Honoré de Balzac
Cäsar Birotteau
Honoré de Balzac

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Während der Winternächte wird es in der Rue Saint-Honoré nur auf Augenblicke ruhig. Den Lärm, den die aus dem Theater oder vom Balle zurückrollenden Kutschen verursachen, setzen die Wagen der Gemüsehändler fort, die nach der Markthalle fahren. Mitten in diesem Orgelgebraus, das in der gewaltigen Symphonie des Pariser Straßenlebens gegen ein Uhr morgens ertönt, fuhr die Ehefrau des Parfümhändlers Cäsar Birotteau – er wohnte in der Nähe der Place Vendôme – aus dem Schlafe auf. Ein fürchterlicher Traum hatte sie erschreckt.

Frau Konstanze Birotteau hatte eine Doppelgängerin von sich gesehen: in zerlumpter Kleidung, einen Stock in der harten, schwieligen Hand, stand sie auf der Schwelle ihres eigenen Ladens; zugleich aber saß sie auch in dem Schreibsessel ihres Kontors. Sie bat sich selbst um ein Almosen und hörte sich zugleich an der Tür und im Kontor reden. Als sie nach ihrem Manne, dessen Lager neben dem ihren war, greifen wollte, fanden ihre Hände seinen Platz leer. Da vermehrte sich ihre Angst dermaßen, daß sie ihren Kopf nicht zu bewegen vermochte. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt, sie konnte keinen Laut von sich geben, sie riß die Augen weit auf, es sauste ihr in den Ohren, ihr Herz schlug heftig. In Schweiß gebadet richtete sie sich endlich entsetzt im Bette auf. Das Ehepaar schlief in einem Alkoven, dessen Flügeltür weit offen stand.

Die Furcht ist ein halb krankhaftes Gefühl, das, wenn es in die menschliche Maschinerie eingreift, deren Kräfte plötzlich entweder zu ihrer größten Leistungsfähigkeit treibt oder gänzlich versagen läßt. Die Physiologen haben lange Zeit vor dieser seltsamen Erscheinung verblüfft dagestanden, weil sie ihre Theorien umstürzt und ihre Folgerungen über den Haufen wirft. Indessen ist die Angst im Grunde nichts weiter als ein im Innern des Menschen niedergehender Blitzschlag, der, wie alle elektrischen Vorgänge, eigenwillig und unberechenbar ist. Diese Erklärung wird dereinst allgemein anerkannt werden, wenn die Gelehrten die ungeheure Wirkung erkannt haben, die die Elektrizität auf die Nerven und das Gehirn der Menschen ausübt.

Frau Birotteau empfand in diesem Augenblicke jenen gewissermaßen lichtvollen Schmerz, der durch die starke Entladung des durch einen unerforschten mechanischen Vorgang zerstreuten oder konzentrierten Willens entsteht. Während eines kurzen, scheinbar aber nicht endenwollenden Zeitraumes hatte die arme Frau die wunderbare Macht, mehr Gedanken zu produzieren und sich mehr Erinnerungen zu vergegenwärtigen, als ihr das im gewöhnlichen Zustande innerhalb eines ganzen Tages möglich gewesen wäre. Das Gesamtergebnis dieses Vorgangs äußerte sich in einigen wirren, sich widersprechenden sinnlosen Worten.

Birotteau hat doch nicht ohne Grund das Bett verlassen! Vielleicht ist ihm das Essen schlecht bekommen. Aber wenn er krank wäre, hätte er mich doch geweckt. In den neunzehn Jahren, die wir nebeneinander schlafen, hat er kein einziges Mal seinen Platz verlassen, ohne es mir vorher zu sagen. Der liebe treue Kerl! Wenn er mal aufgestanden ist, so geschah es nur, um nach einem gewissen Örtchen zu pilgern! Ist er denn überhaupt gestern mit mir zu Bett gegangen? Freilich! Du lieber Gott! Ich bin wie vor den Kopf geschlagen!

Sie übersah das Bett und erblickte die Nachtmütze ihres Mannes, die noch die fast kegelförmige Form seines Kopfes zeigte.

Sollte er Selbstmord begangen haben? Aber warum? Seit den zwei Jahren, die er Stadtverordneter ist, kommt er mir wie verdreht vor. Man sollte so einem Manne weiß Gott kein öffentliches Amt geben! Sein Geschäft geht vorzüglich. Er hat mir erst neulich einen teuren Schal geschenkt. Vielleicht geht es aber doch schlecht? I wo! Da müßte ich's doch wissen! Aber weiß man denn immer, was ein Mann im Kopfe hat! Unsinn! Haben wir doch heute für fünftausend Francs Umsatz gehabt. Übrigens kann ein Stadtverordneter überhaupt nicht Selbstmord begehen. Er ist viel zu sehr auf die Ordnung im Staate bedacht. Aber wo mag er nur stecken?

Sie war nicht imstande, ihre Hand nach der Klingelschnur auszustrecken, womit sie die Köchin, drei Kommis und den Lehrling in Bewegung gesetzt hätte. Obwohl sie völlig wach war, drückte sie der Alp. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, daß ihre Tochter im anstoßenden Zimmer schlief.

Sie bildete sich ein, laut »Mann!« gerufen zu haben, aber sie vernahm natürlich keine Antwort.

Sollte er eine Geliebte haben? dachte sie weiter. Nein, dazu ist er zu dumm! Übrigens liebt er mich viel zu sehr. Hat er nicht zu Frau Roguin gesagt, er sei mir noch nie, auch nur in Gedanken, untreu gewesen. Mein Mann ist die verkörperte Rechtschaffenheit. Wenn irgend jemand in den Himmel kommt, so verdient er's sicherlich, Sogar im Beichtstuhl hat er nichts vorzubringen als Nichtigkeiten. Obgleich er Royalist ist – warum, das weiß er selber nicht! – protzt er doch – um dies eine herauszugreifen – ganz und gar nicht mit seiner kirchlichen Gesinnung. Frühmorgens um acht geht er ganz still für sich zur Messe. Er fürchtet Gott wirklich aus Frömmigkeit, nicht aus Angst vor dem Teufel. Wie sollte er da eine Geliebte haben! Er hängt mir vielmehr derartig am Rockzipfel, daß es langweilig ist. Er kann ohne mich nicht leben und würde sich für mich aufhängen lassen. Neunzehn Jahre lang hat er keine Heimlichkeiten vor mir gehabt. Er sagt mir alles. Seine Tochter kommt erst nach mir!.. Daß mir das erst jetzt einfällt: sie ist ja nebenan...

»Cäsarine! Cäsarine!«

Konstanze wandte den Kopf mühsam und sah sich ängstlich im Räume um, immer noch im Banne des wunderlichen, unbeschreiblichen nächtlichen Erlebnisses.

Plötzlich glaubte sie im Nebenzimmer ein helles Licht wahrzunehmen und meinte, es brenne im Haus. Als sie dann aber ein rotseidenes Tuch liegen sah, kam ihr das wieder wie eine Blutlache vor. Sofort dachte sie an Diebe. Und mit einemmal wähnte sie an der Art, wie die Stühle und Tische standen, die Spuren eines Kampfes zu erkennen. Sie erinnerte sich an das Geld in der Kasse, und diese neue Furcht verjagte ihre frühere Hilflosigkeit. Völlig außer sich stürzte sie im Hemd durch die Tür, um ihrem Manne beizustehen, den sie im Handgemenge mit Dieben glaubte: »Cäsar! Cäsar!« rief sie nunmehr laut und voller Angst.

Sie fand den Parfümhändler in der Mitte des Nebenzimmers, eine Elle in der Hand, mit der er messende Bewegungen machte. Sein grünseidener Schlafrock bedeckte ihn so notdürftig, daß er vor Kälte rote Beine bekommen hatte; er merkte es gar nicht, so vertieft war er. Als er sich endlich umwandte und zu seiner Frau sagte: »Na, Konstanze, was willst du ?« machte er wie alle in Berechnungen versunkenen Leute ein so albernes Gesicht, daß seine Frau zu lachen anfing.

»Du lieber Gott, wie komisch du aussiehst, Cäsar! Warum läßt du mich allein, ohne mir vorher ein Wort zu sagen? Ich bin vor Angst beinahe gestorben. Ich habe mir die dümmsten Gedanken gemacht. Aber was turnst du denn da halbnackt herum ? Du wirst dir einen tollen Schnupfen holen! Hörst du?«

»Ich komme ja schon, liebe Frau!« antwortete Birotteau und ging in das Schlafzimmer.

»Schnell, komm, wärm dich! Und sage mir bloß, was dir im Kopfe rumgeht!«

Frau Birotteau machte sich am Kamin zu schaffen und bemühte sich, das Feuer wieder anzufachen. »Ich bin eiskalt. So dumm von mir, im Hemd aufzustehen! Aber ich dachte wirklich, man ermordet dich.«

Der Kaufmann setzte seinen Leuchter auf den Kamin, hüllte sich ordentlich in seinen Schlafrock und holte seiner Frau ganz mechanisch einen wollenen Unterrock.

»Aber Kind, zieh dich doch an!« sagte er. »Zweiundzwanzig lang und achtzehn breit!« fuhr er dann in seinem vorigen Selbstgespräch fort; »wir bekommen einen Prachtsalon!«

»Cäsar, du wirst wohl noch gänzlich überschnappen. Träumst du?«

»Nein, liebe Frau, ich rechne aus.«

»Mit solchen Dummheiten hättest du auch bis morgen früh warten können!« sagte sie, indem sie ihren Unterrock unter der Nachtjacke zuband. Dann öffnete sie die zum Schlafzimmer ihrer Tochter führende Tür. »Cäsarine schläft, sie wird uns nicht hören. Sag mal, Cäsar, was hast du denn eigentlich?«

»Wir können einen Ball geben.«

»Einen Ball? Wir? Zum Kuckuck, du träumst wahrhaftig!«

»Ich träume nicht, mein liebes Puttchen! Du weißt, man muß sich stets nach den Umständen richten, in denen man sich befindet. Die Regierung hat mich an die Öffentlichkeit gezogen. Ich bin jetzt ein Mann der Regierung. Als solcher muß ich im Geiste der Regierung wirken. Herr de la Billardière, unser Herr Oberbürgermeister, erwartet, daß jeder Vertreter der Bürgerschaft von Paris in seinem Kreise und nach seinen Kräften die in diesen Tagen erfolgende Räumung des französischen Bodens durch die fremden Okkupationstruppen festlich begeht. Ich werde zeigen, daß ich ein echter Patriot bin, vor dem sich die sogenannten Liberalen, diese Malefizkerle, schämen müssen. Ich will ihnen, meinen Feinden, zeigen, daß Frankreich lieben den König lieben heißt!«

»Du bildest dir also ein, Feinde zu haben, du Ärmster ?«

»Na freilich haben wir Feinde, liebe Frau! Und die Hälfte, unserer Freunde im Stadtviertel sind auch unsere Feinde. Sie sagen alle: ,Birotteau kommt fabelhaft vorwärts! Er hat mit nichts angefangen, jetzt ist er Stadtverordneter! Ihm gelingt alles.' Ich sage dir, sie werden Maul und Nase aufsperren! Ich teile dir hierdurch mit, daß ich Ritter der Ehrenlegion geworden bin! Du bist die erste, die es erfährt. Majestät hat gestern die Kabinettsorder unterschrieben.«

»Dann müssen wir freilich einen Ball geben«, versetzte Frau Birotteau ganz gerührt; »aber sag mir mal, was hast du bloß Großes vollbracht, um den Orden zu kriegen?«

