz haben, bekommen Sie überdies noch mindestens zweihundert Franken von den Verlegern, die Ihnen Artikel und Prospekte bezahlen. Aber Sie halten zu mir, nicht wahr? Ich kann auf Sie zählen?«
Lucien drückte Finots Hand mit überschwenglicher Freude.
»Es soll nicht so aussehen, als ob wir uns verständigt hätten«, sagte ihm Finot ins Ohr und öffnete dann die Tür einer Dachkammer im fünften Stock des Hauses, die am Ende eines langen Flurs gelegen war.
Lucien erblickte nunmehr Lousteau, Félicien Vernou, Hector Merlin und zwei andere Redakteure, die er nicht kannte. Sie saßen alle um einen Tisch herum, auf dem eine grüne Decke lag, vor einem guten Feuer, auf Stühlen oder Lehnsesseln und rauchten und lachten. Der Tisch war mit Papieren bedeckt, es stand ein einziges Tintenfaß darauf, in dem richtige Tinte war, und Federn lagen umher, die ziemlich schlecht waren, aber von den Redakteuren wirklich benutzt wurden. Der neugebackene Journalist merkte nun, daß das große Werk hier getan wurde.
»Meine Herren,« sagte Finot, »der Gegenstand unserer Zusammenkunft ist die Einführung unseres lieben Lousteau in die Stelle des Chefredakteurs des Blattes, das ich zu verlassen genötigt bin. Aber obwohl meine Anschauungen notwendigerweise eine Umwandlung erfahren haben, damit ich Chefredakteur der Zeitschrift werden kann, deren Ziele Ihnen bekannt sind, sind meine Überzeugungen die alten, und wir bleiben Freunde. Ich gehöre ganz Ihnen, wie Sie mir gehören sollen. Die Umstände wechseln, die Prinzipien sind fest. Die Prinzipien sind der Angelpunkt, um den sich die Zeiger des politischen Barometers drehen.«
Alle Redakteure brachen in Lachen aus.
»Von wem hast du denn diese Phrasen?« fragte Lousteau.
»Von Blondet«, erwiderte Finot.
»Wind, Regen, Sturm, schönes Wetter, beständig,« sagte Merlin, »wir wollen alles zusammen durchmachen.«
»Na,« erwiderte Finot, »lassen wir jetzt lieber die Bildersprache und reden wir deutlich: wer von euch mir Artikel zu bringen hat, kann sich auf Finot verlassen. Der Herr«, fuhr er fort und stellte Lucien vor, »gehört zu euch. – Ich habe einen Vertrag mit ihm gemacht, Lousteau.«
Alle gratulierten Finot zu seiner Verbesserung und seiner neuen Lage.
»Jetzt sitzest du auf dem Roß, über uns und den andern«, sagte einer der Redakteure, die Lucien nicht kannte. »Dürfen wir bei dir unsere Feinde angreifen?«
»So viel ihr wollt«, erwiderte Finot.
»Ah, was mir einfällt«, sagte Lousteau, »das Blatt darf nicht zurückweichen. Herr Châtelet ist böse geworden, wir dürfen ihn die ganze Woche nicht in Ruhe lassen.«
»Was ist geschehen?« fragte Lucien.
»Er hat Rechenschaft verlangt«, antwortete Vernou. »Der Exgeck des Kaiserreichs hat den alten Giroudeau vorgefunden, der ganz kaltblütig Philipp Bridau als den Verfasser des Artikels genannt hat, und Philipp hat den Baron gefragt, welche Stunde und welche Waffen ihm passen. So steht die Sache jetzt. Wir sind damit beschäftigt, dem Baron in der morgigen Nummer unsere Entschuldigungen auszusprechen. Jeder Satz ist ein Dolchstoß.«
»Nehmt ihn tüchtig mit. Mich soll er auch finden«, versetzte Finot. »Ich werde so tun, als spränge ich ihm bei, indem ich euch zur Ruhe verweise; er hält zum Ministerium, und wir hängen ihm da etwas auf, die Stelle eines außerordentlichen Professors oder einen Tabakverschleiß. Wir sind glücklich, daß er ein leidenschaftlicher Spieler geworden ist. Wer von euch will in meinem neuen Blatt einen gründlichen Artikel über Nathan schreiben?«
»Geben Sie ihn Lucien«, sagte Lousteau. »Hector und Vernou schreiben Artikel in ihren Blättern.«
»Auf Wiedersehen, meine Herren, bei Barbin treffen wir uns unter vier Augen wieder«, sagte Finot lachend.
Man machte nun Lucien einige Komplimente über seinen Eintritt in die gefürchtete Gilde der Journalisten, und Lousteau erklärte, er sei ein Mann, auf den man sich verlassen könne.
»Meine Herren, Lucien ladet Sie alle miteinander ein, bei seiner Geliebten, der schönen Coralie, zu soupieren.«
»Coralie kommt ans Gymnase«, sagte Lucien zu Etienne. »Also, meine Herren, Sie wissen doch, es ist abgemacht, wir schreiben für Coralie? Setzen Sie in alle Ihre Blätter ein paar Zeilen über ihr Engagement und reden Sie von ihrem Talent. Sie können von dem Takt und der Geschicklichkeit der Direktion des Gymnase sprechen; können wir ihr auch Geist zuschreiben?«
»Jawohl, das können wir,« erwiderte Merlin, »Frédéric hat mit Scribe zusammen ein Stück geschrieben.«
»Oh, dann ist der Direktor des Gymnase der weitestblickende und scharfsinnigste aller Spekulanten«, sagte Vernou.
»Was mir einfällt: schreiben Sie Ihre Artikel über das Buch von Nathan erst, wenn wir uns beraten haben. Ich sage Ihnen noch warum«, begann Lousteau. »Wir müssen unserm neuen Kollegen zu Diensten sein. Lucien hat zwei Bücher unterzubringen, eine Sonettensammlung und einen Roman. Bei der heiligen Zeitungsnotiz! er muß auf drei Monate Sicht ein großer Dichter werden. Wir wollen uns seiner ›Margueriten‹ bedienen, um auf dem Markt der Oden, Balladen, Meditationen und der ganzen romantischen Poesie eine furchtbare Baisse anzurichten.«
»Das wäre lustig, wenn die Sonette nichts taugten«, versetzte Vernou. »Was halten Sie von Ihren Sonetten, Lucien?«
»Ja, sagen Sie, wie finden Sie sie?« sagte einer der unbekannten Redakteure.
Meine Herren, sie sind gut, mein Ehrenwort darauf«, sagte Lousteau.
»Mir solls recht sein«, sagte Vernou. »Ich schmeiße sie diesen Pfaffendichtern, die mich wütend machen, zwischen die Beine.«
»Wenn Dauriat heute abend die ›Margueriten‹ ablehnt, versetzen wir ihm Artikel über Artikel gegen Nathan.«
»Und was wird Nathan dazu sagen?« rief Lucien.
Die fünf Redakteure brachen in Lachen aus.
»Er wird entzückt sein«, sagte Vernou. »Sie sollen schon sehen, wie wir die Sache machen.«
»Gehört der Herr denn auch wirklich zu uns?« fragte einer der beiden Redakteure, die Lucien nicht kannte.
»Jawohl, Frédéric, jawohl, nur keine Faxen. – Du siehst, Lucien,« sagte Etienne zu dem Neuling, »wie wir zu dir stehen. Du wirst dich, wenn sich die Gelegenheit findet, revanchieren. Wir lieben Nathan alle, und ihn wollen wir angreifen. Jetzt müssen wir das Reich Alexanders unter uns teilen. – Frédéric, willst du das Théatre Français und das Odéon?«
»Wenn es den Herren recht ist«, erwiderte Frédéric.
Alle nickten, aber Lucien sah neidische Blicke.
»Ich behalte die Große Oper, die Italienische Oper und die Opéra Comique«, sagte Vernou.
»Schön, Hector nimmt die Vaudeville-Theater«, fuhr Lousteau fort.
»Und ich soll kein Theater haben?« rief der andere Redakteur, den Lucien nicht kannte.
»Na, dann kann dir also Hector die Variétés lassen und Lucien die Porte Saint-Martin«, versetzte Etienne. »Laß ihm die Porte Saint-Martin, er ist hinter Fanny Beaupré her,« sagte er zu Lucien; »du nimmst dafür den Cirque Olympique. Ich habe Bobino, die Funambules und Frau Saqui ... Was haben wir morgen fürs Blatt?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Nichts!«
»Meine Herren, geben Sie sich für meine erste Nummer ein bißchen Mühe und lassen Sie Ihren Geist glänzen. Der Baron du Châtelet und sein Stockfisch halten keine acht Tage vor. Der Verfasser des ›Einsiedlers‹ ist schon sehr verbraucht.«
»Sosthenes = Demosthenes ist nicht mehr witzig,« sagte Vernou, »alle Welt hat ihn uns weggenommen.«
»Oh, wir brauchen neue Tote«, rief Frédéric.
»Meine Herren, wie wärs, wenn wir den tugendhaften Männern der Rechten lächerliche Züge andichteten? Wenn wir zum Beispiel sagten, Herr von Bonald habe Schweißfüße?« rief Lousteau.
»Wir wollen eine Serie mit Porträts von ministeriellen Rednern anfangen«, meinte Hector Merlin.
»Tu das, Kleiner«, erwiderte Lousteau. »Du kennst sie, da sie von deiner Partei sind, da kannst du den und jenen Privathaß befriedigen. Nimm Beugniot, Syrieys de Mayrinhac und andere aufs Korn. Die Artikel können im voraus fertig sein. Dann kommen wir nicht in Verlegenheit.«
»Wie wärs, wenn wir einige Weigerungen, den oder jenen in geweihter Erde zu bestatten, erfänden, mit mehr oder weniger erschwerenden Umständen?«
»Wir wollen lieber nicht auf den Spuren der großen konstitutionellen Blätter gehen, die ganze Mappen voller Pfaffen haben, die bloße Enten sind«, erwiderte Vernou.
»Enten?« fragte Lucien.
»Wir nennen eine Ente«, antwortete ihm Hector, »eine Tatsache, die so aussieht, als ob sie wahr wäre, die man aber erfindet, um die Nachrichten aus Paris aufzufrischen, wenn sie ein bißchen matt geworden sind. Die Ente ist eine Erfindung von Franklin, der den Blitzableiter, die Ente und die Republik erfunden hat. Dieser Journalist hat die Enzyklopädisten mit seinen Enten von jenseits des Meeres so gut getäuscht, daß Raynal in seiner ›Philosophischen Geschichte Indiens‹ zwei dieser Enten als authentische Tatsachen mitgeteilt hat.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Vernou. »Was sind das für zwei Enten?«
»Die Geschichte von dem Engländer, der seine Befreierin, eine Negerin, verkauft, nachdem er sie vorher zur Mutter gemacht hat, um mehr Geld für sie zu lösen. Und dann die prächtige Verteidigungsrede der jungen Schwangeren, die ihren Prozeß gewinnt. Als Franklin nach Paris kam, gestand er Necker seine Enten ein, was die französischen Philosophen in große Verwirrung brachte. Und so hat die Neue Welt zweimal die Alte betrogen.«
»Die Zeitung stellt alles als wahr hin,« sagte Lousteau, »was wahrscheinlich ist. Davon gehen wir aus.«
»Die Justiz verfährt nicht anders«, meinte Vernou.
»Also heute abend um neun Uhr sind wir wieder hier«, sagte Merlin.
Man stand auf, schüttelte sich die Hände, und die Sitzung wurde unter Bezeigungen der rührendsten Freundschaft aufgehoben.
»Was hast du denn mit Finot gemacht,« fragte Etienne Lucien, als sie die Treppe hinabgingen, »daß er einen Vertrag mit dir geschlossen hat? Du bist der einzige, an den er sich gebunden hat.«
»Ich? Nichts; er hat es mir vorgeschlagen«, versetzte Lucien.
»Nun schön. Wenn du mit ihm einig bist, soll es mir recht sein, wir beide werden dann nur stärker sein.«
Im Erdgeschoß trafen Etienne und Lucien Finot, der Lousteau in das offizielle Redaktionszimmer beiseitenahm.
»Unterzeichnen Sie Ihren Vertrag, damit der neue Chefredakteur glaubt, die Abmachung datiere von gestern«, sagte Giroudeau und überreichte Lucien zwei gestempelte Bogen.
Während Lucien den Vertrag überlas, hörte er zwischen Etienne und Finot eine ziemlich lebhafte Auseinandersetzung über die Naturalien, die das Blatt erhielt. Etienne wollte seinen Anteil an diesen Steuern, die Giroudeau erhob. Es kam ohne Frage zwischen Finot und Lousteau zu einer Einigung, denn die beiden Freunde traten sehr einträchtig wieder heraus.
»Um acht Uhr in den Galeries de Bois bei Dauriat«, sagte Etienne zu Lucien.
Ein junger Mann trat mit der schüchternen und verlegenen Miene, die Lucien noch vor kurzem gehabt hatte, ein und bot seine Mitarbeit an. Lucien sah mit geheimem Vergnügen, wie Giroudeau dem Neuling gegenüber dieselben Scherze anwandte, durch die der alte Offizier auch ihn getäuscht hatte: sein Interesse ließ ihn die Notwendigkeit dieses Verfahrens völlig begreifen, das zwischen den Anfängern und der Dachkammer, in der die Auserwählten Einlaß fanden, fast unübersteigbare Schranken errichtete.
»Die Redakteure haben selber noch nicht Geld genug«, sagte er zu Giroudeau.
»Wenn ihr mehr wäret, hätte jeder von euch weniger«, versetzte der Kapitän. »Also!«
Der pensionierte Offizier schwenkte seinen Stock mit dem Bleiknopf, ging mit seinem üblichen Gebrumm hinaus und machte ein sehr verdutztes Gesicht, als er Lucien in die schöne Equipage steigen sah, die auf dem Boulevard auf ihn gewartet hatte. »Jetzt seid ihr die Offiziere und wir die Zivilisten«, sagte der Soldat zu ihm.
»Auf Ehrenwort, diese jungen Leute scheinen mir die besten Menschen der Welt zu sein«, sagte Lucien zu Coralie. »Ich bin also jetzt Journalist und habe die Sicherheit, monatlich sechshundert Franken zu verdienen, wenn ich arbeite wie ein Pferd; aber ich werde meine beiden Bücher unterbringen und werde andere schreiben, denn meine Freunde werden den Erfolg für mich organisieren! Ich sage also wie du, Coralie: es sei gewagt!«
»Es wird alles gut gehen, mein Söhnchen; sei aber ja nicht so gut, wie du schön bist, sonst ruinierst du dich. Sei schlecht zu den Menschen, das ist guter Ton.«
Coralie und Lucien fuhren im Bois de Boulogne spazieren und begegneten dort der Marquise d'Espard, Frau von Bargeton und dem Baron du Châtelet. Frau von Bargeton richtete einen verführerischen Blick auf Lucien, der für einen Gruß gelten konnte. Camusot hatte das feinste Diner der Welt bestellt. Coralie, die sich von ihm befreit fühlte, war so liebenswürdig gegen den armen Seidenhändler, daß er sich nicht erinnerte, sie während der vierzehn Monate ihrer Beziehungen so reizend und anmutig gesehen zu haben.
»Wohlan«, sagte er sich, »bleiben wir bei ihr, trotzdem!«
Camusot schlug Coralie heimlich eine Eintragung von sechstausend Pfund Rente in das Hauptbuch, das seine Frau nicht kannte, vor, wenn sie unter der Bedingung seine Geliebte bleiben wollte, daß er sich ihre Liebe zu Lucien gefallen ließe.
»Einen so himmlischen Menschen betrügen? ... Aber sieh ihn dir doch an, und sieh dann dich an!« sagte sie, indem sie auf den Dichter zeigte, dem Camusot einen leichten Schwips beigebracht hatte.
Camusot beschloß, darauf zu warten, daß ihm das Elend die Frau wiedergeben würde, die ihm das Elend ausgeliefert hatte.
»So werde ich denn nur dein Freund sein«, sagte er und küßte sie auf die Stirn.
Lucien verließ Coralie und Camusot und begab sich in die Galeries de Bois. Welche Veränderung hatte seine Einweihung in die Geheimnisse der Zeitung in seinem Kopf hervorgebracht! Er mischte sich ohne Furcht unter die Menge, die in den Galerien wogte, nahm eine herausfordernde Miene an, weil er eine Geliebte hatte, und trat ungeniert bei Dauriat ein, weil er Journalist war. Er fand dort große Gesellschaft und gab Blondet, Nathan, Finot, der ganzen Literatur, mit der er sich seit einer Woche verbrüdert hatte, die Hand; er hielt sich für eine Persönlichkeit und glaubte sich seinen Kameraden überlegen; der kleine Rausch tat ihm treffliche Dienste, er war geistreich und bewies, daß er mit den Wölfen heulen könne. Trotzdem empfing Lucien nicht die schweigsamen, stummen oder ausgesprochenen Zustimmungen, auf die er gerechnet hatte; er bemerkte zum erstenmal eine Regung von Eifersucht unter diesen Leuten, die die Angst nicht so sehr stachelte als die Neugierde, zu erfahren, welchen Platz eine neue Größe einnehmen und wieviel bei der allgemeinen Teilung der Erträge der Presse auf sie kommen würde. Finot, der in Lucien eine Mine zum Ausbeuten sah, Lousteau, der Rechte auf ihn zu besitzen glaubte, waren die einzigen, die der Dichter lächeln sah. Lousteau, der schon das Gebaren eines Chefredakteurs angenommen hatte, klopfte energisch an das Fenster von Dauriats Kabinett.
»Im Augenblick, mein Freund«, antwortete ihm der Buchhändler, der ihn erkannte, und hob den Kopf über die grünen Vorhänge.
Der Augenblick dauerte eine Stunde, nach deren Verlauf Lucien und sein Freund ins Allerheiligste eintraten.
»Nun, haben Sie sich die Sache mit meinem Freund durch den Kopf gehen lassen?« fragte der neue Chefredakteur.
»Gewiß«, erwiderte Dauriat mit der Haltung eines Sultans. »Ich habe die Sammlung durchgesehen und sie einem Mann von Geschmack, einem guten Beurteiler, zu lesen gegeben, denn ich bilde mir nicht ein, davon allzuviel zu verstehen. Ich kaufe den Ruhm lieber fix und fertig, wie jener Engländer die Liebe. Sie sind ein ebenso großer Dichter, wie Sie hübsch sind, Kleiner«, sagte Dauriat. »So wahr ich ein ehrlicher Mann, ich sage nicht, Buchhändler bin, geben Sie acht! Ihre Sonette sind prachtvoll, man merkt nicht die Arbeit; das ist ja auch natürlich bei Inspiration und Feuer. Kurz, Sie verstehen zu reimen, die besondere Kunst der neuen Schule. Ihre Margueriten sind ein schönes Buch, aber es ist kein Geschäft für mich, und ich kann mich nur mit großen Unternehmungen befassen. Auf mein Gewissen, ich will Ihre Sonette nicht nehmen, es wäre mir unmöglich, sie zu lancieren, man kommt nicht auf die Kosten, wenn man da einen Erfolg in Szene setzt. Im übrigen werden Sie mit der Poesie nicht fortfahren, dieses hier wird ein vereinzeltes Buch sein. Sie sind jung, junger Mann! Sie bringen mir die ewige Sammlung der ersten Gedichte, die alle Leute von der Feder, nachdem sie das Gymnasium verlassen, machen, die ihnen zuerst am Herzen liegt und über die sie sich späterhin lustig machen. Ihr Freund Lousteau muß in seinen alten Strümpfen noch so eine versteckte Dichtung haben. Hast du nicht eine Dichtung, an die du geglaubt hast, Lousteau?« sagte Dauriat und warf auf Etienne einen schlauen Blick der Verständigung.
»Wie könnte ich denn sonst Prosa schreiben?« sagte Lousteau.
»Nun, Sie sehen, er hat mir nie etwas davon gesagt, unser Freund kennt den Buchhandel und die Geschäfte«, fing Dauriat wieder an. »Für mich«, sagte er schöntuerisch zu Lucien, »ist die Frage nicht, zu wissen, ob Sie ein großer Dichter sind; Sie haben viel, sehr viel Talent; wenn ich mit dem Buchhandel eben anfinge, würde ich den Fehler begehen, Sie herauszugeben. Aber heute würden mich wohl zuallererst meine Teilhaber und Geldgeber im Stich lassen; ich habe im vorigen Jahr zwanzigtausend Franken verloren, und das genügte, ihnen die Lust an der Poesie zu verleiden, und sie sind meine Herren. Doch ist dies immer noch nicht der Hauptpunkt. Zugegeben, daß Sie ein großer Dichter sind, werden Sie auch fruchtbar sein? Werden Sie regelmäßig Sonette schreiben? Werden Sie es zu zehn Bänden bringen? Werden Sie ein Geschäft sein? Keineswegs, Sie werden ein vorzüglicher Prosaschriftsteller werden; Sie haben zu viel Geist, um ihn sich mit Reimflickereien zu verderben. Sie können dreißigtausend Franken jährlich bei den Zeitungen verdienen und werden sie nicht gegen dreitausend Franken vertauschen, die Sie mit großer Mühe aus Ihren Hemistichien, Strophen und anderen Drechseleien ziehen würden!«
»Sie wissen doch, Dauriat, daß der Herr zum Blatt gehört«, sagte Lousteau.
»Ja,« erwiderte Dauriat, »ich habe seinen Artikel gelesen, und, wohlverstanden, in seinem eigenen Interesse lehne ich die Margueriten ab. Jawohl, mein Herr, ich werde Ihnen in sechs Monaten von heute ab mehr Geld für die Artikel, die ich bei Ihnen bestellen werde, gegeben haben als für Ihre unverkäufliche Poesie!«
»Und der Ruhm?« rief Lucien aus.
Dauriat und Lousteau lachten.
»Alle Wetter,« sagte Lousteau, »das bewahrt sich Illusionen.«
»Der Ruhm,« ließ sich Dauriat vernehmen, »der ist zehn Jahre Ausdauer und hunderttausend Franken Verlust oder Gewinn für den Buchhändler. Wenn Sie Narren finden, die in einem Jahr Ihre Gedichte drucken, werde ich in Ihrer Achtung steigen, nachdem Sie das Resultat ihrer Unternehmung gesehen haben.«
»Haben Sie das Manuskript da?« fragte Lucien kühl.
»Hier ist es, mein Freund«, erwiderte Dauriat, dessen Manieren Lucien gegenüber schon auffallend freundlich geworden waren.
Lucien nahm die Rolle, ohne nachzusehen, in welchem Zustand der Bindfaden war, so sehr machte es den Eindruck, als habe Dauriat die ›Margueriten‹ gelesen. Er war weder bestürzt noch unzufrieden, als er mit Lousteau hinaustrat. Dauriat begleitete die beiden Freunde in den Laden und sprach von seinem und Lousteaus Blatt. Lucien spielte nachlässig mit dem Manuskript der Margueriten.
»Du glaubst, daß Dauriat deine Sonette gelesen hat oder sie hat lesen lassen?« sagte ihm Etienne ins Ohr.
»Ja«, sagte Lucien.
»Sieh dir das Siegel an.«
Lucien erblickte Tinte und Bindfaden im Zustand vollkommener Verbindung.
»Welches Sonett hat Ihnen besonders gefallen?« sagte Lucien zu dem Buchhändler, bleich vor Zorn und Wut.
»Sie sind alle bemerkenswert, mein Freund,« sagte Dauriat, »aber das auf die Marguerite ist entzückend, es schließt mit einem sehr feinen, sinnreichen Gedanken ab. Daran habe ich gesehen, welchen Erfolg Ihre Prosa haben muß. Ich habe Sie auch sofort an Finot empfohlen. Schreiben Sie uns Artikel, wir werden Sie gut bezahlen. Sehen Sie, an den Ruhm denken, das ist sehr schön, aber vergessen Sie nicht das Solide und nehmen Sie, was sich bietet. Wenn Sie erst reich sind, können Sie Verse machen.«
Der Dichter trat rasch in die Galerien hinaus, um nicht loszubrechen, denn er war wütend.
»Aber Kind,« sagte Lousteau, der ihm folgte, »beruhige dich, nimm die Menschen für das, was sie sind Mittel. Willst du Revanche haben?«
»Um jeden Preis«, sagte der Dichter.
»Hier ist ein Exemplar des Buches von Nathan, das mir Dauriat soeben gegeben hat; die zweite Auflage erscheint morgen, lies es nochmals durch und schustere einen Artikel zusammen, der es herunterreißt. Félicien Vernou kann Nathan nicht leiden, dessen Erfolg, wie er glaubt, dem zukünftigen Erfolg seines Buches schadet. Eine der fixen Ideen dieser kleinen Geister ist es, sich einzubilden, daß zwei Erfolge nebeneinander keinen Platz unter der Sonne haben. Er wird deine Artikel in dem großen Blatt, das er unter sich hat, aufnehmen.«
»Was kann man aber gegen dieses Buch sagen? Es ist schön!« rief Lucien aus.
»Ja, mein Lieber, lerne dein Handwerk«, sagte Lousteau lachend. »Wäre das Buch gleich ein Meisterwerk, so müßte es unter deiner Feder eine alberne Nichtigkeit, ein gefährliches und ungesundes Machwerk werden.«
»Aber wie?«
»Du verwandelst die Schönheiten in Schwächen.«
»Ich bin unfähig zu solchem Gewaltakt.«
»Mein Lieber, der Journalist ist ein Akrobat, du mußt dich schon an die Unannehmlichkeiten des Standes gewöhnen. Wart mal, ich bin ein guter Kerl! So würde ich bei einer solchen Gelegenheit verfahren. Gib also acht! Du fängst damit an, das Werk schön zu finden, und du kannst dich dann damit amüsieren, zu schreiben, was du darüber denkst. Das Publikum wird sich sagen: Dieser Kritiker ist ohne Eifersucht, er wird sicher unparteiisch sein. Das Publikum wird also deine Kritik für gewissenhaft halten. Nachdem du nun also die Achtung deines Lesers gewonnen hast, sprichst du dein Bedauern aus, daß du das System tadeln mußt, wie Bücher der Art in die französische Literatur hineinkommen wollen. Du sagst also etwa: Beherrscht nicht Frankreich die Intelligenz der ganzen Welt? Bis zum heutigen Tage, durch alle Jahrhunderte hindurch, hielten die französischen Schriftsteller Europa auf den Bahnen der Analyse und der philosophischen Untersuchungen vermittels der Macht des Stils und der originellen Form, die sie den Ideen gaben. Hier bringst du für den braven Bürger eine Lobrede auf Voltaire, Rousseau, Diderot, Montesquieu und Buffon an. Du setzest auseinander, wie unbarmherzig in Frankreich die Sprache ist, du beweisest, daß sie ein Lack ist, der den Gedanken völlig bedeckt. Du gibst Grundsätze von dir wie den folgenden: Ein großer Schriftsteller in Frankreich ist immer ein großer Mann, die Sprache zwingt ihn, immer zu denken; das ist in den andern Ländern nicht so usw. Du beweisest deine Behauptung, indem du Rabener, einen deutschen Moralsatiriker, mit Labruyère vergleichst. Nichts steht einem Kritiker so gut an, wie wenn er von einem fremden Autor spricht, den niemand kennt. Kant ist der Sockel von Cousin. Bist du erst einmal auf diesem Boden, so gibst du ein Wort von dir, das den Laien das System unserer genialen Männer des letzten Jahrhunderts zusammenfaßt und erklärt: du nennst ihre Literatur eine Literatur der Metaphysik. Hast du erst einmal dieses Wort, so wirfst du den lebenden Schriftstellern alle berühmten Toten an den Kopf. Nun gehst du dazu über, darzutun, daß in unsern Tagen eine neue Literatur entsteht, die den Dialog die leichteste aller literarischen Formen und Beschreibungen, die ein Ersatzmittel fürs Denken sind, zu ausgiebig anwendet. Du hältst die Romane von Voltaire, Diderot, Sterne, Lesage, die so konkret, so eindringlich sind, dem modernen Roman entgegen, in dem sich alles in Bildern ausdrückt und den Walter Scott oft in ein Drama verwandelt hat. Er ist eine Literaturgattung, in der nur der Erfinder Platz hat. Du sagst: Der Roman à la Walter Scott ist eine Abart, aber kein System. Du wetterst gegen diese unheilvolle Abart, in der man die Ideen verdünnt, in der sie in Trivialitäten ausgemünzt werden, gegen diese Abart, die niemandem unzugänglich ist, in der jeder ohne viel Unkosten Schriftsteller werden kann, und schließlich nennst du diese Abart die Bilderliteratur. Nun wendest du diese Argumentation gegen Nathan an, indem du zeigst, daß er ein Nachahmer ist und nur scheinbar Talent hat. Der große, gedrängte Stil des achtzehnten Jahrhunderts fehlt seinem Buch, du zeigst, daß sein Verfasser die Ereignisse an die Stelle der Empfindungen gesetzt hat. Die Bewegung ist nicht das Leben, ein Bild ist keine Idee! Gib recht viele Sentenzen der Art von dir, das Publikum wiederholt sie. Das Werk also erscheint dir trotz seiner Verdienste verhängnisvoll und gefährlich, es öffnet der Menge die Pforten des Ruhmestempels, und in der Ferne läßt du ein ganzes Heer kleiner Schriftstellerlein auftauchen, die sich beeilen, diese Form, die so überaus leicht ist, nachzuahmen. Hier kannst du dich in donnernden Klagen über den Verfall des Geschmacks auslassen und findest Gelegenheit, das Lob der Herren Etienne, Jouy, Tissot, Gosse, Duval, Jay, Benjamin Constant, Aignan, Baour-Lormian, Villemain einzuschmuggeln, der Koryphäen der bonapartistisch-liberalen Partei, unter deren Patronat das Blatt Vernous steht. Du zeigst, wie diese heldenhafte Schar dem Eindringen der Romantiker Widerstand leistet, wie sie, gegen das Bild und das Geschwätz, zur Idee und zum Stil hält, wie sie die Schule Voltaires fortführt und sich der englischen und deutschen Schule widersetzt, genau so wie die siebzehn Redner der Linken den Kampf für die Nation gegen die Ultras der Rechten führen. Unter dem Schutze dieser Namen, die bei weitem die meisten Franzosen, die immer zur Opposition der Linken halten werden, verehren, kannst du Nathan vernichten, dessen Werk, obwohl es hervorragende Schönheiten enthält, einer Literatur ohne Ideen in Frankreich Bürgerrecht gibt. Von jetzt an handelt es sich nicht mehr um Nathan und sein Buch, verstehst du? sondern um den Ruhm Frankreichs. Es ist Pflicht der ehrenhaften und tapfern Schriftsteller, sich dem Import aus dem Ausland mit ganzer Kraft entgegenzustellen. Hier schmeichelst du dem Abonnenten. Du sagst, Frankreich sei eine gewitzigte Dame, es sei nicht leicht, sie einzunehmen. Wenn der Verleger aus Gründen, die du nicht erörtern wirst, einen Erfolg erschlichen hat, so hat das wirkliche Publikum den Irrtum bald wieder gutgemacht, den die fünfhundert Tröpfe, die seine Schutztruppe bilden, zustande gebracht haben. Du sagst, der Verleger zeige eine zu große Kühnheit, wenn er eine zweite Auflage herstelle, weil er das Glück gehabt habe, eine Auflage zu verkaufen, und du bedauerst, daß ein so geschickter Buchhändler sich auf die Neigungen des Landes so schlecht verstehe. Da hast du die allgemeinen Umrisse. Bestreue mir diese Sätze mit dem Salz deines Geistes, mache sie mit einem Tropfen Essig pikanter, und Dauriat ist in der Artikelpfanne fertiggebraten. Aber vergiß nicht, zum Schluß zu tun, als beklagtest du, daß Nathan einen bedauerlichen Irrtum begangen habe, aber er sei ein Mann, dem die Literatur unserer Zeit, wenn er andere Bahnen einschlägt, noch schöne Werke zu verdanken haben werde.«
Lucien war aufs höchste betroffen, während er Lousteau zuhörte; bei den Worten des Journalisten fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, er vernahm literarische Wahrheiten, von denen er noch nie etwas geahnt hatte.
»Aber was du da sagst,« rief er, »ist sehr begründet und richtig.«
»Könntest du ohne das Nathans Buch zusammenhauen?« sagte Lousteau. »Das, mein Lieber, ist das erste Beispiel eines Artikels, mit dem man ein Werk vernichten will: die Spitzhacke der Kritik. Aber es gibt sehr viele andere Formen! Du wirst schon weitergebildet werden. Wenn du unbedingt genötigt bist, über einen Mann zu schreiben, den du nicht magst, denn manchmal tut es der Besitzer oder der Chefredakteur eines Blattes nicht anders, dann bedienst du dich für deine negativen Absichten der Gründlichkeit. Als Überschrift des Artikels setzest du den Titel des Buches, mit dem du dich zwangsweise beschäftigen mußt; du beginnst mit allgemeinen Betrachtungen, sprichst von den Griechen und Römern und sagst zuletzt: Diese Betrachtungen führen uns zu dem Buch des Herrn Soundso, von dem in einem zweiten Artikel die Rede sein wird. Und der zweite Artikel erscheint nie. Man erstickt so das Buch zwischen zwei Besprechungen. Diesmal aber handelt es sich nicht um einen Artikel gegen Nathan, sondern gegen Dauriat; du mußt also die Hacke benutzen. Einem schönen Buche schadet die Hacke nichts, während sie einem schlechten bis ins Herz dringt; im ersten Fall verletzt sie nur den Verleger, im zweiten erweist sie dem Publikum einen Dienst. Diese Formen der literarischen Kritik werden in derselben Weise in der Politik angewandt.«
Die grausame Lektion, die Etienne ihm gab, öffnete in der Phantasie Luciens, der dieses Handwerk sehr gut begriff, ganz neue Fächer.
»Wir wollen auf die Redaktion gehen,« sagte Lousteau, »wir treffen dort unsere Freunde und verabreden einen allgemeinen Angriff gegen Nathan, und du wirst sehen, welches Vergnügen ihnen das macht.«
Als sie in der Rue Saint-Fiacre angelangt waren, stiegen sie zusammen in die Dachstube, in der das Blatt hergestellt wurde, und Lucien war ebenso überrascht wie entzückt, als er die lebhafte Freude sah, mit der seine Kollegen beschlossen, das Buch Nathans zu vernichten. Hector Merlin nahm ein Blatt Papier und schrieb folgende Zeilen, die er sofort in sein Blatt trug: »Man zeigt eine zweite Auflage des Buches des Herrn Nathan an. Wir wollten über dieses Werk schweigend hinweggehen, aber dieser scheinbare Erfolg zwingt uns, einen Artikel zu veröffentlichen, der sich weniger mit diesem Buch als mit der Tendenz der jungen Literatur beschäftigen soll.«
An die Spitze der Scherze für die Nummer des nächsten Tages stellte Lousteau den Satz: »Der Verleger Dauriat veröffentlicht eine zweite Auflage des Buches des Herrn Nathan. Er scheint den juristischen Grundsatz nicht zu kennen: Non bis in idem. Ehre dem Mute des Unglücklichen!«
Die Worte Etiennes waren für Lucien wie eine Fackel gewesen, und die Gier, sich an Dauriat zu rächen, trat ihm an die Stelle des Gewissens und der echten Begeisterung. Drei Tage saß er am Kamin in Coralies Zimmer und ließ sich von Berenice bedienen und von der ihn mit rücksichtsvoller Stille umgebenden Coralie in den Augenblicken, wo er sich ausruhte, zärtlich umschmeicheln: dann hatte er einen kritischen Artikel von ungefähr drei Spalten ins Reine geschrieben, in dem er sich zu einer erstaunlichen Höhe aufgeschwungen hatte. Neun Uhr abends lief er zur Redaktion, fand da die Kollegen und las ihnen seine Arbeit vor. Man hörte ihm ernsthaft zu. Félicien sagte kein Wort, nahm das Manuskript und stürzte die Treppe hinunter.
»Was kommt ihn an?« rief Lucien.
»Er trägt deinen Artikel in die Druckerei!« erwiderte Hector Merlin; »er ist ein Meisterstück, von dem nichts wegbleiben darf und dem keine Zeile hinzugesetzt zu werden braucht.«
»Man muß dir nur den Weg zeigen!« sagte Lousteau.
»Ich möchte das Gesicht sehen, das Nathan morgen macht, wenn er das liest«, sagte ein anderer Redakteur, auf dessen Miene frohe Genugtuung zu lesen war.
»Man muß Ihr Freund sein«, sagte Hector Merlin.
»Es ist also gut?« fragte Lucien lebhaft.
»Blondet und Vignon wird es übel zumute werden«, meinte Lousteau.
»Hier habe ich«, fing Lucien wieder an, »einen kleinen Artikel, den ich für euch geschrieben habe und der, wenn er Erfolg hat, eine Serie ähnlicher Stücke nach sich ziehen kann.«
»Lies es uns vor«, sagte Lousteau.
Lucien las ihnen nun einen der köstlichen Artikel, die das Glück dieses kleinen Blattes machen sollten, in denen er in zwei Spalten einen kleinen Zug des Pariser Lebens, eine Gestalt, einen Typus, einen gewöhnlichen Vorgang oder irgendeine Absonderlichkeit schilderte. Dieses Probestück, das Die Passanten von Paris hieß, war in der neuen und originellen Manier geschrieben, in der der Gedanke sich aus dem Aneinanderprallen der Worte ergab, in der das Klirren der Adverbien und der Adjektive die Aufmerksamkeit wachrief. Dieser Artikel unterschied sich von dem ernsten und tiefen über Nathan ebensosehr wie Montesquieus Perserbriefe von seinem Geist der Gesetze.
»Du bist ein geborener Journalist«, sagte Lousteau zu ihm. »Das kommt morgen. Mache davon, so viel du willst.«
»Hört,« sagte Merlin, »Dauriat ist wütend über die beiden Kartätschen, die wir ihm in den Laden geschossen haben. Ich komme eben von ihm; er wetterte Flüche, er wütete gegen Finot, der ihm aber ruhig sagte, er hätte dir sein Blatt verkauft. Ich nahm ihn beiseite und flüsterte ihm die Worte ins Ohr: Die Margueriten kommen Sie teuer zu stehen! Ein talentvoller Mensch kommt zu Ihnen, und Sie schicken ihn weg, wenn wir ihn mit offenen Armen aufnehmen.«
»Dauriat wird von dem Artikel, den wir eben gehört haben, niedergeschmettert sein«, sagte Lousteau zu Lucien. »Du siehst jetzt, mein Junge, was eine Zeitung ist. Deine Rache ist gut im Gange! Der Baron Châtelet hat heute morgen nach deiner Adresse gefragt; es gab heute einen blutigen Artikel gegen ihn; dem Exgeck ist sehr unwohl, er ist ganz verzweifelt. Du hast das Blatt nicht gelesen? Der Artikel ist lustig. Sieh hier: Der Leichenzug des Reihers, den sein Stockfisch beweint. Frau von Bargeton wird in der Gesellschaft nur noch der Stockfisch oder das Fischbein genannt, und Châtelet ist nur noch der Baron Reiher.«
Lucien nahm das Blatt und konnte das Lachen nicht verbeißen, als er dieses kleine Meisterstück der Bosheit, das Vernou verfaßt hatte, las.
»Sie werden kapitulieren«, sagte Hector Merlin.
Lucien beteiligte sich in vergnügter Stimmung an der Abfassung einiger Scherze und Witze, mit der man die Redaktionstätigkeit für heute beschloß. Man rauchte und plauderte, erzählte die Vorfälle des Tages, unterhielt sich über kleine Lächerlichkeiten der Kollegen oder über etliche neue Einzelheiten zur Beleuchtung ihres Charakters. Diese Unterhaltung, die überaus spottlustig, witzig und boshaft geführt wurde, unterrichtete Lucien über die Sitten und Personalien der Literatur.
»Während man das Blatt setzt,« sagte Lousteau, »will ich mit dir herumgehen, dich in den Theatern, die du zu besuchen hast, mit den Kontrolleuren und hinter den Kulissen bekannt machen; dann suchen wir Florine und Coralie im Panorama Dramatique auf und amüsieren uns mit ihnen in ihren Ankleidezimmern.«
So gingen sie also, Arm in Arm, von Theater zu Theater, und Lucien wurde überall als Berichterstatter eingeführt, von den Direktoren beglückwünscht, von den Schauspielerinnen neugierig betrachtet, denn sie hatten alle gehört, welche Bedeutung ein einziger Artikel von ihm Coralie und Florine gegeben hatte, von denen die eine mit zwölftausend Franken jährlich ans Gymnase und die andere mit achttausend ans Panorama engagiert worden war. Das waren lauter kleine Huldigungen, die Lucien in seinen eigenen Augen hoben und ihm das Gefühl seiner Macht gaben. Um elf Uhr langten die beiden Freunde im Panorama Dramatique an, und Lucien hatte nun eine freie und ungezwungene Miene, die Wunder tat. Nathan war da, er streckte Lucien die Hand hin, der sie nahm und drückte.
»Oh! da sind ja meine Meister,« sagte er mit einem Blick auf Lucien und Lousteau, »Sie wollen mich also begraben.«
»Warte doch bis morgen, mein Lieber, da sollst du sehen, wie Lucien dich heruntermacht! Mein Wort darauf, du wirst zufrieden sein. Wenn die Kritik so ernsthaft ist, kann ein Buch nur Vorteil davon haben.«
Lucien wurde rot vor Scham.
»Ist es hart?« fragte Nathan.
»Es ist ernst«, sagte Lousteau.
»Es wird also nicht von Schaden sein?« fragte Nathan nochmals. »Hector Merlin sagte im Foyer des Vaudeville, der Artikel breche mir das Genick.«
»Lassen Sie es ihn sagen, und warten Sie es ab«, rief Lucien und flüchtete sich in das Ankleidezimmer Coralies, in das die Schauspielerin eben in ihrem entzückenden Kostüm von der Bühne hereingetreten war.