»Als mich Herr de la Billardière, unser Oberbürgermeister, gestern davon benachrichtigte«, erwiderte Birotteau ein wenig verlegen, »habe ich mich genau wie du gefragt, wie ich wohl zu dieser allerhöchsten Auszeichnung käme. Auf dem Heimwege aber habe ich die Berechtigung doch erkannt und Majestät beigestimmt. Erstens einmal bin ich Royalist und im Vendémiaire auf den Stufen von Saint-Roch verwundet worden! Ist das etwa nichts, damals für die gute Sache gekämpft zu haben? Ferner habe ich, wie mir die angesehensten Kaufherren versichert haben, mein Amt als Handelsrichter zur allgemeinen Zufriedenheit geführt. Endlich bin ich Stadtverordneter. Der König hat der Stadtverwaltung von Paris vier Orden zur Verfügung gestellt. Nach reiflicher Überlegung, wer dekoriert werden könnte, hat unser Herr Oberbürgermeister meinen Namen als ersten auf die Liste gesetzt. Übrigens muß mich Majestät kennen. Ich liefere nämlich den einzigen Puder, den Majestät mag. Die Firma Birotteau, Ragons Nachfolger, besitzt einzig und allein das Puderrezept der hochseligen Königin. Unser Herr Oberbürgermeister hat sich sehr für mich ins Zeug gelegt. Siehst du, Konstanze, da mir Majestät sozusagen aus freien Stücken den Orden verleiht, so wäre es einfach unanständig, wenn ich ihn ausschlüge. War es mit meiner Stadtverordnetenwürde nicht genau so? Ich mußte sie annehmen! Da es uns also mordsmäßig gut geht – wie dein Onkel Pillerault zu sagen pflegt, wenn er gute Laune hat –, so habe ich die Absicht, alles bei uns zu Hause unsern glücklichen Erfolgen gemäß zuzuschneiden. Wenn ich nun schon etwas geworden bin, so habe ich das Gottvertrauen, auch noch mehr zu werden, sogar Stadtrat, wenn das Schicksal es will. Du bist kolossal im Irrtum, liebe Frau, wenn du dir einbildest, ein Bürger erfülle seine Pflichten gegen das Vaterland, wenn er zwanzig Jahre lang Parfümerien an die verkauft, die solches Zeug lieben. Nimmt der Staat unsern Verstand in Anspruch, so müssen wir ihm den zur Verfügung stellen, und zwar ganz ebenso prompt, wie wir ihm unsere Steuern zahlen. Hast du denn Lust, ewig in deinem Kontor zu hocken? Du steckst leider Gottes schon viel zu lange darin. Der Ball soll einmal ein Fest für uns werden. Schluß mit dem Detailverkauf – für dich nämlich! Ich stecke unser altes Ladenschild ,Zur Rosenkönigin‘ in den Ofen, lasse unsere Firma ,Cäsar Birotteau, Ragons Nachfolger, Parfümhändler‘ überstreichen und dafür kurz und bündig in dicken Riesenbuchstaben draufmalen: PARFÜMERIEN. Ich verlege das Kontor, die Kasse und ein hübsches Zimmerchen für dich in den Zwischenstock. Das Hinterstübchen, das jetzige Eßzimmer und die Küche werden Lagerräume. Ich miete den ersten Stock des Nachbarhauses dazu, breche eine Tür durch die Mauer und lasse unsere Treppe nach hinten verlegen, so daß wir unmittelbar von einem Hause ins andere gehen können. Dadurch bekommen wir ein großes Zimmer, das wir neu ausstatten. Ich richte dir auch dein Zimmer neu vor. Du bekommst einen kleinen Salon für dich, und Cäsarine erhält ebenfalls ein hübsches Stübchen. Die Buchhalterin, die wir nunmehr engagieren, der erste Kommis und dein Kammermädchen – ja, ja, liebe Frau, du sollst eins haben! – werden im zweiten Stock wohnen. In den dritten kommen die Küche und die Kammern für Köchin und Lehrling. In dem vierten wollen wir unser Flaschen-, Kristall- und Porzellanhauptlager unterbringen, und in den Giebel kommt unsere Werkstatt. Die Leute können dann nicht mehr von der Straße zusehen, wie die Etiketten aufgeklebt, die Fläschchen ausgesucht, die Tüten gedreht und die Phiolen zugepfropft werden. In der Rue Saint-Denis mag das allenfalls gehen, in der Rue Saint-Honoré aber macht das einen miserablen Eindruck. Unser Geschäft muß wie ein Schmuckkästchen aussehen. Sag mal, sind wir denn die einzigen zu Ansehen gekommenen Geschäftsinhaber? Gibt es nicht Kaufleute und Fabrikanten genug, die Offiziere der Bürgergarde sind und bei Hofe verkehren? Ahmen wir ihnen nach! Vergrößern wir unser Geschäft! Wir werden damit auch in der Gesellschaft vorwärtskommen!« »Weißt du, Mann, was ich denke, wenn ich dich so anhöre? Du kommst mir vor wie einer, mit dem es nicht mehr ganz richtig ist! Besinn dich einmal auf das, was ich dir gesagt habe, als das Gerücht ging, du wolltest Stadtverordneter werden! ,Verliere vor allen Dingen deinen Kopf nicht! Du paßt dazu‘, sagte ich dir, ,wie der Esel zum Tanzen! Das Hochhinauswollen ist dein Untergang!‘ Du hast damals nicht auf mich gehört. Nun haben wir die Bescherung! Was? Du willst das Ladenschild, das uns sechshundert Francs gekostet hat, in den Ofen stecken und den guten alten Namen ,Zur Rosenkömgin‘ verschwinden lassen, der uns wirklich berühmt gemacht hat! Laß doch die andern ehrgeizig sein! Wozu sollst du denn die Kastanien aus dem Feuer holen ? Die Politik ist heutzutage so 'ne Sache. Willst du dein Vermögen vermehren, so mach es wie im Jahre 1793! Die Staatsrenten stehen jetzt zweiundsiebzig. Kaufe welche! Du kannst für zehntausend Francs kaufen, ohne daß uns diese Summe im Geschäft fehlt. Benutze die guten Zeiten, um unsere Tochter zu verheiraten! Verkaufe das Geschäft und laß uns in deine Heimat ziehen! Seit fünfzehn Jahren sprichst du schon davon, Schatzhausen zu kaufen, das hübsche kleine Gut bei Chinon, das Teiche, Wiesen, Wäldchen, Weinberge und zwei Meiereien hat. Es wirft im Jahre tausend Taler ab. Es gefällt uns beiden und wir können es billig für sechzigtausend Francs bekommen. Der jetzige Besitzer will in Regierungsdienste treten. Überleg dir mal: was sind wir als Parfümhändler? Wenn dir vor sechzehn Jahren, ehe du unsere famose Sultaninnen-Creme und das Venus-Wasser erfandst, jemand gesagt hätte, du würdest einmal das nötige Geld haben, um Schatzhausen zu kaufen, da wärst du vor Vergnügen an die Decke gesprungen. Jetzt kannst du das Gut kaufen, nach dem du dich immer so gesehnt hast, daß du oft von nichts anderm sprachst, und nun faselst du davon, das Geld, das wir im Schweiße unseres Angesichts erworben haben, für Albereien zu vergeuden. Jawohl: unseres Angesichts! Denn ich habe vor dem Kontorpult gesessen wie ein Hund vor seiner Hütte. Wir werden genug von dem Stadttrubel haben, wenn wir nur noch ein Absteigequartier bei deiner Tochter haben, nachdem sie die Frau eines Notars hier in Paris geworden ist. Acht Monate im Jahre können wir auf dem Lande leben. Das wird besser sein, als wenn wir hier die Taler in Groschen und die Groschen in Pfennige wechseln lassen. Die Staatspapiere werden schon steigen. Du kannst deiner Tochter achttausend Francs Rente mitgeben. Wir behalten zweitausend, und das Gut bezahlen wir von dem, was wir für unser Geschäft bekommen. Auf dem Lande, lieber Mann, werden wir eine große Rolle spielen, wie das hier in der Stadt nur Millionäre können.«

»Davon wollte ich ja gerade, reden, mein Liebchen«, entgegnete Birotteau. »Wenn du mich auch für sehr dumm hältst, so dumm bin ich doch nicht, daß ich nicht an all das auch schon gedacht hätte. Alexander Crottat, der Bureauchef von meinem Freunde, dem Notar Roguin, paßt für uns wie geschaffen zum Schwiegersohn. Gewiß. Er wird Roguins Praxis übernehmen. Aber glaubst du denn, daß er sich mit hunderttausend Francs Mitgift begnügen wird? Das hieße: wir geben unserem Kinde unser ganzes bares Vermögen mit. Ich will ja gern den Rest meines Lebens trocken Brot essen, wenn ich sie nur glücklich sehe, meinetwegen, wie du sagst, als die Frau des Notars Crottat. Zehntausend oder gar bloß achttausend Francs Rente genügen aber nicht, um ihm Roguins Notariat zu kaufen. Dieser kleine Alex, wie wir ihn nennen, hält uns, wie so mancher andere, für viel reicher, als wir wirklich sind. Wenn sein Vater, der dicke Pächter, der alte Geizkragen, nicht für hunderttausend Francs Land verkauft, kann Alex nicht Notar werden, denn Roguins Notariat kostet vier- bis fünfhunderttausend Francs. Crottat bekommt es nicht, wenn er nicht mindestens die Hälfte bar anzahlt. Cäsarine muß erst ihre Zweihunderttausend Francs Mitgift haben, dann ziehen wir uns gemütlich mit fünfzehntausend Francs Rente aufs Land zurück. Jawohl, wenn ich dir das begreiflich mache, dürftest du nichts dagegen einzuwenden haben!«

»Du tust ja gerade, als ob du eine Goldgrube entdeckt hättest!«

»Jawohl, mein Puttchen, das habe ich auch, jawohl!« sagte er, indem er seine Frau umfaßte und ihr vor Freuden eins hintendrauf gab. »Ich wollte von dieser Sache nicht eher mit dir reden, als bis sie perfekt wäre. Morgen werden wir wohl zum Abschluß kommen. Denke dir, Roguin hat mir eine sichere Spekulation vorgeschlagen, die er mit Ragon, deinem Onkel Pillerault und zwei andern seiner Klienten unternimmt. Wir wollen nämlich in der Umgebung der Madeleine-Kirche Grundstücke kaufen, die wir nach Roguins Berechnung für ein Viertel dessen bekommen, was sie heute in drei Jahren wert sein werden. Wenn die Mietkontrakte abgelaufen sind, können wir damit machen, was wir wollen. Wir teilen uns alle sechs in die Geschichte. Ich beteilige mich mit dreihunderttausend Francs und bekomme drei Achtel Anteil, Roguin ist indirekt Teilhaber. Sein Strohmann ist ein gewisser Charles Claparon. Dir das Weitere im einzelnen auseinanderzusetzen, wäre zu weitläufig. Wenn sich die Sache rentiert, besitzen wir in drei Jahren eine Million. Dann ist Cäsarine zwanzig Jahre alt. Wir verkaufen unser Geschäft und sind mit Gottes Gnade gemachte Leute.«

»Woher willst du denn aber deine dreihunderttausend Francs nehmen ?«

»Liebes Kindchen, von Geschäften verstehst du nichts! Ich werde die hunderttausend Francs nehmen, die mir Roguin verwaltet. Vierzigtausend nehme ich hypothekarisch auf unser Fabrikgebäude und Grundstück in der Vorstadt du Temple auf. Zwanzigtausend Francs besitzen wir bar. Macht zusammen hundertsechzigtausend. Die fehlenden hundertvierzigtausend Francs werde ich von dem Bankier Charles Claparon gegen Wechsel bekommen. Damit haben wir die nötigen hunderttausend Taler. Die Wechsel werden immer wieder prolongiert, bis wir sie von unserm Gewinne bezahlen können. Unter Umständen würde mir auch Roguin Geld zur Deckung etwa fehlender Beträge gegen eine fünfprozentige Verschreibung auf meinen Anteil verschaffen. Aber das wird gar nicht nötig sein, denn ich habe ein neues Haarpflegemittel erfunden, ein großartiges Haaröl, dessen Hauptbestandteil ich aus Nüssen mittels einer neuen hydraulischen Presse herstellen werde. Nach meiner Berechnung werde ich binnen Jahresfrist mindestens hunderttausend Francs damit verdient haben. Ich will ein Plakat drucken lassen, das mit den Worten beginnen soll: ,Weg mit den Perücken!' Das wird einen Bombenerfolg haben. Du hast meine schlaflosen Nächte gar nicht bemerkt. Bereits ein Vierteljahr lang raubt mir der Erfolg der Konkurrenz mit ihrem Macassar-Öl den Schlaf. Das Macassar-Öl will ich vom Markte verdrängen.«

»Das also sind die schönen Projekte, die dir seit acht Wochen den Kopf verdrehen, ohne daß du mir ein Wort davon sagst! Ich habe eben vorhin geträumt, ich stände an unserer eignen Ladentür als Bettlerin. Das ist eine Warnung des Himmels! Es wird nicht: mehr lange dauern, so haben wir keinen roten Heller mehr. So lange ich lebe, wird nichts aus der Sache! Verstehst du mich, Cäsar? An der Sache ist etwas faul, ohne daß du's merkst. Du bist zu ehrlich und rechtschaffen, um anderen Leuten Gaunereien zuzutrauen. Glaubst du, man böte dir zum Spaß Millionen an? Du beraubst dich aller deiner Barmittel. Du spekulierst über deine Verhältnisse hinaus. Und wenn dein Haaröl keinen Erfolg hat? Wenn du Geld brauchst und die Sache mit den Grundstücken schief geht, womit willst du dann deine Wechsel bezahlen ? Etwa mit deinen Haarölflaschen ? Um nach etwas mehr auszusehen, willst da auf deiner Firma deinen Namen nicht mehr führen, die ›Rosenkönigin‹ in den Ofen stecken, anderseits aber Plakate und Reklamen in die Welt setzen, die den Namen Cäsar Birotteau an jeder Straßenecke und an jeder Neubauplanke ausschreien?«

»Du begreifst die Geschichte noch nicht so richtig! Ich werde in irgendeinem Hause in der Nähe der Rue des Lombards eine Filiale unter der Firma Popinot & Co. errichten und den kleinen Anselm hinsetzen. Auf die Weise zeige ich mich auch Herrn und Frau Ragon dankbar; ich etabliere ihren Neffen, damit er sein Glück machen kann. Es will mir scheinen, als habe es den armen Ragons seit einiger Zeit tüchtig in die Petersilie gehagelt!« »Ach was, die Leute wollen bloß dein Geld!« »Welche Leute denn nur, mein Liebchen? Etwa dein Onkel Pillerault, der uns zärtlich liebt und alle Sonntage unser Tischgast ist? Oder etwa der biedere alte Ragon, von dem wir unser Geschäft übernommen haben, der seit vierzig Jahren als Muster der Rechtlichkeit gilt, mit dem wir unsern Doppelkopf spielen? Oder gar Roguin, der seine siebenundfünfzig Jahre alt und seit fünfundzwanzig Jahren Notar ist? Im Notfalle würden mir diese meine Kompagnons helfen. Wo soll denn da was faul sein, mein Herz ? Ich muß dir überhaupt mal die Leviten lesen. Du bist von jeher schrecklich mißtrauisch. Und wenn auch nur ein Dreier in der Kasse lag, hast du immer gedacht, er würde uns von unsern Kunden gemaust. Man muß dich erst himmelhoch bitten, wenn man dich reich machen will. Du hast so gar nicht den Ehrgeiz der Pariserin. Ohne dein ewiges Gejammere wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt! Hätte ich auf dich gehört, so hätte ich nie die Sultaninnen-Creme und nie das Venus-Wasser erfunden. Unser Geschäft hatte uns bis dahin den Lebensunterhalt verschafft, aber erst durch diese beiden Erfindungen und durch unsere Seifen haben wir die hundertsechzigtausend Francs verdient, die wir alles in allem besitzen. Ohne mein Genie – und ich bin ein Parfümeurgenie! – wären wir Kleinkrämer geblieben, würden mit knapper Not unser Dasein fristen, und ich wäre alles andere denn ein angesehener Kaufmann, den man zum Handelsrichter und Stadtverordneten wählt. Weißt du, was ich dann wäre ? Ein Spießer und Budikenbesitzer, wie es, ohne ihn beleidigen zu wollen, der alte Ragon war. Alle Achtung vor den kleinen Kaufleuten! Wir sind selber welche gewesen und wären beinahe welche geblieben! Dann hätten wir vierzig Jahre lang Parfüm verkauft und hätten. – ganz wie Ragon – dreitausend Francs Rente zusammengeschuftet, mit der wir notdürftig auskämen. Hätte ich dir gefolgt, dir und deiner Zaghaftigkeit, dir, die du dich ewig fragst, ob du auch morgen noch hast, was du heute besitzest – dann hätte ich heute kein Ansehen, keinen Orden und wäre nicht dabei, eine politische Größe zu werden. Jawohl, schüttle nur den Kopf! Wenn unsere Sache reüssiert, kann ich noch Abgeordneter werden. Ich heiße nicht umsonst Cäsar. Mir glückt alles! Es ist unglaublich.: außer dem Hause gelte ich bei jedermann für einen gescheiten und schlauen Kerl, hier aber hält mich gerade die, der zuliebe ich mich totschinde und die ich glücklich machen will, für ein Kamel!«