Als Lucien am Tage darauf mit Coralie beim Frühstück saß, hörte er ein Kabriolett anfahren, dessen Rasseln in der ziemlich verlassenen Straße einen eleganten Wagen verkündete und dessen Pferd den freien Tritt und die besondere Art anzuhalten hatte, die reine Rasse verraten. Als er ans Fenster trat, sah Lucien in der Tat das prächtige englische Pferd Dauriats und Dauriat, der seinem Groom die Zügel reichte und dann absprang.
»Es ist der Verleger«, rief Lucien seiner Geliebten zu.
»Er soll warten«, sagte Coralie sofort zu Berenice.
Lucien lächelte über die Sicherheit dieses jungen Mädchens, das sich so wundervoll mit seinen Interessen identifizierte, und umarmte sie mit wahrem Gefühl: sie hatte Geist gezeigt. Die Schnelligkeit, mit der der übermütige Verleger, dieser Fürst der Scharlatane, zu Kreuze kroch, hing mit Umständen zusammen, die heute fast völlig vergessen sind, so sehr hat sich der Buchhandel in den letzten fünfzehn Jahren verändert. Zwischen 1816 und 1827, zu welchem Zeitpunkt die Lesekabinette, die zuerst nur für die Zeitungslektüre eingerichtet waren, erst anfingen, neue Bücher gegen eine Vergütung auszuleihen und an dem die Verschlechterung der fiskalischen Gesetze über die periodische Presse erst die Annoncen erzeugte, verfügte der Buchhandel über keine anderen Mittel der Bekanntmachung als die Artikel, die entweder in den Feuilletons oder im Hauptteil der Zeitungen eingerückt wurden. Bis 1822 erschienen die französischen Zeitungen in Bogen von so kleinem Umfang, daß die großen Blätter kaum größer waren als die kleinsten der heutigen Zeitungen. Um der Tyrannei der Journalisten Widerstand leisten zu können, erfanden Dauriat und Ladvocat als die ersten die Plakate, mit denen sie die Aufmerksamkeit von Paris fesselten, indem sie phantastische Schriften, bizarre Farben, Vignetten und später Lithographien anwandten, die aus dem Plakat ein Gedicht für die Augen und oft eine Enttäuschung für den Geldbeutel der Käufer machten. Die Plakate wurden so originell, daß einer der Monomanen, die man Sammler nennt, eine vollständige Sammlung von ihnen besitzt. Dieses Mittel der Ankündigung, das zuerst nur in den Schaufenstern der Läden und auf den Boulevards angewandt wurde, sich aber später über ganz Frankreich ausdehnte, wurde von der Annonce verdrängt. Trotzdem wird es immer Plakate geben, die noch in die Augen stechen, wenn die Annonce und oft das Werk selbst schon vergessen sind, besonders seit man darauf gekommen ist, sie auf die Wände zu malen. Die Annonce, deren sich jeder, der Geld hat, bedienen kann und die die vierte Seite der Zeitungen in ein Feld verwandelt hat, das für den Fiskus ebenso fruchtbar ist wie für die Spekulanten, entstand infolge der harten Bestimmungen des Stempels, der Post und der Kautionen. Diese Beschränkungen, die in der Zeit des Herrn von Villèle eingeführt wurden und die damals den Zeitungen hätten verderblich werden können, indem sie sie immer gemeiner machten, schufen im Gegenteil eine Art Privilegien, da sie die Gründung eines Blattes fast unmöglich machten. Im Jahre 1821 hatten also die Zeitungen das Recht über Leben und Tod der Schöpfungen des Gedankens und der Unternehmungen des Buchhandels. Eine Anzeige von wenigen Zeilen unter Vermischtes war furchtbar teuer. Die Intrigen in den Redaktionsbureaus und am Abend auf dem Kampfplatz der Druckereien, in der Stunde, wo der Umbruch über die Zulassung oder die Ablehnung eines bestimmten Artikels entschied, waren so vielfältig, daß die großen Verlagshäuser einen Schriftsteller in ihren Diensten hatten, der diese Artikelchen redigierte, in denen man in wenig Worten viel sagen mußte. Diese unbekannten Journalisten, die erst nach der Einrückung bezahlt wurden, blieben oft die Nacht über in den Druckereien, um zu sehen, ob die großen Artikel, die sie, Gott weiß wie, durchgesetzt hatten, oder die paar Zeilen, die seitdem den Namen Reklamen erhielten, auch wirklich unter die Presse kamen. Heutzutage sind die Sitten in der Literatur und dem Verlagsbuchhandel so ganz andere geworden, daß viele geneigt sein möchten, die ungeheuren Anstrengungen, die Verführungskünste, die Erbärmlichkeiten, die Intrigen, deren sich die Buchhändler, die Autoren, die Märtyrer des Ruhmes, alle die Verdammten, die zu lebenslänglichem Erfolg verurteilt worden sind, um dieser Reklamen willen bedienen mußten, für Fabeln zu erklären. Diners, kleine Aufmerksamkeiten, Geschenke, alles das mußte den Journalisten gegenüber versucht werden. Die folgende Anekdote erklärt besser als alle Behauptungen die enge Verbindung zwischen der Kritik und dem Verlagsbuchhandel.
Ein Mann mit großen Aspirationen, der darauf ausging, ein Staatsmann zu werden, war zu jener Zeit jung, galant und Redakteur eines großen Blattes. Er wurde Hausfreund in einem berühmten Verlagshaus. Eines Tages, am Sonntag, auf dem Landsitz, in dem der splendide Buchhändler die Hauptredakteure der Zeitungen bewirtete, führte die Herrin des Hauses, die jung und hübsch war, den berühmten Schriftsteller in ihren Park. Der erste Kommis, ein kühler, gesetzter und methodischer Deutscher, der nur an die Geschäfte dachte, ging mit einem Feuilletonisten Arm in Arm im Park spazieren und plauderte über ein Unternehmen, über das er sich mit ihm beriet; das Gespräch führte sie aus dem Park heraus, und sie betreten ein Gebüsch. Im Dunkel eines Dickichts sieht der Deutsche etwas, was aussieht wie seine Herrin; er nimmt seine Lorgnette, macht dem jungen Redakteur ein Zeichen, still zu sein und sich zurückzuziehen, und entfernt sich dann selbst vorsichtig auf den Fußspitzen.
»Was haben Sie gesehen?« fragte ihn der Schriftsteller.
»Fast nichts«, antwortete er. »Unser großer Artikel geht durch. Morgen haben wir mindestens drei Spalten in den Débats.«
Eine andere Tatsache mag die Macht dieser Artikel erklären. Ein Buch Chateaubriands über den letzten Stuart lag in einem Magazin aufgestapelt und ging nicht. Ein einziger Artikel, den ein junger Mann im Journal des Débats schrieb, bewirkte, daß das Buch in einer Woche verkauft war. In einer Zeit, wo man ein Buch, wenn man es lesen wollte, kaufen mußte und es nicht leihen konnte, wurden von gewissen liberalen Werken, die von allen Oppositionsblättern gerühmt wurden, zehntausend Exemplare abgesetzt; aber auch der belgische Nachdruck existierte noch nicht. Die vorläufigen Angriffe von Luciens Freunden und sein Artikel bewirkten, daß der Verkauf des Buches von Nathan ins Stocken kam. Nathan litt nur in seiner Eigenliebe, er hatte nichts zu verlieren, er war bezahlt; aber Dauriat konnte dreißigtausend Franken verlieren. In der Tat ist der Buchhandel, soweit er Neuheiten vertreibt, auf die folgende kaufmännische Formel zu bringen: Ein Ries Papier kostet fünfzehn Franken; ist es bedruckt, ist es je nach dem Erfolg hundert Sous oder hundert Taler wert. Ein Artikel für oder gegen entschied in jener Zeit oft die Finanzfrage. Dauriat, der fünfhundert Ries zu verkaufen hatte, eilte also herbei, um mit Lucien einen Friedensvertrag zu schließen. Der Verleger verwandelte sich aus einem Sultan in einen Sklaven. Nachdem er einige Zeit brummend gewartet, möglichst viel Lärm gemacht und mit Berenice hin und her verhandelt hatte, setzte er es durch, Lucien sprechen zu dürfen. Der stolze Buchhändler nahm die lächelnde Miene der Höflinge an, wenn sie zu Hofe gehen, aber sein Ausdruck zeigte daneben immer noch eine Mischung aus Überhebung und gutmütiger Herablassung.
»Laßt euch nicht stören, liebe Freunde«, sagte er. »Was das für zwei reizende Turteltauben sind! Wer würde glauben, junges Fräulein, daß dieser Mann, der wie ein junges Mädchen aussieht, ein Tiger mit ehernen Klauen ist, der einem den guten Namen zerreißt, wie er Ihren Morgenrock zu zerreißen imstande ist, wenn Sie ihn nicht schnell genug abnehmen.«
Und er fing zu lachen an, ohne seinen Spaß zu vollenden.
»Kleiner«, fuhr er fort und setzte sich zu Lucien ... Er unterbrach sich und sagte zu Coralie: »Mein Name ist Dauriat.«
Der Buchhändler hielt es für nötig, seinen imponierenden Namen zu nennen, da er fand, daß Coralie ihn nicht so, wie er es gewohnt war, empfing.
»Haben Sie gefrühstückt, Herr Dauriat? Wollen Sie uns Gesellschaft leisten?« fragte die Schauspielerin.
»Sehr gern. Bei Tisch plaudert es sich besser«, erwiderte Dauriat. »Überdies erlange ich, wenn ich am Frühstück teilnehme, das Recht, Sie mit meinem Freund Lucien zum Diner einzuladen, denn wir müssen jetzt Freunde werden wie die Hand und der Handschuh.«
»Berenice! Austern, Zitronen, frische Butter und Champagner!« rief Coralie.
»Sie sind klug genug, zu wissen, was mich herführt«, begann Dauriat und blickte Lucien an.
»Sie sind gekommen, um mir meine Sonettensammlung abzukaufen?«
»Ganz richtig«, antwortete Dauriat. »Legen wir also vor allem beide die Waffen nieder.«
Er entnahm seiner Tasche ein elegantes Portefeuille, legte dreitausend Franken auf einen Teller, überreichte sie Lucien mit einer höfischen Miene und sagte: »Ist der Herr nun zufrieden?«
»Ja«, erwiderte der Dichter, der beim Anblick dieser unverhofften Summe eine ungekannte Seligkeit verspürte. Er hielt sich zurück, aber er hatte Lust zu singen und herumzuspringen; er glaubte an Aladins Wunderlampe, an Zauberer; er glaubte endlich an sein Genie.
»Die Margueriten gehören also mir,« sagte der Verleger; »aber Sie werden niemals mehr eines meiner Bücher angreifen?«
»Die Margueriten gehören Ihnen; aber ich kann für meine Feder keine Verpflichtungen eingehen, sie gehört meinen Freunden, wie die ihrige mir.«
»Aber Sie werden doch einer meiner Autoren. Alle meine Autoren sind meine Freunde. Sie werden also meine Geschäfte nicht mehr schädigen, ohne mich vor dem Angriff zu warnen, damit ich ihm zuvorkommen kann.«
»Abgemacht.«
»Auf Ihren Ruhm!« sagte Dauriat und hob sein Glas.
»Ich sehe wohl, Sie haben die Margueriten gelesen«, sagte Lucien.
Dauriat ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
»Kleiner Freund, wenn ein Buchhändler die Margueriten kauft, ohne sie zu kennen, ist das die schönste Schmeichelei, die er zu vergeben hat. Binnen einem halben Jahre sind Sie ein großer Dichter; Sie werden Artikel haben, man fürchtet Sie, ich brauche nichts dazu zu tun, um Ihr Buch zu verkaufen. Ich bin heute derselbe Geschäftsmann wie vor vier Tagen. Ich habe mich nicht verändert, aber Sie: in der vorigen Woche waren Ihre Sonette für mich Kohlblätter; heute sind sie durch die Stellung, die Sie sich erobert haben, zum Rang eines Delavigne emporgerückt.«
»Also,« sagte Lucien, den das Sultansvergnügen, eine schöne Geliebte zu haben, und die Gewißheit seines Erfolges zum Spott aufgelegt und entzückend frech machten, »wenn Sie meine Sonette nicht gelesen haben, so haben Sie meinen Artikel gelesen.«
»Gewiß, mein Freund, wäre ich sonst so rasch gekommen? Er ist leider sehr schön, dieser schreckliche Artikel. Ah! Sie haben ein großes Talent, mein Bursche. Folgen Sie mir, nutzen Sie Ihre Zugkraft aus«, fügte er mit einer Gutmütigkeit hinzu, die die starke Unverschämtheit des Wortes verhüllte. »Aber haben Sie das Blatt bekommen, haben Sie es gelesen?«
»Noch nicht,« versetzte Lucien, »und doch ist es das erstemal, daß ich ein größeres Prosastück veröffentliche; Hector wird es wohl in meine Wohnung nach der Rue Charlot geschickt haben.«
»Hier, lies! ...« sagte Dauriat, indem er Talma im Manlius nachahmte.
Lucien nahm das Blatt, aber Coralie entriß es ihm. »Mir gehört die Jungfernschaft Ihrer Feder, Sie wissen doch noch?« sagte sie lachend.
Dauriat zeigte sich überaus schmeichlerisch und geschmeidig; er fürchtete Lucien und lud ihn also mit Coralie zu einem großen Diner ein, das er gegen Ende der Woche den Journalisten gab. Er nahm das Manuskript der Margueriten gleich mit und sagte seinem Dichter, er sollte, wenn er wollte, in den Galeries de Bois vorsprechen, um den Vertrag zu unterzeichnen, den er bereithalten würde. Immer im Stil der königlichen Manieren, mit denen er oberflächlichen Menschen zu imponieren und mehr als Mäzen wie als Buchhändler zu wirken versuchte, ließ er die dreitausend Franken da, ohne eine Empfangsbestätigung mitzunehmen, lehnte vielmehr die Quittung, die Lucien ihm anbot, mit einer unbekümmerten Geste ab, küßte Coralie die Hand und ging.
»Sage nun selbst, Geliebter, hättest du von diesen Lappen viel gesehen, wenn du in deinem Loch in der Rue de Cluny geblieben wärst und in deinen alten Schmökern in der Bibliothèque Sainte-Geneviève studiert hättest?« fragte Coralie Lucien, der ihr seine ganze Geschichte erzählt hatte. »Deine Freunde aus der Rue des Quatre-Vents scheinen wahrhaftig rechte Gimpel zu sein!«
Seine Freunde vom Zirkel wurden Gimpel genannt! Und Lucien hörte dieses Urteil lachend mit an. Er hatte seinen Artikel gedruckt gesehen, hatte die unsägliche Freude der Schriftsteller gekostet, den ersten Genuß der Eigenliebe, der dem Geist nur ein einziges Mal in dieser Weise wohltut. Als er seinen Artikel wieder und wieder las, empfand er seine Tragweite und seine Bedeutung besser. Der Druck ist für die Manuskripte, was das Theater für die Frauen ist: er bringt die Schönheiten und die Fehler zutage; er tötet ebenso, wie er lebendig macht; ein Fehler springt ebenso lebhaft in die Augen wie die schönen Gedanken. Lucien war berauscht und dachte nicht mehr an Nathan; Nathan war sein Sprungbrett, er schwamm in Wonne, er sah sich reich. Für einen halben Knaben, der noch vor kurzer Zeit schüchtern die Stufen von Beaulieu nach Angoulême hinabgestiegen und nach Houmeau in die Dachwohnung Postels zurückgekehrt war, wo die ganze Familie von zwölfhundert Franken jährlich lebte, war die Summe, die Dauriat gebracht hatte, ein unerhörter Reichtum. Die Erinnerung, die noch sehr lebhaft war und die dennoch in den fortgesetzten Vergnügungen des Pariser Lebens bald erlöschen mußte, führte ihn nach der Place du Mûrier. Er dachte an seine schöne, edle Schwester Eva, seinen David und seine arme Mutter, und sofort schickte er Berenice weg, um einen Tausendfrankenschein wechseln zu lassen, und schrieb inzwischen einen kurzen Brief an seine Familie; dann sandte er Berenice zur Post, als ob er fürchtete, jede Verzögerung könnte es unmöglich machen, die fünfhundert Franken wegzuschicken, die er an seine Mutter adressierte. Ihm und Coralie kam diese Zurückgabe wie eine edle Tat vor. Die Schauspielerin umarmte Lucien, sie fand in ihm das Muster eines Sohnes und Bruders, sie überhäufte ihn mit Zärtlichkeiten: ein Zug dieser Art entzückt diese guten Mädchen, die alle ein weiches Herz haben, stets.
»Wir haben jetzt«, sagte sie zu ihm, »während der ganzen Woche alle Tage ein Diner. Wir wollen uns ein kleines Fest machen, du hast genug gearbeitet.«
Coralie führte ihn als Frau, die die Schönheit eines Mannes, um den sie alle Frauen beneiden mußten, ganz auskosten wollte, zu Staub; sie fand ihren Lucien nicht gut genug gekleidet. Von da ging das Liebespaar ins Boulogner Wäldchen und begab sich dann zum Diner bei Frau du Val-Noble, wo Lucien Rastignac, Bixiou, des Lupeaulx, Finot, Blondet, Vignon, den Baron von Nucingen, Beaudenord, Philipp Bridau, den großen Musiker Conti, kurz, die ganze Welt der Künstler, der Spekulanten, all der Leute, die sich von großen Arbeiten durch große Erregungen erholen wollten, antraf. Sie nahmen alle Lucien vortrefflich auf. Lucien hatte seine Sicherheit gewonnen und ließ seinen Geist spielen, als ob er keinen Handel damit triebe; er wurde für einen starken Mann erklärt: dieses Lob war damals unter diesen Menschen, die so halb und halb alle einer Clique angehörten, in Mode. »Oh, man muß untersuchen, wie seine Eingeweide beschaffen sind«, sagte Théodore Gaillard zu einem der Hofpoeten, der damit umging, ein kleines royalistisches Blatt zu gründen, das später den Namen Le Réveil erhielt.
Nach dem Diner begleiteten die beiden Journalisten ihre Geliebten in die Große Oper, wo Merlin eine Loge hatte, und die ganze Gesellschaft ging mit. So erschien Lucien im Triumphe wieder da, wo er vor wenigen Monaten eine so schwere Niederlage erlitten hatte. Er ging im Foyer Arm in Arm mit Merlin und Blondet auf und ab und sah den Stutzern ins Gesicht, die sich vor kurzem über ihn lustig gemacht halten. Châtelet lag zu seinen Füßen! Herr von Marsay, Vandenesse, Manerville, die die Löwen dieser Zeit waren, warfen ihm jetzt einige hochmütige Blicke zu. Ohne Frage war in der Loge der Frau d'Espard, in der Rastignac einen langen Besuch machte, die Rede von dem schönen und eleganten Lucien, denn die Marquise und Frau von Bargeton betrachteten Coralie durchs Opernglas. Regte sich im Herzen der Frau von Bargeton ein Bedauern darüber, daß sie Lucien verstoßen hatte? Diese Frage beschäftigte den Dichter; als er die Corinna von Angoulême sah, verspürte er im Herzen wieder wie an dem Tage, wo er der Verachtung dieses Weibes und ihrer Cousine in den Champs Elysées ausgesetzt gewesen war, das Verlangen, sich zu rächen.
»Haben Sie, als Sie aus Ihrer Provinz kamen, ein Amulett mitgebracht?« fragte Blondet, als er einige Tage später gegen elf Uhr bei Lucien eintrat, der noch nicht aufgestanden war. »Seine Schönheit«, sagte er zu Coralie, die er auf die Stirn küßte, »richtet vom Keller bis zum Dachboden, in den Tiefen und auf den Höhen Verheerungen an. Ich muß Sie requirieren, mein Lieber,« sagte er und schüttelte dem Dichter die Hand; »gestern, in der Italienischen Oper, verlangte die Gräfin von Montcornet, daß ich Sie ihr vorstelle. Sie werden doch eine entzückende junge Frau, bei der Sie die Elite der großen Welt finden, nicht abweisen.«
»Wenn Lucien nett ist,« sagte Coralie, »wird er nicht zu Ihrer Gräfin gehen. Was tut er in der vornehmen Gesellschaft? Er würde sich langweilen.«
»Wollen Sie ihn gefangenhalten?« fragte Blondet. »Sind Sie auf die vornehmen Frauen eifersüchtig?«
»Ja,« rief Coralie, »sie sind schlimmer als wir.«
»Woher weißt du das, mein Kätzchen?« fragte Blondet.
»Von ihren Männern«, erwiderte sie. »Vergessen Sie nicht, daß ich ein halbes Jahr Marsays Geliebte war.«
»Glauben Sie, mein Kind,« sagte Blondet, »daß mir viel daran liegt, einen Mann, der so schön ist wie der Ihre, bei Frau von Montcornet einzuführen? Wenn Sie es nicht wollen, ist es, als ob ich nichts gesagt hätte. Aber es handelt sich, glaube ich, weniger um Frauen, als vielmehr darum, Lucien zum Frieden und Erbarmen gegen einen armen Teufel, der die Zielscheibe seines Blattes ist, zu bestimmen. Der Baron du Châtelet ist albern genug, Zeitungsartikel ernst zu nehmen. Die Marquise d'Espard, Frau von Bargeton und der Salon der Gräfin von Montcornet interessieren sich für den Reiher, und ich habe versprochen, Laura und Petrarca, Frau von Bargeton und Lucien, miteinander zu versöhnen.«
»Ah!« rief Lucien, dem in allen Adern frisches Blut rollte und der die berauschende Wonne der gestillten Rache kostete, »ich habe sie also unter meinen Füßen! Ihnen verdanke ich es, daß ich meine Feder, meine Freunde, die verhängnisvolle Macht der Presse anbete. Ich habe noch keinen Artikel über das Fischbein und den Reiher geschrieben. Ich werde hingehen, mein Lieber,« sagte er und legte seinen Arm um Blondet, »ja, ich werde hingehen, aber erst, wenn dieses Paar das ganze Gewicht dieses leichten Dinges verspürt hat!«
Er nahm die Feder, mit der er den Artikel über Nathan geschrieben hatte, und schwang sie in der Luft.
»Morgen schleudere ich ihnen zwei kleine Spalten an den Kopf. Nachher werden wir sehen. Beunruhige dich nicht, Coralie: es handelt sich nicht um Liebe, sondern um Rache, und ich will sie ganz.«
»Du bist ein Mann«, sagte Blondet. »Wenn du wüßtest, Lucien, wie selten es ist, einen solchen Ausbruch in der blasierten Welt von Paris zu erleben, würdest du dich erst fühlen. Du bist ein stolzer Kerl,« sagte er, wobei er sich eines noch stärkeren Ausdruckes bediente, »du bist auf dem Wege, der zur Macht führt.«
»Er wird ans Ziel kommen«, sagte Coralie. »Aber er hat in sechs Wochen schon einen hübschen Weg zurückgelegt.«
»Und wenn er von seinem Zepter nur noch durch einen Raum getrennt ist, der nicht größer ist als ein Leichnam, so kann er sich aus dem Körper Coralies eine Stufe machen.«
»Ihr liebt einander wie im goldenen Zeitalter«, sagte Blondet. »Ich gratuliere dir zu deinem großen Artikel«, fuhr er zu Lucien gewandt fort. »Es stehen viel neue Dinge darin. Du bist jetzt unser Meister geworden.«
Lousteau kam mit Hector Merlin und Vernou, um Lucien zu besuchen, der sich überaus geschmeichelt fühlte, Gegenstand ihrer Aufmerksamkeiten zu sein. Félicien brachte Lucien hundert Franken als Honorar für seinen Artikel; die Zeitung hatte es für richtig gehalten, eine so treffliche Arbeit zu honorieren, um den Verfasser an sich zu ziehen. Als Coralie diese Journalistenversammlung sah, schickte sie nach dem Cadran bleu, dem nächsten Restaurant, um dort ein Dejeuner holen zu lassen; dann, als Berenice meldete, daß alles bereitstand, lud sie alle ein, in ihr schönes Speisezimmer hinüberzugehen. Als sie eine Weile bei Tische saßen und der Champagner ihnen zu Kopf gestiegen war, kam der Grund zu dem Besuch, den seine Kollegen Lucien machten, an den Tag.
»Du willst dir doch«, sagte Lousteau zu ihm, »Nathan nicht zum Feinde machen? Nathan ist Journalist, er hat Freunde, er könnte dir bei deinem ersten Buche einen schlimmen Streich spielen. Hast du nicht den Bogenschützen KarlsIX. zu verkaufen? Wir haben Nathan heute morgen gesehen, er ist in Verzweiflung; aber du mußt jetzt einen Artikel schreiben, in dem du ihn tüchtig herausstreichst.«
»Wie? Nach meinem Artikel gegen sein Buch wollt ...?«
Emile Blondet, Hector Merlin, Etienne Lousteau, Félicien Vernou unterbrachen allesamt Lucien mit lautem Gelächter.
»Hast du ihn nicht zu übermorgen zum Souper hierhergeladen?« fragte ihn Blondet.
»Dein Artikel«, sagte Lousteau zu ihm, »ist nicht gezeichnet. Félicien, der kein solcher Neuling ist wie du, hat nicht verfehlt, ein C. darunterzusetzen, mit dem du nun in Zukunft deine Artikel in seinem Blatt, das ausgesprochen zur Linken gehört, unterzeichnen kannst. Wir gehören alle zur Opposition. Félicien war zartfühlend genug, deine künftige Parteirichtung nicht festzulegen. In der Bude Hectors, dessen Blatt zum rechten Zentrum gehört, kannst du mit einem L. zeichnen. Beim Angriff ist man anonym, aber es sieht sehr gut aus, wenn man das Lob unterzeichnet.«
»Die Unterschriften stören mich nicht,« sagte Lucien; »aber ich weiß nichts zugunsten des Buches zu sagen.«
»Du denkst also so, wie du geschrieben hast?« fragte Hector Lucien.
»Ja.«
»Ach, mein Lieber,« sagte Blondet, »ich hielt dich für stärker! Wahrhaftig, mein Ehrenwort! Wenn ich deine Stirne ansah, dachte ich, du hättest eine Allmacht wie die großen Geister, die alle stark genug gebaut sind, um jedes Ding in seiner zwiefachen Gestalt zu sehen. Junger Freund, in der Literatur hat jede Idee ihre Vorderseite und ihre Rückseite: niemand kann mit Bestimmtheit sagen, welches ihre Vorderseite ist. Alles auf dem Gebiete des Gedankens hat zwei Seiten. Die Ideen sind paarig. Janus ist die mythische Gestalt der Kritik und das Symbol des Geistes. Nur Gott ist dreieckig! Was anders stellt Molière und Corneille so hoch über alle, als daß sie die Gabe besitzen, Alceste ja und Philinte, Octave und Cinna nein sagen zu lassen. Rousseau hat in seiner Neuen Heloise einen Brief für und einen gegen das Duell geschrieben, wagst du es zu sagen, welches seine wahre Meinung war? Wer von uns kann zwischen Clarissa und Lovelace, zwischen Hektor und Achilles entscheiden? Welcher ist der Held Homers? Was war die Absicht Richardsons? Die Kritik muß die Werke von ihren sämtlichen Seiten betrachten. Kurz, wir sind große Berichterstatter.«
»Sie legen also Wert auf das, was Sie schreiben?« fragte ihn Vernou mit spöttischer Miene. »Aber wir treiben mit unsern Sätzen Handel und leben von diesem Geschäft. Wenn Sie ein großes, schönes Werk schreiben, ein Buch, dann können Sie Ihre Gedanken und Ihre Seele hineinlegen, sich damit verbunden fühlen und es verteidigen, aber Artikel werden heute gelesen und sind morgen vergessen; das Zeug ist in meinen Augen nicht mehr wert, als daß man es bezahlt. Wenn Sie auf solche Dummheiten Wert legen, dann bekreuzen Sie sich wohl und rufen den Heiligen Geist an, bevor Sie einen Prospekt schreiben!«
Alle schienen erstaunt, bei Lucien Skrupel zu finden, und es gelang ihnen schließlich, seine unschuldige Kindertoga in Stücke zu reißen und ihm das Mannesgewand des Journalisten anzuziehen.
»Weißt du, mit welchem Wort sich Nathan getröstet hat, nachdem er deinen Artikel gelesen hatte?« fragte Lousteau.
»Wie soll ich es wissen?«
»Nathan hat gerufen: Die kleinen Artikel sind vergänglich, die großen Werke bleiben! Dieser Mann kommt in zwei Tagen hierher zum Souper, er muß vor dir niederfallen, deinen Fuß küssen und dir sagen, du seiest ein großer Mann.«
»Das wäre komisch«, rief Lucien.
»Komisch!« versetzte Blondet, »es ist nötig.«
»Liebe Freunde, ich will schon«, sagte Lucien, der ein wenig bezecht war. »Aber wie soll ich es anstellen?«
»Nun,« sagte Lousteau, »schreibe für das Blatt Merlins drei schöne Spalten, worin du dich selbst widerlegst. Nachdem wir uns an der Wut Nathans geweidet haben, sagen wir ihm, daß er uns bald für die gedrängte Polemik Dank wissen soll, vermittels welcher sein Buch in acht Tagen vergriffen sein wird. Vorläufig bist du in seinen Augen ein Spion, ein Hundsfott, ein Schlingel, übermorgen wirst du ein großer Mann, ein starker Geist, ein Mann Plutarchs sein! Nathan wird dich als seinen besten Freund umarmen. Dauriat ist gekommen, du hast drei Scheine von tausend Franken: der Streich ist gelungen. Nun bedarfst du der Achtung und der Freundschaft Nathans. Der Hereingefallene darf nur der Buchhändler sein. Nur unsere Feinde dürfen wir hinschlachten und verfolgen. Wenn es sich um einen Mann handelte, der ohne uns einen Namen erlangt hätte, um ein unbequemes Talent, das man totmachen müßte, würden wir eine solche Widerlegung nicht für nötig halten; aber Nathan ist einer unserer Freunde, Blondet hatte ihn nur im Mercure angreifen lassen, um sich das Vergnügen zu machen, in den Débats zu antworten. Auch ist die erste Auflage des Buches vergriffen!«
»Meine Freunde, auf Ehrenwort, ich bin unfähig, zwei Worte des Lobes über dieses Buch zu schreiben ...«
»Du verdienst noch hundert Franken,« sagte Merlin, »Nathan wird dir schon zehn Louisdor eingebracht haben, abgesehen davon, daß du einen Artikel in Finots Zeitschrift bringen kannst, für den dir Dauriat hundert Franken bezahlt und die Zeitschrift hundert Franken: zusammen zwanzig Louisdor!«
»Aber was soll ich sagen?« fragte Lucien.
»Du kannst dich folgendermaßen aus der Klemme ziehen, mein Kind,« sagte Blondet, der nachdachte: Der Neid, der, wie der Wurm an guten Früchten, an allen schönen Werken nagt, hat auch dieses Buch zu zerfressen versucht, wirst du sagen. Um es mit Fehlern zu behaften, hat die Kritik eigens für dieses Buch Theorien erfinden müssen, in denen sie zwei Gattungen der Literatur unterscheidet: die eine, die sich den Ideen widmet, und die andere, die sich in Bildern verliert. Hier kannst du sagen, daß es der Gipfel der literarischen Kunst ist, die Idee im Bilde auszudrücken. Indem du zu beweisen suchst, daß das Bild die ganze Poesie ist, beklagst du dich über das Geringe an Poesie, das unsere Sprache zuläßt, sprichst von den Vorwürfen, die uns die Ausländer über den Positivismus unseres Stils machen, und lobst Herrn von Canalis und Nathan für die Dienste, die sie Frankreich damit erweisen, daß sie seine Sprache poetisch gestalten. Übertrumpfe deine vorige Beweisführung, indem du zeigst, daß wir über das neunzehnte Jahrhundert hinausgeschritten sind. Erfinde den Fortschritt eine wundervolle Mystifikation für den Bourgeois! Unsere junge Literatur stellt Gemälde hin, in denen alle Gattungen der Komödie und des Dramas, die Schilderungen, die Charaktere, der Dialog, von den Verschlingungen einer interessanten Fabel gehalten, zusammengefaßt sind. Der Roman, der das Gefühl, den Stil und das Bild verlangt, ist die eminenteste moderne Schöpfung. Er folgt auf die Komödie, die mit ihren alten Gesetzen bei unsern modernen Sitten nicht mehr möglich ist. Er umfaßt die Tatsache und die Idee in seinen Erfindungen, und sie erfordern den Geist von Labruyère und seine einschneidende Moral, eine Behandlung der Charaktere, wie sie Molière hinstellte, und wie wir sie aus den kolossalen Geisteswerken Shakespeares kennen, und die Wiedergabe der zartesten Stürme der Leidenschaft, die der einzige Schatz ist, den uns unsere Vorgänger hinterlassen haben. Auch ist der Roman der kalten und mathematischen Diskussion, der trockenen Analyse des achtzehnten Jahrhunderts weit überlegen. Der Roman, so kannst du sentenziös sagen, ist ein amüsantes Epos. Zitiere Corinna, stütze dich auf Madame de Staël. Das achtzehnte Jahrhundert hat alles in Frage gestellt, das neunzehnte hat die Aufgabe, Schlußfolgerungen zu ziehen: es schließt mit Wirklichkeiten, und zwar mit Wirklichkeiten, die lebendig und in Bewegung sind; es läßt die Leidenschaft spielen, ein Element, das Voltaire unbekannt war. Hier eine Tirade gegen Voltaire. Was Rousseau angeht, so hat er nur verkleidete Systeme und Beweisführungen hingestellt. Julie und Clara sind Entelechien, sie haben weder Fleisch noch Knochen. Hier kannst du abspringen und sagen, daß wir dem Frieden, den Bourbonen eine junge und originelle Literatur verdanken, denn du schreibst für ein Blatt des rechten Zentrums. Mache dich über diejenigen lustig, die Systeme aufstellen. Zuletzt kannst du mit einer schönen Regung ausrufen: Welche Irrtümer und Verhüllungen der Wahrheit bei unserm Kollegen! Und warum? Um ein so schönes Werk herabzusetzen, das Publikum zu täuschen und zu der Schlußfolgerung zu kommen: ein Buch, das gut gekauft wird, ist unverkäuflich! Proh pudor Schrei: Proh pudor! Dieser biedere Fluch nimmt den Leser gefangen. Proklamiere schließlich den Verfall der Kritik! Schlußfolgerung: Es gibt nur eine einzige Literatur: die Unterhaltungsliteratur. Nathan hat einen neuen Weg eingeschlagen, er versteht seine Zeit und entspricht ihren Bedürfnissen. Das Bedürfnis der Zeit ist das Drama. Das Drama ist der Wunsch eines Jahrhunderts, in dem die Politik ein unaufhörliches Mimodrama ist. Haben wir nicht, fragst du, in zwanzig Jahren die vier Dramen der Revolution, des Direktoriums, des Kaiserreichs und der Restauration sich abspielen sehn? Von da kommst du ganz von selbst in die überschwenglichsten Lobeserhebungen, und die zweite Auflage ist weg. Nämlich so: am nächsten Sonnabend schreibst du einen Bogen in unserer Zeitschrift und unterzeichnest den Artikel mit deinem vollen Namen von Rubempré. In diesem letzten Artikel sagst du: Es ist das Eigentümliche schöner Bücher, daß sie tiefgehende Diskussionen hervorrufen. In dieser Woche hat das und das Blatt das und das über das Buch von Nathan gesagt, das und das andere hat ihm lebhaft erwidert. Du kritisierst die beiden Kritiken C. und L., du sagst mir im Vorübergehen ein freundliches Wort über den ersten Artikel, den ich in den Débats gebracht habe, und du sagst am Schluß, das Buch Nathans sei das schönste Buch der Zeit. Das ist gerade so viel, wie wenn du nichts gesagt hättest. Man sagt das von allen Büchern. Dabei hast du in einer Woche vierhundert Franken verdient und hast überdies noch das Vergnügen, an irgendeiner Stelle die Wahrheit gesagt zu haben. Gescheite Menschen werden entweder C. oder L. oder Rubempré oder vielleicht auch allen dreien rechtgeben! Die Mythologie, die sicher eine der größten Erfindungen der Menschheit ist, hat die Wahrheit auf den Grund eines Brunnens verwiesen, braucht man nicht Eimer, um sie herauszuholen? Du gibst dem Publikum drei für einen. Da hast du, was du brauchst, mein Junge, und nun los!«
Lucien war wie betäubt, Blondet küßte ihn auf beide Backen und verabschiedete sich: »Ich gehe in meine Bude.«
Alle gingen sie nun in ihre Buden. Für diese »starken« Männer war die Zeitung nur eine Bude. Sie wollten sich alle am Abend in den Galeries de Bois wiedersehen, wo Lucien seinen Vertrag mit Dauriat unterzeichnen sollte. Florine und Lousteau, Lucien und Coralie, Blondet und Finot dinierten im Palais Royal, wo du Bruel dem Direktor des Panorama Dramatique ein Diner gab.
»Sie haben recht,« rief Lucien, als er mit Coralie allein war, »die Menschen dürfen in den Händen der Starken nur Mittel sein. Vierhundert Franken für drei Artikel! Doguereau wollte mir kaum so viel für ein Buch geben, zu dem ich zwei Jahre Arbeit gebraucht habe.«
»Schreibe Kritiken,« versetzte Coralie, »und amüsiere dich. Bin ich nicht heute abend in Andalusien und morgen eine Zigeunerin und an einem andern Tag ein Mann? Mach es wie ich. Gib ihnen Grimassen für ihr Geld und laß uns glücklich sein.«
Ihr paradoxes Wort gefiel Lucien, und er schwang seinen Geist auf diesen launigen Maulesel, den Sohn von Pegasus und Bileams Eselin. Während seines Spazierganges im Bois galoppierte er so auf den Gefilden des Gedankens und entdeckte in der These Blondets originelle Schönheiten. Er dinierte, wie es glückliche Menschen tun, unterzeichnete bei Dauriat einen Vertrag, durch den er ihm das Manuskript der Margueriten zu unbeschränktem Eigentum abtrat, ohne daß er dagegen etwas eingewendet hätte; dann begab er sich für ein Weilchen auf die Redaktion, schrieb rasch zwei Spalten hin und kehrte in die Rue de Vendôme zurück. Am nächsten Morgen zeigte es sich, daß die Gedanken vom Tage vorher in seinem Kopfe gekeimt hatten, wie es mit allen Geistern geht, die voller Jugendfrische sind und deren Gaben noch wenig benutzt worden sind. Lucien machte es Vergnügen, diesen neuen Artikel auszuarbeiten, er ging mit glühendem Elfer daran. Unter seiner Feder entstanden die Schönheiten, die der Widerspruch gebiert. Er war witzig und ironisch, er erhob sich sogar zu neuen, feinen Bemerkungen über die Empfindung, die Idee und das Bild in der Literatur. Er war klug und gewitzigt genug, daß er, als er daranging, Nathan zu loben, seine ersten Eindrücke wiederfand, die er bei der Lektüre des Buches in jenem Lesekabinett gehabt hatte. Aus einem scharfen und herben Kritiker, aus einem lustigen Spötter verwandelte er sich in den Schlußsätzen in einen Dichter, und dieser poetische Abschnitt am Schluß hatte einen so majestätischen Schwung wie ein duftendes Weihrauchgefäß vor dem Altar.
»Hundert Franken, Coralie!« sagte er und wies auf die acht Blätter Papier, die er beschrieben hatte, während sie sich ankleidete. In dem Schwung, der ihn gerade erfaßt hatte, schrieb er langsam und bedächtig auch gleich noch den schrecklichen Artikel, den er Blondet gegen Châtelet und Frau von Bargeton in Aussicht gestellt hatte. Er kostete an diesem Vormittag eine der stärksten geheimen Wonnen des Journalisten, die Bosheit zuzuspitzen, ihre kalte Klinge, die im Herzen des Opfers ihre Scheide finden soll, blank zu putzen und den Griff für das Publikum zu schmücken. Das Publikum bewundert die witzige Arbeit dieses Dolches, es merkt keine Bosheit, es weiß nicht, daß die Schärfe des Witzwortes von der Rache zugespitzt ist, daß der Dolch das Innere des Menschen, das erst gierig durchsucht worden ist, mit tausend Streichen trifft. Dieser furchtbare Genuß, der düster und einsiedlerisch ist, wenn er ohne Zeugen gekostet wird, ist wie ein Duell mit einem Abwesenden, der aus der Entfernung mit einer Federspule getötet wird, wie wenn der Journalist über jene Zauberkraft verfügte, die in den arabischen Märchen die Wünsche derer erfüllt, die Talismane besitzen. Die Bosheit ist der Geist des Hasses, der der Erbe aller schlimmen Leidenschaften des Menschen ist, wie die Liebe alle seine guten Eigenschaften einschließt. Und daher gibt es keinen Menschen, der nicht Geist hätte, wenn er sich rächt, ebenso wie es keinen gibt, dem Liebe nicht Wollust verleiht. Trotz der Leichtigkeit und Gewöhnlichkeit dieses Geistes ist er in Frankreich immer willkommen. Der Artikel Luciens mußte den Ruf, den das Blatt wegen seiner Bosheit und Bösartigkeit genoß, auf den Gipfel bringen und tat es auch; er verwundete diese beiden Herzen, Frau von Bargeton, seine gewesene Laura, und den Baron du Châtelet, seinen Nebenbuhler, tödlich.
»Fahren wir ins Bois spazieren, die Pferde sind angespannt und stampfen vor Ungeduld,« sagte Coralie zu ihm; »du darfst dich nicht totarbeiten.«
»Fahren wir bei Hector Merlin vorbei, ich will ihm den Artikel über Nathan bringen. Wahrhaftig, die Zeitung ist wie die Lanze des Achilles, die die Wunden heilte, die sie geschlagen hatte«, sagte Lucien, während er noch einige stilistische Änderungen vornahm.
Die beiden Liebenden fuhren los und zeigten sich in ihrem Glanze jenem Paris, das Lucien vor kurzem erst zurückgestoßen hatte und das jetzt anfing, sich mit ihm zu beschäftigen. Paris mit sich zu beschäftigen, wenn man erst begriffen hat, was diese Stadt bedeutet, und wie schwer es ist, in ihr etwas zu sein, das erfüllt den Menschen mit Wonne, und Lucien war berauscht.
»Lieber,« sagte die Schauspielerin, »wir wollen bei deinem Schneider vorfahren und darauf dringen, daß du deinen Anzug bekommst, oder du kannst ihn gleich probieren, wenn er so weit ist. Wenn du zu deinen vornehmen Damen gehst, will ich, daß du diesen gräßlichen Marsay, den kleinen Rastignac, die Ajuda-Pinto, die Maxime de Trailles, die Vandenesse, kurz all diese Stutzer ausstichst. Denk daran, daß Coralie deine Geliebte ist! Aber du wirst mir doch keine Streiche machen, was?«
Zwei Tage später, am Tage vor dem Souper, das Lucien und Coralie ihren Freunden gaben, wurde im Ambigu ein neues Stück aufgeführt, über das Lucien berichten sollte. Nach ihrem Diner gingen Lucien und Coralie zu Fuß über den Boulevard du Temple, auf der Seite des Türkischen Cafés, die damals bei den Spaziergängern beliebt war, von der Rue de Vendôme nach dem Panorama Dramatique. Lucien hörte, wie man sein Glück und die Schönheit seiner Geliebten pries. Die einen nannten Coralie die schönste Frau von Paris, die andern fanden, Lucien verdiene sie. Der Dichter fühlte sich in seinem Element. Das war sein Leben. Er dachte kaum mehr an den Zirkel seiner früheren Freunde. Er fragte sich, ob diese großen Geister, die er noch vor zwei Monaten so sehr bewundert hatte, mit ihren Ideen und ihrem Puritanismus nicht ein wenig albern wären. Das Wort Gimpel, das Coralie so unbekümmert ausgesprochen hatte, war im Geiste Luciens aufgegangen und trug schon seine Früchte. Er brachte Coralie in ihr Ankleidezimmer und spazierte dann wie ein Sultan hinter den Kulissen auf und ab, und alle Schauspielerinnen umschmeichelten ihn mit ihren brennenden Blicken und freundlichen Worten.
»Ich muß ins Ambigu gehen und mein Handwerk verrichten«, sagte er.
Im Ambigu war der Zuschauerraum besetzt. Es fand sich kein Platz mehr für Lucien. Lucien ging auf die Bühne und beklagte sich heftig, daß er keinen Platz hätte. Der Regisseur, der ihn nicht kannte, sagte ihm, man hätte seinem Blatt zwei Logen gesandt, und schickte ihn weg.
»Ich werde über das Stück so schreiben, wie ich es gehört habe«, sagte Lucien mit gekränkter Miene.
»Sie sind wohl nicht bei Trost!« sagte die erste Liebhaberin zu dem Regisseur, »das ist der Liebhaber Coralies!«
Sofort wandte sich der Regisseur an Lucien.
So bewiesen die kleinsten Einzelheiten Lucien die ungeheure Macht der Zeitung und schmeichelten seiner Eitelkeit. Der Direktor kam und ersuchte den Herzog von Rhétoré und Tullia, die erste Ballerina, die sich in einer Proszeniumsloge befanden, sie möchten Lucien einen Platz einräumen. Der Herzog erkannte Lucien und willigte ein.
»Sie haben zwei Menschen in Verzweiflung gebracht«, sagte der junge Mann zu ihm und sprach ihm von dem Baron du Châtelet und Frau von Bargeton.
»Wie wird es erst morgen sein?« erwiderte Lucien. »Bis jetzt haben meine Freunde die Rolle der Tirailleure gegen sie gespielt, aber heute nacht schieße ich mit glühenden Kugeln gegen sie. Morgen sollen Sie sehen, warum wir über Potelet spotten. Der Artikel ist überschrieben: Potelet von 1811 an Potelet von 1821. Ich stelle Châtelet als den Typus der Leute hin, die ihren Wohltäter verleugneten und sich mit den Bourbonen versöhnten. Ich werde sie meine ganze Macht fühlen lassen, und dann gehe ich zu Frau von Montcornet.«
Lucien führte mit dem jungen Herzog eine geistsprühende Unterhaltung; es lag ihm viel daran, dem vornehmen Herrn zu zeigen, wie gröblich sich die Marquise d'Espard und Frau von Bargeton getäuscht hatten, als sie ihn mißachteten; aber die Stelle, an der er empfindlich war, trat zutage, als der Herzog von Rhétoré ihn mit leichter Bosheit Chardon nannte: er versuchte, sein Anrecht auf den Namen von Rubempré zu verfechten.
»Sie sollten Royalist werden«, sagte der Herzog zu ihm. »Sie haben sich als ein Mann von Geist gezeigt, zeigen Sie sich jetzt als ein Mann von Verstand. Der einzige Weg, eine Ordonnanz des Königs zu erlangen, die Ihnen den Titel und den Namen Ihrer mütterlichen Vorfahren gibt, ist, sie als Belohnung für Dienste zu erbitten, die Sie dem Hofe erweisen. Die Liberalen werden Sie niemals zum Grafen machen! Sehen Sie, die Restauration wird schließlich der Presse, der einzigen Macht, die zu fürchten ist, den Garaus machen. Man hat schon zu lange gewartet. Sie müßte einen Maulkorb bekommen. Benutzen Sie die letzten Augenblicke ihrer Freiheit, damit man Sie fürchtet. Binnen wenigen Jahren sind ein Name und ein Titel in Frankreich sicherere Reichtümer als das Talent. Sie können also alles haben: Geist, Adel und Schönheit; Sie werden alles bekommen. Seien Sie also in diesem Augenblick nur liberal, um Ihren Royalismus vorteilhaft zu verkaufen.«
Der Herzog bat Lucien, er möchte doch die Einladung zum Diner annehmen, die ihm der Minister, mit dem er bei Florine soupiert hatte, zugehen lassen würde. Lucien war in einem Augenblick von den Bemerkungen des Edelmannes verführt und war entzückt, daß er die Türen der Salons sich vor ihm öffnen sah, aus denen er sich vor wenigen Monaten verbannt geglaubt hatte. Er staunte über die Macht des Gedankens. Die Presse und die Intelligenz waren also das Mittel der heutigen Gesellschaft. Lucien begriff, daß Lousteau es vielleicht bereute, ihm die Pforten des Tempels geöffnet zu haben, er empfand schon für seine eigene Person die Notwendigkeit, den Ehrgeizigen, die aus der Provinz nach Paris strömten, Schranken entgegenzustellen, die schwer zu übersteigen wären. Wenn zu ihm ein Dichter gekommen wäre, wie er sich Etienne in die Arme geworfen hatte, wahrlich, er wagte sich nicht zu fragen, welchen Empfang er ihm bereitet hätte. Der junge Herzog bemerkte an Lucien den Ausdruck tiefen Nachdenkens und täuschte sich nicht über die Ursache: er hatte diesem Ehrgeizigen, ohne bestimmten Plan, aber nicht ohne Absicht, den ganzen Horizont der Politik geöffnet, wie die Journalisten ihm von der Höhe des Tempels, wie der Verführer Jesus gegenüber, die Welt der Literatur und ihre Schätze gezeigt hatten. Lucien wußte nichts von der kleinen Verschwörung, die eben die Menschen gegen ihn angezettelt hatten, die seine Zeitung in diesem Augenblick beleidigte und in deren Welt Herr von Rhétoré zu Hause war. Der junge Herzog hatte die Gesellschaft von Frau d'Espard erschreckt, als er von Luciens Geist berichtete. Frau von Bargeton hatte ihn ersucht, den Journalisten auszuhorchen, und er hatte gehofft, ihn im Ambigu Comique zu treffen. Weder die Gesellschaft noch die Journalisten hatten übrigens große Pläne gemacht. So ist es nicht um sie bestellt, ihr Machiavellismus lebt sozusagen von der Hand in den Mund und besteht darin, immer auf dem Posten und zu allem bereit zu sein, bereit, das Schlimme ebenso wie das Gute auszunutzen und auf die Augenblicke zu lauern, wo die Leidenschaft ihnen einen Menschen überliefert. Während Florinens Souper hatte der junge Herzog Luciens Charakter kennen gelernt, er nahm ihn bei seiner Eitelkeit und versuchte sich an ihm als künftiger Diplomat.
Als das Stück aus war, eilte Lucien nach der Rue Saint-Fiacre, um dort seinen Bericht zu schreiben. Seine Kritik war absichtlich scharf und beißend, es gefiel ihm, seine Macht zu zeigen. Das Melodrama war besser als das vom Panorama Dramatique; aber er wollte wissen, ob er wirklich, wie man gesagt hatte, ein gutes Stück vernichten und einem schlechten zum Erfolg verhelfen könnte. Als er am nächsten Morgen mit Coralie beim Frühstück saß, öffnete er die Zeitung, nachdem er ihr gesagt hatte, er hätte das Ambigu Comique gehörig heruntergemacht. Man kann sich sein Erstaunen denken, als er nach seinem Artikel über Frau von Bargeton und Châtelet einen Bericht über das Ambigu las, der über Nacht so süß gemacht worden war, daß er zwar seine witzige Inhaltsangabe beibehielt, aber trotzdem zu einem günstigen Schluß kam. Das Stück mußte dem Theater volle Häuser bringen. Seine Wut war unbeschreiblich; er nahm sich vor, ein Wörtchen mit Lousteau zu reden. Er hielt sich schon für unentbehrlich und faßte den Vorsatz, sich nicht wie ein beliebiger Tropf unterdrücken und ausbeuten zu lassen. Um seine Macht endgültig zu begründen, schrieb er den Artikel, in dem er für die Zeitschrift Dauriats und Finots alle Anschauungen, die über das Buch von Nathan zutage getreten waren, zusammenfaßte und abwog. Dann verfaßte er noch, da er einmal im Zuge war, eine der geistreichen Schilderungen, die er dem Blättchen zugesagt hatte. In ihrer ersten Hitze schreiben die jungen Journalisten ihre Artikel mit Liebe und verbrauchen dabei unvorsichtig genug die schönsten Blüten ihres Geistes. Der Direktor des Panorama Dramatique führte heute ein Vaudeville zum erstenmal auf, um Florine und Coralie ihren Abend zu lassen. Das Stück mußte vor dem Souper zu Ende sein. Lousteau kam, um den Artikel, den Lucien über dieses kleine Stück nach der Generalprobe im voraus verfaßt hatte, zu holen; er wollte über die kommende Nummer völlig beruhigt sein. Als Lucien ihm einen der reizenden kleinen Artikel aus dem Pariser Leben vorgelesen hatte, küßte ihn Etienne auf beide Augen und nannte ihn den guten Engel der Zeitungen.
»Warum machst du dir denn aber ein Vergnügen daraus, den Sinn meiner Artikel zu verändern?« fragte Lucien, der diesen glänzenden kleinen Artikel nur geschrieben hatte, um seinen Beschwerden mehr Nachdruck zu geben.
»Ich?« rief Lousteau.
»Ja, wer hat denn meinen Artikel verändert?«
»Mein Lieber,« versetzte Etienne lachend, »du bist in den Geschäften noch nicht recht zu Hause. Das Ambigu nimmt uns zwanzig Abonnements ab, von denen nur neun dem Direktor, dem Dirigenten, dem Regisseur, ihren Geliebten und drei Miteigentümern des Theaters zugestellt werden. Jedes der Boulevardtheater zahlt dem Blatt auf diese Weise achthundert Franken. Aber noch einmal so viel Geld wird Finot in Form von Logen gegeben, ohne die Abonnements der Schauspieler und der Autoren zu rechnen. Der Kerl holt also achttausend Franken aus den Boulevardtheatern. Schließe aus diesen kleinen Theatern auf die großen! Du verstehst: wir müssen also sehr nachsichtig sein.«
»Ich verstehe, daß ich nicht frei bin und nicht schreiben kann, was ich denke.«
»Aber was liegt denn dir daran, wenn du dein Schäfchen dabei scherst?« rief Lousteau. »Sag einmal, mein Lieber, was für eine Beschwerde hast du gegen das Theater? Du mußt doch einen Grund haben, um das Stück von gestern zu vernichten. Wollten wir vernichten, um zu vernichten, würden wir das Blatt kompromittieren. Wenn sich das Blatt in seinen Hieben nach der Gerechtigkeit richtete, würde es keine Wirkung erzielen. Hat es der Direktor an etwas fehlen lassen?«
»Er hatte mir keinen Platz reserviert.«
»Schön«, erwiderte Lousteau. »Ich werde dem Direktor deinen Artikel zeigen, ich werde ihm sagen, wie ich ihn gemildert habe, und du stellst dich besser, als wenn er erschienen wäre. Verlange morgen Billette von ihm, er wird dir vierzig monatlich in blanco bewilligen, und ich führe dich dann zu einem Manne, der sie dir unterbringt; er kauft sie dir alle miteinander mit fünfzig Prozent Ermäßigung auf den Preis der Plätze ab. Mit den Theaterbilletten wird derselbe Handel getrieben wie mit den Büchern. Du sollst einen zweiten Barbet kennen lernen, einen Chef der Claque, er wohnt nicht weit von hier, wir haben Zeit, komm.«
»Aber, lieber Freund, Finot treibt doch ein niederträchtiges Gewerbe, wenn er so auf dem Felde des Denkens indirekte Steuern erhebt. Früher oder später ...«
»Aber woher kommst du denn?« entgegnete Lousteau. »Wofür hältst du Finot? Unter seiner falschen Gutmütigkeit, unter seiner Miene eines Turcaret, unter seiner Unwissenheit und Dummheit birgt sich alle Schlauheit eines kleinen Krämers, der mit Hüten handelt, und von so einem stammt er ja auch. Hast du nicht in seinem Verschlag im Bureau des Blattes einen alten Kaiserlichen Offizier gesehen, den Onkel Finots? Dieser Onkel ist nicht nur ein Ehrenmann, er hat auch das Glück, für einen Dummkopf zu gelten. Er ist der Mann, der sich in allen Geldgeschäften kompromittiert. In Paris ist ein Ehrgeiziger sehr glücklich zu preisen, wenn er ein Wesen neben sich hat, das bereit ist, sich kompromittieren zu lassen. Es gibt in der Politik wie im Journalismus eine Menge Fälle, von denen die Chefs nie etwas wissen dürfen. Wenn Finot eine politische Persönlichkeit würde, verwandelte sich sein Onkel in seinen Sekretär und empfinge für seine Rechnung die Tribute, die in den Bureaus, in denen es sich um die Staatsangelegenheiten handelt, erhoben werden. Giroudeau, den man zuerst für einen Dummkopf zu halten geneigt ist, ist genau so pfiffig, wie es für einen Helfershelfer, aus dem nichts herauszubekommen ist, nötig ist. Er steht auf Posten, um zu verhindern, daß wir durch Geschrei, durch die Neulinge, die Beschwerden belästigt werden, und ich glaube nicht, daß es in einem andern Blatt seinesgleichen gibt.«
»Er spielt seine Rolle gut,« sagte Lucien, »ich habe ihn bei der Arbeit gesehen.«
Etienne und Lucien begaben sich in die Rue du Faubourg-du-Temple, wo der Chefredakteur vor einem stattlichen Hause stehen blieb.
»Ist Herr Braulard zu Hause?« fragte er den Portier.
»Wie, hier wohnt der Chef der Claque?« fragte Lucien erstaunt.
»Mein Lieber, Braulard hat zwanzigtausend Livres Einkommen, er hat die Boulevarddramatiker in den Händen, die alle ein Konto bei ihm haben wie bei einem Bankier. Die Freibillette der Autoren und der Begünstigten müssen verkauft werden. Diesen Handel betreibt Braulard. Nimm ein wenig Statistik zur Hilfe, das ist eine recht nützliche Wissenschaft, wenn man sie nicht mißbraucht. Wenn du für jedes Theater fünfzig Freibillette annimmst, so kommst du auf täglich zweihundertfünfzig Billette; wenn sie durchschnittlich gerechnet jedes fünfzig Sous wert sind, so zahlt Braulard hundertfünfundzwanzig Franken täglich an die Autoren und kann ebensoviel daran verdienen. Also die Billette der Autoren allein verschaffen ihm mehr als viertausend Franken monatlich, in Summa achtundvierzigtausend Franken jährlich. Nimm zwanzigtausend Franken Verlust an, denn er kann seine Billette nicht immer unterbringen.«
»Warum?«
»Oh, es gibt Leute, die ihre Plätze an der Kasse kaufen; die haben vor den Freibilletten den Vorzug, daß sie reserviert sind. Überdies gibt es Tage mit gutem Wetter und mit schlechten Stücken. So verdient Braulard vielleicht dreißigtausend Franken jährlich an diesem Artikel. Dann hat er seine Claque, das ist eine weitere Industrie. Florine und Coralie sind ihm tributpflichtig, wenn sie ihn nicht bezahlten, hätten sie bei ihrem Auftreten und ihrem Abgehen keinen Beifall.«
Lousteau gab diese Erklärung halblaut, während sie die Treppe hinaufgingen.
»Paris ist ein seltsames Land«, sagte Lucien; in allen Winkeln lauerten interessante Dinge auf ihn.
Ein schmuckes Zimmermädchen führte die beiden Journalisten zu Herrn Braulard. Der Billetthändler, der auf einem Schreibtischstuhl vor einem großen Zylinderbureau saß, erhob sich, als er Lousteau sah. Braulard trug einen Rock aus grauem Molton, Strumpfhosen und rote Pantoffeln, völlig wie ein Arzt oder ein Advokat. Lucien sah in ihm das Urbild des reichen Emporkömmlings: ein gemeines Gesicht, überaus schlaue graue Augen, Hände eines Claqueurs, einen Teint, den die Ausschweifungen zugerichtet hatten wie der Regen die Dächer, ergrauende Haare und eine sehr gedämpfte Stimme.
»Sie kommen ohne Zweifel für Fräulein Florine, und der Herr für Fräulein Coralie?« sagte er. »Ich kenne Sie gut. Seien Sie ruhig, lieber Herr,« sagte er zu Lucien, »ich kaufe die Praxis des Gymnase, ich werde Ihre Geliebte gut bedienen und werde sie warnen, wenn gegen sie Streiche geplant werden.«
»Wir wollen das nicht ablehnen, mein lieber Braulard«, sagte Lousteau; »aber eigentlich kommen wir wegen der Billette der Zeitung für alle Boulevardtheater: ich als Chefredakteur und der Herr als Berichterstatter über all diese Theater.«
»Ach ja, Finot hat sein Blatt verkauft. Ich hörte von dem Geschäft. Er macht seine Sache gut, der Finot. Ich gebe ihm Ende der Woche ein Diner. Wenn Sie mir die Ehre und das Vergnügen machen wollen, zu kommen, können Sie Ihre Damen mitbringen; es wird lustig zugehen. Es werden da sein: Adèle Dupuis, Ducange, Frédéric du Petit-Méry, Fräulein Millot, meine Geliebte; wir werden viel lachen und noch mehr trinken.«
»Ducange muß es schlecht gehen, er hat seinen Prozeß verloren.«
»Ich habe ihm zehntausend Franken geliehen, der Erfolg des Calas wird mir sie wiedergeben: ich habe tüchtig eingeheizt! Ducange ist ein geistvoller Mann, er kann etwas ...«
Lucien glaubte zu träumen, als er hörte, wie dieser Mann kritisch über das Talent von Schriftstellern sprach.
»Coralie hat sich gebessert«, sagte Braulard zu ihm mit der Miene eines kompetenten Richters. »Wenn sie nett ist, werde ich sie heimlich bei ihrem ersten Auftreten im Gymnase gegen die Ränke unterstützen. Hören Sie: ich will gut angezogene Männer für sie auf die Galerien setzen, die lächeln und leise beifällig murmeln, um den Beifall hervorzurufen. Das ist eine Veranstaltung, die einer Schauspielerin eine Stellung verschafft. Coralie gefällt mir, und Sie dürfen mit ihr zufrieden sein, sie hat Empfindung. Ah, wenn ich will, kann ich jede durchfallen lassen ...«
»Aber kommen wir auf das Geschäft mit den Billetten«, fiel Lousteau ein.
»Nun, ich werde sie an den ersten Tagen jedes Monats bei dem Herrn abholen. Der Herr ist Ihr Freund, ich werde ihn behandeln wie Sie. Sie haben fünf Theater, man wird Ihnen dreißig Billette geben: das wird so beiläufig fünfundsiebzig Franken im Monat machen. Vielleicht wünschen Sie einen Vorschuß?«
Damit ging der Billetthändler zu seinem Sekretär und zog eine Kasse hervor, die voller Taler war.
»Nein, nein,« sagte Lousteau, »wir bewahren uns diese Quelle für die schlimmen Tage auf ...«
Braulard wandte sich jetzt wieder zu Lucien: »Ich werde in diesen Tagen mit Coralie arbeiten, wir werden uns gut verständigen.«
Lucien sah sich nicht ohne tiefes Staunen im Arbeitszimmer Braulards um, in dem er einen Bücherschrank, Stiche und gute Möbel gewahrte. Als er durch den Salon fortging, sah er, daß auch hier die Möbel gleichweit von der Dürftigkeit wie von übertriebenem Luxus entfernt waren. Das Speisezimmer schien ihm noch am besten eingerichtet; er machte einen Scherz darüber.
»Aber Braulard ist ein Feinschmecker,« sagte Lousteau, »seine Diners sind in der dramatischen Literatur berühmt, sie stehen im Einklang mit seiner Kasse.«
»Ich habe gute Weine«, versetzte Braulard bescheiden. »Ah! da kommen meine Truppen«, rief er, als er heisere Stimmen und den Lärm von Tritten auf der Treppe hörte.
Beim Verlassen des Hauses sah Lucien die übelduftende Rotte der Claqueure und Billettverkäufer, lauter Leute mit Mützen, abgetragenen Hosen, fadenscheinigen Röcken, mit blauen oder grünlichen, schmutzigen oder durch Krankheit entstellten Gesichtern, mit langen Bärten, mit Augen, die zugleich wild und listig dreinblickten: ein gräßlicher Menschenschlag, wie er auf den Boulevards von Paris wächst; am Vormittag verkaufen sie Sicherheitsketten und goldene Schmucksachen für fünfundzwanzig Sous; am Abend sitzen sie auf dem Olymp und klatschen, und im übrigen übernehmen sie alle schmutzigen Geschäfte, die es in Paris gibt.
»Das sind die Herren Kenner!« sagte Lousteau lachend, »der Ruhm der Schauspielerinnen und der Dramatiker. Aus der Nähe gesehen, ist der auch nicht schöner als unserer.«
»Es ist schwer,« erwiderte Lucien, der langsam zu sich kam, »in Paris über irgend etwas Illusionen zu bewahren. Es wird hier alles besteuert, man verkauft alles, man fabriziert alles, selbst den Erfolg.«
Die Gäste Luciens waren Dauriat, der Direktor des Panorama, Matifat und Florine, Camusot, Lousteau, Finot, Nathan, Hector Merlin und Frau du Val-Noble, Félicien Vernou, Blondet, Vignon, Philipp Bridau, Mariette, Giroudeau, Cardot und Florentine, Bixiou. Er hatte auch seine Freunde vom Zirkel eingeladen. Die Tänzerin Tullia, die, wie man sagte, die Freundin du Bruels war, war auch dabei, aber ohne ihren Herzog, und ferner die Besitzer der Zeitungen, für die Nathan, Merlin, Vignon und Vernou schrieben. Es waren zusammen dreißig Personen, das Speisezimmer Coralies hatte nicht für mehr Platz. Gegen acht Uhr nahmen beim Glanze der hellen Kronleuchter die Möbel, Tapeten und Blumen in dieser Wohnung das festliche Aussehen an, das dem Pariser Luxus das Ansehen einer Feerie gibt. Lucien empfand ein undefinierbares Gemisch aus Glück, befriedigter Eitelkeit und Hoffnung, als er sich als den Herrn dieser Räume sah, er gab sich keine Rechenschaft mehr darüber, wie oder durch wen dieser Zauber geschehen sei. Florine und Coralie, die mit dem entzückenden Geschmack und dem künstlerischen Luxus der Schauspielerinnen gekleidet waren, lächelten unserem Provinzdichter wie zwei Engel zu, die das Amt hatten, ihm die Tore zum Schloß der Träume zu öffnen. Lucien glaubte fast zu träumen. In den paar Monaten hatte sein Leben so plötzlich ein neues Aussehen bekommen, er war so schnell vom äußersten Elend zum größten Luxus übergegangen, daß ihn manchmal, wie die Menschen, die im Schlafe wissen, daß sie nur träumen, Unruhe überkam. Nichtsdestoweniger drückte sein Blick, wenn er auf diese schöne Wirklichkeit sah, eine Zuversicht aus, die von Neidischen vielleicht als abgeschmackter Hochmut bezeichnet worden wäre. Er selbst hatte sich auch verändert. Da er alle Tage in Wonne schwamm, war er blaß geworden, sein Blick hatte einen feucht schmachtenden Ausdruck angenommen, kurz, er sah, wie Frau d'Espard sagte, wie ein Mann aus, der geliebt wird. Aber seine Schönheit siegte über alles. Das Bewußtsein seiner Macht und Stärke sprach aus seinen von Liebe und Erfahrung verklärten Zügen. Er sah endlich die literarische Welt und die Gesellschaft von Angesicht zu Angesicht und glaubte, sich darin als Herr bewegen zu können. Diesem Dichter, den nur die Last des Unglücks zum Nachdenken brachte, barg die Gegenwart keine Sorge. Der Erfolg blähte die Segel seines Bootes, er hatte die Werkzeuge zu seiner Verfügung, die für seine Pläne notwendig waren: ein vornehm eingerichtetes Haus, eine Geliebte, um die ganz Paris ihn beneidete, eine Equipage und schließlich unschätzbare Summen in seinem Tintenfasse. Seine Seele, sein Herz und sein Geist hatten sich in gleicher Weise gewandelt: angesichts so schöner Resultate dachte er nicht mehr daran, sich über die Mittel Skrupel zu machen. Das Leben, das er führte, und sein kostspieliger Haushalt wird den Ökonomisten, die die Tatsachen des Pariser Lebens kennen, mit Recht unglaublich vorkommen, und so wird es nicht unnütz sein, die allerdings sehr gebrechliche Grundlage aufzuzeigen, auf der der materielle Wohlstand der Schauspielerin und ihres Dichters beruhte. Ohne für sich eine Verpflichtung einzugehen, hatte Camusot die Lieferanten Coralies dazu gebracht, ihr wenigstens während eines Vierteljahrs Kredit zu geben. Die Pferde, die Leute, das ganze Leben floß diesen beiden Kindern, die auf den Genuß aus waren und die mit Wonne alles genossen, zu wie durch Hexerei. Coralie nahm Lucien bei der Hand und zeigte ihm schon jetzt den Speisesaal mit seinen glänzenden Gedecken, seinen Kandelabern, die vierzig Kerzen trugen, die ausgesuchten Leckerbissen des Nachtisches und der Tischkarte, die Chevet entworfen hatte. Lucien küßte Coralie auf die Stirn und drückte sie an seine Brust.
»Ich hoffe, Geliebte,« sagte er zu ihr, »ich werde dich einmal für so viel Liebe und Aufopferung belohnen können.«
»Bah!« sagte sie, »bist du zufrieden?«
»Ich wäre sehr undankbar, wenn ich es nicht wäre.«
»Dieses Lächeln ist mir Lohn genug«, erwiderte sie und drückte unter einer geschmeidigen Schlangenbewegung ihres Leibes ihre Lippen auf die seinen.
Sie fanden Florine, Lousteau, Matifat und Camusot gerade dabei, die Spieltische aufzustellen. Die Freunde Luciens langten an, denn alle diese Leute nannten sich schon Luciens Freunde. Man spielte von neun Uhr bis Mitternacht. Zu seinem Glücke kannte Lucien kein Spiel; aber Lousteau verlor tausend Franken und borgte sie von Lucien, der glaubte, sie ihm nicht verweigern zu dürfen, da sein Freund ihn darum bat. Ungefähr um zehn Uhr traten Michel, Fulgence und Joseph ein. Lucien, der mit ihnen in einer Ecke plauderte, fand ihre Manieren recht kühl und ernst, um nicht zu sagen gezwungen. D'Arthez hatte nicht kommen können, er war dabei, sein Buch zu vollenden. Léon Giraud war mit der Veröffentlichung der ersten Nummer seiner Zeitschrift beschäftigt. Der Zirkel hatte seine drei Künstler entsandt, die sich bei solch einem Gelage weniger wie in der Fremde vorkommen mußten als die andern.
»Nun, liebe Kinder,« sagte Lucien und nahm ein wenig den Ton der Überlegenheit an, »ihr sollt sehen, der kleine Possenreißer kann ein großer Politiker werden.«
»Ich wünsche mir nichts Besseres, als daß ich mich getäuscht habe«, erwiderte Michel.
»Du lebst bis auf weiteres mit Coralie?« fragte ihn Fulgence.
»Ja«, erwiderte Lucien mit einem Gesicht, das harmlos sein sollte. »Coralie hatte einen armen, alten Kaufmann, der sie anbetete; sie hat ihn vor die Tür gesetzt. Ich bin glücklicher als dein Bruder Philipp, der nicht weiß, wie er mit Mariette fertig werden soll«, fügte er mit einem Blick auf Joseph Bridau hinzu.
»Kurz,« sagte Fulgence, »du bist jetzt ein Mensch wie ein anderer und wirst dein Glück machen.«
»Ein Mensch, der für euch derselbe bleibt, in welcher Lage er sich auch befindet«, antwortete Lucien.
Michel und Fulgence sahen sich an und tauschten ein spöttisches Lächeln aus. Lucien bemerkte es und fühlte, daß er eine lächerliche Bemerkung gemacht hatte.
»Coralie ist wunderbar schön«, rief Joseph Bridau. »Was für ein herrliches Porträt könnte das geben!«
»Und gut«, versetzte Lucien. »Wahrhaftig, sie ist ein Engel; aber du sollst ihr Porträt malen; nimm sie, wenn du willst, als Modell für die Venezianerin, die von einem alten Weibe dem Senator zugeführt wird.«
»Alle Frauen, die lieben, sind Engel«, sagte Michel Chrestien.
In diesem Augenblicke stürzte Raoul Nathan mit einer wahren freundschaftlichen Wut auf Lucien zu, ergriff seine Hände und drückte sie ihm.
»Mein guter Freund, Sie sind nicht nur ein großer Mann, sondern Sie haben auch Herz, was heutzutage seltener ist als das Genie«, sagte er. »Sie sind ein wahrer Freund. Ich gehöre Ihnen für Leben und Tod und werde nie vergessen, was Sie in dieser Woche für mich getan haben.«
Lucien fühlte sich auf dem Gipfel der Freude, als er sich von einem so berühmten Manne so schmeichelhaft behandelt sah, und blickte seine drei Freunde vom Zirkel mit einer Art Überlegenheit an. Die Begeisterung Nathans war dem Umstand zu verdanken, daß Merlin ihm einen Korrekturabzug des Artikels zugunsten seines Buches gezeigt hatte, der am Tag darauf im Blatt erscheinen sollte.
»Ich habe nur unter der Bedingung eingewilligt, den Angriff zu schreiben,« sagte Lucien Nathan ins Ohr, »daß ich selbst darauf antworten darf. Ich gehöre zu Ihren Freunden.«
Er war entzückt über diesen Vorfall, der seinen Satz, über den Fulgence gelächelt hatte, rechtfertigen mußte, und wandte sich in dieser Stimmung wieder seinen drei Freunden vom Zirkel zu.
»Das Buch von d'Arthez soll nur kommen, ich bin jetzt in der Lage, ihm nützlich zu sein. Diese Aussicht allein wäre mir Grund genug, bei den Zeitungen zu bleiben.«
»Bist du dort frei?« fragte Michel.
»So frei, wie man sein kann, wenn man unentbehrlich ist«, erwiderte Lucien mit falscher Bescheidenheit.
Gegen zwölf Uhr setzten sich die Gäste zu Tisch, und das Gelage begann. Die Unterhaltung war bei Lucien freier als bei Matifat, denn niemand ahnte, wie verschieden geartet die drei Abgesandten des Zirkels und die Vertreter des Journalismus waren. Diese jungen Geister, die von der Gewohnheit des Für und des Wider so verderbt waren, gerieten miteinander ins Streiten und warfen einander die schrecklichsten Ausdrücke an den Kopf, die der Journalismus damals erzeugte. Claude Vignon, der der Kritik einen strengen Charakter bewahren wollte, wandte sich gegen die Neigung der kleinen Blätter zum persönlichen Kampf und sagte, die Schriftsteller würden bald so weit sein, daß sie sich selbst in Mißkredit brächten. Lousteau, Merlin und Finot übernahmen nunmehr offen die Verteidigung dieses Systems, das im Journalistenjargon die »Blague« heißt, und behaupteten, das sei wie ein Stempel, mit dem man das Talent zeichnete.
»Nur wer dieser Probe standhält, ist ein wahrhaft starker Mann«, sagte Lousteau.
»Und überdies«, rief Merlin, »bedarf es während der Huldigungen, die großen Männern dargebracht werden, wie bei den Triumphen der Römer, eines Schimpfkonzertes.«
»Ha, ha,« lachte Lucien, »alle, die man verspottet, werden glauben, sie seien Triumphatoren.«
»Könnte man nicht sagen, das sei dein Fall?« rief Finot.
»Und unsere Sonette?« sagte Michel Chrestien, »sollten sie uns nicht so viel wert sein wie der Triumph Petrarcas?«
» Faciamus experimentum in anima vili«, erwiderte Lucien lächelnd.
»Und wehe denen, die in der Zeitung nicht heruntergemacht werden und denen sie bei ihrem ersten Auftreten Kränze flicht! Sie werden verworfen sein wie Heilige in ihrer Nische, und niemand wird ihnen die geringste Aufmerksamkeit schenken«, rief Vernou.
»Man wird ihnen sagen, was Champcenetz dem Marquis von Genlis sagte, als dieser seine Frau zu verliebt ansah: Gehen Sie weiter, guter Mann, man hat Ihnen schon gegeben!« sagte Blondet.
»In Frankreich tötet der Erfolg«, meinte Finot. »Wir sind in unserm Lande zu eifersüchtig aufeinander, als daß wir nicht die Triumphe der andern vergessen und in Vergessenheit bringen möchten.«
»Der Widerspruch ist es in der Tat, was in der Literatur Leben gibt«, sagte Claude Vignon.
»Wie in der Natur, wo es aus zwei einander feindlichen Prinzipien entsteht«, rief Fulgence. »Der Sieg des einen über den andern ist der Tod.«
»Wie in der Politik«, fügte Michel Chrestien hinzu.
»Wir sind eben dabei, es zu beweisen«, sagte Lousteau. »Dauriat wird in dieser Woche zweitausend Exemplare von Nathans Buch verkaufen. Warum? Das Buch, das angegriffen wurde, wird gut verteidigt werden.«
»Wie sollte ein solcher Artikel«, sagte Merlin und zog den Korrekturbogen seines Blattes aus der Tasche, »nicht eine Auflage wegbringen?«
»Lesen Sie mir den Artikel vor«, rief Dauriat. »Ich bin überall Buchhändler, selbst beim Souper.«
Merlin verlas den glänzenden Artikel Luciens, der von der ganzen Versammlung mit dem größten Beifall aufgenommen wurde.
»Hätte nun dieser Artikel ohne den ersten geschrieben werden können?« fragte Lousteau.
Dauriat zog den Druckbogen des dritten Artikels aus der Tasche und las ihn vor. Finot folgte der Verlesung dieses Artikels, der für die zweite Nummer seiner Zeitschrift bestimmt war, sehr aufmerksam, und in seiner Eigenschaft als Chefredakteur legte er eine übertriebene Begeisterung an den Tag.
»Meine Herren,« sagte er, »wenn Bossuet in unserem Jahrhundert lebte, hätte er nicht anders geschrieben.«
»Ich glaube es gern«, sagte Merlin. »Bossuet wäre heutzutage Journalist.«
»Auf Bossuet II.!« rief Claude Vignon, hob sein Glas und trank Lucien ironisch zu.
»Auf meinen Kolumbus!« versetzte Lucien und hob sein Glas gegen Dauriat.
»Bravo!« rief Nathan.
»Ist das ein Spitzname?« fragte Merlin boshaft und blickte dabei Finot und Lucien an.
»Wenn Sie so fortfahren,« sagte Dauriat, »können wir Ihnen nicht folgen, und diese Herren«, fügte er hinzu und wies auf Matifat und Camusot hin, »können Sie nicht mehr verstehen. Der Scherz ist wie das Garn, das, wie Bonaparte gesagt hat, zerreißt, wenn es zu fein gesponnen wird.«
»Meine Herren,« sagte Lousteau, »wir sind Zeugen einer ernsten, unbegreiflichen, unerhörten, wahrhaft überraschenden Tatsache. Bewundern Sie nicht die Geschwindigkeit, mit der unser Freund sich aus einem Provinzialen in einen Journalisten verwandelt hat?«
»Er ist als Journalist geboren«, sagte Dauriat.
»Liebe Kinder,« sagte jetzt Finot, der sich erhoben hatte und in der Hand eine Flasche Champagner hielt, »wir haben alle miteinander die Anfänge unseres liebenswürdigen Wirtes in der Laufbahn, in der er unsere Erwartungen übertroffen hat, unterstützt. In diesen zwei Monaten hat er mit den schönen Artikeln, die wir kennen, sein Probestück abgelegt: ich schlage vor, ihn jetzt feierlich als Journalisten zu taufen.«
»Einen Kranz aus Rosen, um seinen doppelten Sieg zu feiern«, rief Bixiou mit einem Blick auf Coralie. Coralie gab Berenice einen Wink, die in den Behältnissen der Schauspielerin alte künstliche Blumen suchen ging. Sowie das dicke Kammermädchen sie gebracht hatte, wurde schnell ein Kranz aus Rosen geflochten, und mit den übrigen schmückten sich die in der Gesellschaft, die am betrunkensten waren, grotesk genug heraus. Finot goß als Hohepriester einige Tropfen Champagner auf Luciens schönen Blondkopf und sprach dabei mit entzückender Würde die folgenden Einsetzungsworte: »Im Namen des Stempels, der Kaution und der Buße: ich taufe dich zum Journalisten. Mögen deine Artikel dir leicht sein!«
»Und mögen sie dir ohne Abzug der Zwischenräume bezahlt werden!« fügte Merlin hinzu.
In diesem Augenblick bemerkte Lucien die verdüsterten Gesichter von Michel Chrestien, Joseph Bridau und Fulgence Ridal, die ihre Hüte nahmen und fortgingen. Ein Sturm von Verwünschungen folgte ihnen.
»Kuriose Heilige«, sagte Merlin.
»Fulgence war ein guter Junge,« versetzte Lousteau, »aber sie haben ihn mit Moral verdorben.«
»Wer?« fragte Claude Vignon.
»Ernste junge Männer, die sich in einem philosophischen und religiösen Lokal in der Rue des Quatre-Vents versammeln, man grübelt dort über den allgemeinen Sinn der Menschheit«, antwortete Blondet.
»Oh! oh! oh!«
»Man untersucht dort,« fuhr Blondet fort, »ob sie sich um sich selbst dreht oder ob sie im Fortschreiten ist. Sie schwankten sehr lange zwischen der geraden und der gekrümmten Linie, sie fanden den Unsinn des biblischen Dreiecks, bis ihnen irgendein Prophet, ich weiß nicht welcher, erschien, der sich für die Spirale aussprach.«
»Wenn Menschen sich vereinigen, können sie noch gefährlichere Dummheiten aushecken«, rief Lucien, der den Zirkel verteidigen wollte.
»Du nimmst diese Theorien für müßige Worte,« sagte Félicien Vernou, »aber es kommt der Augenblick, wo sie sich in Flintenschüsse oder in die Guillotine verwandeln.«
»Vorläufig sind sie nur dabei, zu erforschen, welchen Zweck die Vorsehung mit dem Champagnerwein verfolgte, oder welcher humanitäre Gedanke im Tragen langer Hosen liegt, oder das Geheimnis zu finden, das die Welt in Bewegung setzte. Sie richten große gefallene Männer wieder auf: Vico, Saint-Simon, Fourier. Ich habe große Angst, daß sie meinem braven Joseph Bridau den Kopf verdrehen.«
»Sie sind daran schuld,« sagte Lousteau, »daß mein Landsmann und Studienfreund Bianchon mich links liegen läßt ...«
»Lehrt man dort die Gymnastik und Orthopädie der Geister?« fragte Merlin.
»Schon möglich,« meinte Finot, »da Bianchon auf ihre Phantastereien eingeht.«
»Nun, er wird nichtsdestoweniger ein großer Arzt werden«, sagte Lousteau.
»Ist ihr sichtbares Haupt nicht d'Arthez,« sagte Nathan, »ein junger Mensch, der uns einmal alle in den Sack steckt?«
»Er ist ein Genie«, rief Lucien.
»Ein Glas Sherry ist mir lieber«, sagte Claude Vignon lächelnd.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wo jeder seinem Nachbarn seinen Charakter erklären wollte. Wenn Leute von Geist erst dahin gekommen sind, sich selbst zu erklären, den Schlüssel ihres Herzens zu geben, so steht es fest, daß die Betrunkenheit Herr über sie geworden ist. Eine Stunde später waren alle Gäste die besten Freunde der Welt und behandelten sich gegenseitig als große Männer, als starke Geister, als solche, denen die Zukunft gehört. Lucien hatte sich in seiner Eigenschaft als Gastgeber noch einige Helligkeit des Denkens bewahrt: er hörte Sophismen an, die sein Inneres trafen und das Werk seines moralischen Verfalles vollendeten.
»Kinder,« rief Finot, »die liberale Partei ist genötigt, ihre Polemik wieder anzufachen, und sie befindet sich in einer großen Verlegenheit, weil zurzeit nichts gegen die Regierung zu sagen ist. Wer von euch will eine Broschüre schreiben, um die Wiederherstellung des Erstgeburtsrechts zu verlangen, damit wir gegen die geheimen Absichten des Hofes losziehen können? Die Broschüre soll gut bezahlt werden.«
»Ich,« sagte Hector Merlin, »das trifft sich mit meinen Ansichten.«
»Deine Partei wird sagen, du kompromittierst sie«, erwiderte Finot. »Übernimm du diese Broschüre, Félicien, Dauriat wird sie herausgeben, und wir wahren das Geheimnis.«
»Wieviel wird dafür bezahlt?« fragte Vernou.