»Ach was, Cäsar, wenn du mich liebst, so laß mich doch nach meiner Fasson glücklich werden! Wir haben beide keine besondere Erziehung genossen. Wir können weder große Worte noch Bücklinge machen. Wie sollen wir da im öffentlichen Leben glücklich werden? Ich für meinen Teil würde es viel lieber in Schatzhausen. Ich habe immer die Tiere im Hause und im Freien geliebt. Ich würde für mein Leben gern Landwirtin. Wir wollen unser Geschäft verkaufen und Cäsarine verheiraten! Folge deiner treuen Gattin! Wir verbringen die Winter bei unserm Schwiegersohn in Paris. Wir werden glücklich sein, und weder Politik noch Handel werden unser friedliches Leben stören. Wozu andere ruinieren? Genügt uns unser jetziger Besitz nicht? Kannst du vielleicht als Millionär zweimal zu Mittag essen? Oder zwei Frauen brauchen ? Nimm dir Onkel Pillerault zum Muster! Er hat sich klugerweise mit kleiner Habe begnügt und führt ein kreuzfideles Dasein. Wozu braucht man schöne Möbel? Ich bin überzeugt, du hast mir eine neue Einrichtung bestellt. Ich habe Braschon im Hause gesehen und er war sicher nicht da, um Parfüm zu kaufen.«

»Ganz recht, meine Liebe. Die Möbel sind bestellt. Der Umbau beginnt morgen und wird von einem Künstler geleitet, den man mir empfohlen hat.«

»Ach du meine Güte!«

»Du bist wohl nicht recht gescheit, Herz! Willst du wirklich im Alter von siebenunddreißig Jahren – frisch und hübsch wie du bist – auf dem Lande versauern ? Ich bin ja auch erst neununddreißig! Der Zufall eröffnet mir eine sichere Laufbahn. Ich betrete sie. Mach ich meine Sache gut, dann kann ich eine angesehene Rolle unter den Pariser Bürgern spielen. Ich wäre nicht der erste, dem das glückte. Ich kann das Haus Birotteau gründen, genau so gut wie die Keller, die Nucingen, die Roguin, die Lebas, die Popinot, die Matifat in ihren Stadtvierteln berühmt geworden sind. Also los! Unser Unternehmen ist todsicher.«

»Todsicher?«

»Todsicher! Aber freilich! Schon seit acht Wochen rechne ich mir die Geschichte aus. Ohne daß ich mir's anmerken lasse, ziehe ich bei der Behörde, bei Baumeistern und Unternehmern Erkundigungen über das Bauen ein. Grindot, der junge Architekt, der unser Haus umbauen soll, ist in Verzweiflung, daß er kein Geld hat, um auch an der Spekulation teilzunehmen.«

»Was? Du willst Häuser bauen! Man will euch mit diesen Spekulationen nur hineinlegen.«

»Kann man Leute wie Pillerault, Claparon, Roguin hineinlegen? Der Gewinn ist so sicher wie bei unserer Sultaninnen-Creme, das kannst du glauben!«

»Sag mal, mein lieber Freund, warum will Roguin spekulieren, wo man ihm sein Notariat abkaufen will und er dann sein Schäfchen im Trocknen hat? Hm! Das gibt einem zu denken! Ich habe ihn schon ein paarmal sorgenvoller als einen Staatsminister vorübergehen sehen, mit niedergeschlagenem Blick, wie ich ihn gar nicht leiden kann. Seit fünf Jahren sieht er mir gar nicht vertrauenerweckend aus. Er muß heimliche Sorgen haben. Wer garantiert dir, daß er sich nicht aus dem Staube macht, sobald er euer Geld in den Klauen hat? Kennen wir ihn denn wirklich ? Und wenn er auch seit fünfzehn Jahren bei uns verkehrt, so möchte ich doch meine Hand nicht für ihn ins Feuer legen. Weißt du, er hat einen schlechten Ruf und lebt mit seiner Frau in Unfrieden. Sicherlich hat er Weiber, die ihn ruinieren. Manchmal, wenn ich mich früh anziehe, blicke ich durch die Jalousien und sehe, wie er im Morgengrauen wer weiß woher gerade erst drüben in sein Haus hineingeht. Er kommt mir vor wie einer, der irgendwo noch ein zweites Leben führt. Mann wie Frau machen beide, was sie wollen! Ist das eines Notars würdig? Sein Busenfreund ist du Tillet, der Gauner, unser ehemaliger Kommis. Aus dieser Freundschaft sehe ich auch nichts Gutes kommen. Wenn er ihn richtig kennt, dann begreife ich nicht, warum er so dicke Freundschaft mit ihm hält. Merkt er aber nicht, was an du Tillet ist, dann ist er geradezu mit Blindheit geschlagen. Du wirst mir vorhalten, seine Frau habe eine Liebelei mit du Tillet. Na ja! Ich halte von einem Manne nicht viel, der auf die Ehre seiner Frau nicht ebensoviel hält wie auf seine eigene. Schließlich müssen auch die jetzigen Besitzer eurer Grundstücke tüchtige Esel sein, wenn sie für einen Taler etwas weggeben, was dreißig wert ist. Wenn dir ein Kind begegnet, das nicht weiß, was ein Zwanzigfrancsstück wert ist, dann belehrst du es doch. Kurz und gut: euer Geschäft kommt mir nicht sauber vor. Das ist meine Ansicht. Ich sage dir das, ohne dich beleidigen zu wollen.«

»Mein Gott, die Weiber sind doch zuweilen zu närrisch. Sie werfen alles durcheinander. Nähme Roguin nicht an dem Geschäfte teil, würdest du zu mir sagen: ,Hör mal, Cäsar, du läßt dich da in eine Sache ein, an der sich Roguin nicht beteiligt; sie wird also nicht viel wert sein!' Nun ist er gleichsam eine Bürgschaft für uns. Und du sagst mir ...«

»Aber du hast mir doch erzählt, er beteilige sich nur unter dem Namen Claparon ?«

»Natürlich! Ein Notar darf sich offiziell doch nicht an einer Spekulation beteiligen!«

»Warum tut er's denn überhaupt, wenn es ihm das Gesetz verbietet? Was kannst du darauf antworten, du, der du am Buchstaben der Gesetze hängst?«

»Laß mich doch nur ausreden! Roguin nimmt also an der Sache teil. Erst hast du gesagt, das Geschäft tauge nichts. Ist das vernünftig? Und jetzt sagst du, er handle gegen das Gesetz. Wo es erforderlich ist, wird er schon ans Licht treten. Dann sagst du, er sei reich. Kann man das nicht auch von mir sagen? Wären Ragon und Pillerault wohl zu mir gekommen und hätten mir gesagt: ,Warum beteiligen Sie sich denn an der Sache, da Sie doch reich sind wie ein Schweinehändler?'«

»Bei Kaufleuten ist das was anderes als bei Notaren.«

»Na, kurz und gut: mein Gewissen ist rein. Die Leute, die ihre Grundstücke verkaufen, geben sie nur aus Not her. Wir bestehlen sie nicht mehr als die, denen wir Renten zu fünfundsiebzig abkaufen. Heute kaufen wir die Grundstücke zu ihrem heutigen Wert, in zwei Jahren wird er ein anderer sein, ganz wie bei den Renten. Weißt du, liebe Konstanze, daß man Cäsar Birotteau niemals auf einer Tat ertappen wird, die im geringsten gegen die strengste Rechtlichkeit, gegen das Gesetz, gegen das gute Gewissen, gegen die nötige Rücksichtnahme verstößt. Wie kann man einen Mann, der seit achtzehn Jahren Kaufmann ist, in seinem eigenen Hause verdächtigen?«

»Na, beruhige dich nur, Cäsar! Eine Frau, die genau diese achtzehn Jahre mit dir zusammenlebt, die kennt dich gründlich! Übrigens bist du der Herr im Hause. Unser Vermögen hast allein du erworben. Nicht wahr? Es gehört also dir; du kannst es auch wieder verjuxen! Und selbst wenn wir ins äußerste Elend gerieten, würde weder ich noch deine Tochter dir jemals auch nur den leisesten Vorwurf machen. Aber das sage ich dir: als du deine Sultaninnen-Creme und das Venus-Wasser erfandest, was riskiertest du dabei? Fünf- bis sechshundert Francs! Jetzt aber setzt du dein ganzes Vermögen, auf eine Karte! Du spielst nicht allein und du weißt nicht, ob deine Mitspieler nicht gerissener sind als du. Gib meinetwegen deinen Ball, laß dein Haus umbauen, gib zehntausend Francs dafür aus! Das schadet nichts, das ruiniert uns nicht. Aber deine Grundstücksspekulationen mißbillige ich ganz entschieden. Du bist Parfümhändler, bleibe das und werde kein Grundstücksmakler. Wir Frauen haben einen Instinkt, der uns nicht betrügt. Ich habe dich gewarnt. Jetzt handle nach deinem Gutdünken! Du bist Handelsrichter gewesen, also kennst du die Gesetze! Du hast deine Sache bisher gut gemacht. Ich füge mich. Aber zittern werde ich, bis ich unser Vermögen wieder gesichert und Cäsarine verheiratet sehe. Gebe Gott, daß sich mein Traum nicht erfüllt!«

Diese Nachgiebigkeit ging Birotteau gegen den Strich. Er nahm seine Zuflucht zu einer harmlosen kleinen List, wie er das bei ähnlichen Gelegenheiten immer machte.

»Weißt du, Konstanze, ich habe mich noch nicht endgültig verpflichtet, wenn auch alles so gut wie abgemacht ist.«

»Es ist schon gut, Cäsar! Reden wir nicht mehr davon! Ehre vor Reichtum! Komm, leg dich wieder schlafen, mein Lieber! Das Feuer geht aus, und es ist kein Holz mehr da. Übrigens schwatzt sich's immer besser im Bett, wenn du weiterreden willst... Ach, der häßliche Traum! Mein Gott, sich doppelt zu sehen, schrecklich! Ich werde mit Cäsarine alle Tage für den glücklichen Verlauf deines Grundstückhandels beten.«

»Gottes Hilfe kann ja nichts schaden«, sagte Birotteau ernst, »aber meine Nußessenz ist auch nicht ohne! Genau wie früher die Sultaninnen-Creme habe ich sie durch Zufall entdeckt. Damals war es ein Buch, das mir in die Hände geriet. Diesmal ein Kupferstich: Hero und Leander. Eine Frau, die Öl auf das Haupt ihres Geliebten gießt. Ist das nicht allerliebst? Die sichersten Spekulationen, sind die, die sich auf die Eitelkeit, die Eigenliebe und die Großmannssucht richten. Diese Gefühle sterben niemals aus.«

»Sehr richtig!«

»In einem gewissen Alter laufen sich die Leute die Beine ab, um Haare zu bekommen, wenn sie keine mehr haben. Die Friseure haben mir schon lange gesagt, daß nicht allein das Macassar-Öl gut geht, sondern überhaupt alle Haarfärbemittel und Tinkturen, die angeblich das Wachsen des Haares fördern sollen. Seitdem Frieden im Lande herrscht, haben die Männer mehr Zeit für die Frauen übrig, und die lieben die Kahlköpfe nicht. Nicht wahr, Liebchen? Die Nachfrage nach diesen Artikeln erklärt sich also aus der politischen Lage. Ein Haarkonservierungsmittel würde also wie warme Semmeln abgehen, und zwar um so mehr, als meine Essenz von einer wissenschaftlichen Autorität unbedingt für gut erklärt werden wird. Der gute alte Professor Vauquelin muß mir da noch mal beispringen! Morgen will ich ihm meine Idee zur Prüfung unterbreiten. Ich werde ihm den seltenen alten Kupferstich dedizieren, den ich nach zweijährigem Suchen endlich in Deutschland auf getrieben habe: die Sixtinische Madonna! Er beschäftigt sich gerade mit Haaruntersuchungen. Chiffreville, sein Assistent im chemischen Laboratorium, hat mir's gesagt. Wenn sich meine Erfindung mit seinen Ansichten deckt, wird sie allgemein gekauft werden. Meine Idee ist bares Geld; ich wiederhole dir's. Ich kann schon nicht mehr schlafen. Glücklicherweise hat der kleine Popinot wundervolles Haar. Wenn dazu irgendeine Ladenfee, deren Haar bis auf die Erde reicht, bezeugt, daß sie das unserm Öl verdankt, dann werden die Grauköpfe drangehen wie die Mäuse an den Speck. Und was deinen Ball anbelangt, Kindchen: du weißt, ich bin nicht bösartig, aber dem Gauner, dem du Tillet, der sich auf sein Geld wer weiß was einbildet und mich an der Börse schneidet, dem möchte ich zu gerne mal eins auswischen. Er weiß, daß ich eine seiner Sünden kenne, die nicht besonders schön war. Vielleicht war ich damals zu gutmütig mit ihm. Ist's nicht komisch, daß man gerade für seine guten Taten leiden muß, ich meine hienieden. Ich war stets väterlich zu ihm, und du weißt ja gar nicht, was ich alles für ihn getan habe.«