»Sechshundert Franken! Du zeichnest Graf C...«
»Schön!« sagte Vernou.
»Ihr erhebt also die Ente bis in die Politik?« ließ sich Lousteau vernehmen.
»Das heißt, den Fall Chabot auf das Gebiet der Ideen übertragen«, nahm Finot das Wort wieder auf. »Man schiebt der Regierung Absichten unter und entfesselt die öffentliche Meinung gegen sie.«
»Es ist doch eine erstaunliche Sache, daß wir eine Regierung haben, die es uns Käuzen überläßt, die öffentliche Meinung zu machen«, sagte Claude Vignon. »Wenn das Ministerium die Dummheit begeht, in die Arena hinabzusteigen, wird die Trommel gerührt; nimmt es sich zuviel heraus, dann wird der Unwille geschürt, man stachelt die Massen auf. Die Zeitung riskiert nie etwas, während die Macht alles zu verlieren hat.«
»Frankreich ist null und nichtig bis zu dem Tage, wo die Zeitung geknebelt wird«, fing Vignon wieder an. »Ihr macht von Stunde zu Stunde Fortschritte. Ihr seid die neuen Jesuiten, nur daß ihr keinen Glauben, keinen bleibenden Gedanken, keine Disziplin, keine Einigkeit habt.«
Alle setzten sich wieder an die Spieltische. Die Morgendämmerung machte bald die Kerzen erblassen.
»Deine Freunde aus der Rue des Quatre-Vents waren trübselig wie zum Tode Verurteilte«, sagte Coralie zu ihrem Geliebten.
»Sie waren die Richter«, erwiderte der Poet.
»Richter pflegen amüsanter zu sein«, meinte Coralie.
Lucien lebte einen Monat unter Soupers, Diners, Dejeuners und Abendgesellschaften und wurde in einen unbezähmbaren Wirbel von Vergnügungen und leichter Arbeit hineingerissen. Er rechnete nicht mehr. Die Gabe, inmitten der Wirrnisse des Lebens rechnen zu können, ist die Eigenschaft der Intelligenzen von starkem Willen, die den Dichtern, den Schwachen und denen, die bloß Esprit haben, abgeht. Wie die meisten Journalisten lebte Lucien von der Hand in den Mund, gab mehr Geld aus, als er einnahm, und dachte nicht an die regelmäßig wiederkehrenden Anforderungen des Pariser Lebens, die für diese Zigeuner so niederdrückend sind. Seine Kleidung und sein Auftreten wetteiferten mit denen der berühmtesten Dandys. Coralie setzte, leidenschaftlich verliebt, wie sie war, ihren Stolz darein, ihren Abgott zu schmücken. Sie gab ihr Letztes, um ihrem teuern Dichter all den Luxus der eleganten jungen Leute zu verschaffen, den er bei seinem ersten Spaziergang in den Tuilerien sich so sehnsüchtig gewünscht hatte. Er besaß nun wunderbare Spazierstöcke, eine entzückende Lorgnette, diamantenbesetzte Knöpfe, Ringe für eine Morgenkrawatte, Siegelringe und eine große Anzahl kostbarer Westen, um stets zu den Farben des Anzugs, den er trug, eine aussuchen zu können. Er galt bald für einen Dandy. An dem Tage, da er der Einladung des deutschen Diplomaten folgte, erregte seine Metamorphose bei den jungen Leuten der Gesellschaft, die im Reich der Mode den Ton angaben, wie bei Marsay, Vandenesse, Ajuda-Pinto, Maxime de Trailles, Rastignac, dem Herzog von Maufrigneuse, Beaudenord, Manerville und anderen, eine Art verhaltenen Neides. Die Männer der Welt sind untereinander eifersüchtig wie Frauen. Die Gräfin von Montcornet und die Marquise d'Espard nahmen Lucien in ihre Mitte und überhäuften ihn mit Koketterien.
»Warum haben Sie der Welt den Rücken gekehrt?« fragte ihn die Marquise. »Sie war so sehr geneigt, Sie gut aufzunehmen und zu feiern. Ich muß Ihnen Vorwürfe machen! Sie waren mir einen Besuch schuldig, und ich erwarte ihn noch immer. Ich sah Sie neulich in der Oper, Sie haben mich nicht begrüßt.«
»Ihre Cousine, gnädige Frau, hat mir so unverkennbar den Abschied gegeben ...«
»Sie kennen die Frauen nicht«, unterbrach Frau d'Espard Lucien. »Sie haben das edelste Herz und die zarteste Seele verletzt, die ich kenne. Sie wissen nicht, was Louise alles für Sie tun wollte, und wie fein sie sich ihren Plan ausgedacht hatte. Oh! es wäre ihr geglückt«, sagte sie, als Lucien eine abwehrende Bewegung machte. »Mußte ihr nicht ihr Mann, der nun wirklich, wie zu erwarten stand, an einer Verdauungsstörung gestorben ist, früher oder später ihre Freiheit wiedergeben? Glauben Sie, daß sie Frau Chardon heißen wollte? Der Titel einer Gräfin von Rubempré war es wert, daß man ihn eroberte. Sehen Sie, die Liebe ist eine große Eitelkeit, die sich, besonders wenn es sich um die Ehe handelt, mit allen übrigen Eitelkeiten verständigen muß. Wenn ich Sie wahnsinnig liebte, das heißt genug, um Sie zu heiraten, so würde es mir doch schwer ankommen, Frau Chardon zu heißen. Geben Sie das zu? Jetzt haben Sie die Schwierigkeiten des Pariser Lebens kennen gelernt, Sie wissen, wie viele Umwege man machen muß, um zum Ziel zu gelangen: nun, gestehen Sie, daß Louise auf eine fast unmögliche Gunst für einen Unbekannten ohne Vermögen hoffte und daß sie nichts außer acht lassen durfte. Sie haben viel Geist, aber wenn wir lieben, haben wir noch mehr als der geistreichste Mann. Meine Cousine wollte diesen lächerlichen Châtelet dazu gebrauchen ... Ich bin Ihnen Dank schuldig, Ihre Artikel gegen ihn haben mich zum Lachen gebracht«, unterbrach sie sich.
Lucien wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er kannte die Tücken und Verrätereien des Journalismus, aber die der großen Welt waren ihm noch nicht vertraut. Er sollte trotz seiner Klugheit denn auch harte Lektionen bekommen.
»Wie denn, gnädige Frau,« sagte der Dichter, dessen Neugierde stark gereizt war, »steht der Reiher nicht unter Ihrem Schutz?«
»Ich bitte Sie, in der Welt muß man oft seinen schrecklichsten Feinden Höflichkeiten erweisen, muß sich den Anschein geben, als amüsierten einen die, die einem langweilig sind, man muß oft die Freunde scheinbar opfern, um ihnen besser zu Diensten zu sein. Sie sind also noch ein rechter Neuling. Was! Sie wollen schreiben, und die gangbaren Betrügereien der großen Welt sind Ihnen unbekannt? Wenn meine Cousine Sie anscheinend dem Reiher geopfert hat, mußte sie nicht so handeln, um seinen Einfluß zu Ihren Gunsten auszunutzen? Sie müssen wissen, daß unser Mann beim jetzigen Ministerium sehr gern gesehen ist. Im übrigen haben wir ihm klargemacht, daß ihm bis zu einem gewissen Grade Ihre Angriffe nützlich waren, damit man Sie beide eines Tages versöhnen kann. Man hat Châtelet für Ihre Verfolgungen schadlos gehalten. Wie des Lupeaulx zu den Ministern sagte: Während die Zeitungen Châtelet lächerlich machen, lassen sie das Ministerium in Ruhe.«
»Herr Blondet hat mich hoffen lassen, daß ich das Vergnügen haben werde, Sie bei mir zu sehen«, sagte die Gräfin Montcornet, während die Marquise Lucien seinen Gedanken überließ. »Sie werden einige Künstler bei mir finden, Schriftsteller, und eine Frau, die den lebhaftesten Wunsch hat, Sie kennen zu lernen, Fräulein des Touches, eins der seltensten Talente unter uns Frauen, bei der Sie sicher verkehren werden. Fräulein des Touches, Camille Maupin mit ihrem Schriftstellernamen, hat einen der bedeutendsten Salons in Paris, sie ist außerordentlich reich. Man hat ihr gesagt, daß Sie ebenso schön als geistreich sind, und sie stirbt vor Verlangen, Sie zu sehen.«
Lucien erging sich in Danksagungen und warf einen neidischen Blick auf Blondet. Es war ein so großer Unterschied zwischen einer Frau von der Art der Gräfin von Montcornet und Coralie wie zwischen Coralie und einem Mädchen der Straße. Diese Gräfin, jung und geistreich, hatte als besondere Schönheit den schimmernd weißen Teint der nordischen Frauen; ihre Mutter war eine geborene Prinzessin Scherbeloff; auch hatte ihr der Minister vor dem Diner besonders respektvolle Aufmerksamkeiten bezeigt. Die Marquise hatte währenddessen mit verächtlicher Miene an einem Hühnerflügel genagt.
»Meine liebe Louise«, sagte sie zu Lucien, »hatte so viel Neigung für Sie. Ich war in ihr Vertrauen eingeweiht, welch schöne Zukunft sie für Sie erträumte! Sie hätte vieles für Sie ertragen, aber was haben Sie ihr für eine Verachtung bezeigt, als Sie ihr ihre Briefe zurückschickten! Grausamkeiten verzeihen wir um uns zu verwunden, muß man noch an uns glauben aber die Gleichgültigkeit! Die Gleichgültigkeit ist wie das Eis an den Polen, sie tötet alles. Geben Sie es zu, Sie haben sich durch eigene Schuld um Schätze gebracht. Warum brechen? Selbst wenn Sie verachtet worden wären, haben Sie denn nicht Ihr Glück zu machen, Ihren Namen zu erobern? Louise dachte an all dies.«
»Warum hat man mir nichts davon gesagt?« fragte Lucien.
»Ich selbst habe ihr geraten, Sie nicht ins Vertrauen zu ziehen. Als ich sah, wie schlecht Sie sich in die Welt zu schicken verstanden, hatte ich Angst um Sie! Ich fürchtete, daß Ihre Unerfahrenheit, Ihr unbesonnener Eifer ihre Absichten und unsere Pläne vereiteln könnten. Können Sie sich heute noch an Ihre eigene Person von damals erinnern? Sagen Sie selbst, Sie würden meiner Meinung sein, wenn Sie Ihr Ebenbild heute sähen. Sie sehen sich nicht mehr ähnlich. Darin liegt unser einziges Unrecht. Aber unter Tausend findet sich nicht einer, der mit so viel Geist eine so merkwürdige Fähigkeit der Anpassung verbindet. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie eine solche Ausnahme sind. Sie haben sich so rasch verwandelt, sich der Pariser Art und Weise so leicht angeschmiegt, daß ich Sie vor einem Monat im Bois de Boulogne nicht erkannt habe.«
Lucien hörte dieser Dame mit unsagbarem Vergnügen zu. Sie brachte ihre schmeichelhaften Worte in einem so zutraulichen, kindlichen, schmollenden Ton vor, schien sich so angelegentlich für ihn zu interessieren, daß er an ein Wunder, ähnlich dem im Panorama Dramatique, glaubte. Seit jenem glücklichen Abend lächelte ihm alle Welt zu, er vermeinte, in seiner Jugend einen Talisman zu besitzen. So wollte er denn die Marquise auf die Probe stellen und nahm sich vor, sich keinerlei Überraschung anmerken zu lassen.
»Und welches waren diese Pläne, gnädige Frau, die heute hinfällig geworden sind?«
»Louise wollte vom König eine Ordonnanz erlangen, die Ihnen gestattet hätte, den Namen und Titel von Rubempré zu tragen. Sie wollte den Chardon aus der Welt schaffen. Dieser Erfolg, der damals so leicht zu erlangen gewesen wäre und den Ihre Überzeugungen jetzt fast unmöglich gemacht haben, wäre ein großes Glück für Sie gewesen. Sie werden dieser Auffassung keinen großen Wert beilegen, aber wir kennen das Leben ein wenig und wissen, welche solide Grundlage ein Grafentitel bildet, der von einem eleganten, schönen jungen Mann getragen wird. Je nachdem hier vor ein paar jungen englischen Millionärinnen oder Erbinnen Herr Chardon oder Herr Graf von Rubempré angemeldet wird, macht es gleich eine ganz andere Wirkung. Der Graf würde, wenn er verschuldet ist, offene Herzen finden, seine ins rechte Licht gesetzte Schönheit wäre wie ein Diamant in prächtiger Fassung; Herrn Chardon würde man überhaupt nicht bemerken. Wir haben diese Anschauungen nicht hervorgerufen, wir finden sie überall herrschend, selbst in der Bürgerklasse. Sie wenden in diesem Augenblick dem Glück den Rücken zu. Sehen Sie sich diesen hübschen jungen Mann, den Vicomte Felix von Vandenesse an, er ist einer der beiden Privatsekretäre des Königs. Der König liebt junge Leute von Talent, und dieser hatte, als er aus der Provinz kam, ein ebenso leichtes Gepäck wie Sie, Sie haben tausendmal mehr Geist als er; aber gehören Sie einer großen Familie an? Haben Sie einen Namen? Sie kennen des Lupeaulx, sein Name ist ähnlich wie der Ihre, er heißt Chardin; aber er würde sein Landgut des Lupeaulx nicht für eine Million verkaufen, denn er wird eines Tages Graf des Lupeaulx heißen, und sein Enkel wird vielleicht ein großer Herr sein. Wenn Sie auf dem falschen Wege weitergehen, in den Sie hineingeraten sind, sind Sie verloren. Sehen Sie, Herr Emile Blondet ist so viel vernünftiger als Sie; er ist an einem Blatt, das die regierende Partei stützt, er ist bei allen Machthabern wohlgelitten, er kann sich ohne Gefahr unter die Liberalen mengen, denn er denkt, wie sichs gehört; er wird auch eines Tages zum Ziel gelangen, er hat seine Überzeugung und seine Gönner gut ausgewählt. Die hübsche Person, Ihre Nachbarin, ist ein Fräulein von Troisville, die zwei Pairs von Frankreich und zwei Deputierte in ihrer Familie hat; sie hat infolge ihres Namens eine reiche Heirat gemacht; sie empfängt viel, hat großen Einfluß und wird die politische Welt für diesen kleinen Herrn Blondet in Bewegung setzen. Wohin aber kommen Sie mit einer Coralie? Dazu, daß Sie in einigen Jahren von Schulden zugrunde gerichtet und von Vergnügungen erschöpft sein werden. Sie vergeben Ihre Liebe sehr verkehrt und führen Ihr Leben verkehrt. Das sagte mir neulich in der Oper die Frau, die zu kränken Ihnen Vergnügen zu machen scheint. Sie beklagte den Mißbrauch, den Sie mit Ihrem Talent und Ihrer schönen Jugend treiben, aber sie dachte dabei nicht an sich, sondern an Sie.«
»Ach, wenn Sie die Wahrheit sagten, Frau Marquise«, rief Lucien.
»Und was sollte ich für ein Interesse daran nehmen, zu lügen?« versetzte die Marquise und warf Lucien einen hochmütigen und kalten Blick zu, der ihn ins Nichts zurückschleuderte.
Lucien war bestürzt und knüpfte die Unterhaltung nicht wieder an, die Marquise tat beleidigt und sprach nicht mehr. Er ärgerte sich, aber er mußte einsehen, daß er ungeschickt gewesen war, und nahm sich vor, es wieder gutzumachen. Er wandte sich Frau von Montcornet zu und sprach mit ihr über Blondet, wobei er das Verdienst dieses jungen Schriftstellers übertrieb. Er wurde von der Gräfin freundlich behandelt und auf ein Zeichen, das ihr Frau d'Espard gab, von ihr zu ihrem nächsten Gesellschaftsabend eingeladen, dabei fragte sie ihn, ob er Frau von Bargeton, die trotz ihrer Trauer da sein würde, nicht gern träfe: es handle sich nicht um eine große Gesellschaft, es wäre ihr kleiner Empfang, und man wäre unter Freunden.
»Die Frau Marquise«, sagte Lucien, »behauptet, das ganze Unrecht sei auf meiner Seite; wäre es nicht an Ihrer Cousine, mit den Freundlichkeiten zu beginnen?«
»Sorgen Sie dafür, daß die lächerlichen Angriffe, deren Zielscheibe sie ist und die sie noch dazu mit einem Manne kompromittieren, über den sie sich lustig macht, aufhören, und der Friede wird bald hergestellt sein. Sie haben geglaubt, sie hätte Sie schlecht behandelt, hat man mir gesagt; aber ich habe sie sehr traurig darüber gesehen, daß Sie sie verlassen haben. Ist es wahr, daß sie mit Ihnen und um Ihretwillen ihr Provinznest verlassen hat?«
Lucien sah die Gräfin lächelnd an, wagte aber nicht, eine Antwort zu geben.
»Wie konnten Sie Mißtrauen gegen eine Frau hegen, die solche Opfer für Sie gebracht hat! Und überdies hätten Sie eine Frau, die so schön und geistvoll ist, auch trotzdem noch lieben müssen. Frau von Bargeton liebt weniger Ihre Person als Ihre Talente. Glauben Sie mir, die Frauen lieben den Geist, ehe sie die Schönheit lieben«, sagte sie und blickte dabei Emile Blondet verstohlen an.
Lucien lernte in diesem Ministerhotel den Unterschied zwischen der großen Welt und der Ausnahmswelt, in der er seit einiger Zeit lebte, kennen. Die Üppigkeit dieser beiden Welten war einander durchaus unähnlich, es gab keine Berührung zwischen ihnen. Die Höhe und die Einteilung der Zimmer in dieser Wohnung, die eine der reichsten im Faubourg Saint-Germain war, die alten Vergoldungen der Salons, die Pracht der Schmuckstücke, der gediegene Reichtum all der vielen Kleinigkeiten, all das war ihm fremd und neu; aber es lag in seiner Natur, sich an Luxus jeglicher Art sehr schnell zu gewöhnen, und so verbarg er sein Erstaunen. Seine Haltung war ebensoweit entfernt von Dreistigkeit und Geckenhaftigkeit wie von Demut und Unterwürfigkeit. Der Dichter hatte ein gutes Benehmen und gefiel denen, die nicht Grund hatten, ihm feindlich gesinnt zu sein wie die jungen Leute, die auf seine plötzliche Einführung in die vornehme Welt, seine Erfolge und seine Schönheit eifersüchtig waren. Als man vom Tisch aufstand, bot er der Marquise d'Espard den Arm, und sie nahm ihn an. Als Rastignac sah, wie Lucien von der Marquise ausgezeichnet wurde, trat er an ihn heran, erinnerte ihn, daß sie Landsleute seien, und sprach von ihrem ersten Zusammentreffen bei Frau du Val-Noble. Der junge Patrizier schien sich den großen Mann seiner Provinz verbinden zu wollen und lud ihn ein, bei ihm an einem Vormittag zu frühstücken; er erbot sich, Lucien dabei mit den jungen Modeherren bekannt zu machen. Lucien nahm gerne an.
»Der liebe Blondet wird auch da sein«, sagte Rastignac.
Der Minister trat zu der Gruppe, die aus dem Marquis von Ronquerolles, dem Herzog von Rhétoré, Herrn von Marsay, dem General von Montriveau, Rastignac und Lucien bestand.
»Das freut mich sehr,« sagte er zu Lucien mit der deutschen Gutmütigkeit, unter der er seine furchtbare Schlauheit verbarg, »daß Sie mit der Marquise d'Espard Frieden geschlossen haben. Sie ist von Ihnen entzückt, und wir wissen alle,« sagte er und blickte dabei die Männer, die im Kreise herumstanden, an, »wie schwer es ist, ihr zu gefallen.«
»Ja, aber sie betet den Geist an,« sagte Rastignac, »und mein berühmter Landsmann hat so viel davon, daß er ihn verkauft.«
»Er wird bald merken, was für ein schlechtes Geschäft er damit macht,« sagte Blondet lebhaft; »er wird zu uns kommen, er wird bald einer der Unserigen sein.«
Über dieses Thema sprach nun der ganze Chor der Umstehenden auf Lucien ein. Die ernsten Männer sprachen einige schwerwiegende Sätze im Tone von Despoten, die jungen Leute scherzten über die liberale Partei.
»Ich zweifle nicht,« sagte Blondet, »er ist aufs Geratewohl zur Linken gekommen, wie er ebensogut zur Rechten hätte kommen können; aber er wird jetzt wählen.«
Lucien mußte lachen; er erinnerte sich an die Szene mit Lousteau im Luxembourg.
»Sein Treiber«, fuhr Blondet fort, »war ein gewisser Etienne Lousteau, ein Revolverjournalist, der in einer Zeitungsspalte nur ein Hundertsousstück erblickt und dessen ganze Politik darin besteht, an die Rückkehr Napoleons und, was mir noch dümmer scheint, an die Dankbarkelt und den Patriotismus der Herren von der Linken zu glauben. Wenn Lucien ein Rubempré sein will, müssen seine Neigungen aristokratisch sein, und als Journalist muß er für die Regierung sein, sonst wird er kein Rubempré und kein Generalsekretär.«
Der Diplomat schlug Lucien vor, mit ihm Whist zu spielen, und der junge Dichter erregte das größte Erstaunen, als er gestand, das Spiel nicht zu kennen.
»Lieber Freund,« sagte Rastignac ihm ins Ohr, »kommen Sie recht früh an dem Tage, wo Sie bei mir ein schlechtes Frühstück einnehmen sollen, ich werde Ihnen das Whist beibringen; Sie sind eine Schande für unsere königliche Stadt Angoulême, und ich wiederhole ein Wort Talleyrands, wenn ich Ihnen sage: Ihrer wartet ein sehr unglückliches Alter, wenn Sie dieses Spiel nicht kennen.«
Man meldete des Lupeaulx an, einen vortragenden Rat, der in Gunst stand und dem Ministerium allerlei geheime Dienste leistete; er war ein schlauer und ehrgeiziger Mann, der sich überall Zutritt verschaffte. Er grüßte Lucien, den er schon bei Frau du Val-Noble getroffen hatte, und sein Gruß schien so freundschaftlich zu sein, daß Lucien getäuscht werden mußte. Als dieser Mann, der sich als Politiker zu jedermanns Freund machte, damit niemand es zu etwas bringen konnte, ohne daß er es wußte, den jungen Journalisten in dieser Gesellschaft fand, leuchtete es ihm sofort ein, daß Lucien in der vornehmen Welt ebensoviel Erfolg erringen würde wie in der Literatur. Er sah in diesem Dichter einen Ehrgeizigen und überschüttete ihn mit so viel Beteuerungen seiner Freundschaft und seines Interesses, als ob sie alte Freunde wären, und täuschte so Lucien über den Wert seiner Versprechungen und seiner Reden. Des Lupeaulx hatte das Prinzip, die, die er verderben wollte, wenn er in ihnen Nebenbuhler fand, gründlich kennen zu lernen.
So wurde Lucien in der vornehmen Welt gut aufgenommen. Er begriff, was er dem Herzog von Rhétoré, dem Minister, Frau d'Espard, Frau von Montcornet schuldig war. Er plauderte mit all diesen Frauen ein paar Augenblicke, bevor er sich verabschiedete, und entfaltete die ganze Anmut seines Geistes für sie.
»Was für ein Geck!« sagte des Lupeaulx zur Marquise, als Lucien gegangen war.
»Er wird verderben, ehe er reif ist«, sagte Herr von Marsay lächelnd zur Marquise. »Sie müssen geheime Gründe haben, daß Sie ihm den Kopf so verdrehen.«
Lucien fand in seinem Wagen, der im Hof auf ihn wartete, Coralie vor. Er war von dieser Aufmerksamkeit gerührt und erzählte ihr die Ereignisse des Abends. Zu seinem großen Erstaunen billigte die Schauspielerin die neuen Ideen, die schon in seinem Kopfe spukten, und ermunterte ihn mit Entschiedenheit, ins Lager der Ministeriellen überzugehen.
»Bei den Liberalen hast du nichts Gutes zu erwarten, sie zetteln Verschwörungen an, sie haben den Herzog von Berry getötet. Werden sie die Regierung stürzen? Niemals! Durch sie bringst du es zu nichts, während du auf der andern Seite Graf von Rubempré wirst. Du kannst dich verdient machen, zum Pair von Frankreich ernannt werden, eine reiche Frau heiraten. Sei Ultra. Überdies gehört das zum guten Ton«, fügte sie hinzu und gebrauchte damit ein Wort, das für sie die entscheidende Begründung war. »Die Val-Noble, bei der ich zum Diner war, hat mir gesagt, daß Théodore Gaillard bestimmt sein kleines royalistisches Blatt, das er den Réveil nennt, herausgeben wird, um den Bosheiten eures Blattes und des Miroir etwas entgegenzustellen. Wenn man ihn hört, werden Herr von Villèle und seine Partei, bevor ein Jahr um ist, am Ministerium sein. Suche diesen Umschwung zu benutzen und verbinde dich mit ihnen, solange sie noch nichts sind; aber sage Etienne und deinen Freunden nichts; sie wären imstande, dir einen schlimmen Streich zu spielen.«
Acht Tage später fand sich Lucien bei Frau von Montcornet ein. Er war heftig bewegt, als er die Frau wiedersah, die er so sehr geliebt und die er mit seinen Bosheiten ins Herz getroffen hatte. Auch Louise war eine andere geworden. Sie hatte sich in das verwandelt, was sie ohne ihren Aufenthalt in der Provinz immer gewesen wäre: eine große Dame. Ihre Trauer zeigte eine Anmut und so viel ausgesuchten Geschmack, daß man wohl merkte, sie war eine glückliche Witwe. Lucien glaubte, an dieser Koketterie nicht unbeteiligt zu sein, und täuschte sich nicht; aber er hatte, wie der Riese im Märchen, frisches Fleisch gekostet und schwankte während des ganzen Abends zwischen der schönen, hingebenden, wollüstigen Coralie und der trockenen, hochmütigen und grausamen Louise. Er vermochte keinen Entschluß zu fassen, die Schauspielerin nicht der großen Dame zum Opfer zu bringen. Dieses Opfer erwartete Frau von Bargeton, die jetzt Liebe für Lucien empfand, als sie ihn so geistvoll und so schön sah, während des ganzen Abends; aber sie kam mit ihren versteckten Worten und koketten Mienen nicht auf ihre Kosten, und als sie dann den Salon verließ, hatte sie den unwiderruflichen Vorsatz gefaßt, sich zu rächen.
»Sieh da, lieber Lucien,« sagte sie zu ihm mit einer pariserisch anmutigen Liebenswürdigkeit und Vornehmheit, »Sie hätten mein Stolz sein sollen, und Sie haben aus mir Ihr erstes Opfer gemacht. Ich habe Ihnen verziehen, mein Kind, da ich meinte, in solch einer Rache müßte ein Rest Liebe versteckt sein.«
Frau von Bargeton hatte durch diesen schönen Satz, den sie mit dem Lächeln einer Königin begleitete, den Sieg gewonnen. Lucien, der tausendmal recht zu haben geglaubt hatte, sah sich ins Unrecht versetzt. Es war keine Rede mehr von dem schrecklichen Abschiedsbrief, wodurch er den Bruch herbeigeführt hatte, noch von dessen Beweggründen. Die Frauen der großen Welt haben ein wunderbares Talent, das Unrecht, das sie begangen haben, wegzuscherzen. Sie können alles mit einem Lächeln, mit einer Frage, mit der sie die Erstaunte spielen, wieder auslöschen. Sie erinnern sich an nichts, sie erklären alles, sie sind erstaunt, sie fragen, sie kommentieren, sie werden weitschweifig, sie streiten, und schließlich haben sie ihr Unrecht entfernt, wie man einen Flecken mit ein bißchen Seife auswäscht: sie waren ohne Zweifel schwarz gewesen, aber in einem Augenblick werden sie weiß und unschuldig. Und der Mann ist dann immer sehr glücklich, daß das Verbrechen, das er begangen hat, nicht unverzeihlich ist. In einem Augenblick hatten Lucien und Louise ihre Illusionen über sich selbst wiedererlangt, sie führten wieder die Sprache der Freundschaft; aber Lucien, der von befriedigter Eitelkeit und von Coralie trunken war, die, geben wir es zu, ihm das Leben bequem machte, brachte es nicht über sich, auf die Frage, die Louise mit einem versteckten Seufzer begleitete: »Sind Sie glücklich?« eine entscheidende Antwort zu geben. Ein melancholisches »Nein« hätte sein Glück gemacht. Er glaubte etwas recht Gescheites zu tun, als er zur Antwort anfing, über Coralies Wesen zu reden; er sagte, er würde um seiner selbst willen geliebt, kurz, brachte all die Dummheiten des Verliebten vor. Frau von Bargeton biß sich auf die Lippen. Alles war entschieden. Frau d'Espard trat mit Frau von Montcornet an ihre Cousine heran. Lucien sah sich sozusagen als Helden des Abends: er wurde von diesen drei Frauen, die ihn mit überaus großer Kunst umgarnten, umschmeichelt und gefeiert. Sein Erfolg in dieser Welt der Schönheit und des Glanzes war nicht geringer als in der Welt des Journalismus. Das schöne Fräulein des Touches, das unter dem Namen Camille Maupin so berühmt war und dem die Marquise d'Espard und Frau von Bargeton Lucien vorstellten, lud ihn für einen ihrer Mittwoche zum Diner ein und schien von seiner berühmten Schönheit einen starken Eindruck zu haben. Lucien versuchte zu zeigen, daß sein Geist noch bedeutender war als seine Schönheit. Fräulein des Touches drückte ihre Bewunderung mit der naiven Freude und den hübschen oberflächlichen Freundschaftsbezeigungen aus, auf die alle die hereinfallen, die das pariser Leben, in dem man sich fortwährend aus den Genüssen nach dem Genuß sehnt, nicht von Grund aus kennen.
»Wenn ich ihr so gut gefiele, wie sie mir,« sagte Lucien zu Rastignac und Herrn von Marsay, »könnte der Roman schnell zustande kommen.«
»Sie schreiben beide zu gut Romane, als daß Sie einen miteinander erleben wollten«, erwiderte Rastignac. »Können sich Schriftsteller und Schriftstellerinnen lieben? Es kommt immer ein Augenblick, wo man sich kleine Bosheiten sagt.«
»Die Sache wäre gar nicht so übel«, sagte Herr von Marsay lachend zu ihm. »Das reizende Mädchen ist allerdings dreißig Jahre alt; aber es hat fast achtzigtausend Livres Jahreseinkommen. Sie ist entzückend launisch, und sie hat eine Schönheit von der Art, die sich lange hält. Coralie ist eine kleine Närrin, lieber Freund, und ist nur dazu gut, Ihnen ein gewisses Ansehen zu geben; denn ein hübscher Junge darf nicht ohne Geliebte sein; aber wenn Sie keine Schönheit in der vornehmen Welt eroberten, müßte die Schauspielerin Ihnen auf die Länge von Schaden sein. Also drauf, mein Lieber! Stechen Sie Conti aus, der mit Camille Maupin singen wird. Zu allen Zeiten hat die Poesie vor der Musik den Vortritt gehabt.«
Als Lucien Fräulein des Touches und Conti zusammen nennen hörte, verflogen seine Hoffnungen.
»Conti singt zu gut«, sagte er zu des Lupeaulx.
Lucien trat wieder zu Frau von Bargeton, die ihn in den Salon führte, in dem die Marquise d'Espard sich befand.
»Nun, wollen Sie sich nicht für ihn interessieren?« fragte Frau von Bargeton ihre Cousine.
»Aber Herr Chardon«, erwiderte die Marquise mit einem Gesicht, das zugleich hochmütig und freundlich war, »muß sich erst in die Lage bringen, daß man ihn protegieren kann, ohne Unannehmlichkeiten zu haben. Muß er nicht, wenn er die Ordonnanz erlangen will, die ihm gestattet, den armseligen Namen seines Vaters mit dem seiner Mutter zu vertauschen, wenigstens einer der Unserigen sein?«
»Vor Ablauf von zwei Monaten habe ich alles in Ordnung gebracht«, erwiderte Lucien.
»Schön,« sagte die Marquise; »ich besuche meinen Vater und meinen Onkel, die im Dienste des Königs stehen, sie werden mit dem Kanzler von Ihnen sprechen.«
Der Diplomat und die beiden Frauen hatten Luciens empfindliche Stelle gut herausgefunden. Dieser Dichter, der von dem aristokratischen Glanz geblendet war, fühlte sich unglaublich gedemütigt, wenn er sich Chardon nennen hörte, während er in diesen Salons nur Männer klangvollen Namens sah, die in hohe Titel eingerahmt waren. Dieses Leidwesen wiederholte sich seit einigen Tagen überall, wo er sich zeigte. Er verspürte übrigens ein ebenso unangenehmes Gefühl, wenn er in der großen Welt gewesen war, in der er dank der Equipage und den Leuten Coralies angemessen aufzutreten in der Lage war, und dann am nächsten Tage wieder zu den Geschäften seines Handwerks hinuntersteigen mußte. Er nahm Reitunterricht, um neben dem Wagen der Marquise d'Espard, des Fräuleins des Touches und der Gräfin Montcornet einhergaloppieren zu können, um welches Vorrecht er die vornehmen jungen Männer bei seiner Ankunft in Paris so beneidet hatte. Finot verschaffte seinem Hauptmitarbeiter mit Vergnügen freien Zutritt in der Großen Oper, in der Lucien nunmehr viele Abende vergeudete. Aber er gehörte von jetzt an zur eleganten Welt dieser Zeit. Als der Dichter sich bei Rastignac und seinen Freunden mit einem glänzenden Dejeuner revanchierte, beging er den Fehler, es bei Coralie zu geben; denn er war zu jung, zu sehr Dichter und zu vertrauensselig, um sich auf gewisse Schattierungen des Benehmens zu verstehen; und konnte eine Schauspielerin, die ein treffliches Mädchen war, aber keine Bildung besaß, ihn das Leben kennen lehren? Der Provinzler verriet so diesen jungen Leuten, die im stillen alle schlecht auf ihn zu sprechen waren, die untrennbare Gemeinschaft auch in Geldangelegenheiten, die zwischen der Schauspielerin und ihm bestand, worauf jeder junge Mann heimlich neidisch ist und worüber sie untereinander alle schimpften. Der noch am nämlichen Abend am grausamsten darüber spottete, war Rastignac, der sich zwar durch ähnliche Mittel in der großen Welt hielt, aber den äußeren Anstand so gut zu wahren wußte, daß er die böse Nachrede als Verleumdung hinstellen konnte. Lucien hatte das Whist rasch erlernt. Das Spiel wurde bei ihm zur Leidenschaft. Coralie wollte jede Eifersucht vermeiden und hütete sich, Lucien zu tadeln; so begünstigte sie seine Ausschweifungen mit der Blindheit, wie sie den leidenschaftlichen Naturen eigen ist, die nie etwas anderes sehen als die Gegenwart und dem Genuß des Augenblicks alles, selbst die Zukunft, zum Opfer bringen. Die wahre Liebe hat in allen Stücken die größte Ähnlichkeit mit der Kindheit: sie hat all ihre Unbedachtsamkeit und Sorglosigkeit, ihre Verschwendung, ihr Lachen und Weinen.
Zu der Zeit gab es eine Gesellschaft von jungen Leuten, die bald reich, bald arm, alle aber Müßiggänger, Lebemänner genannt wurden und die in der Tat mit einer unglaublichen Unbekümmertheit lebten, starke Esser und noch stärkere Trinker waren. Als Verschwender führten sie eine wahnsinnige Existenz; die stärksten Späße waren ihnen gerade gut genug; sie schreckten vor keiner Unmöglichkeit zurück, prahlten mit ihren schlimmsten Streichen, die indessen in einer Hinsicht eine Grenze fanden: was sie auch taten, in allem war origineller Geist, und es war unmöglich, ihnen irgend etwas nicht zu verzeihen. Nichts spricht so deutlich von dem Helotentum, zu dem die Restauration die Jugend verdammt hatte. Die jungen Leute, die nicht wußten, was sie mit ihrer Kraft anfangen sollten, warfen sie nicht nur in den Journalismus, die Verschwörungen, die Literatur und die Kunst, sie verschwendeten sie auch in den absonderlichsten Ausschweifungen, so viel Jugendübermut, Feuer und schäumende Kraft gab es im jungen Frankreich. Wenn sie arbeitete, wollte diese Jugend Macht und Vergnügen, war sie künstlerisch tätig, wollte sie Schätze; war sie müßig, wollte sie ihre Leidenschaften beleben; auf jede Weise wollte sie Raum, und die Politik gab ihr keinen. Die Lebemänner besaßen fast alle ungewöhnliche Gaben; einige haben sie in diesem aufreibenden Leben verloren, andere haben ihm Widerstand geleistet. Der berühmteste von ihnen und der geistvollste, Rastignac, lenkte schließlich unter der Leitung Marsays in eine ernsthafte Laufbahn ein, in der er sich ausgezeichnet hat. Die Späße, denen sich diese jungen Leute überließen, sind so berühmt geworden, daß sie den Stoff zu mehreren Vaudevilles geliefert haben. Lucien, der durch Blondet in diese Gesellschaft von Verschwendern eingeführt worden war, glänzte dort neben Bixiou, einem der boshaftesten Geister und unermüdlichsten Spötter dieser Zeit. Während des ganzen Winters lebte Lucien auf diese Weise in einem ununterbrochenen Rausch, der nur von den leichten Arbeiten des Journalismus unterbrochen wurde; er führte die Reihe seiner kleinen Artikel fort und gab sich die größte Mühe, von Zeit zu Zeit ein paar schöne kritische Seiten, die er ernsthaft überlegt hatte, zu schreiben. Aber es war eine Ausnahme, wenn er zum Studium kam, der Dichter gab sich ihm nur hin, wenn die Notwendigkeit dazu zwang; die Dejeuners, die Diners, die Vergnügungen, die Abendgesellschaften der vornehmen Welt, das Spiel nahmen seine ganze Zeit in Anspruch, und was übrigblieb, nahm Coralie. Lucien verbot sich, an den kommenden Tag zu denken. Er sah übrigens, daß seine vermeinten Freunde ihr Leben ebenso führten wie er; die Kosten trugen Buchhändlerprospekte, die hoch bezahlt wurden, Prämien, die für gewisse Artikel bezahlt wurden, wenn sie für waghalsige Spekulationen gebraucht wurden, man lebte von der Hand in den Mund und kümmerte sich wenig um die Zukunft. Nachdem Lucien in den Journalismus und die Literatur aufgenommen worden war und auf dem Fuße der Gleichheit behandelt wurde, bemerkte er, wie ungeheuer schwer der Sieg wäre, wenn er sich erheben wollte: jeder war damit einverstanden, ihn als Gleichen neben sich zu sehen, keiner wollte ihn über sich sehen. Unmerklich verzichtete er also auf den literarischen Ruhm; er glaubte, in der Politik wäre das Glück leichter zu erlangen.
»Die Intrige erregt weniger die Leidenschaft gegen sich, als das Talent, ihre unterirdischen Schleichwege erregen niemandes Aufmerksamkeit«, sagte eines Tages Châtelet, mit dem Lucien sich wieder versöhnt hatte, zu ihm. »Die Intrige ist überdies dem Talent überlegen: sie macht aus nichts etwas, während meistens die ungeheuren Kräfte des Talents den Menschen nur unglücklich machen.«
In diesem Leben, in dem eine Ausschweifung der andern folgte und die Arbeit immer auf den nächsten Tag verschoben wurde, verfolgte Lucien also seinen Hauptgedanken: er war fortwährend in der großen Welt, machte Frau von Bargeton, der Marquise d'Espard, der Gräfin von Montcornet den Hof und versäumte keinen Abend bei Fräulein des Touches, vor einem Vergnügen oder nach einem Diner, das von Schriftstellern oder Verlegern veranstaltet wurde, erschien er in der vornehmen Welt; er verließ die Salons und begab sich zu einem Souper, das die Frucht irgendeiner Wette war; die Unkosten der Pariser Konversation und das Spiel nahmen die paar Gedanken und Kräfte, die seine Ausschweifungen ihm ließen, in Anspruch. Der Dichter verfügte nicht mehr über den hellen Geist und den kühlen Kopf, der nötig ist, um seine Umgebung zu beobachten und den ausgesuchten Takt anzuwenden, den die Emporkömmlinge in jedem Augenblick gebrauchen; es war ihm unmöglich, zu erkennen, wann Frau von Bargeton sich ihm näherte oder sich verletzt von ihm entfernte, ihm verzieh oder ihn von neuem verdammte. Châtelet bemerkte die Aussichten, die sein Nebenbuhler immer noch besaß, und machte sich zu Luciens Freund, um ihn bei dem verschwenderischen Leben festzuhalten, das seine Energie zugrunde richten mußte. Rastignac, der auf seinen Landsmann eifersüchtig war und überdies in dem Baron einen sichereren und nützlicheren Bundesgenossen fand als in Lucien, schloß sich der Rache Châtelets an. Daher hatte Rastignac wenige Tage, nachdem der Petrarca und die Laura von Angoulême wieder zusammengekommen waren, den Dichter und den alten Gecken aus der Kaiserzeit bei Gelegenheit eines üppigen Soupers im Rocher de Cancale miteinander versöhnt. Lucien, der immer morgens nach Hause ging und mitten am Tag aufstand, fand in sich keine Kraft zum Widerstand gegen die immer bereite Liebe, die zu Hause ihn erwartete. So wurde seine Energie immer wieder von der Trägheit geschwächt. Er vergaß die guten Vorsätze, welche er in den Augenblicken faßte, wo er seine Lage in ihrem wahren Lichte sah, bald genug und konnte sich bald auch dem stärksten Druck des Elends nicht mehr entgegenstemmen. Coralie war anfangs sehr glücklich gewesen, daß Lucien sich so gut amüsierte; sie sah in dieser Zerstreuung ein Unterpfand für die Dauer seiner Neigung, fand in ihr auch äußerliche Bande in Gestalt der Bedürfnisse, die sie mit sich brachte, und hatte ihn so auf seinen Wegen ermuntert; aber schließlich fand dieses sanfte, zarte Mädchen doch den Mut, ihrem Geliebten anzuempfehlen, er sollte die Arbeit nicht vergessen, und war öfters genötigt, ihm zu sagen, er hätte in diesem Monat wenig Einnahmen gehabt. Der Dichter und seine Geliebte stürzten sich mit erschreckender Geschwindigkeit in Schulden. Die fünfzehnhundert Franken, der Rest von dem Honorar der Margueriten, und die ersten fünfhundert Franken, die Lucien eingenommen hatte, waren rasch verzehrt gewesen. In einem Vierteljahr brachten ihm seine Artikel nur tausend Franken, und er glaubte riesig gearbeitet zu haben. Aber schon hatte sich Lucien die heitere Weisheit der Lebemänner bezüglich der Schulden zu eigen gemacht. Schulden bedeuten bei jungen Leuten von fünfundzwanzig Jahren eine Liebenswürdigkeit; später verzeiht sie ihnen niemand. Es ist zu bemerken, daß gewissen wahrhaft poetischen Gemütern, die aber einen schwachen Willen haben und deren Beruf die Empfindung ist, damit sie ihre Eindrücke in Bilder umgestalten können, der moralische Sinn, der jede Beobachtung begleiten muß, fast ganz fehlt. Die Dichter empfangen lieber in sich Eindrücke, als daß sie sich in andere hineinversetzen, um dort den Mechanismus der Empfindungen zu studieren. So gab sich Lucien keine Rechenschaft über solche Lebemänner, die eines Tages verschwanden, er sah nicht die Zukunft dieser vermeinten Freunde, von denen die einen Erbschaften in Aussicht, die andern gewisse Hoffnungen, diese anerkannte Talente, jene den unerschütterlichsten Glauben an ihr Schicksal hatten oder mit der bewußten Absicht umgingen, die Gesetze zu umgehen. Lucien glaubte an seine Zukunft, indem er den weisen Sprüchen Blondets vertraute: »Alles macht sich schließlich. Bei Leuten, die nichts haben, ist alles in Ordnung. Wir können nur das Vermögen verlieren, das wir suchen! Wer mit dem Strom schwimmt, gelangt schließlich irgendwohin. Ein Mann von Geist, der in der großen Welt Fuß gefaßt hat, macht sein Glück, wann er will!«
Diesen so ganz mit Vergnügen ausgefüllten Winter benutzten Théodore Gaillard und Hector Merlin dazu, die Kapitalien zu finden, die zur Gründung des Réveil erforderlich waren, dessen erste Nummer erst im März 1822 erschien. Das Geschäft kam bei Frau du Val-Noble zustande. Diese elegante und geistvolle Kurtisane übte einen gewissen Einfluß auf die Bankiers, die vornehmen Herren und die Schriftsteller der royalistischen Partei aus, die alle daran gewöhnt waren, in ihren prächtigen Räumen zusammenzukommen, um gewisse Geschäfte ins reine zu bringen, die nur hier erledigt werden konnten. Hector Merlin, dem man den Chefredakteurposten des Réveil versprochen hatte, sollte Lucien, der sein intimer Freund geworden war, zu seiner rechten Hand machen; und ebenso war Lucien das Feuilleton eines der ministeriellen Blätter zugesagt worden. Diese Frontänderung Luciens bereitete sich langsam vor, während er sich den Genüssen des Lebens hingab. Der junge Mensch, der fast noch ein Kind war, hielt sich für einen Politiker, wenn er diese plötzliche Schwenkung verheimlichte, und rechnete stark auf die ministerielle Freigebigkeit, um seine Schulden zu bezahlen und die geheimen Sorgen Coralies verscheuchen zu können. Die Schauspielerin lächelte immer und verbarg ihren Kummer; aber Berenice war kühner und schenkte Lucien reinen Wein ein. Wie alle Dichter war das angehende Genie einen Augenblick über dies Mißgeschick ganz trostlos, versprach zu arbeiten, vergaß sein Versprechen wieder und ertränkte seine flüchtige Bekümmernis in Ausschweifungen. Sowie Coralie Wolken auf der Stirn ihres Geliebten bemerkte, schalt sie mit Berenice und sagte ihrem Dichter, es würde alles in Ordnung kommen. Frau d'Espard und Frau von Bargeton wollten, wie sie sagten, die Schwenkung Luciens abwarten, um den Minister durch Châtelet um die ersehnte Ordonnanz zum Zweck der Namensänderung bitten zu lassen. Lucien hatte versprochen, seine Margueriten der Marquise d'Espard zu widmen, und sie schien über eine Auszeichnung, die die Schriftsteller nur noch selten gewähren, seit sie eine Macht geworden sind, sehr erfreut. Wenn Lucien abends zu Dauriat ging und sich erkundigte, wie es mit seinem Buche stünde, sagte ihm der Verleger schwerwiegende Gründe, warum die Drucklegung verzögert werden müßte. Dauriat hätte die und die Unternehmung vor, die alle seine Zeit in Anspruch nähme: ein neuer Band von Canalis sollte herauskommen, und er dürfte nicht gleichzeitig kommen; die zweiten Meditationen des Herrn von Lamartine wären unter der Presse, und zwei bedeutsame Gedichtbücher dürften nicht zur selben Zeit erscheinen; überhaupt sollte der Dichter sich völlig auf seinen geschickten Verleger verlassen. Indessen wurden die Bedürfnisse Luciens so dringend, daß er seine Zuflucht zu Finot nahm, der ihm etwas Vorschuß auf Artikel gab. Als der Dichterjournalist am Abend beim Souper seinen Freunden, den Lebemännern, seine Lage darlegte, ertränkten sie seine Besorgnisse in Strömen Champagner, den sie mit Späßen kühlten. Schulden! Es gibt keine starken Männer ohne Schulden! Schulden repräsentieren befriedigte Bedürfnisse, unumgängliche Laster. Ein Mann setzt sich nur durch, wenn er von der eisernen Hand der Notwendigkeit vorwärts getrieben wird.
»Den großen Männern das dankbare Leihhaus!« rief Blondet ihm zu.
»Alles wollen heißt: alles schulden«, sagte Bixiou.
»Nein. Alles schulden heißt: alles gehabt haben«, erwiderte des Lupeaulx.
Die Lebemänner bewiesen diesem Knaben, seine Schulden wären der goldene Sporn, mit dem er die vor den Wagen seines Glücks gespannten Pferde stachelte. Dann kam Cäsar mit seinen vierzig Millionen Schulden, und FriedrichII., der von seinem Vater einen Dukaten monatlich bekam, und immer die berühmten, verderblichen Beispiele der großen Männer, die in ihren Fehlern gezeigt werden und nicht in der Allmacht ihres Mutes und ihrer Gedankenwelt! Schließlich wurden der Wagen, die Pferde und die Möbel Coralies von mehreren Gläubigern gepfändet; die Summen, um die es sich handelte, beliefen sich auf viertausend Franken. Als Lucien zu Lousteau eilte, um ihn um die tausend Franken zu ersuchen, die er ihm geborgt hatte, zeigte Lousteau ihm Stempelpapiere, aus denen hervorging, daß es Florine ebenso ging wie Coralie; aber der dankbare Lousteau schlug ihm vor, die nötigen Schritte zu unternehmen, ihm den Bogenschützen KarlsIX.unterzubringen.
»Wie ist Florine in diese Lage gekommen?« fragte Lucien.
»Der Matifat wollte nicht mehr mitmachen,« erwiderte Lousteau, »wir haben ihn verloren, aber wenn Florine will, soll er seinen Verrat teuer bezahlen! Ich erzähle dir die Geschichte später.«
Drei Tage nach dem vergeblichen Schritt, den Lucien bei Lousteau versucht hatte, frühstückten die beiden Liebenden traurig am Kamin ihres schönen Schlafzimmers; Berenice hatte ihnen auf der Kaminplatte Eier gekocht, denn die Köchin, der Kutscher, alle Leute waren weg. Es war unmöglich, die gepfändeten Möbel einzulösen. Es gab in der Wohnung kein Stück von Gold oder Silber und nichts mehr, was Wert hatte; all das hatte sich in Pfandscheine verwandelt, die ein kleines, sehr lehrreiches Oktavbändchen bildeten. Berenice hatte zwei Bestecke zurückbehalten. Das Kleine Blatt leistete Lucien und Coralie unschätzbare Dienste, indem es durch seine Existenz dafür sorgte, daß der Schneider, die Schneiderin und die Modistin, die alle davor zitterten, es mit dem Journalisten zu verderben, der imstande war ihre Geschäfte in schlechten Ruf zu bringen, nicht abtrünnig wurden. Während des Frühstücks kam Lousteau und rief: »Hurra! Es lebe der Bogenschütze KarlsIX.! Ich habe für hundert Franken Bücher verklopft, Kinder. Hier! Wir wollen teilen.«
Er übergab Coralie fünfzig Franken und schickte Berenice weg, damit sie ein etwas kräftigeres Frühstück holte.
»Gestern haben Hector Merlin und ich mit Verlegern diniert, und wir haben den Verkauf deines Romans durch pfiffige Erfindungen vorbereitet. Du stehst also in Unterhandlungen mit Dauriat; aber er knickert, er will nicht mehr als viertausend Franken für zweitausend Exemplare geben, und du willst sechstausend. Wir haben dich doppelt so groß als Walter Scott gemacht. Oh! du hast unvergleichliche Romane in den Eingeweiden! Du bietest nicht ein Buch an, sondern ein Geschäft; du bist nicht der Verfasser eines mehr oder minder vorzüglichen Romans: du bist eine ganze Serie! Dieses Wort Serie hat eingeschlagen. Also vergiß nicht deine Rolle. Du hast in deinem Schreibtisch: Die Prinzessintochter oder Frankreich unter LudwigXIV.; CotillonI. oder die ersten Tage LudwigsXIV.; Die Königin und der Kardinal oder Paris zur Zeit der Fronde; Der Sohn Concinis oder eine Intrige Richelieus! ... Diese Romane werden auf dem Umschlag angekündigt. Wir nennen dieses Manöver: den Erfolg in die Höhe schnellen. Man läßt seine Bücher auf den Umschlägen tanzen, bis sie berühmt sind, und man ist dann viel größer durch die Werke, die man nicht schreibt, als durch die, die man gemacht hat. Das Unter der Presse ist die literarische Hypothek! Also, Kinder, wir wollen vergnügt sein! Hier ist Champagner. Weißt du, Lucien, die Leute haben Augen gemacht, so groß wie deine Untertassen ... Du hast doch noch Untertassen?«
»Sie sind gepfändet«, sagte Coralie.
»Ich verstehe und bedaure«, entgegnete Lousteau. »Die Buchhändler glauben an alle deine Manuskripte, wenn sie ein einziges davon sehen. Im Verlagsbuchhandel will man das Manuskript sehen, man tut so, als ob man es liest. Lassen wir den Verlegern ihre Afferei: nie lesen sie Bücher, sonst würden sie nicht so viele veröffentlichen! Hector und ich haben durchblicken lassen, daß du für fünftausend Franken dreitausend Exemplare in zwei Auflagen bewilligen wirst. Gib mir das Manuskript des Bogenschützen; übermorgen frühstücken wir bei den Verlegern und seifen sie ein!«
»Was sind es für welche?« fragte Lucien.
»Zwei Kompagnons, tüchtige Burschen, recht gewiegt im Geschäft, namens Fendant und Cavalier. Der eine ist ein früherer erster Gehilfe des Hauses Vidal und Porchon, der andere ist der geschickteste Reisende vom Quai des Augustins; sie sind seit einem Jahre etabliert. Erst haben sie etliches Kapital bei der Herausgabe von Romanen aus dem Englischen verloren; jetzt wollen es die guten Menschen mit einheimischer Ware versuchen. Es geht das Gerücht, diese beiden Händler in bedruckten Papieren riskierten nur die Kapitalien anderer Leute; aber ich denke, es ist dir ziemlich gleichgültig, wem das Geld gehört, das man dir gibt.«
Zwei Tage nachher waren die beiden Journalisten zum Frühstück in der Rue Serpente eingeladen, in dem Stadtviertel, wo Lucien früher gewohnt hatte und in dem Lousteau noch immer sein Zimmer in der Rue de la Harpe beibehalten hatte. Und Lucien, der seinen Freund dort abholte, sah die Kammer noch in dem nämlichen Zustand, in dem sie sich an dem Abend seiner Einführung in die literarische Welt befunden hatte; aber er wunderte sich nicht mehr darüber: seine Erziehung hatte ihn mit den Wechselfällen im Leben der Journalisten vertraut gemacht, und er verstand das jetzt alles. Unser großer Mann aus der Provinz hatte das Honorar für mehr als einen Artikel bekommen und im Spiel draufgehen lassen und damit auch die Lust verloren, welche zu schreiben; er hatte mehr als eine Spalte nach dem trefflichen Rezept geschrieben, das Lousteau ihm angegeben hatte, während sie von der Rue de la Harpe nach dem Palais Royal hinabpromeniert waren. Er war in Abhängigkeit von Barbet und Braulard gekommen, er handelte mit Büchern und Theaterbilletten; er schreckte jetzt vor keinem Lob und keinem Angriff mehr zurück; er empfand sogar in diesem Augenblick eine Art Freude, aus Lousteau noch jeden möglichen Vorteil zu ziehen, bevor er den Liberalen den Rücken kehrte, die er sich vornahm so trefflich anzugreifen, wie er sie gründlich kennen gelernt hatte. Lousteau seinerseits erhielt zu Luciens Nachteil von Fendant& Cavalier die Summe von fünfhundert Franken in bar als Kommissionsgebühr, weil er den beiden Verlegern, die auf der Suche nach einem französischen Scott waren, diesen künftigen Walter Scott zuführte.
Das Haus Fendant & Cavalier war eine der Verlagsbuchhandlungen, die sich ohne das geringste Kapital etablieren, wie es damals öfter geschah, und wie es immer geschehen wird, solange die Papierlieferanten und Drucker dem Verlagsbuchhandel in der Zeit, die für sieben oder acht dieser Kartenspiele, die man Buchveröffentlichungen nennt, erforderlich ist, Kredit geben. Damals wie heute wurden die Werke den Schriftstellern mit Wechseln auf sechs, neun oder zwölf Monate Ziel abgekauft; und diese Zahlung ist in der Natur des Geschäfts begründet, wie es sich zwischen den Buchhändlern abspielt, die noch länger auf Zahlung warten müssen. Diese Buchhändler bezahlten die Papierlieferanten und die Drucker mit derselben Münze, und sie hatten so ein Jahr lang gratis einen ganzen Verlag in Händen, der aus zwölf oder zwanzig Werken bestand. Gab es zwei oder drei Erfolge, so bezahlte der Erlös der guten Geschäfte die schlechten, und sie hielten sich, indem sie Buch auf Buch pfropften. Waren die Unternehmungen alle zweifelhaft oder bekamen sie es zu ihrem Unglück mit guten Büchern zu tun, die erst verkauft werden konnten, wenn das wahre Publikum auf den Geschmack gekommen war; wurde es schwer, ihre Wechsel einzulösen, machten sie selbst Bankrott, so zeigten sie unbesorgt ihre Zahlungseinstellung an; die Bilanz war im voraus für dieses Ende eingerichtet worden. So waren alle Chancen zu ihren Gunsten, sie spielten auf dem grünen Tuche der Spekulation mit den Geldern anderer, nicht mit ihren eigenen. Fendant& Cavalier waren in dieser Lage; Cavalier hatte seine Geschicklichkeit eingestellt, Fendant seinen Fleiß dazugegeben. Das Gesellschaftskapital verdiente diesen Namen durchaus, denn es bestand aus einigen tausend Franken, mühsam zusammengebrachten Ersparnissen ihrer Geliebten, von denen sie sich beide sehr ansehnliche Gehälter vorbehielten, die peinlich in Diners für Journalisten und Schriftsteller und im Besuch der Theater angelegt wurden, wo die Geschäfte, wie sie sagten, gemacht wurden. Diese halben Spitzbuben galten beide für gerieben; aber Fendant war schlauer als Cavalier. Cavalier war, wie es sich für einen Mann seines Namens in dieser Firma gehörte, auf Reisen, Fendant erledigte die Geschäfte in Paris. Dieses Kompagniegeschäft war, was es zwischen zwei Buchhändlern immer sein wird: ein Duell. Die Kompagnons hatten ihr Geschäft im Erdgeschoß eines von den alten, vornehmen Häusern der Rue Serpente, und das Kontor der Firma erreichte man, nachdem man geräumige Salons durchschritten hatte, die in Magazine umgewandelt worden waren. Sie hatten schon viele Romane veröffentlicht, wie zum Beispiel den Turm des Nordens, den Kaufmann von Benares, den Born des Grabmals, Tekeli, die Romane von Galt, einem englischen Schriftsteller, der in Frankreich nicht eingeschlagen hat. Die Erfolge Walter Scotts lenkten die Aufmerksamkeit des Buchhandels so stark nach England, daß die Buchhändler als richtige normannische Räuber alle mit der Eroberung Englands beschäftigt waren; sie suchten dort nach einem Walter Scott, wie man später in den kieselhaltigen Erdschichten Asphalt, in den Sümpfen Erdpech suchte und aus den projektierten Eisenbahnen Gewinn schlagen wollte. Zu den größten Dummheiten des Pariser Handels gehört es, daß er den Erfolg im Ähnlichen sucht, wenn er im Entgegengesetzten zu finden ist. Nirgends so wie in Paris tötet der Erfolg den Erfolg. Wenn also Fendant& Cavalier einen Roman des Namens Die Strelitzen oder Rußland vor hundert Jahren ankündigten, fügten sie in großen Lettern hinzu: Nach Art Walter Scotts. Fendant& Cavalier dürsteten nach einem Erfolg: ein gutes Buch konnte ihnen dazu verhelfen, ihre aufgehäuften Stöße Papier loszuwerden, und sie waren mit der Aussicht geködert worden, daß sie Artikel in die Zeitungen bekämen. Wir wissen, daß das damals die große Bedingung des Absatzes war, denn es ist überaus selten, daß ein Buch wegen seines eigenen Wertes gekauft wird; es wird fast immer aus Gründen veröffentlicht, die mit seinem Verdienst nichts zu tun haben. Fendant& Cavalier sahen in Lucien den Journalisten und in seinem Buch eine brauchbare Ware, denn der Verkauf der ersten Exemplare würde ihnen über einen Ultimo hinweghelfen. Die Journalisten fanden die Kompagnons in ihrem Kontor, den Vertrag fix und fertig und die Wechsel unterzeichnet; diese Schnelligkeit setzte Lucien in Erstaunen. Fendant war ein kleiner, magerer Mann mit einem düstern Gesicht: er sah aus wie ein Kalmücke, hatte eine niedrige Stirn, eine platte Nase, einen zugekniffenen Mund, kleine, funkelnde Augen, gequälte Züge, einen galligen Teint, eine Stimme wie der Klang einer zersprungenen Glocke, alles in allem, das ganze Äußere eines ausgemachten Spitzbuben; aber er wog diese Nachteile durch seine honigsüßen Reden wieder auf und erreichte in der Unterhaltung, was er wollte. Cavalier ein rundlicher Bursche, den man eher für einen Postschaffner gehalten hätte als für einen Buchhändler; er hatte malefizblonde Haare, das rote Gesicht, die plumpe Figur und das ewige Geschwätz eines Geschäftsreisenden.
»Wir werden nicht viel zu verhandeln haben«, sagte Fendant zu Lucien und Lousteau. »Ich habe das Werk gelesen, es ist sehr literarisch und gefällt uns so gut, daß ich das Manuskript schon in die Druckerei gegeben habe. Der Vertrag ist nach den vereinbarten Dingen abgefaßt worden; übrigens gehen wir nie über die Punkte hinaus, die darin festgelegt sind. Unsere Wechsel laufen auf sechs, neun und zwölf Monate, Sie können sie leicht diskontieren, und wir ersetzen Ihnen den Diskont. Wir haben uns das Recht vorbehalten, dem Werk einen andern Titel zu geben: Der Bogenschütze KarlsIX. gefällt uns nicht, er reizt die Neugier der Leser nicht genug, es gibt mehrere Könige, die Karl geheißen haben, und im Mittelalter hatte man so viele Bogenschützen. Oh, wenn es hieße: Der Soldat Napoleons; aber Der Bogenschütze KarlsIX.! ... Cavalier müßte für jedes Exemplar, das er in der Provinz losschlägt, einen Geschichtsvortrag halten.«
»Wenn Sie die Leute kennten, mit denen wir Geschäfte machen!« rief Cavalier.
»Die Bartholomäusnacht wäre besser«, schlug Fendant vor.
»Katharina von Medici oder Frankreich unter KarlIX.«, sagte Cavalier, »klänge mehr wie ein Titel von Walter Scott.«
»Na, wir können das festsetzen, wenn das Werk gedruckt ist«, meinte Fendant.
»Wie Sie wollen,« versetzte Lucien, »vorausgesetzt, daß der Titel mir gefällt.«
Der Vertrag wurde gelesen, unterschrieben, jeder Teil erhielt sein Exemplar, und Lucien steckte mit größter Befriedigung die Wechsel in die Tasche. Dann begaben sie sich alle vier zu Fendant, wo sie ein sehr gewöhnliches Frühstück einnahmen: Austern, Beefsteaks, Nieren in Champagner und Fromage de Brie; aber zu diesen Gerichten gab es köstliche Weine, die Cavalier, der mit einem Weinreisenden bekannt war, beschafft hatte. Im Augenblick, wo man sich zu Tisch setzte, trat der Drucker ein, dem der Druck des Romans anvertraut war, und überraschte Lucien mit den zwei ersten Druckbogen seines Buches.
»Wir wollen schnell machen,« sagte Fendant zu Lucien; »wir rechnen auf Ihr Buch, wir haben den Erfolg verteufelt nötig.«
Das Frühstück, das gegen zwölf Uhr mittags begonnen hatte zog sich bis fünf Uhr hin.
»Wo finde ich Geld?« fragte Lucien, als er mit Lousteau wegging.
»Suchen wir Barbet auf,« erwiderte Etienne, »ich gehe mit.«
Die beiden Freunde begaben sich ein wenig erhitzt und vom Wein erregt zum Quai des Augustins.
»Coralie ist über den Ruin Florines aufs äußerste überrascht. Florine hat ihr erst gestern davon gesprochen und hat dir die Schuld an diesem Unglück zugeschrieben, sie schien so zornig, daß sie sich von dir trennen wollte«, sagte Lucien zu Lousteau.
»Es ist wahr«, erwiderte Lousteau, den seine Vorsicht verließ. »Mein Freund, denn du bist mein Freund, du bist ein guter Kerl, du hast mir tausend Franken geliehen und hast sie nur ein einziges Mal zurückverlangt: hüte dich vor dem Spiel. Wenn ich nicht spielte, wäre ich glücklich. Ich bin Gott und dem Teufel Geld schuldig. Ich habe in diesem Augenblick die Häscher des Schuldgerichts auf meinen Fersen, und wenn ich ins Palais Royal gehe, bin ich genötigt, um höchst gefährliche Vorgebirge zu segeln.«
In der Sprache der Lebemänner bedeutet in Paris um ein Vorgebirge segeln einen Umweg machen, entweder um nicht bei einem Gläubiger vorbeizugehen, oder um den Ort zu vermeiden, wo man ihn treffen könnte. Lucien, der auch nicht unterschiedslos durch alle Straßen ging, hatte das Manöver gekannt, ohne seine Bezeichnung zu wissen.
»Du hast also viel Schulden?«
»Eine schreckliche Menge«, erwiderte Lousteau. »Tausend Taler könnten mich retten. Ich habe mich rangieren und nicht mehr spielen wollen, und um meine Schulden zu tilgen, habe ich ein wenig Chantage gemacht.«
»Was ist Chantage?« fragte Lucien, dem dieses Wort unbekannt war.
»Die Chantage ist eine Erfindung der englischen Presse und ist vor kurzem nach Frankreich importiert worden. Die Chanteure sind Leute, die eine Stellung haben, kraft deren sie über Zeitungen verfügen können. Niemals wird sich der Besitzer eines Blattes oder ein Chefredakteur in den Verdacht bringen lassen, daß er sich mit Chantage abgibt. Man hat seinen Giroudeau, seine Philipp Bridau. Diese Bravi gehen auf die Suche nach einem Menschen, der gewisse Gründe zu dem Wunsch hat, daß man sich nicht mit ihm beschäftigt. Viele Leute haben mehr oder weniger schlimme kleine Sünden auf dem Gewissen. Es gibt viele Vermögen in Paris, die auf bedenklichen Wegen mit mehr oder weniger gesetzlichen Mitteln, oft durch strafbare Manöver, erlangt worden sind und von denen man reizende Anekdoten erzählen könnte, wie die Geschichte von der Gendarmerie Fouchés, die die Häscher des Polizeipräfekten umstellte, welche nichts von dem Geheimnis der Fabrikation der falschen Noten der Bank von England wußten und eben die geheimen Drucker festnehmen wollten, die im Dienste des Ministers standen; oder die Geschichte von den Diamanten des Fürsten Galathione, die Affäre Maubreuil, die Erbschaftssache Pombreton usw. Der Chanteur hat sich irgendein Beweisstück, ein wichtiges Dokument verschafft und ersucht den Reichen um eine Besprechung. Wenn der Kompromittierte nicht eine bestimmte Summe gibt, winkt ihm der Chanteur mit der Presse, die bereit ist, ihn anzugreifen und seine Geheimnisse zu enthüllen. Der Reiche hat Angst und blecht. Der Streich ist gelungen. Es unternimmt jemand eine gewagte Spekulation, sie kann durch ein paar Artikel zu Fall gebracht werden, man schickt ihm einen Chanteur, der ihm den Rückkauf der Artikel vorschlägt. Es gibt Minister, denen man Chanteure schickt und die mit einem ausmachen, daß die Zeitung ihre politischen Akte, aber nicht ihre Person angreift, oder die ihre Person preisgeben und Gnade für ihre Geliebte verlangen. Des Lupeaulx, der reizende vortragende Rat, den du kennst, ist dauernd mit dieser Art Verhandlungen mit den Journalisten beschäftigt. Der Bursche hat sich durch seine Beziehungen bei den Machthabern eine wunderbare Stellung geschaffen: er ist zugleich der Geschäftsträger der Presse und der Botschafter der Minister, er treibt ein richtiges Roßtäuschergeschäft mit Eitelkeiten; er dehnt sogar diesen Handel auf politische Angelegenheiten aus, er verlangt von den Zeitungen Schweigen über eine Anleihe oder über eine Konzession, die ohne Ausschreiben und ohne Öffentlichkeit vergeben worden sind, von denen die liberalen Wucherer und Bankiers einen Teil abbekommen. Du hast mit Dauriat ein klein bißchen Chantage getrieben, er hat dir tausend Taler gegeben, um dich zu verhindern, Nathan herunterzumachen. Im achtzehnten Jahrhundert, wo der Journalismus noch in den Windeln lag, machte man die Chantage mit Hilfe von Flugschriften, deren Vernichtung man sich dann von Mätressen und vornehmen Herren abkaufen ließ. Der Erfinder der Chantage ist Aretino, ein sehr großer Mann Italiens, der die Könige besteuerte, wie in unseren Tagen eine Zeitung Steuern von den Schauspielern erhebt.«
»Was hast du gegen den Matifat gemacht, um zu deinen tausend Talern zu kommen?«
»Ich habe Florine in sechs Zeitungen angreifen lassen, und Florine hat sich bei Matifat beklagt. Matifat hat Braulard gebeten, den Grund dieser Angriffe ausfindig zu machen. Braulard ist von Finot hinters Licht geführt worden. Finot, zu dessen Gunsten ich die Chantage machte, hat dem Drogisten gesagt, du rissest Florine im Interesse Coralies herunter. Giroudeau hat Matifat aufgesucht und hat ihm vertraulich gesagt, daß alles in Ordnung käme, wenn er sein Sechstel, den Anteil an Finots Zeitschrift, für zehntausend Franken verkaufen wollte. Finot sollte mir für den Fall des Erfolges tausend Taler geben. Matifat wollte den Handel abschließen und war glücklich, von seinen dreißigtausend Franken, die ihm sehr riskant angelegt schienen, zehntausend wiederzubekommen; denn seit einigen Tagen sagte ihm Florine, die Zeitschrift Finots ginge nicht, es sollte keine Dividende verteilt werden, es sei im Gegenteil die Rede davon, das Kapital zu erhöhen. Nun hatte der Direktor des Panorama Dramatique, bevor er seine Insolvenz erklärte, das Bedürfnis, einige Gefälligkeitswechsel unterzubringen; und damit Matifat sie ihm unterbrachte, erzählte er ihm den Streich, den Finot ihm spielen wollte. Matifat, der ein guter Kaufmann ist, hat Florine verlassen, sein Sechstel behalten und lacht uns jetzt aus. Finot und ich heulen vor Verzweiflung. Wir haben das Unglück gehabt, einen Mann anzugreifen, der nicht zu seiner Geliebten hält, einen Elenden ohne Herz und ohne Seele. Zum Unglück gehört das Geschäft, das Matifat betreibt, nicht zum Gerichtsstand der Presse. Er ist in seinen Interessen unangreifbar. Man kritisiert einen Drogisten nicht, wie man Hüte, Modeartikel, Theater und Kunst kritisiert. Der Kakao, der Pfeffer, die Farben, die Farbhölzer, das Opium können nicht entwertet werden. Florine ist in Verzweiflung, das Panorama schließt morgen, sie weiß nicht, was nun werden soll.«
»Infolge der Schließung des Theaters tritt Coralie in einigen Tagen am Gymnase auf,« sagte Lucien, »vielleicht könnte sie Florine nützlich sein.«
»Niemals!« erwiderte Lousteau. »Coralie ist nicht sehr gescheit, aber so dumm ist sie doch nicht, daß sie sich eine Rivalin gibt! Unsere Sachen sind greulich verpfuscht! Aber Finot hat es dermaßen eilig, sein Sechstel wiederzubekommen ...«
»Warum eigentlich?«
»Mein Lieber, es ist ein vorzügliches Geschäft. Es ist Aussicht, das Blatt für dreimalhunderttausend Franken zu verkaufen. Finot hätte dann ein Drittel und dazu noch eine Kommissionsgebühr, die ihm seine Kompagnons bewilligt haben und die er mit des Lupeaulx teilen müßte. Ich will ihm daher ein Chantagestückchen vorschlagen.«
»Aber Chantage, das ist ja dasselbe wie: die Börse oder das Leben!«
»Nein, es ist besser«, sagte Lousteau. »Es ist: die Börse oder die Ehre! Vorgestern hat ein kleines Blatt, dessen Besitzer man einen Kredit verweigert hatte, geschrieben, die diamantenbesetzte Repetieruhr, die einem berühmten Manne der Hauptstadt gehörte, wäre auf überaus seltsame Weise in die Hände eines Soldaten der Königlichen Garde gekommen, und versprach die Erzählung dieses Abenteuers, von dem es sagte, es klinge wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der berühmte Mann hat sich beeilt, den Chefredakteur zum Diner einzuladen. Der Chefredakteur hat sicher bei der Sache etwas gewonnen, aber die Geschichte unserer Zeit hat die Anekdote mit der Uhr eingebüßt. Jedesmal, wenn du siehst, daß die Presse hinter ein paar mächtigen Leuten her ist, mußt du wissen, daß es sich um Anleihen handelt, die abgelehnt worden sind, oder sonst um Dienste, die man nicht erweisen wollte. Diese Chantage hinsichtlich des Privatlebens fürchten die reichen Engländer am meisten; sie spielt in den geheimen Einkünften der englischen Presse, die unendlich viel korrumpierter ist als unsere, eine große Rolle. Wir sind Kinder! In England bezahlt man für einen kompromittierenden Brief fünf- bis sechstausend Franken, um ihn zurückzubekommen.«
»Was für ein Mittel hast du gefunden, um Matifat schlechtzumachen?« fragte Lucien.
»Lieber Freund,« versetzte Lousteau, »dieser elende Krämer hat Florine die seltsamsten Briefe geschrieben: Orthographie, Stil, Gedanken, alles ist von vollendeter Komik. Matifat hat furchtbare Angst vor seiner Frau; wir können, ohne ihn zu nennen und ohne daß er klagen kann, ihn im Schoß seiner Laren und seiner Penaten treffen, wo er sich in Sicherheit glaubt. Stelle dir seine Wut vor, wenn er den ersten Abschnitt eines kleinen Sittenromans liest, der den Titel hat: Die Liebschaften eines Drogisten, wenn man ihm in durchaus loyaler Weise von dem Zufall Mitteilung macht, der den Redakteuren irgendeines Blattes Briefe in die Hände gespielt hat, in denen er von seinem kleinen Kupido spricht, wo er von Romego und Guliga schwärmt und wo er von Florine sagt, er durchquere mit ihr die Wüste des Lebens, was so klingt, als nähme er sie für ein Kamel. Kurz, die Abonnenten können sich vierzehn Tage lang über diese hervorragend komische Korrespondenz totlachen. Und man läßt ihn einen anonymen Brief fürchten, durch den seine Frau die Tatsachen erfährt, die dem Spaß zugrunde liegen. Aber wird Florine es auf sich nehmen wollen, daß es so aussieht, als ob sie Matifat verfolge? Sie hat noch Prinzipien, das heißt Hoffnungen. Vielleicht behält sie die Briefe für sich, vielleicht will sie einen Anteil. Sie ist schlau, sie ist meine Schülerin. Aber wenn sie merkt, daß das Schuldgefängnis kein Spaß ist, wenn Finot ihr ein anständiges Geschenk macht oder die Hoffnung auf ein Engagement gibt, wird sie mir die Briefe aushändigen, und ich überlasse sie Finot gegen harte Taler. Finot übergibt die Korrespondenz seinem Onkel, und Giroudeau wird den Drogisten zur Kapitulation bringen.«
Diese vertraulichen Mitteilungen ernüchterten Lucien; sein erster Gedanke war, daß er überaus gefährliche Freunde hatte, und dann dachte er, man dürfte sich nicht mit ihnen veruneinigen, denn er könnte ihren schrecklichen Einfluß für den Fall nötig haben, daß Frau d'Espard, Frau von Bargeton und Châtelet nicht Wort hielten. Etienne und Lucien waren jetzt auf dem Kai vor dem elenden Laden Barbets angelangt.
»Barbet,« sagte Etienne zu dem Buchhändler, »wir haben fünftausend Franken von Fendant& Cavalier auf sechs, neun und zwölf Monate. Wollen Sie uns ihre Wechsel diskontieren?«
»Ich nehme sie für tausend Taler«, sagte Barbet mit unerschütterlicher Ruhe.
»Tausend Taler!« rief Lucien.
»Kein Mensch wird Ihnen so viel geben«, erwiderte der Buchhändler. »Diese Herren machen noch vor einem Vierteljahr Bankrott; aber ich kenne gute Werke bei ihnen, die jetzt noch nicht gehen, sie können nicht warten, ich kaufe sie ihnen also gegen bar ab und gebe ihnen ihre eigenen Wechsel zurück; auf diese Weise habe ich die Ware für zweitausend Franken billiger.«
»Willst du zweitausend Franken verlieren?« fragte Etienne Lucien.
»Nein«, rief Lucien, der noch kein solches Geschäft gemacht hatte.
»Du hast unrecht«, erwiderte Etienne.
»Sie werden Ihre Wechsel nirgends unterbringen«, sagte Barbet. »Das Buch des Herrn ist der letzte Trumpf von Fendant& Cavalier, sie können es nur drucken, indem sie die Exemplare bei ihrem Buchdrucker in Verwahrung lassen; ein Erfolg rettet sie höchstens für ein halbes Jahr, denn früher oder später gehen sie in die Luft! Diese Herren verkaufen nicht so viel Bücher, als sie Gläschen Wein trinken! Für mich repräsentieren ihre Wechsel ein Geschäft, und Sie können daher von mir mehr bekommen, als die Diskontierer geben, die sich lediglich fragen, was jede Unterschrift wert ist. Das Geschäft des Diskontierers besteht einzig darin, zu untersuchen, ob drei Unterschriften im Fall des Konkurses je dreißig Prozent geben. Sie aber bieten nur zwei Unterschriften an, und jede ist keine zehn Prozent wert.«
Die beiden Freunde sahen sich an; sie waren erstaunt, aus dem Munde dieses Trödelbuchhändlers eine Analyse zu hören, in der mit ein paar Worten der ganze Geist des Diskontgeschäfts ausgesprochen war.
»Keine Phrasen, Barbet«, sagte Lousteau. »Zu welchem Diskontierer können wir gehen?«
»Der alte Chaboisseau am Quai Saint-Michel, wie Sie wissen, hat das letzte Ultimo Fendants bewerkstelligt. Wenn Sie meinen Vorschlag ablehnen, versuchen Sie es bei ihm; aber Sie werden wiederkommen, und ich gebe Ihnen dann nur noch zweitausendfünfhundert Franken.«
Etienne und Lucien begaben sich in ein kleines Haus des Quai Saint-Michel, in dem dieser Chaboisseau wohnte, der einer der Diskontierer für den Buchhandel war, und sie fanden ihn im zweiten Stock in einer Wohnung, die in überaus origineller Weise eingerichtet war. Dieser kleine Bankier, der aber trotzdem ein Millionär war, liebte den griechischen Stil. Das Fenstergesims des Zimmers war griechisch. Das Bett war mit einem purpurnen Stoff drapiert, der in griechischer Art an der Wand entlang ging wie der Hintergrund eines Gemäldes von David; und dieses Bett selbst war ein Meisterstück aus der Kaiserzeit, wo alles in diesem Geschmack gearbeitet wurde. Die Lehnstühle, die Tische, die Lampen, die Leuchter und alle kleinen Zierstücke warm sämtlich ohne Frage mit großer Geduld bei den Möbelhändlern ausgesucht worden und zeigten alle die feine, schlanke, aber elegante Anmut des Altertums. Diese mythologische, leichte Welt stand in absonderlichem Gegensatz zu den Geschäften und Gewohnheiten dieses Bankiers. Es ist zu bemerken, daß sich unter den Menschen, die Geldgeschäfte treiben, die wunderlichsten Originale finden. Diese Leute sind gewissermaßen die Wildlinge des Geistes. Da sie alles besitzen können und infolgedessen blasiert sind, geben sie sich ungeheure Mühe, sich ihrer Gleichgültigkeit zu entreißen. Wer sich darauf versteht, sie zu studieren, findet immer eine Manie, einen Winkel ihres Herzens, wo sie zugänglich sind. Chaboisseau schien im Altertum wie in einem uneinnehmbaren Lager verschanzt.
»Er paßt recht gut in seine Einrichtung«, sagte Etienne lächelnd zu Lucien.
Chaboisseau war ein kleiner Mann mit gepuderten Haaren, einem grünlichen Rock und einer haselnußbraunen Weste, er trug schwarze Kniehosen, bundgewebte Strümpfe und Schuhe, die an den Füßen knarrten. Er nahm die Wechsel, sah sie prüfend an; dann gab er sie Lucien ernst zurück.
»Die Herren Fendant und Cavalier sind reizende Menschen, überaus gescheite junge Männer; aber ich habe leider jetzt kein Geld«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Mein Freund wird wegen des Diskonts keine Schwierigkeiten machen«, erwiderte Etienne.
»Ich nehme diese Wechsel um keinen Preis«, sagte der kleine Mann, und seine Worte schnitten die Bemerkung Lousteaus ab, wie das Beil der Guillotine den Kopf eines Menschen.
Die beiden Freunde schickten sich zum Gehen an; als sie durch das Vorzimmer gingen, bis zu dem Chaboisseau sie höflich begleitete, bemerkte Lucien einen Stoß alter Bücher, die der Bankier, der früher Buchhändler war, gekauft hatte; unter ihnen bemerkte unser Romanschriftsteller plötzlich das Werk des Architekten Ducerceau über die königlichen Schlösser und die berühmten Paläste Frankreichs, deren Pläne in diesem Buch mit großer Genauigkeit gezeichnet sind.
»Wollen Sie mir dieses Werk ablassen?« fragte Lucien.
»Ja«, sagte Chaboisseau, der sich aus einem Bankier wieder in einen Buchhändler verwandelte.
»Was soll es kosten?«
»Fünfzig Franken.«
»Das ist teuer, aber ich brauche es, und ich habe, um sie zu zahlen, nur die Wechsel, die Sie nicht haben wollen.«
»Sie haben einen Wechsel über fünfhundert Franken auf sechs Monate, den nehme ich Ihnen ab«, antwortete Chaboisseau, der ohne Zweifel Fendant& Cavalier von der letzten Abrechnung her noch gerade diese Summe schuldig war. Die beiden Freunde gingen wieder in das griechische Zimmer, und Chaboisseau rechnete auf einem Stück Papier sechs Prozent Zinsen und sechs Prozent Kommissionsgebühr ab, was einen Abzug von dreißig Franken machte; dann stellte er die fünfzig Franken, den Preis des Ducerceau, in Rechnung und entnahm seiner Kasse, die voll schöner Talerstücke war, vierhundertzwanzig Franken.
»Aber, Herr Chaboisseau, die Wechsel sind entweder alle gut oder alle schlecht, warum diskontieren Sie uns die andern nicht?«
»Ich diskontiere nicht, ich mache mich für einen Verkauf bezahlt«, versetzte der Biedermann.
Etienne und Lucien lachten noch über Chaboisseau, ohne ihn begreifen zu können, als sie bei Dauriat angekommen waren, wo Lousteau Gabusson bat, ihnen die Adresse eines Diskontierers anzugeben. Die beiden Freunde nahmen eine Droschke und fuhren zum Boulevard Poissonnière. Gabusson hatte ihnen einen Empfehlungsbrief mitgegeben und hatte ihnen gesagt, sie würden das seltsamste und bizarrste Kuriosum treffen, wie er sich ausdrückte.