»Mir gruselt gleich, wenn du bloß an diese Geschichte tippst! Hättest du gewußt, was er mit dir vorhat, so hättest du den Diebstahl der dreitausend Francs nicht vertuscht. Ich weiß sehr wohl, auf welche Weise die Sache damals beigelegt worden ist. Hättest du ihn dem Staatsanwalt übergeben, so hättest du vielleicht vielen Leuten einen Dienst erwiesen.«

»Was hat er denn mit mir vor?«

»Nichts! Wärst du aufgelegt, mich jetzt anzuhören, so würde ich dir einen guten Rat geben, Cäsar, nämlich den, dich nicht wieder mit du Tillet zu befassen!«

»Wäre es nicht sehr auffällig, wenn ich einen früheren Kommis von mir, der sein erstes Geschäft mit den zwanzigtausend Francs gemacht hat, für die ich mich verbürgt habe, ausgeschlossen haben wollte? Ach was! Man muß das Gute tun um des Guten willen! Vielleicht hat er sich inzwischen auch gebessert.«

»Es wird schon alles drüber und drunter gehen!«

»Ach, du mit deinem Drunter und Drüber! Es wird alles wie am Schnürchen gehen. Hast du übrigens schon vergessen, was ich von dem Durchbruch nach dem Nachbarhaus gesagt habe? Ich habe mich mit Nachbar Cayron, dem Schirmhändler, bereits verständigt. Wir müssen morgen zu Molineux gehen, dem Hausbesitzer von nebenan. Ich sage dir, ich habe morgen so viel zu tun wie ein Minister!«

»Du hast mir mit deinen Plänen so richtig den Kopf verkeilt. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Im übrigen, Cäsar, will ich jetzt schlafen!«

»Na, dann gute Nacht oder vielmehr guten Morgen! Ich sage dir, du wirst noch steinreich, so wahr ich Cäsar heiße!«

Einige. Augenblicke nachher schnarchten Cäsar und Konstanze friedlich miteinander um die Wette.

Cäsar Birotteaus Vater, Jakob Birotteau, war in der Gegend von Chinon auf dem Rittergute Les Trésorières, zu deutsch also Schatzhausen, Weingärtner; er heiratete das Kindermädchen der Besitzerin und hatte drei Söhne. Die Geburt des jüngsten kostete der Mutter das Leben. Auch der Vater starb sehr bald darauf. Die Gutsherrin, die ihr früheres Kindermädchen liebgehabt hatte, ließ Franz, den ältesten Sohn des Gärtners, zugleich mit ihren eigenen Töchtern erziehen und schickte ihn dann in ein Priesterseminar. Während der Revolution mußte sich Franz Birotteau verborgen halten und das gefahrvolle Wanderleben eines brotlosen Geistlichen führen. Er entging damals nur mit knapper Not der Guillotine. Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, war er nun längst Pfarrer an der Kathedrale zu Tours. Er hatte diese Stadt nur ein einziges Mal verlassen, um seinen Bruder zu besuchen. Der Pariser Tumult beängstigte den braven Priester dermaßen, daß er das Haus gar nicht zu verlassen wagte. Er sah in jeder großstädtischen Kleinigkeit ein Weltwunder und kam aus dem Erstaunen gar nicht heraus. Nachdem er sich eine Woche in Paris aufgehalten, fuhr er nach Tours zurück und gelobte sich, nie wieder in jenes Sündenbabel zurückzukehren.

Hans Birotteau, der zweite Sohn des Gärtners, wurde Soldat und brachte es während der ersten Revolutionsjahre schnell bis zum Hauptmann. Als Macdonald im Gefecht an der Trebbia Freiwillige zum Sturm auf eine Batterie aufrief, meldete sich Birotteau mit seiner Kompanie. Er fiel. Offenbar fügte es das Schicksal der Birotteau, daß sie überall, wo sie sich vor dem großen Haufen hervortun wollten, von den Menschen oder den Ereignissen niedergedrückt und vernichtet wurden.

Das jüngste Kind des Weingärtners ist der Held unserer Geschichte. Als Cäsar mit vierzehn Jahren lesen, schreiben und rechnen konnte, verließ er seine Heimat und kam mit einem einzigen Goldstück in der Tasche nach Paris, um dort sein Glück zu versuchen. Auf die Empfehlung des Apothekers in Tours nahmen ihn Herr und Frau Ragon, die ein Parfümeriengeschäft hatten, als Lehrling an. Cäsar besaß damals ein Paar Schuhe mit Nägeln auf den Sohlen, ein Paar Strümpfe, eine blaue Hose, eine bunte Weste, eine Bauernjacke, drei grobleinene Hemden und einen Knotenstock. Sein Haar trug er ganz kurz geschnitten wie die Chorknaben. Gesund war er wie just ein strammer Bauernjunge. Bisweilen gab er sich, wie das alle Tourainer gern tun, der Faulheit hin. Doch wurde dieser Hang durch seinen Drang vorwärts zu kommen wieder wettgemacht. Cäsar war geistig ungeschult, besaß aber dafür einen natürlichen Rechtssinn und viel Zartgefühl, Eigenschaften, die er von seiner Mutter geerbt hatte, der, wie die Leute sagen, ein goldenes Herz eigen war. Cäsar erhielt monatlich sechs Francs, freie Kost und eine dürftige Kammer im Giebel neben der der Köchin. Die Kommis, von denen er das Verpacken, die Ausführung von Bestellungen, das Kehren des Ladens und der Gasse erlernte, trieben ihren Scherz mit ihm, während sie ihn ausbildeten, wie das in einem Laden so Sitte ist, wo Hänselei ein Hauptelement der Erziehung ist. Herr und Frau Ragon behandelten ihn wie ein Haustier. Niemand beachtete, daß er unermüdlich tätig war, obgleich ihm abends seine durch das Straßenpflaster zerschundenen Füße schrecklich brannten und er sich am ganzen Körper wie zerschlagen fühlte. Diese rauhe Schule des brutalen Egoismus der Großstadt bewirkte, daß ihm das Pariser Leben sehr hart ankam. Wenn er abends seiner Heimat gedachte, wo jeder Bauer in Gemütlichkeit arbeitete, wo der Maurer jeden Stein erst hundertmal betrachtet und wendet, ehe er ihn einsetzt, wo die Faulheit noch die Schwester der Arbeit ist, weinte er. Aber schließlich schlief er ein, ohne daß er dazu kam, Fluchtpläne zu schmieden. Denn am nächsten Morgen harrten seiner wiederum tausend Gänge und er gewöhnte sich schließlich an seine Pflicht wie ein Kettenhund. Wenn er sich mitunter beklagte, so lachte ihn der erste Kommis, Cölestin Crevel, gutmütig aus.

»Siehst du, mein Junge«, sagte der, »in der ›Rosenkönigin‹ ist nicht alles rosig, und die gebratenen Tauben fliegen dir nicht ins Maul; du mußt sie erst jagen, dann fangen und dir auch noch die Butter verdienen, mit der du sie braten willst!«

Die Köchin, eine stattliche Tochter der Picardie, ließ sich die besten Bissen am liebsten selber schmecken und geruhte mit Cäsar nur dann zu sprechen, wenn sie sich darüber grämte, daß ihr die Herrschaft zu sehr auf die Finger sah. Als dieses Mädchen im Anfang von Cäsars Lehrzeit einmal sonntags zu Hause zu bleiben genötigt war, knüpfte sie mit ihm ein Gespräch an. Dem armen Bauernjungen, der nur aus Zufall die ersten Klippen seiner Laufbahn glücklich umsegelt hatte, kam die sonntäglich saubere Ursula allerliebst vor. Wie alle heimatlosen Knaben verliebte er sich in das erste beste Frauenzimmer, das ihm zulächelte. Sie nahm Cäsar unter ihre Fittiche und nun entspann sich eine Art Herzensbund, über den die Kommis unbarmherzig spotteten. Zum Glück tauschte die Köchin nach zwei Jahren unsern Cäsar gegen einen Landsmann aus, der in der Picardie durchgebrannt war, um nicht Soldat werden zu müssen, und sich in Paris zu verbergen suchte. Er war zwanzig Jahre alt, besaß ein paar Hufen Land und ließ sich von Ursula heiraten.

Während dieser zwei Jahre hatte die Köchin ihren kleinen Freund tüchtig herausgefüttert und ihn in verschiedene Geheimnisse des Pariser Lebens, besonders in seinen Tiefen, eingeweiht. Aus Eifersucht brachte sie ihm eine tiefe Abscheu gegen Spelunken und schlechte Lokale bei, deren Gefahren ihr nicht unbekannt waren. Im Jahre 1792 waren Cäsars Füße bereits an das Straßenpflaster gewöhnt, ebenso seine Schultern an das Kistentragen und sein Geist an die Gerissenheit der Pariser. Als ihm Ursula den Laufpaß gab, fand er sich daher schnell in sein Schicksal. Sie hatte sowieso seiner Sentimentalität nicht recht entsprochen. Grob und schamlos, falsch und gierig, egoistisch und trunksüchtig, hatte sie Birotteaus Unschuld an sich gerissen, ohne ihn dafür genügend zu entschädigen. Der arme Junge bedauerte zuweilen, daß er in naiver Liebe an ein Geschöpf gefesselt war, mit dem er innerlich nichts gemein hatte. In dem Augenblick, als er wieder der freie Herr seines Herzens wurde, war er erwachsen, wenngleich er erst sechzehn Jahre alt war. Sein Verstand hatte sich im Umgang mit Ursula und unter den Späßen der Kommis entwickelt. Nunmehr durchschaute er das Wesen des kaufmännischen Lebens mit Augen, hinter deren Einfalt sich Schlauheit verbarg. Er beobachtete die Kunden, erbat sich in geschäftslosen Augenblicken Erklärungen über die Waren, deren Qualität und Lagerort er sich merkte, und im Handumdrehen kannte er die einzelnen Artikel, ihre Preise und Auszeichnungen besser als sonst ein Neuling. Herr und Frau Ragon gewöhnten sich seitdem an seine Brauchbarkeit.

An dem Tage, da die schreckliche Aushebung des Jahres II auch das Haus des Bürgers Ragon heimsuchte, rückte Cäsar Birotteau zum Zweiten Kommis auf. Er bekam nunmehr fünfzig Francs Monatsgehalt und durfte mit Herrn und Frau Ragon am Tische sitzen. Als zweiter Kommis in der »Rosenkönigin« bekam er eine Stube für sich, in die er seine bis dahin gesammelten kleinen Besitztümer einschließen konnte; das hatte er sich schon lange gewünscht. Er hatte sich übrigens bereits sechshundert Francs gespart.

An den Dekadetagen, wo damals nach dem Kalender der Republik die Arbeit ruhte, nahm er an dem Leben und Treiben der jungen Leute jener Zelt teil, denen die Mode vorschrieb, rohe Manieren zur Schau zu tragen. Dadurch bekam dieser sanftmütige, bescheidene Dorfjunge ein Benehmen, das ihn äußerlich nicht von seinesgleichen unterschied. Man vergaß seine bäuerliche Herkunft. Gegen Ende des genannten Jahres wurde er wegen seiner Rechtlichkeit Kassierer. Die stattliche Frau Ragon besorgte seine Wäsche und so gehörte er nunmehr zur Familie seines Prinzipals.

Im Vendémiaire 1794 erwarb Cäsar für die zweitausend Francs, die er sich bis dahin gespart hatte, Assignaten im Nennwerte von sechstausend Francs und kaufte Renten, die damals dreißig standen. Dieses erste Geschäft machte ihm viel Freude. Fortan verfolgte er den Kurs der Staatspapiere und den der Politik. Jede Kunde von Glück oder Unglück, das die Ereignisse jener Tage begleitete, hallte in ihm wider. Ragon, der ehemalige Hofparfümeur Ihrer Majestät der Königin Marie-Antoinette, vertraute während dieser kritischen Zeit unserm Cäsar seine Anhänglichkeit an die gestürzten Tyrannen an. Das Bekenntnis ward für den jungen Mann im höchsten Grade bedeutungsvoll.

Die abendlichen Gespräche, die nach Ladenschluß stattfanden, wenn Kasse gemacht und die Straße ruhig geworden war, begeisterten den Tourainer, und indem er Royalist wurde, gehorchte er damit nur angeborenen Gefühlen. Die Erzählungen von den tugendsamen Taten Ludwigs XVI. und die Anekdoten, durch die das Ehepaar die Königin in den Himmel hob, setzten Cäsars Phantasie in Flammen. Das schreckliche Schicksal der beiden gekrönten Häupter, die nicht fern von Ragons Laden unter dem Fallbeil verblutet waren, empörte sein empfindsames Herz und erregte seinen Haß gegen eine Regierung, die unschuldiges Blut vergoß und gleichgültig fließen sah. Bei seiner kaufmännischen Aufmerksamkeit erkannte er an dem völligen Daniederliegen des Handels, daß politische Stürme dem Handel und der Industrie stets feindlich sind. Übrigens war er viel zuviel Parfümhändler, um eine Republik nicht zu hassen, die auf allen Köpfen Titusfrisuren sehen wollte und das Pudern der Haare aus der Mode brachte. Da Ruhe im Staate, wie sie der Absolutismus zeitigt, Geld und Leben sichert, wurde er ein Fanatiker des Königtums. Wie ihn Ragon so auf dem, besten Wege sah, machte er ihn zu seinem ersten Kommis und weihte ihn in das intimste Geschäftsgeheimnis der »Rosenkönigin« ein. Einige ihrer Kunden waren die eifrigsten und treuesten Parteigänger der Bourbonen. Gewisse Briefe zwischen Paris und dem Westen gingen durch die Firma Ragon. Den jungen Birotteau begeisterten diese Beziehungen zu royalistischen Größen dermaßen, daß er sich an der Verschwörung der vereinigten Royalisten und Terroristen beteiligte, die am 13. Vendémiaire gegen den in den letzten Zügen liegenden Konvent ausbrach. Cäsar hatte die Ehre, auf den Stufen der Kirche von Saint-Roch gegen Bonaparte zu fechten und verwundet zu werden. Der Ausgang dieses Handstreichs ist allgemein bekannt. In dem Moment, wo der Adjutant Barras – Napoleon Bonaparte – aus dem Dunkel seiner Existenz heraustrat, verschwand Birotteau von dem Schauplatze der politischen Ereignisse und wurde dadurch gerettet. Einige Freunde trugen den kampflustigen Kommis in die »Rosenkönigin« zurück, wo er in seinem Giebelstübchen von Frau Ragon verbunden wurde. Kein Mensch dachte mehr an ihn. Dieses militärische Intermezzo im Leben Birotteaus war wie ein Gewitter vorübergebraust. Während der vier Wochen seiner Genesung stellte er gründliche Betrachtungen über das lächerliche Bündnis von Politik und Parfümgeschäft an. Er blieb zwar Royalist, faßte aber den Entschluß, einfach ein royalistischer Parfümhändler zu sein, ohne sich je wieder politisch zu kompromittieren. Er widmete sich fortan seinem Geschäfte mit Leib und Seele.

Als Herr und Frau Ragon am 18. Brumaire an der königlichen Sache verzweifelten, entschieden sie sich, das Geschäft aufzugeben und sich als brave Bürgersleute nicht mehr mit Politik zu befassen. Um ihr Geschäftskapital wieder herauszubekommen, brauchten sie einen Mann, der mehr Geschäftssinn als Ehrgeiz und mehr gesunden Menschenverstand als besondere Fähigkeiten hatte. Ragon wandte sich an Birotteau. Der nunmehr Zwanzigjährige, der sich bis dahin ein Kapital erworben hatte, das ihm tausend Francs Zinsen im Jahre brachte, trug zunächst Bedenken. Sein Ehrgeiz beschränkte sich darauf, sich in die Nähe von Chinon zurückzuziehen, sobald er eintausendfünfhundert Francs Jahreszinsen hätte; er erhoffte dies durch ein weiteres Steigen der Staatsrenten, sobald sich der Erste Konsul vollständig in den Tuilerien festgesetzt hätte. Wozu sollte er seine anständige, wenn auch bescheidene Unabhängigkeit durch geschäftliche Unternehmungen mit jugendlichem Leichtsinn wieder aufs Spiel setzen ? Er hätte sich ja früher nicht träumen lassen, je das zu besitzen, was er sich nun glücklich erworben hatte. Seine Gedanken liefen darauf hinaus, in der Touraine eine Frau zu heiraten, die ebenso viel hätte wie er; dann wollte er sich Schatzhausen kaufen, das kleine Gut, das er sich, so weit er zurückdenken konnte, immer ersehnt hatte, und das er hochzubringen gedachte. Er wollte in der Verborgenheit ein glückliches Leben führen, indem er sein Gut bewirtschaftete. Kurz und gut, er war im Begriffe, den Antrag abzulehnen, als die Liebe mit einemmal in sein Leben eingriff und seinen Ehrgeiz verzehnfachte.

Seit Ursulas Verrat war Cäsar solid geblieben, sowohl aus Angst vor den Gefahren, denen man in Paris bei Liebesabenteuern ausgesetzt ist, als auch im Joche seiner angestrengten Tätigkeit. Aber die Sinnlichkeit fordert schließlich ihr Recht. Die Ehe ist deshalb in den mittleren Ständen unumgänglich, denn nur auf diese Weise kann man sich hier eine Frau erringen und zu eigen machen. So erging es auch unserm Cäsar Birotteau. In der »Rosenkönigin« ruhte alles auf den Schultern des ersten Kommis, so daß er keinen Augenblick Zeit zu Vergnügungen hatte. Und so kam es, daß die Begegnung mit einem hübschen Mädchen, das auf einen weniger soliden jungen Kaufmann nur einen flüchtigen Eindruck gemacht hätte, auf den braven Cäsar die größte Wirkung ausübte.

Als Birotteau an einem schönen Junitage über den Pont Marie nach der Saint Louis-Insel schlenderte, erblickte er am Ende des Quai d'Anjou vor der Tür eines Ladens ein junges Mädchen. Konstanze Pillerault war Direktrice in dem Modewarengeschäft »Zum kleinen Matrosen«. Die Wohlfeilheit aller Novitäten, die im »Kleinen Matrosen« zu kaufen waren, verschaffte diesem Geschäft, trotz seiner .sehr ungünstigen Lage, einen unerhörten Zulauf. Konstanze war auffallend schön, so daß ihretwegen mancher junge und alte Geck vor dem Schaufenster stehenblieb. Der erste Kommis der »Rosenkönigin«, der zwischen Saint-Roch und der Rue de la Sourdière wohnte und sich ausschließlich seinem Geschäfte widmete, hatte bis dahin nichts von der Existenz des »Kleinen Matrosen« geahnt. Konstanze gefiel ihm dermaßen, daß er blindlings in den Laden stürzte und sechs Leinwandhemden verlangte. Er machte es wie die Engländerinnen, die beim Kaufen hin und her handeln. Er ließ ganze Stöße von Leinwand vor sich ausbreiten und feilschte um den Preis. Die Direktrice nahm an gewissen allen Frauen erkennbaren Anzeichen wahr, daß Cäsar mehr um ihretwillen als des Einkaufs wegen eingetreten war, und so ließ sie sich herab, ihn selber zu bedienen. Nach abgeschlossenem Handel war ihr die Bewunderung des Käufers gleichgültig. Birotteau gab ihr seinen Namen und seine Wohnung an. Der arme Kommis hätte Konstanzes Gunst leicht gewinnen können, aber er war viel zu unerfahren dazu. Und die Liebe machte ihn noch dümmer. Er brachte kein Wort heraus und war obendrein viel zu entzückt, um die Gleichgültigkeit zu bemerken, die hinter dem verbindlichen Lächeln dieser Ladensirene steckte.

Acht Tage nacheinander beobachtete er alle Abende den »Kleinen Matrosen« und lauerte sehnsüchtig auf einen Blick der Verkäuferin, wobei er sich um die Witze der Kommis eicht kümmerte. Alles, was im Laden vorging, interessierte ihn. Einige Tage darauf betrat er zum zweitenmal das Paradies seines Engels unter dem Vorwande, Taschentücher zu kaufen, in Wirklichkeit aber, um ihr einen glänzenden Einfall mitzuteilen. Beim Bezahlen sagte er: »Wenn Sie Parfümerien brauchen, will ich Ihnen gern die besten liefern und soviel Sie wollen.«

Konstanze Pillerault bekam täglich verlockende Anträge, bei denen aber niemals vom Heiraten die Rede war. Obgleich Ihr Herz ebenso rein war wie ihre Haut weiß, so ließ sie doch Cäsar erst ein halbes Jahr hin und her marschieren, ehe sie die Gnade hatte, seine Huldigungen zu beachten. Aus kluger Rücksicht auf die Unmenge von andern Verehrern – Weingroßhändler, Kaffeehausbesitzer und dergleichen –, die mit ihr liebäugelten, entschied sie sich aber nicht völlig. Der verliebte Birotteau steckte sich hinter Konstanzes Vormund Joseph Pillerault, der damals auf dem Quai de la Ferraille ein Kurzwarengeschäft betrieb. Cäsar hatte ihn mit der Findigkeit der echten Liebe ausgekundschaftet. Wir übergehen des weiteren die Freuden einer harmlosen Pariser Liebelei: die kleinen Aufmerksamkeiten, wie sie ein Kommis erweist, die mitgebrachten Blumen und Früchte, die kleinen Nachtmahle bei Vénua nach einem Theaterbesuch, die sonntäglichen Ausflüge in einer Droschke und so weiter. Wenn Cäsar auch nicht hübsch war, so hatte er doch auch nichts an sich, daß man ihn nicht hätte leiden können. Das Leben in Paris und die dumpfe Ladenluft hatten bereits das bäuerische Rot seiner Wangen gebleicht. Seine ehrliche Gutmütigkeit gab schließlich den Ausschlag bei seinem Bemühen um Konstanze. Onkel Pillerault, dem die Sorge für das Glück seiner Nichte oblag, zog Erkundigungen über den Tourainer ein und unterstützte daraufhin seine Absichten. Im Wonnemonat des Jahres 1800 gab Fräulein Pillerault endlich ihr Jawort; es geschah unter einem Lindenbaume bei Sceaux, einem Dorfe vor Paris. Der glückliche Cäsar fiel vor Freude in Ohnmacht.

Konstanze entsagte gern einem glänzenderen Schicksal, das sie sich wie alle Ladenmädchen zuweilen erträumt hatte. Sie beschloß, eine rechtschaffene Frau und eine gute Familienmutter zu werden. Die Rolle paßte übrigens zu ihrer Eigenart viel besser als die gefährlichen Phantastereien, die so manche kleine Pariserin verführen. Konstanze war die typische Kleinbürgerin. Ihr Verstand hatte keinen weiten Horizont. Sie arbeitete nur, wenn sie Lust und Liebe dazu spürte. Wenn sie etwas wünschte, begehrte sie zunächst immer das Gegenteil, ärgerte sich aber, wenn man ihr den Willen tat. Ihr Eifer beschränkte sich auf Küche und Kasse, auf die wichtigsten Obliegenheiten und auf das Ausbessern der Wäsche. Sie begriff nur die einfachsten Dinge, gleichsam die Scheidemünzen des Geistes. Sie räsonierte bei aller Gutmütigkeit über alles, hatte immer Angst, rechnete immer und dachte stets an die Zukunft. Sie war schön, aber temperamentlos; ihr niedlicher Gesichtsausdruck und ihre Frische ließen Birotteau die Mängel an ihr übersehen, die übrigens durch ihre recht weibliche Sorglichkeit, ihre grenzenlose Ordnungsliebe, ihr energisches Zugreifenkönnen und ihren Geschäftssinn aufgewogen wurden. Sie war damals achtzehn Jahre alt und besaß elftausend Francs. Cäsar, der, wenn er verliebt war, außerordentlich ehrgeizig war, kaufte nunmehr die »Rosenkönigin« und verlegte sein Geschäft in die Nähe der Place Vendôme. Erst einundzwanzig Jahre alt, mit einer schönen, angebeteten Frau verheiratet, Besitzer eines Geschäfts, das zu drei Vierteln bezahlt war, durfte er eine glückliche Zukunft erhoffen. Das tat er auch, zumal wenn er sich seinen bisherigen Lebensgang vergegenwärtigte. Roguin, Ragons Notar, der den Ehevertrag aufgesetzt hatte, gab dem jungen Kaufmann Ratschläge und riet ihm ab, den Kaufpreis des Geschäftes ganz zu bezahlen, was er mit dem Gelde seiner Frau hätte machen können. »Behalten Sie etwas Geld in den Händen, um sich gelegentlich an einer Unternehmung beteiligen zu können!« sagte er zu ihm. Birotteau folgte dem Notar, zog ihn auch weiterhin öfters zu Rate und wurde mit ihm befreundet. Ebenso wie Ragon und Pillerault vertraute er ihm so weit, daß er sich ihm in die Hände gab, ohne sich je den geringsten Verdacht einfallen zu lassen. Anfangs hielt Birotteau nur eine Köchin. Das junge Ehepaar wohnte im Zwischenstock über dem Laden und lebte vergnügt in den Tag hinein. Frau Birotteau brachte durch ihre Schönheit das Geschäft in wunderbarer Weise vorwärts. »Die schöne Madame Birotteau,« war alsbald stadtbekannt. Obgleich Cäsar für einen Royalisten galt, ließ man ihm doch Gerechtigkeit widerfahren; seine Nachbarn beneideten ihn zwar um sein Glück, doch hielt man ihn im allgemeinen dessen würdig. Seine einstige Verwundung, die er im Straßenkampfe davongetragen hatte, verlieh ihm den Nimbus eines politisch berühmten und mutigen Mannes, obgleich er weder den geringsten soldatischen Geist im Herzen noch die geringste politische Idee im Hirn hatte. So kam es, daß er in seinem Stadtviertel zum Hauptmann der Bürgergarde gewählt wurde. Napoleon, der ihm – wie sich Birotteau einbildete – seine Beteiligung an der Affäre vom Vendémiaire nicht vergessen konnte, bestätigte ihn aber nicht, und so kam Cäsar unvermutet in den Ruf eines Märtyrers, was ihn interessant machte und ihm ein gewisses Ansehen verschaffte. Im ersten Jahre seiner Ehe weihte Cäsar seine Frau in den Parfümhandel ein, und Konstanze verstand das Geschäft sehr bald gründlich. Sie war wie dazu geschaffen und auf die Erde gekommen, die Kunden zu bedienen und anzulocken. Als Birotteau am Schluß des Jahres Inventur machte, war er geradezu erschrocken. Er rechnete sich aus, daß er in zwanzig Jahren ein Kapital von hunderttausend Francs zurückgelegt haben müßte. Er entschloß sich nun, schneller zu Geld zu kommen und den Detailhandel mit der Fabrikation zu verbinden. Gegen die Ansicht seiner Frau mietete er nun in der Vorstadt du Temple ein Haus und ließ mit großen Buchstaben daranmalen:

PARFÜMFABRIK: VON

CÄSAR BIROTTEAU

Er machte einem berühmten Konkurrenten den Werkmeister abspenstig und begann mit ihm auf Halbpart die Herstellung von Seifen, Parfüms, Essenzen und Kölnischem Wasser. Diese Geschäftsverbindung währte aber nur ein halbes Jahr und endete mit Verlusten, die Cäsar allein trug. Aber er verlor den Mut nicht und wollte um jeden Preis einen Erfolg erringen, lediglich, um vor seiner dagegenredenden Frau Ruhe zu haben. Erst viel später gestand er ihr, daß ihm während dieser kritischen Zeit der Kopf oft siedeheiß gewesen war und ihn nur seine Frömmigkeit davon abgehalten hatte, sich in die Seine zu stürzen.