»Wenn Samanon Ihre Wechsel nicht nimmt,« hatte Gabusson gesagt, »dann diskontiert sie Ihnen kein Mensch.«
Samanon war im Erdgeschoß Antiquar, im ersten Stock Kleiderhändler, im zweiten Stock verkaufte er verbotene Bilder, überdies war er noch Pfandleiher. Keine der Personen, die Hoffmann in seinen Romanen schildert, keiner der unheimlichen Geizigen Walter Scotts kann mit dem verglichen werden, was die Gesellschaft und Paris in diesem Menschen hervorgebracht hatten wenn Samanon überhaupt ein Mensch war. Lucien konnte beim Anblick dieses kleinen vertrockneten Alten, dessen Knochen die völlig lohfarbene Haut durchbohren zu wollen schienen, eine Gebärde des Entsetzens nicht zurückhalten. Diese Haut war mit zahlreichen grauen oder gelben Flecken besät, wie ein Gemälde von Tizian oder Paul Veronese, wenn man es aus der Nähe ansieht. Das eine Auge war unbeweglich und gläsern, das andere lebhaft und leuchtend. Der Geizige, der den Eindruck machte, als ob er sich dieses toten Auges bediente, wenn er diskontierte, und des anderen, wenn er seine obszönen Bilder verkaufte, trug eine kleine, flache Perücke, die schwarz sein sollte, aber fuchsrot schimmerte, und unter der man seine weißen Haare sah; seine gelbe Stirn sprang drohend vor, seine Backen waren durch die hervortretenden Kinnbacken wie zu einem Viereck geschnitten, seine noch weißen Zähne standen über die Lippen vor wie bei einem Pferd, das das Maul aufsperrt. Der Kontrast seiner Augen und das Grinsen dieses Mundes, das alles zusammen gab ihm ein wildes Aussehen. Seine harten, spitzen Barthaare mußten stechen wie Nadeln. Ein fadenscheiniger Rock, der schon fast wie Zunder aussah, eine fast farblos gewordene schwarze Binde, die von seinem Bart abgewetzt worden war und die einen Hals sehen ließ, der runzelig war wie der eines Puters, zeigten, daß ihr Träger keinen Wert darauf legte, den Eindruck seiner furchtbaren Physiognomie durch Toilettekünste zu mildern. Die beiden Journalisten fanden diesen Mann in einem gräßlich schmutzigen Kontor sitzen; er war damit beschäftigt, auf die Rücken etlicher alter Bücher, die er wohl auf einer Versteigerung erstanden hatte, Schilder zu kleben. In einem raschen Blick tauschten sie die tausend Fragen aus, die der Anblick einer solchen Persönlichkeit erregen mußte; dann grüßten Lucien und Lousteau und überreichten ihm den Brief Gabussons und die Wechsel von Fendant& Cavalier. Während Samanon las, betrat ein Mann von sehr geistvollem Aussehen den dunklen Raum. Er war mit einem sonderbaren kurzen Rock bekleidet, der wie aus Zink geschnitten aussah, so fest war er durch die Legierung mit tausend fremden Stoffen geworden.
»Ich brauche meinen Rock, meine schwarzen Hosen und meine Atlasweste«, sagte er zu Samanon und überreichte ihm eine numerierte Karte.
Samanon zog an dem Kupfergriff einer Glocke, und sofort kam ein weibliches Wesen herunter, die, nach der frischen Farbe ihres Gesichts zu schließen, eine Normannin zu sein schien.
»Leih dem Herrn seine Kleider«, sagte er und streckte dem Schriftsteller die Hand hin. »Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten; aber einer Ihrer Freunde hat mir einen jungen Mann gebracht, der mich scheußlich hineingelegt hat!«
»Ihn legt man hinein!« sagte der Künstler zu den beiden Journalisten mit einer überaus drolligen Handbewegung.
Wie die Lazzaroni, um vom Leihhaus ihre Feiertagskleider für einen Tag zurückzuerhalten, zu tun pflegen, gab der große Mann dreißig Sous hin, die der Diskontierer mit seiner gelben, rissigen Hand erraffte und in die Kasse seines Kontortisches warf.
»Was für einen seltsamen Handel machst du?« sagte Lousteau zu dem großen Künstler, der dem Opiumgenuß ergeben war und, wenn er in den Zauberpalästen geweilt hatte, nichts arbeiten wollte oder konnte.
»Der Mann gibt auf verpfändbare Dinge viel mehr als das amtliche Leihhaus, und er hat überdies die große Gnade, sie einem für die Fälle, wo man gut angezogen sein muß, zur Verfügung zu stellen«, antwortete er. »Ich will heute abend mit meiner Geliebten bei den Kellers dinieren. Es fällt mir leichter, dreißig Sous zu haben als zweihundert Franken, und ich hole wieder einmal meine Garderobe, die in einem halben Jahre diesem barmherzigen Wucherer hundert Franken eingebracht hat. Samanon hat schon meine Bibliothek Buch für Buch geschluckt.«
»Und Sou für Sou«, lachte Lousteau.
»Ich gebe Ihnen fünfzehnhundert Franken«, sagte Samanon zu Lucien.
Lucien zuckte zusammen, wie wenn der Diskontierer ihm ein glühendes Eisen ins Herz gestoßen hätte. Samanon sah die Wechsel prüfend an und stellte die Daten fest.
»Und vorher«, sagte der Händler, »muß ich erst noch Fendant sehen, der mir zur Sicherheit Bücher geben muß. Sie bieten keine besondere Garantie,« sagte er zu Lucien; »Sie leben mit Coralie, und Ihre Möbel sind gepfändet.«
Lousteau warf Lucien einen Blick zu; der nahm rasch seine Wechsel, sprang aus dem Laden auf den Boulevard und rief: »Ist das der Teufel?«
Der Dichter betrachtete ein paar Augenblicke diesen kleinen Laden, über den alle Vorübergehenden lächeln mußten, so armselig war er, und so kläglich und schmutzig sahen die kleinen Regale mit etikettierten Büchern aus. Jeder mußte sich fragen: Was für eine Art Geschäft mag da betrieben werden?
Einige Augenblicke später verließ der große Unbekannte, der zehn Jahre später sich an dem ungeheuren Unternehmen der Saint-Simonisten, dem nur die Grundlage fehlte, beteiligen sollte, sehr gut gekleidet den Laden, lächelte den beiden Journalisten zu und schlug mit ihnen die Richtung nach der Panorama-Passage ein, um dort zur Vervollständigung seiner Toilette seine Stiefel wichsen zu lassen.
»Wenn man Samanon bei einem Verleger, einem Papierhändler oder einem Drucker eintreten sieht, sind sie verloren«, sagte der Künstler zu den beiden Schriftstellern. »Samanon ist wie ein Leichenbeschauer, der kommt, um das Maß zum Sarg zu nehmen.«
»Du bekommst deine Wechsel nicht mehr diskontiert«, sagte jetzt Etienne zu Lucien.
»Wo Samanon ablehnt,« meinte der Unbekannte, »ist mit niemandem mehr etwas zu machen. Er ist die ultima ratio! Er ist einer der Gehilfen von Gigonnet, Palma, Werbrust, Gobseck und andern Krokodilen, die in Paris herumschwimmen und mit denen jeder, dessen Vermögen zu machen oder zu vernichten ist, früher oder später zusammentreffen muß.«
»Wenn du deine Wechsel nicht mit fünfzig Prozent diskontieren kannst,« fing Etienne wieder an, »müssen sie gegen Taler umgetauscht werden.«
»Wie?«
»Gib sie Coralie, sie wird sie Camusot präsentieren. Du bist empört«, fuhr Lousteau fort, da Lucien indigniert zurückgetreten war. »Welche Kinderei! Kannst du deine Zukunft an einer solchen Albernheit scheitern lassen?«
»Jedenfalls will ich das Geld, das ich bis jetzt habe, einstweilen Coralie bringen«, versetzte Lucien.
»Das ist wieder eine Dummheit,« rief Lousteau, »du kannst mit vierhundert Franken nichts anfangen, wo viertausend gebraucht werden. Behalten wir etwas, um im Falle des Verlustes trinken zu können, und spielen wir.«
»Der Rat ist gut«, sagte der große Unbekannte.
Sie waren kaum vier Schritte von Frascati entfernt, und so übten diese Worte eine magnetische Kraft aus. Die beiden Freunde bezahlten ihre Droschke und stiegen die Treppe hinauf, um zu spielen. Zuerst gewannen sie dreitausend Franken, dann sanken sie auf fünfhundert herunter und gewannen wieder dreitausendsiebenhundert; dann fielen sie auf hundert Sous, erholten sich wieder bis zu zweitausend Franken, riskierten sie auf Gerade, um sie mit einem Schlage zu verdoppeln. Gerade war seit fünf Runden nicht gekommen, aber es kam wieder Ungerade. Lucien und Lousteau verließen diesen berühmten Pavillon, nachdem sie zwei Stunden in furchtbaren Aufregungen verbracht hatten. Sie hatten noch hundert Franken. Auf den Stufen des kleinen Peristyls, dessen zwei Säulen eine kleine Blechmarkise von außen stützten, die mehr als ein Auge innig oder verzweifelt betrachtet hat, sagte Lousteau, als er den glühenden Blick Luciens sah: »Riskieren wir noch fünfzig Franken!«
Die beiden Journalisten begaben sich wieder hinauf. In einer Stunde waren sie bei tausend Talern angelangt; sie setzten die tausend Taler auf Rot, das fünfmal gekommen war, sie bauten auf den Zufall, dem sie ihren früheren Verlust verdankten. Es kam Schwarz. Es war sechs Uhr.
»Riskieren wir noch fünfundzwanzig Franken«, sagte Lucien.
Dieser neue Versuch dauerte nicht lange, die fünfundzwanzig Franken waren in zehn Runden verloren. Lucien warf wütend seine letzten fünfundzwanzig Franken auf die Ziffer, die der Zahl seiner Lebensjahre entsprach, und gewann: seine Hand zitterte furchtbar, als er den Rechen nahm, um die Taler aufzunehmen, die der Bankhalter einen nach dem andern hinwarf. Er gab Lousteau zehn Louisdor und sagte zu ihm: »Rette dich zu Véry!«
Lousteau verstand Lucien und ging, um das Diner zu bestellen. Lucien blieb zurück und spielte weiter. Er setzte seine dreißig Louisdor auf Rot und gewann. Er ließ sich von der geheimen Stimme, die die Spieler manchmal verstehen, Mut machen, ließ alles auf Rot und gewann; seine Eingeweide brannten wie glühende Kohlen! Trotz der innern Stimme setzte er die hundertzwanzig Louisdor auf Schwarz und verlor. Jetzt empfand er das köstliche Gefühl, das bei den Spielern ihren furchtbaren Aufregungen folgt, wenn sie nichts mehr zu riskieren haben und die Folterkammer verlassen, in der ihre flüchtigen Träume sich abgespielt haben. Er ging zu Lousteau ins Restaurant Véry, wo er sich wild aufs Essen stürzte und seinen Kummer im Wein ertränkte. Um neun Uhr war er so völlig betrunken, daß er nicht begriff, warum die Pförtnerin aus der Rue de Vendôme ihn nach der Rue de la Lune schickte.
»Fräulein Coralie hat ihre Wohnung verlassen und ist in das Haus gezogen, dessen Adresse hier auf dem Papier steht.«
Lucien war zu betrunken, um sich über etwas zu wundern, stieg wieder in den Wagen, der ihn hergefahren hatte, und fuhr nach der Rue de la Lune. Unterwegs machte er im Selbstgespräch Witze über den Namen der Straße. An diesem Morgen war der Konkurs des Panorama Dramatique ausgebrochen. Die erschreckte Schauspielerin hatte sich beeilt, ihr ganzes Mobiliar mit Zustimmung ihrer Gläubiger dem alten Cardot zu verkaufen, der die Wohnung, um ihre Bestimmung nicht zu ändern, Florentine überwies. Coralie hatte alles bezahlt, alles in Ordnung gebracht und alles mit dem Hausbesitzer erledigt. Während der Zeit, die diese Operation, die sie im Schauspielerjargon »eine große Wäsche« nannte, erforderte, richtete Berenice mit den nötigsten Möbeln, die sie beim Althändler kaufte, im vierten Stock eines Hauses in der Rue de la Lune, zwei Schritte vom Gymnase, eine kleine Wohnung von drei Zimmern ein. Coralie erwartete dort Lucien; sie hatte aus diesem Schiffbruch ihre Liebe ohne Flecken und eine Börse mit zwölfhundert Franken gerettet. Lucien erzählte in seiner Trunkenheit Coralie und Berenice seine unglücklichen Erlebnisse.
»Du hast recht getan, mein Engel«, sagte die Schauspielerin und schloß ihn in ihre Arme. »Berenice wird deine Wechsel Braulard verhandeln.«
Am nächsten Morgen erwachte Lucien in den Wonnen, mit denen Coralie ihn überschüttete. Die Schauspielerin verdoppelte ihre Liebe und Zärtlichkeit, wie um die Dürftigkeit ihres neuen Haushalts mit den reichsten Schätzen ihres Herzens aufzuwiegen. Sie war von strahlender Schönheit, ihre Haare lösten sich aus einem Seidentuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, sie war frisch und rosig, ihre Augen lachten, ihre Worte waren heiter wie der Strahl der aufgehenden Sonne, die in die Fenster schien, wie um dieses reizende Elend zu vergolden. Das Zimmer sah noch nicht so übel aus, es hatte eine meergrüne Tapete mit roter Borte, und es hingen zwei Spiegel da, der eine über dem Kamin, der andere über der Kommode. Ein alter Teppich, den Berenice von ihren Sparpfennigen gegen den Willen Coralies gekauft hatte, bedeckte den kalten Fußboden. An Gelassen für ihre Kleider und Wäsche hatten die beiden Liebenden einen Spiegelschrank und eine Kommode. Die Mahagonimöbel waren mit blauem Stoff ausgeschlagen. Berenice hatte aus dem Zusammenbruch eine Standuhr und zwei Porzellanvasen, vier silberne Bestecke und sechs Kaffeelöffel gerettet. Das Eßzimmer, das an das Schlafzimmer anstieß, sah aus wie das eines kleinen Beamten mit zwölfhundert Franken Gehalt. Die Küche lag auf der andern Seite des Flurs. Berenice schlief in einer Dachkammer. Die Miete betrug nicht mehr als hundert Taler. Dieses schreckliche Haus hatte einen falschen Torweg: der obere Teil des scheinbaren Torflügels war nämlich ein Kreuzstock, hinter dem die elende, niedrige Wohnung des Portiers lag und von dem aus er siebzehn Mietsparteien zu überwachen hatte. Ein solcher Bienenkorb wird in der Sprache der Notare ein einträgliches Haus genannt. Lucien sah einen Schreibtisch, einen Lehnstuhl, Tinte, Federn und Papier. Die Fröhlichkeit Berenices, die auf das erste Auftreten Coralies im Gymnase baute, und die der Schauspielerin, die in ihrer Rolle, einem dünnen Heft, das mit einem blauen Bändchen geheftet war, las, verscheuchten die Unruhe und Traurigkeit des ernüchterten Dichters.
»Wenn man in der Welt nichts von diesem Absturz erfährt, werden wir bald wieder hochkommen«, sagte er. »Schließlich haben wir viertausendfünfhundert Franken vor uns! Ich will meine neue Stellung in den royalistischen Zeitungen ausbeuten; ich verstehe mich jetzt auf den Journalismus, es wird gelingen!«
Coralie hörte aus diesen Worten nur seine Liebe und küßte die Lippen, die sie gesprochen hatten. Mittlerweile hatte Berenice den Tisch in der Nähe des Kamins gedeckt und ein bescheidenes Frühstück aufgetragen, das aus Rührei, zwei Koteletten und Kaffee mit Rahm bestand. Es klopfte. Drei aufrichtige Freunde, d'Arthez, Léon Giraud und Michel Chrestien, zeigten sich den erstaunten Augen Luciens, der sehr gerührt war und sie bat, mit zu frühstücken.
»Nein«, sagte d'Arthez. »Wir kommen in ernsthafteren Angelegenheiten, als um bloß Trost zu spenden; wir wissen nämlich alles, wir kommen aus der Rue de Vendôme. Sie kennen meine Anschauungen, Lucien. In jedem andern Fall wäre ich erfreut, wenn ich sähe, daß Sie sich meinen politischen Überzeugungen anschließen; aber in der Lage, in die Sie sich dadurch versetzt haben, daß Sie für die liberalen Zeitungen schreiben, können Sie nicht in die Reihen der Ultras übergehen, ohne Ihren Charakter für immer zu schänden und Ihr Leben zu beschmutzen. Wir kommen, um Sie im Namen unserer Freundschaft, so schwach sie auch geworden sein mag, zu beschwören, sich nicht so zu beflecken. Sie haben die Romantiker, die Rechte und die Regierung angegriffen; Sie können nicht jetzt die Regierung, die Rechte und die Romantiker in Schutz nehmen.«
»Die Gründe, die mein Handeln bestimmen, beruhen auf höheren Erwägungen, der Ausgang wird alles rechtfertigen«, sagte Lucien.
»Sie verstehen vielleicht die Lage nicht, in der wir uns befinden«, sagte Léon Giraud zu ihm. »Die Regierung, der Hof, die Bourbonen, die absolutistische Partei oder, wenn Sie alles in einem allgemeinen Ausdruck beisammen haben wollen, das System, das sich dem Konstitutionalismus entgegenstellt, teilt sich in mehrere Fraktionen, die sehr verschiedener Meinung sind, wenn es sich um die Mittel zur Erstickung der Revolution handelt, die aber wenigstens über die Notwendigkeit, die Presse zu unterdrücken, einig sind. Die Gründung des Réveil, des Foudre, des Drapeau blanc, die alle dazu bestimmt sind, auf die Verleumdungen, die Beschimpfungen und den Spott der liberalen Presse zu antworten, die ich in diesem Punkte mißbillige denn diese Verkennung der Größe unseres heiligen Amtes hat uns ja gerade dazu gebracht, ein würdiges und ernsthaftes Blatt herauszugeben, dessen Einfluß binnen kurzem bedeutungsvoll und spürbar sein wird, das Macht haben und doch seine Würde behaupten wird,« fügte er wie als Anmerkung hinzu, »diese royalistische und ministerielle Artillerie ist also ein erster Versuch der Vergeltung, und mit ihr soll den Liberalen Streich um Streich, Wunde um Wunde heimgezahlt werden. Was, glauben Sie, daß kommen wird, Lucien? Die Mehrzahl der Abonnenten steht auf der Seite der Linken. In der Presse wie im Krieg ist der Sieg auf der Seite der großen Bataillone! Ihr werdet Niederträchtige, Lügner und Volksfeinde sein. Die andern werden Vaterlandsverteidiger, Ehrenmänner, Märtyrer sein, obwohl sie vielleicht heuchlerischer, perfider sind als ihr. Dieses Mittel wird den verderblichen Einfluß der Presse verstärken, es wird seine gehässigsten Ausschreitungen legitimieren und heiligen. Die Beleidigung und der Kampf gegen die Person wird eines ihrer öffentlichen Rechte werden, wird zugunsten der Abonnenten von beiden Parteien geübt werden und dadurch, daß der Brauch auf beiden Seiten derselbe ist, für unabänderlich und zu Recht bestehend angesehen werden. Wenn das Übel sich in seiner ganzen Ausdehnung offenbart hat, werden die Restriktiv- und Prohibitivgesetze, die Zensur, die aus Anlaß der Ermordung des Herzogs von Berry eingeführt und seit der Kammereröffnung aufgehoben wurde, wiederkommen. Wissen Sie, was das französische Volk aus diesem Streit für einen Schluß ziehen wird? Es wird die Verdächtigungen der liberalen Presse für bare Münze nehmen, wird glauben, daß die Bourbonen die materiellen Resultate, die die Revolution gebracht hat, antasten wollten, wird sich eines schönen Tages erheben und die Bourbonen verjagen. Also nicht nur beflecken Sie Ihr Leben, sondern Sie stehen eines Tages in den Reihen der besiegten Partei. Sie sind zu jung und noch zu neu in der Presse, Sie wissen zu wenig von ihrem geheimen Räderwerk und ihren Methoden; Sie haben zuviel Neid erregt, um sich gegen das allgemeine Zetergeschrei, das sich in den liberalen Blättern erheben wird, halten zu können. Sie werden von der Wut der Parteien, die noch im Paroxysmus des Fiebers stehen, fortgerissen werden; nur ist ihr Fieber aus dem Bereich der brutalen Handlungen von 1815 und 1816 in die Ideen, die Redeschlachten der Kammer und die Debatten der Presse übergegangen.«
»Liebe Freunde,« sagte Lucien, »ich bin nicht mehr der unerfahrene junge Dichter, den ihr in mir sehen möchtet. Was auch eintreten mag, ich werde einen Vorteil erringen, den der Sieg der liberalen Partei mir nicht geben kann. Bis ihr den Sieg habt, ist die Sache, um die es sich handelt, in Ordnung.«
»Wir schneiden dir dann ... die Haare ab«, sagte Michel Chrestien lachend.
»Ich werde bis dahin Kinder haben,« erwiderte Lucien, »und wenn ihr mir dann den Kopf abschneidet, ist es noch ebenso, als wenn ihr mir gar nichts abschneidet.«
Die drei Freunde verstanden Lucien nicht, sie wußten nicht, daß seine Beziehungen mit der vornehmen Welt in ihm im höchsten Maße den Adelsstolz und die Aristokrateneitelkeit geweckt hatten. Der Dichter sah übrigens mit Recht in seiner Schönheit und seinem Geiste, wenn sie sich auf den Namen und den Titel eines Grafen von Rubempré stützten, die Grundlage zu einem ungeheuren Vermögen. Frau d'Espard, Frau von Bargeton und Frau von Montcornet hielten ihn an diesem Faden, wie ein Kind einen Maikäfer hält. Lucien flog nur noch in einem begrenzten Kreise. Die Worte: »Er ist einer der Unseren, er denkt, wie sichs gehört!« die vor drei Tagen in den Salons von Fräulein des Touches gefallen waren, hatten ihn berauscht, und ebenso beseligt hatten ihn die Glückwünsche, die er von den Herzogen von Lenoncourt, von Navarreins und von Grandlieu, von Rastignac, Blondet, der schönen Herzogin von Maufrigneuse, dem Grafen von Esgrignon, von des Lupeaulx, von den einflußreichsten und am Hofe angesehensten Männern der royalistischen Partei geerntet hatte.
»Nun, dann ist nichts weiter zu sagen«, erwiderte d'Arthez. »Es wird dir schwerer als jedem anderen sein, dich rein zu erhalten und dich selber zu achten. Du wirst viel zu leiden haben, ich kenne dich, wenn du dich erst von denen verachtet siehst, denen du dich widmest.«
Die drei Freunde verabschiedeten sich von Lucien, ohne ihm freundschaftlich die Hand zu drücken. Lucien war ein paar Augenblicke nachdenklich und traurig.
»Ach was! laß doch diese dummen Menschen,« rief Coralie, setzte sich ihm auf die Knie und legte ihre schönen Arme um seinen Hals; »sie nehmen das Leben ernsthaft, und das Leben ist ein Spaß. Und übrigens wirst du Graf Lucien von Rubempré werden. Ich werde, wenn es not tut, im Kanzleramt vorsprechen und sehr verlockend sein. Ich weiß, wie man mit diesem Lüstling des Lupeaulx, der deine Ordonnanz zur Unterschrift vorzulegen hat, umgehen muß. Habe ich dir nicht gesagt, du wirst, wenn du noch eine Stufe brauchst, um deine Beute zu fassen, den Leib Coralies haben?«
Am Tage darauf ließ Lucien seinen Namen in die Zahl der Mitarbeiter des Réveil aufnehmen. Dieser Name wurde in dem Prospekt, der mit den Geldmitteln des Ministeriums in hunderttausend Exemplaren verbreitet wurde, wie eine Eroberung angekündigt. Lucien begab sich zu dem Siegesmahl, das bei Robert, zwei Schritte von Frascati, stattfand und neun Stunden dauerte. Die Koryphäen der royalistischen Presse waren da: Martainville, Auger, Destains und eine Menge Schriftsteller, die heute noch leben und die damals nach dem Ausdruck, der üblich war, in Monarchie und Religion machten.
»Wir werden es ihnen heimzahlen, den Liberalen«, sagte Hector Merlin.
»Meine Herren,« erwiderte Nathan, der sich diesem Banner angeschlossen hatte, indem er erwog, daß es für ihn und seine theatralische Karriere besser sei, die Autorität, die über das Theater verfügte, für sich als gegen sich zu haben, »wenn wir den Krieg gegen sie führen, wollen wir das ernsthaft tun; mit Kugeln aus Kork dürfen wir uns nicht behelfen! Wir müssen ohne Unterschied des Alters oder des Geschlechts alle klassischen und liberalen Schriftsteller angreifen, müssen sie dem Spott preisgeben und keinen Pardon geben.«
»Bleiben wir ehrenhaft, lassen wir uns nicht durch die Rezensionsexemplare, die Geschenke und das Geld der Verleger bestechen. Führen wir die Restauration des Journalismus durch.«
»Wohl!« sagte Martainville. »Justum et tenacem propositi virum! Seien wir unversöhnlich und scharf. Ich werde aus Lafayette machen, was er ist: HasenfußI.!«
»Ich«, sagte Lucien, »nehme die Helden des Constitutionnel, Mercier, die Gesammelten Werke des Herrn von Jouy, die berühmten Redner der Linken auf mich.«
Um ein Uhr morgens proklamierten die Schriftsteller einmütig den Kampf auf Leben und Tod, worauf sie alle ihre verschiedenen Schattierungen und alle ihre Ideen in einem flammenden Punsch ertränkten.
»Wir haben uns eine famose monarchische und religiöse Hose angezogen«, sagte auf der Türschwelle eins der berühmtesten Mitglieder der romantischen Literatur.
Dieses historische Wort, das von einem Verleger, der dem Diner beiwohnte, weitererzählt wurde, stand am nächsten Tage im Miroir; aber es wurde Lucien zugeschrieben. Dessen Abfall war das Signal zu einem furchtbaren Lärm in den liberalen Zeitungen. Lucien wurde ihre Zielscheibe und wurde auf die grausamste Weise an den Pranger gestellt: man erzählte die Leidensgeschichte seiner Sonette, teilte dem Publikum mit, Dauriat würde lieber tausend Taler verlieren, als sie drucken, man nannte ihn den Dichter ohne Sonette.
Eines Morgens las Lucien in demselben Blatte, in dem er so glänzend debütiert hatte, die folgenden Zeilen, die einzig und allein für ihn geschrieben schienen, denn das Publikum konnte die Bosheit kaum verstehen:
»Wenn der Verleger Dauriat fortfährt, die Sonette des künftigen französischen Petrarca nicht zu drucken, werden wir zeigen, daß wir edelmütige Feinde sind, und werden diesen Gedichten unsere Spalten öffnen. Nach dem folgenden zu urteilen, das uns ein Freund des Dichters mitteilt, scheinen sie ja sehr pikant zu sein.«
Unter dieser schrecklichen Ankündigung las der Dichter das folgende Sonett, über das er heiße Tränen vergoß:
Auf einem Beet in voller Blüte sproß
Ein Pflänzlein kümmerlich und zweifelhaft,
Das sich gebärdete, als ob sein Schaft
Ein Wunder künft'ger Farbenpracht umschloß.
So ließ man es denn stehn! Doch bald verdroß
Sein Üppigtun mit aufgeblähter Kraft
Die stolzen Schwestern, die ihm Raum verschafft,
Und alle harrten, daß es sich erschloß.
Da blühte es. Doch nie ward ein Patron
So überschüttet mit Gespött und Hohn,
Als man verlachte das gemeine Kraut.
Bald ward es ausgerissen, wie es Brauch,
Ein Esel schrie auf seinem Grabe laut,
Denn es war wirklich nur ein Distelstrauch.
Distel aber heißt auf französisch chardon, und so lautet auch im Original der Schlußreim des Spottgedichts, so daß der Name des Opfers den Kundigen preisgegeben war.
Vernou sprach von der Spielleidenschaft Luciens und machte im voraus darauf aufmerksam, sein Roman ›Der Bogenschütze werde ein vaterlandsfeindliches Werk sein, in dem der Verfasser die Partei der katholischen Massenmörder gegen die kalvinistischen Opfer nähme. Im Laufe von acht Tagen wurde diese Fehde immer giftiger. Lucien hatte auf seinen Freund Lousteau gerechnet, der ihm tausend Franken schuldete und mit dem er geheime Verabredungen getroffen hatte; aber Lousteau wurde Luciens erklärter Feind, aus folgenden Gründen. Seit drei Monaten liebte Nathan Florine und wußte nicht, wie er sie Lousteau, dessen guter Engel sie übrigens war, wegnehmen sollte. In der Verzweiflung und der Trostlosigkeit, in der sich diese Schauspielerin befand, die ohne Engagement war, suchte Nathan, Luciens Mitarbeiter, Coralie auf und bat sie, Florine eine Rolle in einem Stück von ihm anzubieten, wobei er es auf sich nahm, der stellungslosen Schauspielerin ein Probeengagement am Gymnase zu verschaffen. Florine, die der Rausch des Ehrgeizes überkam, zögerte nicht. Sie hatte Zeit genug gehabt, Lousteau zu beobachten. Nathan war voller literarischem und politischem Ehrgeiz, hatte so viel Energie wie Bedürfnisse, während die Laster in Lousteau den Willen töteten. Die Schauspielerin, die in neuem Glanze wieder auf der Bühne auftreten wollte, lieferte Nathan die Briefe des Drogisten aus, und Nathan verkaufte sie gegen den Sechstelanteil der von Finot geleiteten Zeitschrift an Matifat. Florine hatte jetzt eine prächtige Wohnung in der Rue Hauteville und nahm Nathan zum Schützer gegen den ganzen Journalismus und die Welt des Theaters. Lousteau wurde von diesem Ereignis so hart getroffen, daß er am Ende eines Diners, das seine Freunde ihm gaben, um ihn zu trösten, zu weinen anfing. Bei diesem Gelage fanden die Teilnehmer, daß Nathan nur seinen Vorteil gewahrt hätte. Einige Schriftsteller, wie Finot und Vernou, hatten von der Leidenschaft des Dramaturgen für Florine gewußt, aber alle sagten sie, Lucien hätte sich, indem er in diesem Handel den Kuppler machte, gegen die heiligsten Gesetze der Freundschaft vergangen. Der Parteigeist, der Wunsch, seinen neuen Freunden zu dienen, waren keine Entschuldigungen für den neugebackenen Royalisten.
»Nathan ist von der Logik der Leidenschaft fortgerissen; aber dieser große Mann aus der Provinz, wie Blondet ihn nennt, folgt seinen Berechnungen«, rief Bixiou.
So wurde denn das Verderben Luciens, dieses Eindringlings, dieses Gernegroß, der alle Welt verschlingen wollte, einstimmig beschlossen und gründlich hin und her überlegt. Vernou, der Lucien haßte, versprach, im Kampf gegen ihn nicht locker zu lassen. Um Lousteau die tausend Taler nicht zahlen zu müssen, klagte Finot Lucien an, er habe ihn dadurch, daß er Nathan das Geheimnis der Operation gegen Matifat verriet, um einen Gewinn von fünfzigtausend Franken gebracht. Nathan aber hatte auf den Rat Florinens dafür gesorgt, daß ihm Finots Beistand nicht verloren ging, und hatte ihm das Sechstelchen für fünfzehntausend Franken verkauft. Lousteau, der seine tausend Taler verlor, verzieh Lucien diese ungeheure Schädigung seiner Interessen nicht. Die Wunden der Eigenliebe werden unheilbar, wenn das Oxyd des Geldes in sie eindringt. Kein Ausdruck, keine Schilderung kann die Wut wiedergeben, die über die Schriftsteller kommt, wenn ihre Eigenliebe leidet; und ebenso über alles Beschreiben groß ist die Energie, die sie in dem Augenblick zur Verfügung haben, wo sie sich von den Giftpfeilen des Spottes getroffen fühlen. Die, deren Energie und deren Widerstand durch den Angriff sofort gereizt werden, unterliegen schnell. Die Ruhigen, deren Plan erst nach dem völligen Vergessen gefaßt wird, dem ein beleidigender Artikel schnell verfällt, entfalten den wahren literarischen Mut. So scheinen die Schwachen im ersten Augenblick die Starken zu sein; aber ihr Widerstand dauert nur eine Zeitlang. In den ersten Tagen ließ Lucien voller Wut einen Hagel von Artikeln in den royalistischen Zeitungen los, in denen er das Amt der Kritik mit Hector Merlin teilte. Jeden Tag feuerte er von der Schanze des Réveil all seinen Geist gegen seine Feinde ab und wurde dabei übrigens von Martainville unterstützt, der der einzige war, der ihm ohne Hintergedanken beistand, und den man nicht in das Geheimnis der Abmachungen einweihte, die mit allerlei Scherzen nach dem Trinken oder in den Galeries de Bois bei Dauriat und hinter den Kulissen zwischen den Journalisten beider Parteien, die die Kameradschaft heimlich verband, geschlossen worden war. Wenn Lucien in das Foyer des Vaudeville kam, wurde er nicht mehr als Freund behandelt, nur die Leute seiner Partei gaben ihm die Hand, während Nathan, Hector Merlin, Théodore Gaillard, ohne sich zu genieren, mit Finot, Lousteau, Vernou und andern solchen Journalisten, die man alle gute Jungen nannte, auf vertrautem Fuße standen. In dieser Zeit war das Foyer des Vaudeville der Hauptplatz des Literaturklatsches, eine Art Boudoir, in dem Leute aller Parteien, Politiker und Beamte, verkehrten. Wenn in irgendeinem amtlichen Bureau der Präsident einem untergebenen Kollegen gegenüber den Tadel ausgesprochen hatte, er lasse seinen Talar hinter den Kulissen eines Theaters schleifen, so traf es sich wohl, daß sein Talar mit dem des Getadelten im Foyer des Vaudeville zusammentraf. Lousteau reichte dort schließlich Nathan die Hand. Finot kam fast jeden Abend hin. Wenn Lucien Zeit hatte, ging er hin, um die Stimmung seiner Gegner kennen zu lernen, und der unglückliche junge Mann mußte stets eine unversöhnliche Kälte an ihnen bemerken.
Zu jener Zeit erzeugte der Parteigeist viel ernsthaftere Gehässigkeiten als heutzutage. Heutigestags hat sich im Laufe der Zeit im Getriebe infolge der zu großen Anspannung der Feder alles milder gestaltet. Heute reicht die Kritik einem Manne, dessen Buch sie auf ihrem Altar geopfert hat, die Hand. Das Opfer muß den Opferer umarmen, wenn er nicht die Spießruten des Spottes laufen will. Wenn ein Schriftsteller nicht so verfährt, kommt er in den Ruf der Unliebenswürdigkeit, wird er ein unverträglicher Mensch, ein krasser Egoist, ein unzugänglicher, gehässiger, nachtragender Kerl genannt. Hat heutzutage ein Schriftsteller die Stiche des verräterischen Dolches in den Rücken bekommen, ist er den Netzen, die mit niederträchtiger Heuchelei gestellt worden sind, entronnen, ist er der schlimmsten Behandlung ausgesetzt gewesen, dann muß er zusehen und stillhalten, wenn seine Mörder ihm guten Tag sagen und Anspruch auf seine Achtung, sogar auf seine Freundschaft machen. Alles wird in einer Zeit, wo man die Tugend in Laster verwandelt, wie man gewisse Laster zu Tugenden erhoben hat, entschuldigt und gerechtfertigt. Die Kameradschaft ist von allen Freiheiten die geheiligtste geworden. Politische Führer, die einander schroff gegenüberstehen, sprechen zueinander in Worten ohne Schärfe oder mit höflichen Spitzen. In jener Zeit erforderte es vielleicht erinnert sich der eine oder der andere noch daran für manche royalistische und für manche liberale Schriftsteller Mut, sich im selben Theater zu treffen. Man konnte die gehässigsten Herausforderungen zu hören bekommen. Die Blicke waren geladen wie Pistolen, der geringste Funke konnte das Losplatzen eines heftigen Streites herbeiführen. Wer hat nicht seinen Nachbarn in Verwünschungen ausbrechen hören, wenn einige Männer eintraten, die den Angriffen einer der beiden Parteien besonders ausgesetzt waren? Es gab damals nur zwei Parteien, die Royalisten und die Liberalen, die Romantiker und die Klassiker, das war beides derselbe Haß unter zwei verschiedenen Formen, ein Haß, angesichts dessen man die Schafotte der Konventszeit begriff. Lucien, der sich aus dem Liberalen und fanatischen Voltairianer, der er anfangs gewesen war, in einen wütenden Royalisten und Romantiker verwandelt hatte, stand also unter dem Gewicht der Feindseligkeit, das über dem Kopf des Mannes hing, der von den Liberalen der Zeit am meisten verabscheut wurde: über dem Kopf von Martainville, der der einzige war, der ihn verteidigte und liebte. Dieses Zusammenhalten schädigte Lucien. Die Parteien sind gegen ihre vorgeschobenen Posten undankbar. Sie nennen sie oft sentimental ihre »verlorenen Kinder«, aber sie geben sie mit Willen preis. Insbesondere in der Politik müssen die, die sich durchsetzen wollen, sich zur Hauptmasse der Armee halten. Das Bösartigste, was die kleinen Blätter taten, war, Lucien und Martainville zusammenzukoppeln. Der Liberalismus warf sie einander in die Arme. Diese angebliche oder wirkliche Freundschaft trug ihnen gallige Artikel ein, die Félicien Vernou geschrieben hatte, der über die Erfolge, die Lucien in der vornehmen Gesellschaft errang, außer sich war und, wie alle früheren Kameraden des Dichters, an seine demnächst bevorstehende Erhebung in den Adelsstand glaubte. Der angebliche Verrat des Dichters wurde jetzt noch viel schlimmer hingestellt und mit sehr erschwerenden Umständen ausgeschmückt. Lucien wurde der kleine Judas und Martainville der große Judas genannt, denn Martainville wurde mit Recht oder Unrecht beschuldigt, er hätte während des Krieges den feindlichen Armeen die Brücke von Pecq ausgeliefert. Lucien machte des Lupeaulx gegenüber lachend den Scherz, was ihn angehe, habe er ohne Zweifel die Eselsbrücke geliefert. Luciens üppiges Leben, obwohl es hohl und auf Hoffnungen gegründet war, empörte seine Freunde, die ihm weder seine Equipage verziehen, denn für sie fuhr er noch immer in der Equipage, noch den Glanz seiner Wohnung in der Rue de Vendòme. Alle fühlten instinktiv, daß ein Mann, der jung, schön, geistvoll und von ihnen verdorben war, es weit bringen mußte; daher waren ihnen alle Mittel gut genug, um ihn zu stürzen.
Einige Tage vor dem ersten Auftreten Coralies im Gymnase ging Lucien Arm in Arm mit Hector Merlin im Foyer des Vaudeville auf und ab. Merlin schalt seinen Freund aus, daß er Nathan in der Sache mit Florine beigestanden hätte.
»Sie haben sich Lousteau und Nathan beide zu Todfeinden gemacht. Ich hatte Ihnen gute Ratschläge gegeben. Sie haben sie aber nicht benutzt. Sie sind mit dem Lob verschwenderisch gewesen und haben Wohltaten um sich gestreut; Sie werden für Ihre guten Taten grausam bestraft werden. Florine und Coralie werden auf derselben Bühne nie gut miteinander auskommen: die eine wird immer die andere übertreffen wollen. Sie haben nur unsere Zeitungen, die für Coralie eintreten können; Nathan verfügt außer dem Vorteil, den ihm sein Beruf als Verfasser von Stücken verschafft, in Theaterangelegenheiten über die liberalen Zeitungen, und er steht viel länger im Journalismus als Sie.«
Diese Worte sprachen Luciens geheime Befürchtungen aus, denn er fand weder bei Nathan noch bei Gaillard die offene Freundschaft, auf die er Anspruch zu haben glaubte; aber er konnte sich nicht beklagen, er war ja erst so neu bekehrt! Gaillard ließ das Lucien deutlich fühlen, er sagte ihm, die Neulinge müßten lange Zeit hindurch Pfänder geben, ehe ihre Partei ihnen ganz trauen könnte. Der Dichter stieß in den Redaktionen der royalistischen und ministeriellen Zeitungen auf eine Eifersucht, an die er nie gedacht hatte, auf jene nämlich, die zwischen allen Menschen ausbricht, wenn es irgendeine Pastete zu teilen gibt: sie werden dann alle zu Hunden, die sich um einen Knochen streiten, sie geben dasselbe Knurren von sich, nehmen dieselbe Stellung ein und offenbaren denselben Charakter. Diese Schriftsteller spielten einander im geheimen tausend schlimme Streiche, um sich gegenseitig in den Augen der Machthaber zu schaden; jeder beschuldigte den andern, er wäre lau, und sie nahmen zu den niederträchtigsten Manövern ihre Zuflucht, um sich eines Konkurrenten zu entledigen. Die Liberalen hatten keine derartige Ursache zu inneren Kämpfen, da sie von der Macht und ihren Annehmlichkeiten weit entfernt waren. Lucien hatte angesichts dieses unentwirrbaren Netzes von ehrgeizigen Manövern weder den Mut, das Schwert zu ziehen und den Knoten zu durchhauen, noch die Geduld, ihn allmählich aufzulösen; er konnte weder der Aretino noch der Beaumarchais noch der Fréron seiner Zeit sein. In ihm lebte jetzt nur der einzige Wunsch: seine Ordonnanz zu haben; denn er sah ein, daß diese Standeserhebung ihm auch zu einer glänzenden Heirat verhelfen würde. Sein Glück würde dann nur noch von einem Zufall abhängen, zu dem ihm seine Schönheit verhelfen würde. Lousteau, der ihm so viel Vertrauen gezeigt hatte, kannte sein Geheimnis, und der Journalist wußte also, wo der Dichter von Angoulême tödlich zu treffen war; und so hatte er Lucien an dem Tag, wo Merlin mit ihm im Vaudeville auf und ab ging, eine schreckliche Schlinge gelegt, in welcher dieser Knabe sich fangen und zugrunde gehen mußte.