Voll Kummer über verschiedene erfolglose Versuche strich er eines Tages die Boulevards entlang. In Paris schlendern die Menschen ebenso häufig aus Verzweiflung wie aus Müßiggang umher. Am Stande eines Antiquars blieb er zufällig stehen. Unter den alten Büchern, die in einem auf dem Pflaster stehenden Korbe für je sechs Sous feilgeboten wurden, zog ein verstaubtes und vergilbtes Titelblatt seine Blicke an:

DIE KUNST, DIE SCHÖNHEIT ZU ERHALTEN

Aus dem Arabischen

Birotteau griff nach dem Buche. Es war eine Art Roman, angeblich aus dem Arabischen übersetzt, in Wirklichkeit aber von einem Arzte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben. Beim Durchblättern las er eine Stelle, wo von Parfüm die Rede war.

Wie in einer Ahnung, daß er damit sein Glück mache, kaufte Cäsar das Buch, und an einen Baum des Boulevards gelehnt, las er weiter darin. In einer Fußnote erklärte der Verfasser die Beschaffenheit und den Zweck der Derma (der Haut) und der Epidermis (der Oberhaut) und fügte hinzu, viele Seifen und Hautsalben erzeugten an Stelle der erwarteten und erwünschten Wirkung gerade das Gegenteil, weil sie eine erschlaffte Haut oft mir noch weicher oder eine allzu straffe Haut noch fester machten. Da er seinem eigenen Verständnis wenig vertraute, suchte Birotteau den berühmten Chemiker Vauquelin auf und stellte ihm die höchst naive Frage, wie man ein Hautpflegemittel zusammensetzen müsse, das sowohl auf eine zu schlaffe wie zu straffe Epidermis günstige Wirkungen, erziele. Die wahren Gelehrten – es sind meist die, die zu Lebzeiten unberühmt bleiben, obgleich sie unermüdliche Forscher und Arbeiter sind und die höchste Anerkennung verdienten –, die wirklich bedeutenden Männer sind allezeit hilfsbereit und gütig gegen die geistig Armen. Auch Vauquelin war so. Er nahm sich des Parfümhändlers an und gab ihm die Erlaubnis, ein Hautpflegemittel, dessen Zusammenstellung er ihn lehrte, als seine eigene Erfindung zu verkaufen. Birotteau nannte es

SULTANINNEN-CREME

Unter Benutzung desselben Rezeptes stellte er auch noch ein Mittel zur Pflege des Teints her, dem er die Bezeichnung

VENUS-WASSER

gab.

Nun machte er es dem »Kleinen Matrosen« nach und trieb als erster unter den Parfümhändlern jene Verschwendung mit Annoncen, Anschlagzetteln, Gebrauchsanweisungen, Prospekten und ähnlichen Reklamemitteln, die man mit Recht oder Unrecht als Schwindel bezeichnete.

Er ließ farbige Offerten drucken, auf denen gewisse Schlagworte weithin leuchteten, wie:

ÄRZTLICH UNTERSUCHT UND EMPFOHLEN!

Diese zum erstenmal als Reklame angewandte Phrase hatte eine zauberhafte Wirkung. Nicht allein Frankreich, der ganze Kontinent wurde von dem König der »Rosenkönigin«, der alles, was er herstellte und verkaufte, verhältnismäßig billig lieferte, mit gelben, roten und blauen Prospekten überschwemmt. Zu einer Zeit, da der Orient in aller Munde war, konnte überdies der Anklang an jene geheimnisvolle Welt seine Wirkung auf Gebildete wie Ungebildete kaum verfehlen. Da das Publikum stets nach dem Erfolg urteilt, so galt Cäsar Birotteau alsbald in kaufmännischer Hinsicht für einen ungewöhnlich hellen Kopf. Trotz seiner lächerlichen Phraseologie trug der Prospekt, den er selber verfaßt hatte, ungemein zu seinem glücklichen Erfolge bei. In Frankreich amüsiert man sich am liebsten über Menschen und Dinge, die aller Aufmerksamkeit erregen, und die Aufmerksamkeit erregen nur Menschen und Dinge, denen etwas gelingt. Dieser Prospekt ist ein kulturhistorisches Dokument.

PARFÜMERIE »ZUR ROSENKÖNIGIN«

von Cäsar Birotteau in Paris

BIROTTEAUS SULTANINNEN-CREME

und

VENUS-WASSER

Das Beste für die Haut! Ärztlich untersucht und empfohlen! Seit Urzeiten sehnte sich das fühlbare Bedürfnis bei beiderlei Geschlecht in ganz Europa nach einem

HAUTPFLEGE-MITTEL,

nach einer Creme für die Pflege der Hände und einer Essenz für das Gesicht, die der berühmten

BAU DE COLOGNE

in ihrer Wirkung bei der Toilette noch überlegen wäre. Nachdem nun

CÄSAR BIROTTEAU

dem wissenschaftlichen Studium der Derma und der Epidermis bei Mann wie Frau, die auf eine sammettweiche, geschmeidige, weiße feine Haut mit Recht den allergrößten Wert legen, viele schlaflose Nächte geweiht hat, ist es besagtem

CÄSAR BIROTTEAU,

dem in Paris, in Frankreich wie im Auslande allbekannten Fabrikanten

FEINSTER PARFÜMERIEN,

unlängst gelungen, eine Creme und eine Essenz zu erfinden, die von den elegantesten Damen und Herren von Paris wohlverdientermaßen als

WUNDERBAR

bezeichnet worden sind. Diese neue Creme und diese neue Essenz besitzen in der Tat ganz eigentümliche Kräfte. Sie pflegen die Haut, ohne sie auch nur im geringsten gesundheitlich oder kosmetisch zu schädigen! Gerade das war der Nachteil aller bisher im Handel gewesenen, von unwissenschaftlicher Habgier zusammengemanschten Drogen dieser Art. Die neue Entdeckung berücksichtigt das

TEMPERAMENT DES BENUTZERS,

wobei zwei Klassen unterschieden worden sind, die äußerlich durch die

FARBE DER CREME WIE DER ESSENZ

kenntlich gemacht sind. Der Derma und Epidermis phlegmatischer Personen entspricht die weiße Sorte, der von Sanguinikern die rosenrote Sorte. Die Creme führt den Namen

SULTANINNEN-CREME,

weil bereits ein arabischer Arzt die nämliche Erfindung für den Harem eines morgenländischen Fürsten gemacht hat. Nach denselben Prinzipien ist das

VENUS-WASSER

hergestellt worden. Die Rezepte sind durch den bekannten Chemiker Professor Vauquelin an der Pariser Universität eingehend geprüft und begutachtet worden.

 

Diese köstliche Sultaninnen-Creme, der alle Wohlgerüche Arabiens anhaften, vertilgt die hartnäckigsten Sommersprossen, beseitigt die widerspenstigsten Flecken der Haut und vertreibt den an Mann wie Frau unsympathischen Handschweiß.

Das Venus-Wasser entfernt in phänomenal kurzer Zeit die Pickel und Blüten, die die Damen häufig in den ungünstigsten Momenten bekommen und die ihnen ihre Ball- und Festlaune verderben. Es erfrischt und belebt den Teint, indem es je nach Bedürfnis des Temperaments die Poren öffnet oder schließt. Es schützt vor den Spuren und gegen die Angriffe der Zeit, so daß man es mit Fug und Recht und voll Dankbarkeit bereits allgemein als

ELIXIER DER SCHÖNHEIT

preist.

Die Eau de Cologne ist weiter nichts als ein vulgäres Parfüm ohne spezielle Wirkung, während

SULTANINNEN-CREME und VENUS-WASSER

zwei medizinische Kompositionen mit treibender Kraft sind, ohne Gefahr für die innere Konstitution, ja diese sogar indirekt fördern. Der aromatische Wohlgeruch dieser Hautpflegemittel erquickt Herz und Hirn, regt die Phantasie an und stärkt die Denkkraft. Sie sind in ihrer wohltätigen Wirkung bewundernswert und dabei doch in ihrer Art erstaunlich einfach. Kurz und gut, Sultaninnen-Creme und Venus-Wasser erhöhen die Reize der Damen, während sie für Herren eine Verführungskraft repräsentieren, die sich jeder zu eigen machen sollte!

Der tägliche Gebrauch des Venus-Wassers schützt die Haut vor dem Springen unter dem Rasiermesser, verhütet das Rissigwerden der Lippen und sichert ihnen die rote Farbe. Bei dauernder Anwendung sind Sommersprossen unmöglich; der Teint der Haut wird tadellos rein und gleichmäßig. Gesunder, frischer Teint ist bekanntlich ein Merkmal einer heiteren harmonischen Seele; aber es ist wissenschaftlich auch das Umgekehrte nachgewiesen. Gesunde Haut macht heitere Menschen. An Migräne und Melancholie leidende Personen dürften daher diese Mittel nicht unversucht lassen.

Man bestelle Sultaninnen-Creme und Venus-Wasser in frankierten Briefen bei

CÄSAR BIROTTEAU, Ragons Nachfolger,

des ehemaligen Hoflieferanten Ihrer Majestät der Königin Marie-Antoinette,

»ZUR ROSENKÖNIGIN«

Paris, Rue Saint-Honoré, an der Place Vendôme.

Eine Büchse Sultaninnen-Creme kostet drei Francs, eine Flasche Venus-Wasser sechs Francs.

Um wertlosen Nachahmungen und Fälschungen zu entgehen, achte das Publikum darauf, daß die Sultaninnen-Creme in Papier mit dem Namenszug des Erfinders verpackt ist, während das Venus-Wasser den Namenszug auf dem Siegel der Flasche zeigt.

Ohne daß Cäsar es ahnte, war der glückliche Erfolg Konstanzes Werk, denn sie war es gewesen, die ihm geraten hatte, Venus-Wasser und Sultaninnen-Creme in Probekistchen zu je zwölf Stück an alle Parfümhändler Frankreichs und des Auslandes zu versenden und ihnen für den Fall, daß sie diese beiden Artikel kistchenweise bestellten, dreißig Prozent Rabatt zu versprechen. Creme wie Wasser waren in der Tat mehr wert als die sonst im Handel befindlichen Schönheitsmittel und verführten obendrein die Unwissenden durch die angebliche Berücksichtigung der Temperamente. Die fünfhundert Parfümhändler, die es damals in Frankreich gab, kauften, durch den Gewinn angelockt, ein jeder jährlich mehr als dreihundert Dutzendkistchen Creme und Wasser. Die Herstellungskosten abgerechnet, war die durch diesen Absatz erzielte Einnahme zwar im einzelnen unbedeutend, aber durch die Quantität, die im ganzen abgesetzt wurde, doch enorm. Birotteau war sehr bald in der Lage, das bis dahin nur gemietete Fabrikgebäude nebst dem umliegenden Terrain in der Vorstadt du Temple zu kaufen; er erbaute daselbst eine neue große Fabrik und schmückte seinen Laden »Zur Rosenkönigin« auf das eleganteste aus. In seinem Hauswesen herrschte ein glücklicher Wohlstand, und seine Frau schwebte nicht mehr immer in Angst.

Im Jahre 1810 sah Konstanze das Steigen der Mieten voraus und veranlaßte ihren Mann, sich auf längere Zeit zum Hauptmieter des Hauses zu machen, in dem sie den Laden und das Zwischengeschoß innehatten; sie verlegten die Wohnräume in den dazugemieteten ersten Stock. Ein neuer glücklicher Umstand bestimmte Konstanze, bei den Torheiten, die ihr Mann bei der Einrichtung der Wohnzimmer beging, ein Auge zuzudrücken. Birotteau wurde zum Handelsrichter ernannt. Seine Rechtschaffenheit, sein rücksichtsvolles Auftreten und die Achtung, die er genoß, hatten ihm diese Würde verschafft, die ihn fortan unter die angesehensten Kaufleute von Paris versetzte. Um seine Kenntnisse zu erweitern, stand er früh um fünf Uhr auf und las juristische Leitfäden und Bücher über handelsrechtliche Streitfragen. Sein Gerechtigkeitsgefühl, seine Geradheit, sein guter Wille waren die wesentlichen Eigenschaften, die ihm bei den zu treffenden Entscheidungen sehr zugute kamen und ihn zu einem höchst geschätzten Richter machten. Selbst die ihm anhaftenden Fehler dienten zur Erhöhung seines guten Rufes. Wo sich Cäsar nicht kompetent fühlte, ordnete er sich gern der größeren Erfahrung seiner Kollegen unter, die sich geschmeichelt fühlten, in ihm einen so wißbegierigen Schüler zu finden. Man war entzückt über seine Bescheidenheit und rühmte ihn laut. Während seiner Tätigkeit als Kadi wußte er einen mit Gemeinplätzen gespickten, mit empirischen Wahrheiten ebenso wie mit juristischen Unmöglichkeiten durchsäten phrasenhaften Sermon an den Mann zu bringen, der, leise und fließend zum besten gegeben, in den Ohren der Flachköpfe den Eindruck beredter Weisheit machte. Aber Cäsar vergeudete so viel Zeit auf dem Gerichte, daß ihn Konstanze schließlich bewog, fortan auf dieses kostspielige Ehrenamt zu verzichten. Etwa um 1813 sah sich das in ungetrübter Einigkeit lebende Ehepaar in einer Ära des Wohlstandes, die nichts unterbrechen zu sollen schien.

Herr und Frau Ragon (ihre Geschäftsvorgänger), der Onkel Pillerault, der Notar Roguin, Matifats (Drogisten in der Rue des Lombards und Lieferanten der »Rosenkönigin«), Joseph Lebas (ein Tuchhändler in der Firma Guillaumes Nachfolger »Zur ballspielenden Katze« in der Rue Saint-Denis), der Richter Popinot (ein Bruder von Frau Ragon), Chiffreville (in der Firma Protez & Chiffreville), Herr und Frau Cochin (er war an der Schatzkammer angestellt), der Abbé Loraux, Beichtvater und Gewissensrat dieser ganzen kirchlich gesinnten Clique, und noch einige andere hier nicht besonders zu nennende Leute bildeten den Kreis ihres Verkehrs.

Trotz seiner royalistischen Gesinnung war Birotteau damals populär. Er galt für sehr wohlhabend, obgleich er, abgesehen von seinem Geschäft, nur erst hunderttausend Francs Vermögen besaß; seine kaufmännische Solidität, seine Gewohnheit, nichts schuldig zu bleiben und seinen Verpflichtungen immer prompt nachzukommen, seine Bereitwilligkeit, andern nützlich zu sein, und seine Kulanz sicherten ihm ein hohes Ansehen. Er hatte übrigens in der Tat viel Geld verdient, aber der Neubau seiner Fabrik hatte viel davon wieder verschlungen. Auch sein Haushalt kostete ihn jährlich an die zwanzigtausend Francs, und endlich machte die Erziehung Cäsarines, seines einzigen Kindes, das von Frau Birotteau vergöttert wurde, beträchtliche Ausgaben nötig. Aber weder er noch sie sahen auf das Geld, wenn es darauf ankam, der Tochter, die sie nicht aus dem Hause geben wollten, ein Vergnügen zu bereiten. Es war für den bäuerischen Emporkömmling ein Hochgenuß, wenn er seine reizende, Cäsarine am Klavier eine Sonate von Steibelt spielen oder eine Romanze singen hörte, wenn er sah, wie korrekt sie die französische Sprache schrieb, wenn sie Racine las und ihm die Schönheiten darin erklärte, oder wenn sie eine Landschaft zeichnete oder ein Aquarell malte. Dann schwamm er in wahrer Wonne. Er hielt seine geliebte Tochter für einen Engel, für das Muster eines jungen Mädchens.

Als Cäsar nach Paris kam, konnte er lesen, schreiben, rechnen, aber dabei war er stehengeblieben; sein arbeitsreiches Leben hatte ihm nicht gestattet, sich Ideen und Kenntnisse anzueignen, die über den Gesichtskreis seines Geschäftes hinausgingen. In seinem Umgang mit Leuten, denen Wissenschaft und Literatur gleichgültig waren und deren Bildung sich nur auf besondere Fächer erstreckte, war und blieb Birotteau ein Mann der Praxis. Nach und nach wurde er in seinem ganzen Wesen, seinen Manieren, seiner Ausdrucksweise, seinen Schwächen, seinen Ansichten ganz und gar ein Pariser Bourgeois.

Von der Naturgeschichte und der Chemie verstand er nicht ein Jota. Seiner Meinung nach gab es Aloe und Opium einzig und allein in der Rue des Lombards, und das angeblich aus Konstantinopel kommende Rosenwasser wurde ebenso wie die Eau de Cologne in Paris verfertigt. Die angeblichen Produktionsorte waren Flunkereien, lediglich erfunden, um den Franzosen, die einheimische Erzeugnisse nicht leiden können, einen Gefallen zu tun. Ein französischer Kaufmann muß seine eigene Erfindung für aus England eingeführt ausgeben, um ihr Absatz zu verschaffen, wofür in England die Drogisten ihre Produkte angeblich aus Frankreich beziehen. Bei alledem war Cäsar im Grunde weder ein Narr noch ein Dummkopf. Seine Rechtlichkeit und Gutmütigkeit warfen einen Abglanz auf sein ganzes Wesen und machten es ehrwürdig; eine gute Tat verdeckt alle Unwissenheit. Das beständige Gelingen seiner Unternehmungen gab ihm Zuversichtlichkeit.. In Paris nimmt man Zuversichtlichkeit für Sicherheit. Da Konstanze während der ersten drei Jahre ihrer Ehe ihren Mann richtig erkannt hatte, schwebte sie in beständiger Angst; sie vertrat in diesem Bunde die kluge und vorsichtige Partei: den Zweifel, die Opposition, die Ängstlichkeit, während Cäsar die Unternehmungslust, die Tatkraft, den Ehrgeiz, ein gewisses fatalistisches Vertrauen auf das Glück repräsentierte. Dieses Anscheins ungeachtet war der Kaufmann im Grunde eine Memme, während seine so ängstliche Frau in Wirklichkeit Ausdauer und Mut besaß. Ein kleinmütiger, mittelmäßiger Mann ohne Bildung, ohne Ideen, ohne Kenntnisse, ohne Charakter, dem eigentlich gerade auf dem gefährlichsten Platze der Welt kein Glück blühen sollte, war hier durch sein diplomatisches Benehmen, durch sein Gerechtigkeitsgefühl, durch seine echt christliche Güte, durch die treue Liebe zu seiner Frau dahin gelangt, daß er als bemerkenswerter, mutiger und entschlossener Mann galt. Die große Menge sieht immer nur den Erfolg. Außer Pillerault und dem Richter Popinot konnten ihn andere gar nicht beurteilen. Übrigens redeten die zwanzig oder dreißig Personen, die seinen Kreis bildeten, dieselben Albernheiten, wiederholten ewig dieselben Gemeinplätze und sahen sich sämtlich untereinander für ausgezeichnete Leute in ihrem Fache an. Die Frauen aller dieser Männer widmeten sich ihren guten Diners und ihren Toiletten; jede von ihnen meinte wunder was gesagt zu haben, wenn sie ein Wort der Verachtung über ihren Gatten fallen ließ. Nur Frau Birotteau war so schlau, ihren Mann vor der Öffentlichkeit mit Ehrfurcht und Hochachtung zu behandeln, weil sie sich sagte, daß doch er es war, der trotz seiner geheimen Unfähigkeit das Vermögen erworben hatte, das auch ihr Ansehen verlieh. Bisweilen konnte sie freilich bei sich die Frage nicht unterdrücken, was wohl aus der Welt würde, wenn alle vermeintlich überlegenen Männer dem ihrigen glichen? Ihr Benehmen trug in einem Lande, wo die Frauen geneigt sind, ihre Männer zu mißachten und sich über sie zu mokieren, nicht wenig dazu bei, die dem Kaufmann gezollte respektvolle Achtung aufrechtzuerhalten.

Die ersten Tage des für das kaiserliche Frankreich so verhängnisvollen Jahres 1814 brachten dem Hause Birotteau zwei Ereignisse, die in jedem andern Hausstande wenig Aufsehen gemacht hätten, aber gerade auf einfache Naturen wie Cäsar und seine Frau, die bei jedem Rückblick auf die Vergangenheit rührselig zu werden pflegten, einen tiefen Eindruck machten.

Sie hatten einen, jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren namens Ferdinand du Tillet als ersten Kommis angenommen. Dieser Bursche, der aus einem Parfümeriengeschäft kam, wo man ihn nicht als Kompagnon hatte haben wollen, galt für ein Genie. Er hatte sich viel Mühe gegeben, in die »Rosenkönigin« zu gelangen, deren Solidität, Betrieb und Ruf er kannte. Birotteau gab ihm in der Hoffnung, seinen Nachfolger aus ihm zu machen, tausend Francs Gehalt. Da dieser du Tillet auf das fernere Schicksal der Familie von großem Einfluß werden sollte, müssen ein paar Worte über ihn gesagt werden. Anfänglich hatte er sich bloß Ferdinand ohne einen Familiennamen genannt. Er behauptete, diese Anonymität sei zu einer Zeit, wo Napoleon die Familien ausquetschte, um Soldaten zu bekommen, unermeßlich nützlich. In Wahrheit war er das Kind einer heimlichen und unseligen Liebschaft. Über seine bürgerliche Herkunft hat man nur wenig in Erfahrung bringen können. Im Jahre 1793 kam ein armes Mädchen aus Tillet, einem Orte unweit Andelys, nachts im Garten des Vikars der Kirche zu Tillet nieder und ertränkte sich, nachdem es an die Fensterladen geklopft hatte. Der gute Priester nahm das Kind auf, gab ihm den Namen des Kalenderheiligen seines Geburtstages, ernährte es und erzog es wie sein eigenes Kind. Der Pfarrer starb im Jahre 1804, ohne daß er ein zur Fortsetzung der von ihm begonnenen Erziehung genügendes Vermögen hinterließ. Nach Paris verschlagen, führte Ferdinand das Leben eines Abenteurers und überließ es dem Zufall, ihn auf dem Schafott oder im Glück enden zu lassen. So war er eine Zeitlang Geschäftsreisender, zuletzt für eine Pariser Parfümfabrik. Als er von seiner Geschäftstour wieder nach Paris zurückkam, nachdem er halb Frankreich durchstreift und ein gutes Stück Welt kennengelernt hatte, war er fest entschlossen, nunmehr sein Glück in dieser Stadt zu machen. Im Jahre 1813 hielt er es für nötig, sich in den Besitz eines Geburtsscheines zu setzen und damit eine bürgerliche Existenz zu beginnen. Er machte ein Gesuch an den Landrat von Andelys und bat darum, ihm auf seiner Geburtsurkunde den Beinamen du Tillet zu verleihen, dieweil er durch seine Aussetzung in jenem Dorf gleichsam ein Recht habe, den Namen zu führen. Man bewilligte ihm sein Gesuch.

Ohne Vater und Mutter, ohne andern Vormund als die Gesetze, war er niemandem auf der Welt Rechenschaft schuldig; und kraft dieses ihm von vornherein beschiedenen Einzelgängertums behandelte er die menschliche Gesellschaft als geborener Egoist ganz so, wie sie ihm stiefmütterlich gegenüberstand. Er kannte keinen andern Führer als sein Interesse, und alle Mittel zum Glücke schienen ihm gut. Mit gefährlichen Fähigkeiten ausgerüstet, vereinigte dieser Normanne mit seinem Drange emporzukommen innerlich jene rauhen Fehler, die man mit Recht oder Unrecht seinen Landsleuten vorwirft. Nur wußte er sein wahres Wesen hinter aalglatten Manieren zu verbergen, so daß man ihn für harmlos hielt, während er in Wirklichkeit der größte Schikaneur und rücksichtsloseste Prozessierer war. Während er das Recht eines andern kecklich bestritt, wich er selber nicht um Haaresbreite von dem seinigen, faßte seinen Gegner im rechten Moment und machte ihn durch seine Halsstarrigkeit mürbe. Er war mit allen Hunden gehetzt, just wie der Intrigant in der altfranzösischen Komödie. Ganz wie dieser wußte er sich in jeder Lage zu helfen, immer den Schein des Rechts zu wahren, lüstern alles zu nehmen und das Beste zu behalten. Bei alledem hätte er seine Fehler mit jenem berühmten Worte entschuldigen können, das der Abbé Terray dem Staate in den Mund legt: »Ich werde später rechtschaffen werden!« Leidenschaftlich, tatenlustig und von soldatischer Unerschrockenheit mutete er jedermann gute wie schlechte Taten zu, wobei er sein Ansuchen durch die Theorie des persönlichen Interesses rechtfertigte. Er verachtete die Menschen allzusehr, indem er sie alle für bestechlich hielt, er machte sich viel zuwenig Skrupel bei der Wahl seiner Mittel, die ihm der Zweck immer heiligte, er sah im Erfolg und im Geld zu konsequent die höchste Moral, als daß er nicht früher oder später sein Glück machen mußte. Ein solcher Mensch, zwischen Zuchthaus und Millionen gestellt, muß rachsüchtig, eigenmächtig, schnell entschlossen und ebenso verschlagen wie Cromwell sein, der der Rechtlichkeit die Existenzberechtigung absprechen wollte. Aber diese Abgründe verbargen sich hinter einem heiteren, leichtlebigen Geist. Obgleich nur Kommis, setzte er seinem Ehrgeiz keine Schranken. Er hatte die Gesellschaft mit einem einzigen haßerfüllten Blicke umfaßt, indem er zu sich sagte: »Du wirst mir gehören!« Er hatte sich geschworen, sich nicht vor seinem vierzigsten Jahre zu verheiraten. Er hielt das Gelübde.