»Da ist ja unser schöner Lucien«, sagte Finot und trat mit des Lupeaulx heran. Er plauderte mit ihm, während Lucien, dessen Hand er mit täuschend nachgeahmter Freundschaftlichkeit drückte, dabeistand. »Ich kenne kein Beispiel eines so schnellen Glückes, wie er es gemacht hat«, sagte er und blickte abwechselnd Lucien und den vortragenden Rat an. »In Paris gibt es zweierlei Glück: das materielle Glück, das Geld, das jeder an sich reißen kann, und das moralische Glück, die Beziehungen, die Stellung, der Zutritt in eine gewisse Welt, die für manche Personen, mag ihr materielles Vermögen noch so groß sein, verschlossen ist, und mein Freund ...«
»Unser Freund«, sagte des Lupeaulx und warf Lucien einen liebevollen Blick zu.
»Unser Freund«, fuhr Finot fort und tätschelte zärtlich die Hand Luciens, »hat in dieser Hinsicht ein glänzendes Glück gehabt. Es ist wahr, Lucien ist begabter und geistvoller als alle seine Neider, und überdies ist er im Besitz einer köstlichen Schönheit; seine alten Freunde verzeihen ihm seine Erfolge nicht, sie sagen, er habe Glück gehabt.«
»Glück dieser Art«, sagte des Lupeaulx, »kommt nie zu den Dummköpfen oder den Unfähigen. Wie? Kann man die Laufbahn Bonapartes Glück nennen? Zwanzig kommandierende Generale standen über ihm, die die italienische Armee hätten befehligen können, wie es in diesem Augenblick hundert junge Leute gibt, die bei Fräulein des Touches Erfolg haben möchten, die man in der vornehmen Welt schon als Ihre künftige Frau bezeichnet, lieber Freund!« sagte des Lupeaulx und klopfte Lucien auf die Schulter. »Oh! Sie stehen in großer Gunst. Die Marquise d'Espard, Frau von Bargeton und die Frau von Montcornet sind ganz verliebt in Sie. Sind Sie nicht heute abend auf der Soiree von Madame Firmiani und morgen auf dem Rout der Herzogin von Grandlieu?«
»O ja«, erwiderte Lucien.
»Gestatten Sie mir, Ihnen einen jungen Bankier, Herrn du Tillet, vorzustellen; er ist Ihrer wert, er hat es in kurzer Zeit zu einem großen Vermögen gebracht.«
Lucien und du Tillet begrüßten sich, unterhielten sich miteinander, und der Bankier lud Lucien zum Diner ein. Finot und des Lupeaulx, die beide gleich schlau waren und sich lange genug kannten, um immer Freunde zu bleiben, schienen ihre begonnene Unterhaltung fortzusetzen; sie überließen Lucien, Merlin, du Tillet und Nathan ihrem Geplauder und setzten sich auf einen der Diwane, die im Foyer des Vaudevilles standen.
»Hören Sie, lieber Freund,« sagte Finot zu des Lupeaulx, »sagen Sie mir die Wahrheit! Wird Lucien ernsthaft protegiert? Denn er ist der Feind aller meiner Mitarbeiter geworden; und ehe ich ihre Verschwörung begünstige, wollte ich mich mit Ihnen beraten, um zu hören, ob es nicht besser ist, sie zu vereiteln, und ihm zu nützen.«
Hier sahen sich der vortragende Rat und Finot einen Augenblick aufmerksam an.
»Wie, lieber Freund,« erwiderte des Lupeaulx, »können Sie glauben, daß die Marquise d'Espard, Châtelet und Frau von Bargeton, die den Baron zum Präfekten der Charente und zum Grafen gemacht hat, um im Triumph nach Angoulême zurückzukehren, Lucien seine Angriffe verzeihen werden? Sie haben ihn zur royalistischen Partei herübergebracht, um ihn zu vernichten. Jetzt suchen sie nach Auswegen, damit man dem Knaben verweigern kann, was man ihm versprochen hat. Finden Sie welche! Dann werden Sie den beiden Damen einen wichtigen Dienst geleistet haben, früher oder später werden sie sich daran erinnern. Ich stehe im Vertrauen dieser beiden Damen, sie hassen dieses Kerlchen in einem Maße, daß es mich überrascht hat. Dieser Lucien hätte seine grausamste Feindin, Frau von Bargeton, loswerden können, wenn er seine Angriffe so lange fortgesetzt hätte, bis sie seinen Bedingungen gefügig gewesen wäre; alle Frauen erfüllen sie gerne, Sie verstehen doch? Er ist schön, er ist jung, er hätte diesen Haß in einem Strom von Liebe ertränkt, er wäre Graf von Rubempré geworden, sein Stockfisch hätte ihm eine Stelle im Haushalt des Königs und Sinekuren verschafft! Lucien wäre ein reizender Vorleser für LudwigXVIII. Er hätte irgendwo Bibliothekar, ein amüsanter vortragender Rat, Direktor irgendwelcher Hofbelustigungen werden können. Der Narr hat die Gelegenheit verpaßt. Vielleicht ist es das, was man ihm nicht verzeiht. Er hat keine Bedingungen gestellt, er hat welche angenommen. An dem Tage, wo Lucien sich von dem Versprechen der Ordonnanz fangen ließ, hat der Baron Châtelet einen guten Tag gehabt. Coralie hat den Knaben zugrunde gerichtet. Hätte er nicht die Schauspielerin zur Geliebten gehabt, dann hätte er seinen alten Stockfisch wiederhaben wollen und hätte ihn bekommen.«
»Also sind wir in der Lage, ihn abzutun«, sagte Finot.
»Wodurch?« fragte des Lupeaulx, der sich durch diesen Dienst bei der Marquise d'Espard in Gunst setzen wollte, nachlässig.
»Er hat einen Vertrag, der ihn zwingt, an dem Blättchen Lousteaus mitzuarbeiten; wir werden ihn um so leichter dazu bringen, Artikel zu liefern, da er keinen roten Heller hat. Wenn der Justizminister sich von einem boshaften Spottartikel getroffen fühlt und man ihm beweist, Lucien habe ihn verfaßt, wird er ihn für einen Menschen ansehen, der der Güte des Königs unwürdig ist. Damit dieser große Mann aus der Provinz noch ein bißchen den Kopf verliert, haben wir den Sturz Coralies vorbereitet: seine Geliebte wird ausgezischt werden und keine Rollen bekommen. Wenn erst die Ordonnanz ins Endlose vertagt ist, verspotten wir unser Opfer wegen seiner Aristokratenansprüche, sprechen von seiner Mutter, die Hebamme ist, und von seinem Vater, der Apotheker war. Luciens Mut sitzt nur auf der Haut. Er wird vernichtet sein, und wir schicken ihn hin, wo er hergekommen ist. Nathan hat durch Florentine zustande gebracht, daß ich den Sechstelanteil der Zeitschrift, den Matifat besaß, in die Hände bekam, ich habe den Anteil des Papierhändlers kaufen können, ich bin jetzt allein mit Dauriat; wir, Sie und ich, können uns verständigen, damit dieses Blatt sich dem Hof zur Verfügung stellt. Ich habe Florine und Nathan nur unter der Bedingung unterstützt, daß ich mein Sechstel wiederbekomme, sie haben es mir verkauft, ich muß ihnen dienen; aber zuvor wollte ich über Luciens Aussichten Gewißheit haben ...«
»Sie verdienen Ihren Namen«, sagte des Lupeaulx lachend. »Aber ich liebe Menschen Ihrer Art ...«
»Können Sie also Florine ein endgültiges Engagement verschaffen?« fragte Finot den vortragenden Rat.
»Ja, aber schaffen Sie uns Lucien vom Halse, denn Rastignac und Marsay wollen seinen Namen nicht mehr hören.«
»Da können Sie ruhig schlafen«, sagte Finot. »Nathan und Merlin werden immer Artikel haben, deren Aufnahme Gaillard versprochen hat; Lucien wird nicht eine Zeile unterbringen können, und wir schneiden ihm so den Unterhalt ab. Er wird nur das Blatt von Martainville haben, um sich und Coralie zu verteidigen: ein Blatt gegen alle, da ist kein Widerstand möglich.«
»Ich werde Ihnen mitteilen, an welchen Stellen der Minister empfindlich ist; aber Sie müssen mir das Manuskript des Artikels liefern, zu dem Sie Lucien bringen«, erwiderte des Lupeaulx, der sich hütete, Finot zu sagen, daß die Ordonnanz Lucien nie im Ernst versprochen worden war.
Des Lupeaulx verließ das Foyer. Finot trat wieder zu Lucien und setzte ihm in dem gutmütigen Ton, von dem sich so viele Menschen fangen lassen, auseinander, weshalb er nicht auf die Mitarbeit, die Lucien ihm schuldig war, verzichten könnte. Finot wies den Gedanken an einen Prozeß weit von sich, der die Hoffnungen, die sein Freund auf die royalistische Partei setzte, zerstören würde. Finot liebe die Männer, die stark genug wären, um kühn ihre Meinung zu ändern. Würden nicht Lucien und er sich noch oft im Leben treffen, könnten sie sich nicht noch tausend kleine Dienste erweisen? Lucien brauche einen sichern Mann in der liberalen Partei, um die Ministeriellen oder die Ultras angreifen zu lassen, die sich weigerten, ihm zu dienen.
»Wenn man Sie zum besten hat, was wollen Sie dann tun?« sagte Finot schließlich.
»Wenn irgendein Minister glaubt, er halte Sie an der Halfter Ihres Renegatentums fest, Sie nicht mehr fürchtet und Sie zurückweist, tut es dann nicht not, daß Sie ein paar Hunde haben, die ihn in die Waden beißen? Mit Lousteau sind Sie tödlich verfeindet, er verlangt Ihren Kopf. Vernou und Sie sprechen nicht mehr zusammen. Ich allein bin Ihnen geblieben! Es ist einer der Grundsätze meines Berufs, mit wahrhaft starken Männern in gutem Einvernehmen zu sein. Sie können mir in der vornehmen Welt, in die Sie gehen, die Dienste vergelten, die ich Ihnen in der Presse erweise. Aber das Geschäft kommt vor allem! Schicken Sie mir rein literarische Artikel, die werden Sie nicht kompromittieren; und Sie müssen Ihren Verpflichtungen nachkommen.«
Lucien sah in diesen Worten Finots, dessen schmeichelhafte Reden ebenso wie die von des Lupeaulx ihn in gute Stimmung versetzt hatten, nur ein Gemisch aus Freundschaft und kluger Berechnung: er dankte Finot!
Im Leben der Ehrgeizigen und aller derer, die nur mit Hilfe der Menschen und der Dinge durch einen mehr oder weniger gut berechneten, befolgten und aufrechterhaltenen Plan ans Ziel gelangen können, kommt immer ein grausamer Augenblick, wo irgendeine Macht ihnen schwere Prüfungen auferlegt: alles schlägt mit einemmal fehl, auf allen Seiten reißen die Fäden oder verwirren sich, es geht überall unglücklich. Wenn einer in diesem moralischen Zusammenbruch den Kopf verliert, ist er verloren. Die Männer, die dieser ersten Auflehnung der Umstände Widerstand zu leisten verstehen, die dem Unwetter trotzen und es vorüberziehen lassen, die sich retten und sich mit gewaltiger Anstrengung in die oberen Sphären hinaufschwingen, sind die wahrhaft starken Männer. So hat jeder, wenn er nicht reich geboren ist, was man seine Schicksalswoche nennen muß. Für Napoleon war diese Woche der Rückzug von Moskau. Jetzt war der Augenblick für Lucien gekommen. Alles war in der großen Welt wie in der Literatur zu glücklich aufeinander gefolgt; er war zu glücklich gewesen, er mußte sehen, wie die Menschen und die Dinge sich gegen ihn wandten. Der erste Schmerz war der lebhafteste und grausamste von allen, er traf ihn da, wo er sich unverwundbar geglaubt hatte, in seinem Herzen und seiner Liebe. Coralie besaß keinen Geist, aber sie hatte eine schöne Seele und besaß die Gabe, sie mit der Kunst der Verkörperung, die die große Schauspielerin ausmacht, nach außen zu bringen. Diese seltsame Erscheinung ist, solange sie nicht durch lange Übung zu einer Art Gewohnheit geworden ist, den Launen der Natur und oft einer wunderschönen Scham unterworfen, die bei den Schauspielerinnen, solange sie noch jung sind, oft angetroffen wird. Coralie, die innerlich unschuldig und schüchtern, nach außen keck und leichtfertig war, wie es eine Schauspielerin sein muß, erlebte jetzt, wo die Liebe dazukam, einen Rückschlag ihres Frauenherzens auf ihre Komödiantenmaske. Die Kunst, die Gefühle wiederzugeben, diese himmlische Falschheit und Verstellungskunst, hatte in ihr noch nicht über die Natur gesiegt. Sie schämte sich, dem Publikum zu geben, was nur der Liebe gehörte. Dann hatte sie eine Schwäche, die bei innerlich wahrhaften Frauen natürlich ist. Obwohl sie wußte, daß sie dazu berufen war, souverän auf der Bühne zu herrschen, hatte sie das Bedürfnis nach Erfolg. Sie war unfähig, einer Zuschauermenge zu trotzen, die ihr nicht willig folgte; sie zitterte immer, wenn sie die Bühne betrat, und dann konnte die Kälte des Publikums sie wie zu Stein erstarren. Dieses schreckliche Gefühl bewirkte es, daß für sie jede neue Rolle ein neues Debüt war. Der Beifall versetzte sie in eine Art Rausch, den ihre Eigenliebe nicht brauchte, der aber ihrem Mut unentbehrlich war, ein Murren der Unzufriedenheit oder das Schweigen eines kalten Publikums beraubte sie ihrer Mittel; ein voller, aufmerksamer Zuschauerraum, bewundernde, wohlwollende Blicke elektrisierten sie; sie stand dann in Verbindung mit den edeln Eigenschaften all dieser Herzen und fühlte die Macht in sich, sie zu erheben, sie zu bewegen. Diese doppelte Wirkung zeugte von der Kraft ihrer Natur und ihrer genialen Anlage, verriet aber zugleich, wie zart und gebrechlich das arme Kind war. Lucien hatte schließlich die Schätze, die dieses Herz barg, erkannt, er hatte gemerkt, wie sehr seine Geliebte noch ein junges Mädchen war. Coralie war nicht tauglich zu den Falschheiten des Schauspielerdaseins und konnte sich gegen die Ränke und Kulissenmanöver, deren sich Florine bediente, nicht schützen. Diese war ein ebenso gefährliches und verderbtes Mädchen, wie ihre Freundin schlicht und edelmütig war. Die Rollen mußten Coralie aussuchen; sie war zu stolz, bei den Autoren zu betteln und sich ihren ehrlosen Bedingungen zu fügen, sich dem ersten besten Journalisten hinzugeben, der sie mit seiner Liebe und seiner Feder bedrohte. Das Talent, das in dieser außergewöhnlichen Kunst, der Schauspielkunst, schon sehr selten geworden ist, ist nur eine der Bedingungen des Erfolges; das Talent ist sogar lange schädlich, wenn es nicht von einer gewissen Begabung zur Intrige begleitet ist, die Coralie völlig fehlte. Lucien sah voraus, was für schlimme Dinge seine Freundin bei ihrem ersten Auftreten im Gymnase erwarteten, und wollte ihr um jeden Preis einen Sieg verschaffen. Das Geld, das von den verkauften Möbeln übriggeblieben war, und was Lucien verdient hatte, war alles für die Kostüme, für die Einrichtung des Ankleidezimmers, für alle Kosten eines Debüts draufgegangen. Einige Tage, bevor Coralie auftreten sollte, entschloß sich Lucien aus Liebe zu ihr zu einem demütigenden Schritt: er nahm die Wechsel von Fendant& Cavalier, begab sich in die Rue des Bourdonnais, in das Seidenhaus zum Cocon d'or, um Camusot vorzuschlagen, sie ihm zu diskontieren. Der Dichter war noch nicht so verdorben, daß er sich zu diesem Gang kalten Blutes entschließen konnte. Er stand unterwegs bittere Schmerzen aus, bei jedem Schritt bestürmten ihn schreckliche Gedanken, und er sagte sich abwechselnd: »Ja! Nein!« Aber trotzdem sah er sich schließlich in dem kleinen, frostigen, geschwärzten, von einem innern Hof aus erleuchteten Kontor, in dem in ernster Würde nicht mehr der Liebhaber Coralies, der Verschwender, der Taugenichts, der lustige, ungläubige Camusot saß, den er gekannt hatte, sondern der ernsthafte Familienvater, der listen- und tugendreiche Kaufmann, der die Maske der würdevollen Haltung eines Handelsrichters trug und in die kühle Gelassenheit des Chefs eines Handelshauses gehüllt war, den Kommis, Regale, grüne Schachteln, Rechnungen und Musterkarten umgaben, dem überdies die Gesellschaft seiner Frau und einer sehr schlicht gekleideten Tochter nicht fehlte. Lucien zitterte von Kopf bis zu Fuß, als er auf ihn zutrat, denn der ehrenwerte Kaufmann warf ihm den Blick hochmütiger Gleichgültigkeit zu, den er schon in den Augen der Diskontierer gesehen hatte.
»Ich habe hier Wechsel, ich wäre Ihnen tausend Dank schuldig, wenn Sie sie mir abnehmen wollten, Herr Camusot«, sagte er. Er stand neben dem Kaufmann, der an seinem Pulte saß.
»Sie haben mir etwas abgenommen,« versetzte Camusot, »ich habe es nicht vergessen.«
Lucien erklärte jetzt mit leiser Stimme die Lage Coralies, er flüsterte dem Seidenhändler ins Ohr, und dieser konnte das Herzklopfen des gedemütigten Dichters vernehmen. Camusot war nicht gesonnen, Coralie eine Niederlage erleiden zu lassen. Während er zuhörte, besah sich der Kaufmann die Unterschriften auf den Wechseln und lächelte; als Handelsrichter kannte er die Lage dieser beiden Buchhändler. Er gab Lucien viertausendfünfhundert Franken, stellte aber die Bedingung, daß Lucien in seinem Indossament die Worte schrieb: »Wert in Seidenwaren empfangen«. Lucien ging schnurstracks zu Braulard und erledigte mit ihm alles sehr gut, so daß Coralie einen schönen Erfolg erwarten durfte. Braulard versprach, zur Generalprobe zu kommen, und tat es auch, um die Stellen auszumachen, wo seine Garde ihre Schlegel, die aus Fleisch und Knochen bestanden, rühren und den Erfolg herbeiführen sollten. Lucien übergab Coralie den Rest seines Geldes, verbarg ihr aber den Schritt, den er bei Camusot getan hatte; er beruhigte die Aufregung der Schauspielerin und Berenices, die vor lauter Unruhe schon nicht mehr den Haushalt besorgen konnte. Martainville, der zu den Menschen gehörte, die damals am meisten vom Theater verstanden, war ein paarmal gekommen, um mit Coralie ihre Rolle durchzugehen. Lucien hatte von mehreren royalistischen Redakteuren das Versprechen günstiger Artikel erhalten, er konnte also nichts Böses befürchten. Am Tage vor dem ersten Auftreten Coralies geschah etwas, was für Lucien schlimm war. D'Arthez' Buch war erschienen. Der Chefredakteur des Blattes von Hector Merlin gab das Werk Lucien, da man ihn für den Besten hielt, der darüber berichten konnte; er verdankte seinen verhängnisvollen Ruf auf diesem Gebiete den Artikeln, die er über Nathan geschrieben hatte. Es waren eine Menge Menschen auf der Redaktion, alle Mitarbeiter waren da. Martainville war auch gekommen: es war beschlossen worden, die royalistischen Zeitungen sollten gegen die liberalen Blätter auf der ganzen Linie den Kampf eröffnen, und er wollte sich über einen bestimmten Punkt verständigen. Nathan, Merlin, alle Mitarbeiter des Réveil sprachen über den Einfluß des halbwöchentlich erscheinenden Blattes von Léon Giraud, der um so verderblicher war, als seine Sprache sich klug, vorsichtig und gemäßigt hielt. Man fing an, von dem Zirkel der Rue des Quatre-Vents zu sprechen, man nannte ihn einen Konvent. Es war beschlossen worden, daß die royalistischen Zeitungen einen systematischen Kampf auf Leben und Tod gegen diese gefährlichen Gegner führen sollten, die in der Tat den Anstoß zur Begründung der Partei der Doktrinäre gaben, dieser verhängnisvollen Sekte, die von dem Tage an, wo die erbärmlichste Rachsucht den glänzendsten royalistischen Schriftsteller dazu gebracht hatte sich mit ihnen zu verbinden, begann, die Bourbonen zu stürzen. D'Arthez, dessen absolutistische Anschauungen unbekannt waren, sollte das erste Opfer des über den Zirkel verhängten Bannspruchs werden. Sein Buch sollte, nach dem klassischen Worte, verrissen werden. Lucien weigerte sich, den Artikel zu schreiben. Diese Weigerung erregte bei den angesehenen Männern der royalistischen Partei, die zu dieser Besprechung gekommen waren, das größte Ärgernis. Man erklärte Lucien rund heraus, ein Neubekehrter hätte keinen Willen; wenn es ihm nicht paßte, der Monarchie und der Religion zu dienen, dann könnte er in das Lager zurückkehren, aus dem er gekommen war. Merlin und Martainville nahmen ihn beiseite und machten ihm freundschaftlich klar, daß er Coralie dem Haß preisgab, den die liberalen Zeitungen ihr geschworen hätten, und daß sie die royalistischen und ministeriellen Blätter dann nicht mehr hätte, die für sie eintreten könnten. Die Schauspielerin würde, wenn er sich richtig benähme, ohne Zweifel Gegenstand einer hitzigen Polemik werden, die ihr den Ruhm brächte, nach dem alle Schauspielerinnen so begierig sind.
»Sie verstehen nichts davon,« sagte Martainville zu ihm; »sie wird drei Monate lang während des Kreuzfeuers unserer Artikel spielen und wird in den drei Monaten ihres Urlaubs in der Provinz dreißigtausend Franken verdienen. Wegen eines dieser Skrupel, die Sie, wenn Sie solche Bedenklichkeiten nicht völlig von sich abtun, immer hindern werden, ein Politiker zu sein, wollen Sie Coralie und ihre Zukunft töten und sich um Ihre Erwerbsquelle bringen.«
Lucien sah sich genötigt, zwischen d'Arthez und Coralie zu wählen: seine Geliebte war verloren, wenn er d'Arthez nicht in der großen Zeitung und im Réveil abwürgte. Der arme Dichter ging nach Hause, er fühlte den Tod im Herzen. Er begab sich in sein Zimmer, setzte sich an den Kamin und las dieses Buch, das zu den schönsten der modernen Literatur gehört. Er las weinend Seite um Seite, er zögerte lange, aber endlich schrieb er einen boshaften Artikel, wie er sie so gut schreiben konnte; er nahm dieses Buch her, wie die Kinder einen schönen Vogel hernehmen, um ihm die Federn auszureißen und ihn zu quälen. Seine grimmigen Späße waren dazu angetan, dem Buche zu schaden. Als er noch einmal in dem schönen Werk las, erwachten alle seine guten Gefühle: nachts um zwölf Uhr begab er sich auf den Weg quer durch Paris und langte vor dem Hause von d'Arthez an. Durch die Scheiben sah er den Schein des reinen Lichts, das er so oft mit der Bewunderung gesehen hatte, die die edle Energie und Ausdauer dieses wahrhaft großen Mannes verdiente, er fühlte nicht die Kraft in sich, hinaufzugehen, und blieb ein paar Augenblicke auf einem Prellstein sitzen. Endlich brachte ihn sein guter Engel dazu, daß er hinaufging. Er klopfte an und fand d'Arthez in dem kalten ungeheizten Zimmer beim Lesen.
»Was ist dir?« fragte der junge Schriftsteller, als er Lucien sah. Er ahnte, daß nur ein großes Unglück ihn herführen konnte.
»Dein Buch ist herrlich!« rief Lucien mit Tränen in den Augen, »und sie haben mir befohlen, es anzugreifen.«
»Armer Junge, du ißt ein bitteres Brot!« sagte d'Arthez.
»Ich bitte dich nur um eines, bewahre Schweigen über meinen Besuch und laß mich in meiner Hölle, bei dieser Tätigkeit eines Verdammten. Vielleicht kommt man nur hoch, wenn man erst an den empfindlichsten Stellen des Herzens Schwielen bekommen hat.«
»Immer derselbe«, rief d'Arthez.
»Du hältst mich für einen Feigling! Nein, d'Arthez, nein, es ist alles die Liebe.« Und er erklärte ihm seine Lage.
»Zeig den Artikel her«, sagte d'Arthez, der von allem, was Lucien ihm von Coralie gesagt hatte, sehr ergriffen war.
Lucien reichte ihm das Manuskript, d'Arthez las es und konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. »Was für ein verhängnisvoller Mißbrauch des Geistes!« rief er. Aber er schwieg, als er sah, wie Lucien von wahrem Schmerz ganz überwältigt im Stuhle saß.
»Willst du es mich korrigieren lassen? Ich schicke es dir morgen wieder«, sagte er. »Späße dieser Art setzen ein Werk herab; eine ernste und gründliche Kritik ist manchmal ein Lob; ich kann deinen Artikel für dich und für mich ehrenhafter gestalten. Und überdies kenne ich allein meine Fehler!«
»Wenn man einen öden Berghang hinansteigt, findet man manchmal eine Frucht, mit der man den brennenden Durst stillen kann; so geht es mir mit dir!« rief Lucien, warf sich d'Arthez in die Arme und weinte. Dann küßte er ihn auf die Stirn und sagte: »Mir ist es, als ob ich dir mein Gewissen anvertraue, damit du es mir eines Tages wiedergibst.«
»In meinen Augen ist die periodisch auftretende Reue eine große Heuchelei,« sagte d'Arthez feierlich, »die Reue ist dann eine Prämie, die den schlechten Handlungen beigegeben wird. Unsere Seele schuldet Gott eine Reue, die jungfräulich ist; ein Mensch, der zweimal bereut, ist demnach ein heuchlerischer Schurke. Ich fürchte, du erblickst in deinen Reueanfällen immer Absolutionen.«
Diese Worte wirkten auf Lucien niederschmetternd; mit langsamen Schritten begab er sich nach der Rue de la Lune zurück. Am Tage darauf trug der Dichter seinen Artikel in der neuen Gestalt, in der er ihn von d'Arthez zurückerhalten hatte, auf die Redaktion; aber von diesem Tage an zehrte eine Melancholie an ihm, die er nicht immer verbergen konnte. Als er am Abend den Zuschauerraum des Gymnase ausverkauft sah, empfand er die heftige Aufregung, die ein Debüt auf der Bühne mit sich bringt, die aber bei ihm um die ganze Gewalt seiner Liebe vermehrt war. Seine ganze Eitelkeit war im Spiel, sein Blick suchte alle Gesichter zu ergründen, wie der Blick eines Angeklagten die Mienen der Geschwornen und Richter ergründen will; ein kleines Geräusch brachte ihn zum Zittern; ein kleiner Vorfall auf der Bühne, die Auftritte und Abgänge Coralies, die geringsten Schwankungen der Stimme mußten ihn maßlos erregen. Das Stück, in dem Coralie zum erstenmal auftrat, war eines von denen, die durchfallen, aber sich wieder erheben, und das Stück fiel durch. Als Coralie die Bühne betrat, ertönte kein Beifall, und sie war über die Kälte des Parterre niedergeschlagen. In den Logen gab es keinen andern Beifall als den von Camusot. Vom Balkon und den Galerien aus wurde das Händeklatschen des Kaufmanns niedergezischt. Als die Claqueure an ungeschickten Stellen in allzu deutlich übertriebenen Beifall ausbrechen wollten, wurden sie von den Galerien aus zum Schweigen gebracht. Martainville klatschte tapfer, und die heuchlerische Florine, Nathan und Merlin folgten dem Beispiel. Nachdem das Stück einmal durchgefallen war, kamen eine Menge Menschen in Coralies Ankleidezimmer, aber sie verschlimmerten das Übel durch den Trost, den sie ihr spendeten. Die Schauspielerin kam verzweifelt nach Hause, weniger um ihret- als um Luciens willen.
»Wir sind von Braulard verraten worden«, sagte er.
Coralie bekam ein schreckliches Fieber, sie war im Innersten getroffen. Am nächsten Tage war es ihr unmöglich zu spielen; sie sah sich in ihrer Karriere aufgehalten. Lucien verbarg die Zeitungen, er las sie im Eßzimmer. Alle Berichterstatter schrieben die Niederlage des Stückes Coralie zu: sie hätte von ihren Gaben eine zu hohe Meinung gehabt; sie, die das Entzücken des Boulevardpublikums war, wäre am Gymnase nicht am Platz; sie wäre durch einen löblichen Ehrgeiz dahin gebracht worden, aber sie hätte ihre Mittel nicht in Betracht gezogen, sie hätte ihre Rolle falsch aufgefaßt. Lucien las nun Artikel über Coralie, die in derselben heuchlerischen Art abgefaßt waren, wie er über Nathan geschrieben hatte. Eine Wut, die Milons von Croton würdig gewesen wäre, als er seine Hände in der Eiche gefangen fühlte, die er selbst auseinandergerissen hatte, brach bei Lucien aus, er wurde leichenblaß: seine Freunde gaben Coralie mit wunderbar gütigen, freundlichen und teilnehmenden Worten die perfidesten Ratschläge. Man sagte ihr, sie müßte Rollen spielen, von denen die tückischen Verfasser dieser infamen Artikel wissen mußten, daß sie ihrem Talent gänzlich widerstrebten. So sah es in den royalistischen Zeitungen aus, deren Mitarbeitern ohne Frage Nathan den Ton angegeben hatte. Die liberalen Blätter und die kleinen Skandalblätter entfalteten die Perfidien und Bosheiten, die Lucien selbst oft genug geübt hatte. Coralie hörte ein paar Seufzer, sie sprang aus ihrem Bett, erblickte die Zeitungen, wollte sie sehen und las sie. Dann legte sie sich wieder ins Bett und sprach kein Wort. Florine war mit in der Verschwörung, sie hatte den Ausgang vorausgesehen und die Rolle Coralies einstudiert. Nathan war ihr dabei an die Hand gegangen. Die Direktion, die auf das Stück Wert legte, wollte Coralies Rolle Florine geben. Der Direktor suchte die arme Schauspielerin auf, die er in Tränen und sehr niedergeschlagen antraf; aber nachdem er ihr vor Lucien gesagt hatte, Florine hätte die Rolle gelernt, und es wäre unmöglich, das Stück am Abend nicht zu geben, richtete sie sich auf und sprang aus dem Bett: »Ich werde spielen!« schrie sie.
Sie fiel bewußtlos hin. Florine hatte also die Rolle und gründete ihren Ruhm darauf, denn sie rettete das Stück; es wurden ihr in allen Zeitungen die größten Huldigungen gebracht, und von da an wurde sie die große Schauspielerin, die die Welt kennt. Der Triumph Florinens brachte Lucien völlig außer sich.
»Diese Elende, deren Glück du begründet hast! Wenn das Gymnase will, kann es dein Engagement lösen. Ich werde Graf von Rubempré, werde reich und heirate dich.«
»Welche Torheit!« sagte Coralie und warf ihm einen fahlen Blick zu.
»Torheit!« rief Lucien. »In einigen Tagen sollst du ein schönes Haus bewohnen, eine Equipage haben, und ich schreibe eine Rolle für dich.« Er steckte zweitausend Franken zu sich und eilte zu Frascati. Der Unglückliche blieb dort sieben Stunden. Wahnsinnige Gier zehrte an ihm, aber sein Gesicht war kalt und ruhig. Während dieses Tages und eines Teiles der Nacht wechselten seine Chancen fortwährend: er brachte es bis zu dreißigtausend Franken und ging schließlich ohne einen Sou fort. Zu Hause fand er Finot vor, der auf ihn wartete, um nach seinen Artikelchen zu fragen. Lucien beging den Fehler, sich zu beklagen.
»Ja, es ist nicht alles rosig,« erwiderte Finot; »Sie haben Ihre Schwenkung so plötzlich gemacht, daß Sie die Unterstützung der liberalen Presse verlieren mußten, die viel stärker ist als die ministerielle und royalistische Presse. Man sollte nie von einem Lager ins andere übergehen, wenn man sich nicht vorher ein gutes Bett zurechtgemacht hat, in dem man sich über die Verluste tröstet, auf die man gefaßt sein muß; auf alle Fälle aber sucht ein kluger Mann seine Freunde auf, setzt ihnen seine Gründe auseinander und läßt sich von ihnen selbst zu seinem Abfall raten. Sie werden seine Mitschuldigen, bedauern einen, und man trifft dann wie Nathan und Merlin mit seinen Kollegen die Verabredung, sich gegenseitige Dienste zu leisten. Die Wölfe fressen sich nicht untereinander. Sie sind in dieser Sache mit der Unschuld eines Lammes vorgegangen. Sie werden genötigt sein, Ihrer neuen Partei die Zähne zu zeigen, wenn Sie Vorteil aus ihr ziehen wollen. So wie die Dinge jetzt stehen, hat man Sie selbstverständlich Nathan geopfert. Ich will Ihnen nicht verhehlen, wie groß der Lärm, die Entrüstung und das Geschrei über Ihren Artikel gegen d'Arthez ist. Marat ist ein Heiliger gegen Sie. Es bereiten sich heftige Angriffe gegen Sie vor, Ihr Buch wird auf der Strecke bleiben. Wie steht es mit Ihrem Roman?«
»Hier sind die letzten Druckbogen«, sagte er und zeigte auf ein Paket Korrekturen. »Man schreibt Ihnen die nichtgezeichneten Artikel in den Blättern der Ministeriellen und Ultras gegen diesen kleinen d'Arthez zu. Jetzt richten sich alle Tage die Nadelstiche des Réveil gegen die Männer von der Rue des Quatre-Vents, und die Bosheiten sind um so stärker, weil sie witzig sind. Es steht eine ganze ernsthafte politische Richtung hinter dem Blatt von Léon Giraud, eine Richtung, der früher oder später die Macht zufallen wird.«
»Ich habe seit acht Tagen keinen Fuß in die Redaktion des Réveil gesetzt.«
»Nun, schön also. Denken Sie an meine kleinen Artikelchen. Machen Sie gleich fünfzig, ich zahle sie Ihnen alle auf einmal, aber schreiben Sie in der Farbe des Blattes.«
Und Finot gab Lucien in lässigem Tone den Stoff zu einem Spottartikel gegen den Justizminister und erzählte ihm eine angebliche Anekdote, die, wie er sagte, in den Salons erzählt würde.
Um seinen Spielverlust wieder zu ersetzen, fand Lucien trotz seiner Entkräftung Schwung, Jugendkraft und Witz und verfaßte dreißig Artikel von je zwei Spalten. Als er damit fertig war, ging Lucien zu Dauriat, wo er sicher war, Finot zu treffen, dem er die Artikel heimlich übergeben wollte; überdies fand er es nötig, den Buchhändler über die Nichtveröffentlichung der Margueriten zu einer Erklärung zu bringen. Der Laden war gefüllt mit seinen Feinden. Als er eintrat, entstand ein völliges Schweigen, die Unterhaltungen stockten. Als Lucien sich so in den journalistischen Bann getan sah, fühlte er doppelten Mut in sich, und er sagte wie in der Allee des Luxembourg zu sich selbst: Ich werde siegen!
Dauriat war weder gönnerhaft noch freundlich, er zeigte sich spöttisch und zog sich hinter sein Recht zurück: er würde die Margueriten erscheinen lassen, wann er wollte, er wollte abwarten, bis Lucien sich eine Stellung geschaffen hätte, er hätte das unbeschränkte Eigentumsrecht erworben. Als Lucien einwendete, Dauriat wäre durch die Natur des Kontraktes und die Eigenschaft der Vertragschließenden verpflichtet, seine Margueriten zu veröffentlichen, behauptete der Verleger das Gegenteil und sagte, daß er juristisch nicht zu einem Geschäft verpflichtet sein könnte, das er für schlecht hielte, er allein müßte über den günstigen Zeitpunkt entscheiden. Es gäbe übrigens eine Lösung, gegen die kein Gerichtshof der Welt etwas einwenden könnte: es stünde Lucien frei, die tausend Taler wiederzugeben, sein Werk wieder in Empfang zu nehmen und es von einem royalistischen Verleger herausbringen zu lassen.
Lucien ging, er ärgerte sich mehr über den ruhigen Ton, den Dauriat angeschlagen hatte, als über sein aristokratisches Protzen bei ihrem ersten Zusammentreffen. Die Margueriten sollten also ohne Zweifel erst in dem Augenblick veröffentlicht werden, in dem Lucien die Hilfstruppen einer mächtigen Clique für sich hatte oder von sich aus mächtig genug geworden war. Der Dichter ging langsam nach Hause; es war eine Mutlosigkeit über ihn gekommen, die ihn zum Selbstmord gebracht hätte, wenn die Tat dem Gedanken gefolgt wäre. Coralie lag blaß und leidend im Bett.
»Eine Rolle, in der sie stirbt«, sagte Berenice zu Lucien, während er sich umkleidete, um in die Rue du Montblanc zu Fräulein des Touches zu gehen, die eine große Abendgesellschaft gab, in der er des Lupeaulx, Vignon, Blondet, die Marquise d'Espard und Frau von Bargeton treffen sollte.
Der Abend fand zu Ehren von Conti, dem großen Komponisten, der eine der berühmtesten Stimmen besaß, und für die Cinti, die Pasta, Garcia, Levasseur und zwei oder drei berühmte Sängerinnen der Gesellschaft statt. Lucien schob sich langsam bis zu der Stelle, wo die Marquise, ihre Cousine und Frau von Montcornet saßen. Der unglückliche junge Mann nahm eine leichte, glückliche, zufriedene Miene an; er scherzte, zeigte sich wie in den Tagen seines Glanzes, es sollte nicht so scheinen, als ob er die Welt brauchte. Er verbreitete sich über die Dienste, die er der royalistischen Partei erwies, und führte zum Beweis dessen das haßerfüllte Geschrei an, das die Liberalen ausstießen.
»Sie werden reichlich dafür belohnt werden, lieber Freund«, sagte Frau von Bargeton zu ihm und lächelte ihn holdselig an. »Gehen Sie übermorgen mit dem Reiher und des Lupeaulx in das Kanzleramt. Sie finden dort Ihre Ordonnanz mit der Unterschrift des Königs. Der Justizminister trägt sie morgen ins Schloß; aber es findet Ministerrat statt, er wird spät zurückkommen; trotzdem werde ich, wenn ich das Resultat am Abend erfahre, zu Ihnen schicken. Wo wohnen Sie?«
»Ich werde kommen«, antwortete Lucien, der sich schämte, zu gestehen, daß er in der Rue de la Lune wohnte.
»Die Herzöge von Lenoncourt und Navarreins haben mit dem König von Ihnen gesprochen,« setzte die Marquise hinzu, »sie haben von Ihnen gerühmt, daß Sie eine der aufopferungsvollsten Naturen sind, die eine glänzende Belohnung verdienen, und daß Sie dann erst recht die Verfolgungen der liberalen Partei vergelten werden. Überdies wird der Name und der Titel der Rubempré, auf den Sie durch Ihre Mutter Anspruch haben, durch Sie berühmt werden. Der König hat am Abend Seiner Herrlichkeit gesagt, es sollte ihm eine Ordonnanz vorgelegt werden, kraft deren Herr Lucien Chardon befugt sein sollte, den Namen und Titel der Grafen von Rubempré in seiner Eigenschaft als Enkel von Mutterseite des letzten Grafen zu tragen. Meine Cousine hatte sich zum Glück Ihres Sonetts über die Lilie erinnert und hatte es dem Herzog mitgegeben, und das hat dem König besonders wohlgefallen.«
Lucien war so überströmend glücklich, daß eine Frau, die weniger tief gekränkt war als Louise d'Espard von Nègrepelisse, hätte gerührt werden müssen. Luciens Schönheit erregte ihren Rachedurst nur um so mehr. Des Lupeaulx hatte recht, es fehlte Lucien an Spürsinn: er ahnte nicht, daß die Ordonnanz, von der man ihm sprach, nur eine Erfindung von der Art war, wie die Marquise d'Espard sie gerne machte. Er war durch diesen Erfolg und durch die schmeichelhafte Auszeichnung, die ihm Fräulein des Touches bezeigte, kühn geworden und blieb bis zwei Uhr morgens da, um mit ihr noch unter vier Augen sprechen zu können. Lucien hatte auf den Redaktionen der royalistischen Zeitungen gehört, Fräulein des Touches wäre die ungenannte Mitarbeiterin an einem Stück, in dem das große Wunder der Zeit, die kleine Fay, auftreten sollte. Als die Salons leer waren, geleitete er Fräulein des Touches zu einem Sofa in ihrem Boudoir und erzählte ihr Coralies und sein Unglück auf eine so rührende Weise, daß dieses berühmte Mannweib ihm versprach, sie wolle die führende Rolle Coralie geben.
Am Tage nach dieser Gesellschaft las Lucien, als er mit Coralie, die über das Versprechen des Fräuleins des Touches glücklich und dem Leben wieder zurückgegeben war, beim Frühstück saß, das Blatt Lousteaus, in dem der boshafte Bericht über die Anekdote stand, die über den Justizminister und seine Frau erfunden worden war. Die schwärzeste Bosheit verbarg sich darin unter dem schneidendsten Witz. Der König LudwigXVIII. spielte darin eine Rolle und war mit größter Kunst lächerlich gemacht worden, ohne daß das Gericht einschreiten konnte. Es handelte sich um folgende Behauptung, der die liberale Partei den Mantel der Wahrheit umhängen wollte, während sie in Wirklichkeit nur die Zahl ihrer witzigen Verleumdungen vermehrt hat.
Die Leidenschaft Ludwigs XVIII. für einen galanten und poesieduftenden Briefwechsel voller Madrigale und hochtrabender Bilder wurde in dem Artikel als die letzte Ausdrucksform seiner Liebe gedeutet, die anfinge, doktrinär zu werden; er ginge, hieß es, von der Tat zur Idee über. Die berühmte Mätresse, die Béranger so grausam unter dem Namen Octavia angegriffen hatte, hätte angefangen, die schlimmsten Befürchtungen zu hegen. Ihre Korrespondenz mit ihm wäre nahe am Einschlafen. Je mehr Geist Octavia entfaltete, um so kälter und matter würde ihr Geliebter. Octavia hätte endlich die Ursache entdeckt, warum sie nicht mehr in Gunst stehe, ihre Macht wäre von den Erstlingsblüten und duftenden Spezereien eines neuen Briefwechsels des königlichen Briefstellers mit der Frau des Justizministers bedroht. Man glaubte von dieser trefflichen Dame, daß sie nicht imstande wäre, auch nur ein kurzes Briefchen zu schreiben, sie müßte ganz einfach der verantwortliche Redakteur für einen verwegenen Ehrgeizigen sein. Wer konnte sich unter diesem Unterrock verstecken? Nach einigen Forschungen entdeckte Octavia, daß der König mit seinem Minister korrespondierte. Ihr Plan ist fertig. Unterstützt von einem treuen Freund, sorgt sie eines Tages dafür, daß der Minister durch eine stürmische Diskussion in der Kammer zurückgehalten wird, und verschafft sich ein Tête-a-tête, in dem sie die Eitelkeit des Königs aufs höchste reizt. LudwigXVIII. bekommt einen echt bourbonischen und königlichen Zornanfall, er wütet gegen Octavia, er zweifelt; Octavia schlägt einen sofortigen Beweis vor, indem sie ihn bittet, eine Zeile zu schreiben, die unverzüglich eine Antwort verlangt. Die unglückliche Frau, die so überrumpelt wird, will ihren Mann in der Kammer aufsuchen lassen; aber es war für alles vorgesorgt, und er stand in diesem Augenblick auf der Tribüne. Die arme Frau schwitzt Wasser und Blut, sucht all ihren Witz zusammen und antwortet mit dem Geist, den sie hat. »Ihr Kanzler mag Ihnen das übrige sagen«, rief Octavia und lacht über die Enttäuschung des Königs.
Obwohl dieser Artikel erlogen war, traf er den Justizminister, seine Frau und den König sehr empfindlich. Des Lupeaulx, dem Finot das Geheimnis immer bewahrt hat, hatte, wie man sagt, die Anekdote erfunden. Dieser witzige und giftige Artikel bereitete den Liberalen und der Partei Louis Philipps große Freude; Lucien amüsierte sich darüber, ohne etwas anderes darin zu sehen als eine sehr feine Ente. Am nächsten Tage ging er, des Lupeaulx und den Baron du Châtelet abzuholen. Der Baron kam eben von der Visite zurück, die er Seiner Herrlichkeit gemacht hatte, um seinen Dank abzustatten. Der Herr Châtelet war zum Titularrat und zum Grafen ernannt worden, und man hatte ihm versprochen, er sollte die Präfektur der Charente erhalten, sowie der jetzige Präfekt noch die paar Monate in Diensten gewesen wäre, die noch nötig waren, damit er mit voller Pension verabschiedet werden könnte. Der Graf du Châtelet, denn das du war ausdrücklich in die Ordonnanz aufgenommen worden, nahm Lucien in seinen Wagen und behandelte ihn sehr kameradschaftlich. Ohne die Artikel Luciens wäre er vielleicht nicht so rasch ans Ziel gelangt; die Verfolgung, die er von seiten der Liberalen erlitt, hatte ihm ein besonderes Ansehen gegeben. Des Lupeaulx war im Ministerium im Kabinett des Generalsekretärs. Beim Anblick Luciens trat dieser Beamte erstaunt zurück und sah des Lupeaulx an.
»Wie, mein Herr! Sie wagen es, hierher zu kommen?« sagte der Generalsekretär zu Lucien, der ganz starr vor Staunen war. »Seine Herrlichkeit hat Ihre Ordonnanz, die schon vorbereitet war, in Stücke zerrissen, sehen Sie!« Er wies auf das erste beste Stück Papier, das in vier Teile zerrissen war. »Der Minister wollte den Verfasser des entsetzlichen Artikels von gestern kennen, und hier ist das Manuskript des Artikels.« Damit überreichte der Generalsekretär Lucien die geschriebenen Blätter des Artikels, den er verfaßt hatte. »Sie nennen sich Royalist, Herr, und sind Mitarbeiter dieses niederträchtigen Blättchens, das den Ministern graue Haare macht, die Männer, die treu zur Regierung halten, in Kummer und Ärger versetzt und uns dem Abgrund entgegenführt. Sie frühstücken vom Corfaire, vom Miroir, vom Constitutionnel, vom Courrier; Sie dinieren von der Quotidienne, vom Réveil, und Sie soupieren mit Martainville, der der schrecklichste Gegner des Ministeriums ist und den König zum Absolutismus drängt, was genau ebenso schnell zur Revolution führen würde, wie wenn er sich der extremen Linken fügte! Sie sind ein sehr witziger Journalist, aber Sie werden nie ein Politiker werden. Der Minister hat Sie dem König als Verfasser des Artikels genannt, und der hat in seinem Zorn den Herzog von Navarreins, seinen ersten Kammerherrn, gescholten. Sie haben sich um so empfindlichere Feinde gemacht, je günstiger sie Ihnen gesinnt waren! Was bei einem Feind natürlich scheint, ist bei einem Freund furchtbar.«
»Aber sind Sie denn ein Kind, mein Lieber?« rief des Lupeaulx. »Sie haben mich heillos kompromittiert. Die Marquise d'Espard, Frau von Bargeton und Frau von Montcornet, die für Sie gebürgt hatten, müssen wütend sein. Der Herzog hat sicher seinen Zorn an der Marquise ausgelassen, und die Marquise muß böse auf ihre Cousine sein. Gehen Sie nicht hin! Warten Sie! Da kommt Seine Herrlichkeit, gehen Sie!« rief der Generalsekretär.
Lucien stand auf der Place de Vendôme, und es war ihm, als hätte er einen Schlag über den Kopf bekommen. Er ging zu Fuß über die Boulevards und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Er sah sich als den Spielball neidischer, gieriger und treuloser Menschen. Was war er in dieser Welt der Ehrsucht? Ein Kind, das hinter den Freuden und Genüssen der Eitelkeit herlief und ihnen alles opferte; ein Dichter ohne gründliche Überlegung, der wie ein Schmetterling von Licht zu Licht flog, keinen festen Plan hatte, der Sklave der Umstände war, richtig dachte und falsch handelte. Sein Gewissen war ein unbarmherziger Richter. Überdies hatte er kein Geld mehr und fühlte sich von Arbeit und Kummer aufgerieben. Man brachte seine Artikel erst nach denen von Merlin und Nathan. So in sein Nachdenken versunken, ging er aufs Geratewohl weiter; in einigen Lesekabinetten, die anfingen, nicht bloß Zeitungen, sondern auch Bücher zur Lektüre auszulegen, sah er ein Plakat hängen, auf dem unter einem kuriosen Titel, der ihm völlig unbekannt war, sein Name stand: Von Lucien Chardon von Rubempré. Sein Werk war erschienen, er hatte nichts davon gewußt, die Zeitungen schwiegen. Er blieb unbeweglich, die Arme hingen ihm herunter, und er achtete nicht auf eine Gruppe höchst eleganter junger Leute, unter denen Rastignac, Herr von Marsay und einige andere Bekannte waren. Er merkte nicht, daß Michel Chrestien und Léon Giraud auf ihn zukamen.
»Sie sind Herr Chardon?« sagte Michel in einem Ton zu ihm, der Lucien im Innersten erbeben ließ.
»Kennen Sie mich nicht?« erwiderte er. Er war blaß geworden.
Michel spie ihm ins Gesicht. »Hier haben Sie das Honorar für Ihre Artikel gegen d'Arthez. Wenn jeder in seiner eigenen oder in der Sache seiner Freunde meinem Beispiel folgte, bliebe die Presse, was sie sein soll: ein heiliges Amt, das geachtet wird und Achtung verdient.«
Lucien hatte gewankt; er stützte sich auf Rastignac und sagte zu ihm und Herrn von Marsay: »Meine Herren, Sie werden es nicht ablehnen, meine Zeugen zu sein. Aber zunächst habe ich dafür zu sorgen, daß das Spiel gleich wird und die Sache nur noch durch ein Mittel in Ordnung gebracht werden kann.«
Damit gab Lucien Michel, der nicht darauf gefaßt war, eine starke Ohrfeige. Die Stutzer und Michels Freunde warfen sich zwischen den Republikaner und den Royalisten, damit der Kampf nicht in eine Prügelei ausartete. Rastignac nahm Lucien beim Arm und führte ihn zu sich nach Hause; er wohnte Rue Taitbout, zwei Schritte vom Schauplatz dieser Szene, die auf dem Boulevard de Gand sich zugetragen hatte. Es war gerade die Stunde des Diners, und diesem Umstande war es zu verdanken, daß keine der in solchen Fällen gewöhnlichen Ansammlungen stattfanden. Herr von Marsay und Rastignac brachten Lucien dazu, daß er mit ihnen im Café Anglais vergnügt dinierte, wo sie stark dem Weine zusprachen.
»Können Sie gut fechten?« fragte ihn Herr von Marsay.
»Ich habe nie einen Degen in der Hand gehabt.«
»Und wie schießen Sie mit der Pistole?« fragte Rastignac.
»Ich habe nie einen Schuß abgegeben.«
»Sie haben den Zufall für sich, sind also ein schrecklicher Gegner und imstande, Ihren Widersacher zu töten«, meinte Herr von Marsay.
Zum Glück traf Lucien Coralie im Bett an. Sie schlief. Die Schauspielerin hatte in einem kleinen Stück schnell eine Rolle übernommen und ihre Revanche gehabt: sie hatte ehrlichen, nichtbezahlten Beifall gefunden. Dieser Abend, auf den sich ihre Feinde nicht hatten vorbereiten können, bestimmte den Direktor, ihr die Hauptrolle in dem Stück von Camille Maupin zu geben; denn er hatte schließlich die Ursache von Coralies Mißerfolg bei ihrem ersten Auftreten entdeckt. Der Direktor war über die Intrigen Florinens und Nathans gegen eine Schauspielerin, auf die er Wert legte, wütend und hatte Coralie den Schutz der Direktion versprochen.
Um fünf Uhr morgens holte Rastignac Lucien ab.
»Mein Lieber, Sie wohnen gerade so, wie Ihre Straße aussieht«, sagte er ihm zur Begrüßung. »Wir wollen die ersten auf dem Treffplatz auf dem Weg nach Clignancourt sein, das gehört zum guten Ton, und wir müssen ein gutes Beispiel geben.«
»Wir haben folgendes Programm«, sagte Herr von Marsay, während der Wagen in das Faubourg Saint-Denis rollte. »Sie schlagen sich auf Pistolen auf fünfundzwanzig Schritte Distanz, bis auf fünfzehn Schritte Distanz kann jeder nach Belieben sich dem andern nähern. Jeder hat fünf Schritte und darf drei Schüsse abgeben, nicht mehr. Wie es auch kommt, verpflichten Sie sich beide, es dabei bewenden zu lassen. Wir laden die Pistolen Ihres Gegners, und seine Zeugen laden die Ihrigen. Die Waffen sind von den vier Zeugen gemeinschaftlich bei einem Waffenhändler ausgesucht worden. Ich versichere Ihnen, daß wir dem Zufall nachgeholfen haben: Sie haben Kavalleriepistolen.«
Für Lucien war das Leben ein böser Traum geworden, es war ihm gleichgültig, ob er am Leben blieb oder starb. Der Mut, der den Selbstmördern eigen ist, verschaffte ihm also in den Augen der Personen, die seinem Duell beiwohnten, den Eindruck eines gleichgültig tapfern Auftretens. Er blieb, ohne sich vom Platz zu bewegen, stehen. Diese Unbekümmertheit galt für eine kühle Berechnung, man fand in diesem Dichter einen sehr starken Mann. Michel Chrestien schritt vor, so weit er durfte. Die beiden Gegner feuerten zu gleicher Zeit, denn die Beleidigungen waren auf beiden Seiten für gleich erklärt worden. Beim ersten Schuß streifte die Kugel Chrestiens Luciens Kinn, während dessen Kugel zehn Fuß über dem Kopf seines Gegners wegflog. Beim zweiten Schuß blieb die Kugel Michels im Rockkragen des Dichters stecken, der zum Glück mit Steifleinen gesteppt war. Beim dritten Schuß erhielt Lucien die Kugel in die Brust und fiel um.
»Ist er tot?« fragte Michel.
»Nein,« sagte der Wundarzt, »er wird davonkommen.«
»Um so schlimmer«, erwiderte Michel.
»Oh! Ja! Um so schlimmer!« wiederholte Lucien und weinte bittere Tränen.
Gegen Mittag war der unglückliche junge Mensch in seinem Zimmer und auf sein Bett gelegt; man hatte fünf Stunden und große Vorsicht gebraucht, um ihn zu transportieren. Obwohl keine Gefahr zu befürchten stand, war Vorsicht geboten: das Fieber konnte schlimme Komplikationen bringen. Coralie unterdrückte ihre Verzweiflung und ihren Kummer. In der ganzen Zeit, solange ihr Freund in Gefahr schwebte, durchwachte sie mit Berenice die Nächte und lernte ihre Rollen. Die Gefahr für Lucien dauerte zwei Monate. Das arme Mädchen spielte manchmal eine lustige Rolle, während sie sich innerlich sagen mußte: »In diesem Augenblick stirbt vielleicht mein lieber Lucien.«
Während dieser ganzen Zeit wurde Lucien von Bianchon gepflegt; er verdankte der Aufopferung dieses Freundes, der so stark gegen ihn eingenommen sein mußte, dem aber d'Arthez den geheimen Zusammenhang von Luciens Vorgehen gegen ihn zur Rechtfertigung des unglücklichen Dichters anvertraut hatte, sein Leben. In einem lichten Augenblick denn Lucien hatte ein sehr gefährliches Nervenfieber befragte Bianchon, der d'Arthez im Verdacht einer großmütigen Unwahrheit hatte, seinen Patienten. Lucien sagte ihm, er hätte keinen anderen Artikel über das Buch von d'Arthez geschrieben als den ernsthaft kritischen, der in dem Blatt von Hector Merlin gestanden hatte.
Am Ende des ersten Monats erklärte das Haus Fendant& Cavalier seine Insolvenz. Bianchon bat die Schauspielerin, diesen schweren Schlag Lucien zu verheimlichen. Der schöne Roman Der Bogenschütze KarlsIX., der unter einem verrückten Titel veröffentlicht worden war, hatte gar keinen Erfolg gehabt. Um sich vor der Eröffnung des Konkurses Geld zu verschaffen, hatte Fendant hinter dem Rücken Cavaliers das Werk im ganzen an Krämer verkauft, die es mit Hilfe der Kolportage billig wiederverkauften. Jetzt zierte Luciens Buch die Brückenbrüstungen und die Kais von Paris. Die Buchhandlung vom Quai des Augustins, die eine gewisse Zahl Exemplare des Romans übernommen hatte, mußte also infolge der plötzlichen Herabsetzung des Preises eine beträchtliche Summe verlieren: die vier Quartbände, für die sie vier Franken fünfzig Centimes bezahlt hatte, wurden für fünfzig Sous abgegeben. Der Buchhandel schrie laut auf, und die Zeitungen fuhren fort, das tiefste Stillschweigen zu bewahren. Barbet hatte dieses Verramschen nicht vorausgesehen; er glaubte an Luciens Talent. Gegen alle seine Gewohnheiten hatte er sich auf zweihundert Exemplare verstiegen; und die Aussicht auf einen Verlust machte ihn wütend. Er schimpfte furchtbar auf Lucien. Barbet faßte einen heroischen Entschluß: er ließ in einem Eigensinn, der bei Geizigen nicht selten ist, seine Exemplare in einem Winkel seines Magazins und überließ es seinen Kollegen, ihre Exemplare zu Spottpreisen zu verschleudern. Als später, im Jahre 1824 die schöne Vorrede von d'Arthez, der Wert des Buches und zwei Artikel, die Léon Giraud schrieb, dem Werke zur rechten Geltung verholfen hatten, verkaufte Barbet seine Exemplare das Stück zum Preis von zehn Franken. Ungeachtet der Vorsichtsmaßregeln von Berenice und Coralie ließ sich Hector Merlin nicht davon abhalten, seinen sterbenden Freund zu besuchen. Und er ließ ihn Tropfen für Tropfen den bittern Kelch dieser Bouillon trinken; Bouillon nennt man nämlich im Pariser Buchhandel eben die traurige Operation, die Fendant& Cavalier bei der Veröffentlichung dieses Buches eines Anfängers vorgenommen hatten. Martainville, der einzige, der Lucien treu geblieben war, schrieb einen prächtigen Artikel zugunsten des Werkes; aber die Erbitterung gegen den Chefredakteur des Aristarque, der Oriflamme und des Drapeau blanc war bei Liberalen und Ministeriellen dermaßen groß, daß der Beistand dieses tapfern Athleten, der dem Liberalismus für eine Beleidigung stets zehn zurückgab, Lucien schadete. Kein Blatt hob den Handschuh der Polemik auf, so lebhaft auch die Angriffe des royalistischen Bravos waren. Coralie, Berenice und Bianchon schlossen allen sogenannten Freunden Luciens, die sehr darüber empört waren, die Tür; aber es war nicht möglich, sie den Gerichtsvollziehern zu verschließen. Der Konkurs von Fendant& Cavalier bewirkte, daß ihre Wechsel auf Grund einer Bestimmung des Handelsgesetzbuchs, welche die Rechte der Akzeptanten schädigt, die auf diese Weise der Wohltat des Zieles beraubt werden, fällig waren. Gegen Lucien wurde also von Camusot der Wechselprozeß angestrengt. Als die Schauspielerin diesen Namen sah, verstand sie, welchen schrecklichen, demütigenden Schritt ihr Dichter aus Liebe zu ihr getan hatte; sie liebte ihn darum zehnmal mehr und wollte Camusot nicht bitten. Als die Häscher des Schuldgerichts ihren Gefangenen holen wollten, fanden sie ihn im Bett und sahen ein, daß sie ihn nicht mitnehmen konnten; bevor sie den Gerichtspräsidenten fragten, in welches Spital sie den Schuldner einliefern sollten, begaben sie sich zu Camusot. Dieser eilte sofort nach der Rue de la Lune. Coralie ging hinunter, und als sie wieder in ihrer Wohnung war, hielt sie die Wechsel in der Hand, auf Grund von deren Indossament Lucien vom Gericht als Kaufmann behandelt worden war. Wie hatte sie diese Papiere von Camusot erhalten? Welches Versprechen hatte sie gegeben? Sie bewahrte darüber das düsterste Schweigen; aber sie war fast tot wieder heraufgekommen. Coralie spielte in dem Stück von Camille Maupin und trug viel zu diesem Erfolg der berühmten Schriftstellerin bei. Die Verkörperung dieser Rolle war der letzte Funke dieser schönen Flamme. Bei der zwanzigsten Aufführung, zu der Zeit, wo Lucien wiederhergestellt war, anfing herumzugehen und zu essen, und davon sprach, bald wieder zu arbeiten, wurde Coralie krank: ein geheimer Kummer zehrte an ihr. Berenice hatte immer geglaubt, daß sie, um Lucien zu retten, versprochen hatte, zu Camusot zurückzukehren. Die Schauspielerin mußte die Kränkung erleben, daß ihre Rolle Florine gegeben wurde. Nathan erklärte für den Fall, daß Florine nicht die Rolle von Coralie übernähme, dem Gymnase den Krieg. Coralie spielte also die Rolle bis zum letzten Augenblick, um sie nicht ihrer Rivalin zu überlassen, und spannte ihre Kräfte zu sehr an. Das Gymnase hatte ihr während Luciens Krankheit einige Vorschüsse gegeben, sie konnte an der Theaterkasse nichts mehr verlangen; trotz allem guten Willen war Lucien noch nicht imstande zu arbeiten, er pflegte übrigens Coralie, um Berenice die Arbeit zu erleichtern; der ärmliche Haushalt kam jetzt also in völligen Verfall. Er hatte indessen das Glück, in Bianchon einen geschickten und aufopfernden Arzt zu finden, der ihm bei einem Apotheker Kredit verschaffte. Die Lage Coralies und Luciens wurde den Lieferanten und dem Hausbesitzer bald bekannt. Die Möbel wurden gepfändet. Die Schneiderin und der Schneider, die jetzt den Journalisten nicht mehr fürchteten, trieben nun energisch ihre Forderungen gegen die beiden Bohemiens ein. Schließlich gaben nur noch der Apotheker und der Schlächter den unglücklichen jungen Menschen Kredit. Lucien, Berenice und die Kranke hatten fast eine Woche lang nichts als Schweinefleisch in all den mannigfaltigen Formen zu essen, das der Schlächter ihnen gab. Das Schweinefleisch, das seiner Natur nach entzündlich ist, verschlimmerte die Krankheit der Schauspielerin. Lucien war gezwungen, in seiner Not zu Lousteau zu gehen, um die tausend Franken zu fordern, die dieser frühere Freund, der Verräter, ihm schuldete. Lousteau konnte nicht mehr seine Wohnung in der Rue de la Harpe betreten, er wohnte bei seinen Freunden, er wurde wie ein Hase verfolgt und umstellt. Lucien konnte den für ihn verhängnisvollen Mann, der ihn in die literarische Welt eingeführt hatte, nur bei Flicoteaux finden. Lousteau aß an dem nämlichen Tisch, an dem Lucien ihn zu seinem Unglück an dem Tage getroffen, wo er sich von d'Arthez entfernt hatte. Lousteau lud ihn zum Mittagessen ein, und Lucien nahm an! Als beim Aufbrechen Claude Vignon, der an diesem Tage auch da saß, Lousteau, Lucien und der große Unbekannte, der seine Garderobe wieder zu Samanon gebracht hatte, ins Café Voltaire gehen wollten, um eine Tasse Kaffee zu trinken, konnten sie aus den Geldstücken, die sie alle miteinander in der Tasche hatten, nicht dreißig Sous zusammenbringen. Sie bummelten ins Luxembourg, wo sie einen Buchhändler zu treffen hofften, und sie begegneten in der Tat einem der berühmtesten Drucker der Zeit, den Lousteau um vierzig Franken bat, die er auch von ihm erhielt. Lousteau teilte die Summe in vier gleiche Teile, und jeder der Schriftsteller nahm einen. Das Elend hatte bei Lucien jeden Stolz, jede Empfindung ausgelöscht; er weinte vor diesen drei Künstlern, als er ihnen seine Lage berichtete; aber jeder seiner Kollegen hatte ihm ein ebenso schreckliches Drama zu erzählen; und als jeder seine Lage dargelegt hatte, fand der Dichter, daß er von den vieren noch am wenigsten unglücklich sei. Und so hatten sie alle das Bedürfnis, ihr Unglück und ihre Gedanken, die das Unglück verdoppelten, zu vergessen. Lousteau ging ins Palais Royal, um dort mit den neun Franken, die ihm von seinen zehn geblieben waren, zu spielen. Der große Unbekannte ging, obwohl er eine himmlische Geliebte hatte, in ein schlechtes Haus, um dort im Pfuhl gefährlicher Wollust unterzutauchen. Vignon begab sich in den Petit Rocher de Cancale in der Absicht, dort zwei Flaschen Bordeaux zu trinken, um für eine Weile Vernunft und Gedächtnis loszuwerden. Lucien verließ Claude Vignon auf der Schwelle des Restaurants, er wollte nicht mithalten. Der große Mann aus der Provinz drückte dem einzigen Journalisten, der ihm nicht feindlich gewesen war, die Hand; es war ihm furchtbar weh zumute.
»Was soll ich tun?« fragte er ihn.
»So gehts im Krieg«, erwiderte der große Kritiker. »Ihr Buch ist schön, aber es hat Ihnen Neider gebracht, Sie werden einen langen und schweren Kampf vor sich haben. Das Genie ist eine schwere Krankheit. Jeder Schriftsteller trägt ein Scheusal in seinem Herzen, das, wie der Bandwurm in den Därmen, die Gefühle im Entstehen auffrißt. Wer wird siegen? Die Krankheit über den Menschen oder der Mensch über die Krankheit? Man muß ein großer Mensch sein, um den Ausgleich zwischen seinem Genie und seinem Charakter zu finden. Das Talent wächst, das Herz schrumpft ein. Wenn man nicht ein Koloß ist, wenn man nicht die Schultern des Herkules hat, bleibt man entweder ohne Herz oder ohne Talent zurück. Sie sind zart und schwächlich. Sie werden unterliegen«, fügte er hinzu und trat in das Wirtshaus ein.
Lucien dachte auf dem Weg nach Hause über diesen schrecklichen Urteilsspruch nach, dessen tiefe Wahrheit ihm über das literarische Leben Licht gab.
»Geld!« rief eine Stimme in ihm.
Er verfertigte selbst drei Wechsel über je tausend Franken auf ein, zwei und drei Monate Ziel an seine Order, auf denen er mit erstaunlicher Vollendung die Unterschrift David Séchards nachahmte; er indossierte sie und brachte sie dann am Tage darauf zu Métivier, dem Papierhändler in der Rue Serpente, der sie ihm ohne jede Schwierigkeit diskontierte. Lucien schrieb seinem Schwager einige Zeilen, um ihn von diesem Angriff auf seine Kasse zu benachrichtigen, und versprach ihm, wie es üblich ist, am Verfalltag für die Einlösung zu sorgen. Die Schulden Coralies und Luciens wurden bezahlt, es blieben dreihundert Franken, die der Dichter Berenice übergab. Dabei sagte er ihr, sie sollte ihm nichts geben, wenn er Geld verlangte; er fürchtete, von der Spielleidenschaft gepackt zu werden. Lucien, der von einer düstern, kalten und schweigenden Wut beseelt war, schrieb, während er bei Coralie wachte, beim Schein einer Lampe seine geistvollsten Artikel. Wenn er aufblickte, um nachzudenken, sah er dieses geliebte Weib, das blaß wie aus Porzellan war, das die Schönheit der Sterbenden hatte, das ihm mit zwei blassen Lippen zulächelte und ihn mit großen, glänzenden Augen ansah, wie sie die Frauen haben, die nicht allein an Krankheit, sondern auch an Kummer sterben. Lucien schickte seine Artikel an die Zeitungen; aber da er nicht auf die Redaktionen gehen und die Chefredakteure bearbeiten konnte, erschienen sie nicht. Als er sich entschloß hinzugehen, empfing ihn Théodore Gaillard, der ihm Vorschüsse gegeben hatte und der später diese literarischen Kleinode benutzte, sehr frostig.
»Schonen Sie sich, mein Lieber, Sie haben keinen Geist mehr; lassen Sie sich nicht niederschlagen, nur Mut!« sagte er zu ihm.
»Der Lucien, dieses Kerlchen, hatte nur seine Romane und seine ersten Artikel im Kopf«, riefen Félicien Vernou, Merlin und alle, die ihn haßten, wenn bei Dauriat oder im Vaudeville von ihm die Rede war. »Er schickt uns jämmerliches Zeug.«
Wenn die Journalisten erst einmal dieses Wort gesprochen haben, daß einer nichts im Kopfe hat, ist es schwer, dagegen zu appellieren. Dieses Wort, das überall weitererzählt wurde, war für Lucien tödlich, ohne daß er es wußte, denn er hatte jetzt Sorgen, die über seine Kräfte gingen. Mitten in seinen aufreibenden Arbeiten wurde er wegen der Wechsel David Séchards verfolgt, und er mußte seine Zuflucht zu der Erfahrung Camusots nehmen. Der frühere Freund Coralies war großmütig genug, Lucien beizustehen. Diese schreckliche Lage dauerte zwei Monate, in denen Lucien fortwährend mit gestempelten Papieren zu tun hatte, die er auf Camusots Empfehlung an Desroches, einen Freund von Bixiou, Blondet und des Lupeaulx, sandte.
Anfangs August sagte Bianchon dem Dichter, Coralie wäre verloren, sie hätte nur noch einige Tage zu leben. Berenice und Lucien brachten diese furchtbaren Tage mit Weinen zu und konnten dem armen Mädchen, das um Luciens willen in Verzweiflung war, daß es sterben sollte, ihre Tränen nicht verbergen. Coralie kehrte wieder zu ihrem Kinderglauben zurück und verlangte, daß Lucien ihr einen Priester hole. Die Schauspielerin wollte sich mit der Kirche versöhnen und im Frieden sterben. Sie hatte ein christliches Ende, ihre Reue war aufrichtig. Dieser Todeskampf und dieses Sterben nahmen Lucien vollends seine Kraft und seinen Mut. Der Dichter saß völlig zusammengebrochen auf einem Stuhl am Fuß von Coralies Bett und blickte nicht von ihr weg bis zu dem Augenblick, wo die Hand des Todes ihr die Augen brach. Es war um fünf Uhr morgens. Ein Vogel setzte sich auf einen der Blumentöpfe, die vor dem Fenster standen, und sang ein Liedchen. Berenice kniete vor dem Bett nieder und küßte Coralies Hand, die unter ihren Tränen kalt wurde. Es waren nur noch elf Sous in der Wohnung. Lucien verließ das Haus, die Verzweiflung sagte ihm, er müßte betteln gehen, um seine Geliebte begraben zu können, oder sich der Marquise d'Espard, dem Grafen du Châtelet, der Frau von Bargeton, dem Fräulein des Touches oder Herrn von Marsay, dem schrecklichen Stutzer, zu Füßen werfen; er fühlte keinen Stolz und keine Kraft mehr in sich. Um Geld zu bekommen, hätte er sich als Soldat anwerben lassen! Er begab sich in der den Unglücklichen eigenen gebeugten und aufgelösten Haltung in das Haus Camille Maupin, betrat es, ohne auf den vernachlässigten Zustand seines Anzuges zu achten, und bat, empfangen zu werden.
»Das Fräulein hat sich um drei Uhr morgens hingelegt, und niemand darf es wagen, sie zu stören, bevor sie geklingelt hat«, erwiderte der Kammerdiener.
»Wann klingelt sie Ihnen?«
»Nie vor zehn Uhr.«
Nunmehr schrieb Lucien einen der furchtbaren Briefe, in denen die vornehmen Bettler sich gänzlich preisgeben. Eines Abends hatte er die Möglichkeit einer derartigen Erniedrigung bezweifelt, als Lousteau ihm von den Bitten gesprochen hatte, die junge Talente an Finot richteten, und jetzt ging seine Feder vielleicht über die Grenzen hinaus, bis zu denen das Elend seine Vorgänger gebracht hatte. Als er sinnlos und fiebernd über die Boulevards zurückging, ohne das schreckliche Meisterstück zu ahnen, das ihm die Verzweiflung eingeben sollte, traf er Barbet.
»Barbet, fünfhundert Franken!« rief er ihm zu und streckte die Hand aus.
»Nein, zweihundert«, erwiderte der Buchhändler.
»Ach! so haben Sie also ein Herz?«
»O ja, aber ich habe auch ein Geschäft. Sie sind schuld, daß ich viel Geld verliere,« fügte er hinzu, nachdem er ihm von dem Konkurs von Fendant& Cavalier erzählt hatte, »Sie müssen mir also welches zu verdienen geben.«
Lucien schauderte.
»Sie sind Dichter, Sie müssen sich auf jede Art Verse verstehen«, fuhr der Buchhändler fort. »Ich brauche jetzt gerade Trinklieder, die ich unter ein paar Lieder, die ich von verschiedenen Dichtern genommen habe, stecken kann, um nicht als Nachdrucker verfolgt zu werden und eine nette Liedersammlung für zehn Sous auf den Straßen verkaufen zu können. Wenn Sie morgen zehn feine Trinklieder oder ein bißchen so was Saftiges schicken wollen ... ja, wahrhaftig, dann gebe ich Ihnen zweihundert Franken.«
Lucien ging nach Hause. Coralie lag steif ausgestreckt auf einem Gurtbett, sie war in ein schlechtes Bettuch gehüllt, das Berenice unter Tränen genäht hatte. Die Normannin hatte an den vier Enden dieses Bettes vier Kerzen angesteckt. Auf Coralies Gesicht leuchtete die strahlende Schönheit, die zu den Lebenden so stark spricht und eine völlige Ruhe kündet; sie sah aus wie die jungen Mädchen, die die Bleichsucht haben; manchmal schien es, als ob diese violetten Lippen sich öffnen und Lucien flüstern wollten, den Namen, den sie zusammen mit dem Namen Gottes noch ausgesprochen hatte, bevor sie ihr Leben aushauchte. Lucien gab Berenice den Auftrag, sie sollte beim Beerdigungsinstitut ein Begräbnis bestellen, das, das Totenamt in der armseligen Kirche Bonne-Nouvelle inbegriffen, nicht mehr als zweihundert Franken kostete. Sowie Berenice gegangen war, setzte sich der Dichter an den Tisch neben die Leiche seiner armen Geliebten und verfaßte so die zehn Lieder, die lustige Einfälle und sangbare Weisen verlangten. Er stand entsetzliche Qualen aus, ehe er arbeiten konnte; aber er zwang schließlich seinen Geist in den Dienst der Notwendigkeit, als ob er kein Leid kenne. Er bestätigte bereits das schreckliche Urteil Claude Vignons über die Trennung des Herzens vom Hirn. Was war das für eine Nacht, in der der unglückliche junge Mensch neben dem Priester, der für Coralie betete, beim Schein der Wachskerzen Lieder für Straßensänger verfaßte! ... Am nächsten Morgen versuchte Lucien, der mit seinem letzten Lied fertig geworden war, es einer Melodie anzupassen, die damals beliebt war; als sie ihn singen hörten, fürchteten Berenice und der Priester, er wäre verrückt geworden:
Freunde! Nicht taugt die Moral
Zum Lied, längst schwor ich sie ab;
Wen schert Vernunft, der einmal
Sich ganz der Tollheit ergab!
Kein Lied ist zu schlecht,
Wenn mit Huren man zecht,
Epikur stellt es fest.
Wird Apollo bekränzt.
Wenn uns Bacchus kredenzt?
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
Hundert Jahre versprach
Hippokrates jedem Kumpan.
Wird auch das Bein schließlich schwach,
Was kommt es uns darauf an?
Wenn nur die Hand bis zuletzt,
Die das Glas an die Lippe setzt,
Nicht locker läßt .
Komme das Alter heran,
Stoßt mit mir an,
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
Wie er zur Welt kam, versteht
Vortrefflich ein jeder Wicht,
Aber fragst du, wohin er geht,
So weiß es der Klügste nicht.
Doch spar dir darob den Verdruß,
Überlaß dem Himmel den Schluß,
Daß wir sterben, steht fest.
Doch ist nicht minder gewiß,
Daß wir leben; das andre vergiß!
Trinkt, lacht!
Zum Teufel den Rest!
In dem Augenblick, als der Dichter diese gräßliche letzte Strophe fertig gesungen hatte, traten Bianchon und d'Arthez ein und fanden ihn im Paroxysmus der Verzweiflung. Er vergoß einen Strom von Tränen und hatte nicht mehr die Kraft, seine Lieder ins reine zu schreiben. Als er unter vielem Schluchzen seine Lage erklärt hatte, sah er in den Augen seiner Zuhörer Tränen.
»Dies«, sagte d'Arthez, »tilgt viele Schuld.«
»Wohl denen, die die Hölle hienieden finden«, sagte der Priester ernst.
Das Bild dieser schönen Toten, deren Lächeln schon aus der Ewigkeit stammte, der Anblick ihres Geliebten, der ihr mit frechen Versen ein Grab kaufte, die Vorstellung, daß Barbet den Sarg bezahlte, diese vier Kerzen um diese Schauspielerin, deren Baskine und rote Strümpfe mit grünen Zwickeln noch vor kurzem einen ganzen Zuschauerraum zu Beifallsausbrüchen gebracht hatten, dann der Priester an der Tür, der sie mit Gott versöhnt hatte und jetzt zur Kirche ging, um für die, die viel geliebt hatte, eine Messe zu sprechen, all diese Hoheit und diese Niedrigkeit, dieses Leid, das von der Not verdrängt wurde, all das versteinerte den großen Schriftsteller und den großen Arzt, die sich hinsetzten, ohne ein Wort herausbringen zu können. Ein Lakai trat ein und meldete Fräulein des Touches an. Das schöne Mädchen verstand alles, sie trat rasch auf Lucien zu, drückte ihm die Hand und gab ihm heimlich zwei Tausendfrankennoten.
»Es ist zu spät«, sagte er und warf ihr einen schmerzlichen Blick zu.
D'Arthez, Bianchon und Fräulein des Touches gingen erst, nachdem sie alles getan hatten, um Luciens Verzweiflung mit den liebevollsten Worten zu mildern; aber in ihm war alles wie zerbrochen. Gegen Mittag fanden sich die Mitglieder des Zirkels außer Michel Chrestien der indessen über das Maß von Luciens Schuld aufgeklärt worden war in der kleinen Kirche Bonne-Nouvelle ein, wo außerdem noch Berenice und Fräulein des Touches, zwei Statistinnen des Gymnase, Coralies Ankleidemädchen und der unglückliche Camusot anwesend waren. Alle Männer begleiteten die Schauspielerin bis zum Kirchhof Père-Lachaise. Camusot, der heiße Tränen vergoß, versprach Lucien feierlich, er werde ein Grab für ewige Zeiten kaufen und auf ihm eine Säule errichten lassen, auf der der Name
Coralie
stünde, und darunter:
Im Alter von neunzehn Jahren gestorben im August 1822
Lucien blieb bis zum Sonnenuntergang allein auf diesem Grabhügel, von dem aus er auf Paris herabblickte.
»Wer liebt mich nun?« fragte er sich. »Meine wahren Freunde verachten mich. Ich hätte tun können, was ich wollte, der, die da unten liegt, wäre alles, was von mir kam, edel und gut vorgekommen! Ich habe nur noch meine Schwester, David und meine Mutter! Was denken sie von mir in der Heimat?«
Der arme große Mann aus der Provinz kehrte nach der Rue de la Lune zurück, aber dort wurde ihm so entsetzlich zumute, als er die leere Wohnung sah, daß er sich in einem elenden Gasthof in der Straße einmietete. Die zweitausend Franken von Fräulein des Touches deckten alle Schulden, nachdem der Erlös aus dem Mobiliar noch dazugekommen war. Berenice und Lucien hatten für sich hundert Franken, von denen sie zwei Monate lebten, die Lucien in einer krankhaften Niedergeschlagenheit verbrachte: er konnte nicht schreiben und nicht denken, er überließ sich seinem Schmerz; Berenice hatte Mitleid mit ihm.
»Wenn Sie daran denken, in Ihre Heimat zurückzukehren, wie wollen Sie hinkommen?« fragte sie und beantwortete damit einen Ausruf Luciens, der immer an seine Schwester, seine Mutter und David Séchard dachte.
»Zu Fuß«, antwortete er.
»Dann muß man auch noch unterwegs essen und schlafen. Wenn Sie jeden Tag zwölf Meilen gehen, brauchen Sie mindestens zwanzig Franken.«
»Ich werde sie bekommen«, sagte er.
Er nahm seine Kleider und seine schöne Wäsche, behielt nur das absolut Notwendige für sich und ging zu Samanon, der ihm für all seine Sachen fünfzig Franken anbot. Er bat den Wucherer, ihm so viel zu geben, daß er den Postwagen nehmen könnte; er konnte ihn aber nicht erweichen. In seiner Wut ging Lucien, so wie er war, zu Frascati, versuchte sein Glück und kam ohne einen Heller wieder herunter. Als er wieder in seiner elenden Kammer in der Rue de la Lune war, verlangte er von Berenice Coralies Schal. Nachdem Lucien ihr seinen Spielverlust eingestanden hatte, wußte das gute Mädchen mit einem einzigen Blick, was der arme Dichter in seiner Verzweiflung vorhatte: er wollte sich erhängen.
»Sind Sie verrückt geworden?« sagte sie. »Gehen Sie spazieren und kommen Sie um Mitternacht wieder, ich werde das Geld beschaffen, das Sie brauchen; aber bleiben Sie auf den Boulevards und gehen Sie nicht an die Kais.«
Lucien lief auf den Boulevards herum. Der Schmerz hatte ihn fast stumpfsinnig gemacht. Er sah die Equipagen, die Spaziergänger und fand sich winzig und verlassen in dieser Menge, die, von den tausenderlei Pariser Interessen gepeitscht, herumwirbelte. In Gedanken sah er die Ufer der Charente, und etwas wie Sehnsucht nach den Freuden der Familie überkam ihn. Er hatte jetzt einen der blitzartig plötzlichen Einfälle, die all diese weiblichen Naturen täuschen: er wollte das Spiel nicht aufgeben, ehe er sein Herz in das Herz David Séchards ausgeschüttet, ehe er den Rat der drei Schutzengel gehört hätte, die ihm geblieben waren. Als er so durch die Straßen schlenderte, sah er an der Ecke der Rue de la Lune auf dem schmutzigen Boulevard Bonne-Nouvelle Berenice im Sonntagsstaat bei einem Manne stehen. Bei diesem Anblick stieg ihm ein furchtbarer Verdacht auf, und er rief: »Was machst du da?«
»Hier sind zwanzig Franken, die vielleicht teuer zu stehen kommen, aber Sie können nun in die Heimat gehen«, antwortete sie und steckte Lucien rasch vier Hundertsousstücke zu.
Berenice lief davon, ohne daß Lucien sah, wo sie hingekommen war, denn zu seinem Lobe muß gesagt werden, daß ihm dieses Geld in der Hand brannte und er es zurückgeben wollte; aber er mußte es wie ein letztes Brandmal des Pariser Lebens behalten.