Körperlich war Ferdinand ein schlanker junger Mann von gefälligem Wuchs. Seine Manieren wandelten sich je nach seiner Umgebung; er paßte sich, so gut er konnte, jeder Gesellschaft an. Sein kluges Gesicht gefiel auf den ersten Blick; wenn man es späterhin aber genauer prüfte, ertappte man darin jene sonderbaren Merkmale, die sich in den Mienen derer ausdrücken, die anders sind als sie scheinen wollen und ein schlechtes Gewissen haben. Sein dunkelroter Teint hatte trotz der Weichheit seiner normannischen Haut eine harte Farbe. Seine Augen waren wie von Glas; es schimmerte auf ihrem Grunde wie Silber; sein Blick war unstet und, wenn er ihn fest auf ein Opfer richtete, geradezu grausig. Seine Stimme klang matt wie die eines Menschen, der viel gesprochen hat. Seinen dünnen Lippen fehlte es nicht an Anmut; aber seine spitze Nase und seine charakterlos geformte Stirn offenbarten moralische Defekte. Sein Haar endlich, das wie schwarzgefärbt aussah, verriet den Bastard, der seinen Geist einem liederlichen Grandseigneur, seine Gemeinheit einem verführten Bauernmädchen, seine Kenntnisse einer unvollendeten Erziehung und seine Laster seiner sozialen Ungebundenheit verdankte.

Birotteau erfuhr zu seinem höchsten Erstaunen, daß sein Kommis höchst elegant angezogen ausging, sehr spät wieder heimzukommen pflegte und von Bankiers und Notaren Balleinladungen erhielt. Diese Lebensweise mißfiel unserm Cäsar, Seiner Ansicht nach mußte ein Kommis kaufmännische Bücher studieren und ausschließlich an das Geschäft denken. Alles andere hielt er für Narrenspossen und fand sein Mißfallen daran. Er erteilte deshalb seinem Kommis einen sanften Verweis, daß er zu feine Wäsche trüge und Visitenkarten habe, auf denen »Ferdinand du Tillet« stand; das käme seines Wissens nur den Leuten der vornehmen Welt zu. Ferdinand war in der Absicht des Tartüff zu diesem Orgon gekommen; er schnitt Frau Cäsar die Cour, versuchte sie zu verführen und beurteilte seinen Chef nach erschrecklich kurzer Zeit ganz genau so, wie ihn seine Ehehälfte beurteilte. Obgleich sich diskret zurückhaltend, nichts sagend, als was er sagen wollte, verriet du Tillet dennoch seine Meinungen über die Menschen und das Leben zum größten Entsetzen der ängstlichen Frau Birotteau, die die Religiosität ihres Mannes teilte und es für ein Verbrechen hielt, dem Nächsten auch nur das geringste Leid zuzufügen. Trotz der Gewandtheit, mit der sich Konstanze benahm, erriet du Tillet die Verachtung, die er ihr einflößte. Er hatte ihr mehrere Liebesbriefe geschrieben; als er aber einsah, daß er bei ihr nichts erreichte, änderte er sein Verhalten ihr gegenüber. Er begnügte sich damit, den Anschein zu erwecken, als ständen sie beide in gutem Einverständnis. Ohne ihrem Gatten ihre geheimen Gründe mitzuteilen, riet sie ihm, du Tillet zu entlassen. Und in der Tat ward ihr Vorschlag zum Beschluß erhoben. Tillet wurde gekündigt. Drei Tage vor seinem Weggange machte Birotteau eines Sonnabends abends seinen Monatsabschluß und stellte fest, daß dreitausend Francs zu wenig in der Kasse waren. Seine Bestürzung war ganz außerordentlich, und zwar weniger des Geldes als des Verdachtes wegen, der auf seine drei Kommis, die Köchin und den Lehrling sowie die gelegentlich beschäftigten Arbeiter fiel. An wen sollte er sich halten? Frau Birotteau verließ nie das Kontor, der Kommis, der die Kasse führte, war ein Neffe Ragons namens Popinot, ein junger Mann von achtzehn Jahren, der auch im Hause wohnte, die Rechtlichkeit selbst. Seine mit dem in der Kasse vorhandenen Gelde nicht im Einklang stehende Buchführung bewies, daß das Defizit durch eine bare Geldentwendung aus der Kasse entstanden sein mußte. Die beiden Gatten beschlossen zu schweigen und auf jedermann im Hause genau Obacht zu geben.

Am anderen Tage, einem Sonntag, empfingen sie ihre Freunde. Die Familien, die eine Art Clique bildeten, hielten der Reihe nach Empfangstage ab. Man arrangierte ein kleines Hasardspiel, eine sogenannte Bouillotte. Dabei brachte der Notar Roguin einen Haufen alter Louisdors auf den Tisch, die Frau Birotteau wiedererkannte, denn sie hatte sie einige Tage vorher von Frau d'Espard, einer jung verheirateten Dame, in Zahlung genommen.

»Sie haben wohl eine Kirchenkasse geplündert?« meinte Birotteau lachend.

Roguin erwiderte, er habe diese Goldstücke kürzlich im Hause eines Bankiers beim Hasardspiel von du Tillet gewonnen, und dieser bekräftigte die Aussage des Notars, ohne dabei verlegen zu werden. Birotteau bekam einen roten Kopf. Als sich die Gäste verabschiedet hatten, nahm er du Tillet in dem Augenblick, da dieser zu Bett gehen wollte, unter dem Vorwande, er habe mit ihm geschäftlich zu reden, mit in den Laden hinunter.

»Tillet«, sagte der Biedermann zu ihm, »in meiner Kasse fehlen dreitausend Francs und ich konnte bisher auf niemanden Verdacht haben. Die heute zum Vorschein gekommenen alten Goldstücke sprechen indessen zu sehr gegen Sie, als daß ich mit Ihnen nicht davon reden sollte. Wir wollen uns deshalb nicht eher zur Ruhe begeben, als bis sich das Defizit aufgeklärt hat. Es kann doch nur ein Versehen vorliegen. Sie haben vielleicht auf Ihr Gehalt hin einen Vorschuß genommen!«

Du Tillet gab wirklich zu, er habe die Goldstücke der Kasse entnommen, die Summe aber später wieder ersetzt, Birotteau nahm das Hauptbuch zur Hand. Du Tillet hatte weder den Aus- noch Eingang der Summe gebucht.

»Ich hatte Eile; ich habe Popinot beauftragt, die Summe einzutragen«, entschuldigte er sich.

»So, so!« versetzte Birotteau, ganz außer sich über die kalte Gleichgültigkeit seines Kommis.

Die beiden brachten die halbe Nacht mit Nachrechnungen hin, die natürlich, wie Birotteau wohl wußte, unnütz; waren. Im Hin- und Hergehen ließ er heimlich drei Tausendfrancsscheine in die Kasse gleiten, stellte sich dann todmüde, tat so, als ob er einschliefe, und schnarchte schließlich. Du Tillet weckte ihn nach einer Weile. Triumphierend und scheinbar hocherfreut vermeldete er seinem Chef, das Versehen habe sich aufgeklärt.

Am andern Tage warf Birotteau, indem er sich zornig stellte, Popinot und seiner Frau vor, sie hätten ihre Pflichten nachlässig erfüllt. Vierzehn Tage darauf ging Ferdinand du Tillet zu einem Geldwechsler in Dienste. Die Parfümbranche sage ihm nicht mehr zu, meinte er; er wolle sich dem Bankfach widmen. Seinem neuen Brotherrn aber gab er durch gelegentliche Bemerkungen zu verstehen, Birotteau habe ihm aus Eifersucht gekündigt.

Einige Monate nachher besuchte du Tillet seinen alten Prinzipal und bat ihn um ein Darlehn von zwanzigtausend Francs, die er als Kaution hinterlegen müsse, um sich an einem Geschäft beteiligen zu können, das ihn auf dem Wege des Glücks vorwärts bringen solle. Als der junge Mann das Erstaunen Birotteaus ob dieser Unverschämtheit bemerkte, runzelte er die Stirn und fragte ihn, ob er ihm nicht traue. Birotteau ließ sich seine innere Empörung nicht weiter anmerken. Du Tillet könne wieder ein rechtlicher Mann geworden sein, sagte er sich. Wer weiß, ob ihn damals nicht eine Liebelei oder irgendeine peinliche Geschichte oder Unglück im Spiel zu seinem Fehltritt veranlaßt hatte. Zufällig waren zwei befreundete Kaufleute Zeugen des Auftritts. Die somit öffentliche Abweisung eines vielleicht doch rechtschaffenen jungen Mannes konnte ihn am Ende gar zu einem Verbrechen verleiten und ihn ins Unglück stürzen. Dieses Bedenken bewog den gutmütigen Birotteau, die Feder zu ergreifen. Er schrieb seinen Namen unter du Tillets Wechsel, indem er zu ihm sagte, er erzeige einem jungen Manne, der ihm nützlich gewesen, gern die kleine Gefälligkeit. Während er diese Notlüge vorbrachte, stieg ihm allerdings das Blut ins Gesicht. Du Tillet ertrug den Blick des Ehrenmannes nicht und schwor ihm wahrscheinlich in dem Moment den rastlosen Haß, den die Teufel der Finsternis gegen die Engel des Lichts hegen.

Während du Tillet in der Folgezeit auf dem hohen Seile der Geldspekulation tanzte, hielt er die Balancierstange so gut, daß er für elegant und reich galt, ehe er es in Wirklichkeit war. Nachdem er sich einmal ein Kabriolett zugelegt hatte, schaffte er es auch nicht wieder ab. Er machte sich in jenen höheren Sphären heimisch, wo sich die Vergnügungen mit den Geschäften paaren, unter den großen Halsabschneidern von damals, die aus dem Foyer der Großen Oper eine Filiale der Börse machten. Durch Frau Roguin, die er in Birotteaus Hause kennengelernt hatte, kam er alsbald mit den Finanzgrößen in Berührung. Nunmehr hatte du Tillet in der Tat einen Wohlstand erreicht, an dem nichts Erlogenes mehr war. In den besten Beziehungen zu dem Hause Nucingen, wo ihn Roguin eingeführt hatte, liierte er sich schließlich mit den Gebrüdern Keller, den damaligen Fürsten der Finanz. Niemand wußte, wo die Quelle des ungeheuren Kapitals war, das er in Umlauf brachte. Allgemein aber schrieb man sein Glück seinem guten Kopfe und seiner Rechtlichkeit zu.

Die Restauration machte aus Birotteau einen Mann, der im Wirrwarr der politischen Krisen selbstverständlich längst nicht mehr an jene beiden häuslichen Vorfälle dachte. Politisch blieb er Royalist, obgleich er seit seiner Verwundung im Grunde von seiner Königstreue völlig genug hatte; er blieb es eben anstandshalber, aber gerade weil er keine Ansprüche stellte, verschaffte ihm das Andenken an seine Aufopferung im Vendémiaire hohe Protektionen. Er wurde zum Bataillonskommandeur der Bürgergarde ernannt, obgleich er unfähig war, auch nur das geringste Kommando zu geben. Napoleon, von jeher Birotteaus Feind, strich ihn im Jahre 1815 wieder von der Liste. Während der hundert Tage war Birotteau das Opfer von allerlei Schikanen der Liberalen seines Viertels; denn 1815 begannen just die politischen Spaltungen innerhalb der bis dahin in ihren Wünschen nach Ruhe, deren die Geschäfte bedürfen, einstimmigen Kaufmannschaft. Bei der zweiten Restauration besetzte die königliche Regierung die Posten der Stadtverwaltung neu. Man wollte Birotteau zum Stadtrat ernennen; auf Veranlassung seiner Frau nahm der Parfümeur aber nur die Stelle eines Stadtverordneten an, die ihn weniger hervorhob. Diese Bescheidenheit erhöhte die Achtung, die man allgemein für ihn hegte, erheblich und erwarb ihm die Freundschaft des Oberbürgermeisters, des Herrn Flamet de la Billardière, der sich sowieso Birotteaus noch erinnerte, aus der Zeit her, da die »Rosenkönigin« noch ein Etappenort der royalistischen Umtriebe gewesen war. Herr und Frau Birotteau wurden fortan bei den Einladungen des Oberbürgermeisters nie übergangen. De la Billardière protegierte Birotteau auch weiterhin, insbesondere als es sich um die Verteilung der der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellten Orden handelte. Er wies auf Birotteaus bei Saint-Roch erhaltene Wunde hin, auf seine Anhänglichkeit an die Bourbonen und auf das allgemeine Ansehen, das er genoß. Die Regierung verschleuderte damals das Kreuz der Ehrenlegion, um damit einerseits die napoleonische Tradition umzustoßen, andrerseits um zugleich auch Anhänger zu schaffen und den Bourbonen die Welt des Handels und der Industrie, der Künstler und Gelehrten zu gewinnen. So kam auch Birotteau zu dem Orden. Die Auszeichnung versetzte ihn, in Verbindung mit seinen früheren Erfolgen, geradezu in einen Größenwahn. Die Mitteilung des Oberbürgermeisters, daß er Ritter der Ehrenlegion würde, gab den Ausschlag in der Spekulationsangelegenheit, die er seiner Frau eben auseinandergesetzt hatte; sie erregte das Streben in ihm, seine Parfümerie bald aufzugeben und sich in die höheren Regionen der Pariser Bürgerschaft aufzuschwingen.

Cäsar Birotteau war damals vierzig Jahre alt. Die Arbeit im Geschäft und in der Fabrik hatten ihn vor der Zeit alt gemacht. Es zeigten sich bereits Falten in seinem Gesicht, und sein dichtes langes Haar war von Silberfäden durchzogen. Er hatte buschige Augenbrauen, die ihm aber nichts Furchtbares verliehen, denn darunter leuchteten ein paar klare ehrliche blaue Augen. Seine an der Wurzel eingeknickte, an der Spitze breite Nase gab seinem Antlitz etwas Affenartiges. Ähnlich wirkten seine dicken Lippen und sein massiges, derbliniges Kinn. Sein eckiges, stark gerötetes Gesicht mit den Furchen und dem schlauen Ausdruck verleugnete den Bauerncharakter nicht. Übrigens verrieten auch sein kräftiger Körperbau, seine klotzigen Glieder, der breite Rücken und die plumpen Füße den nach Paris verpflanzten Dörfler. Dasselbe bezeugten seine unförmigen behaarten Hände mit den fetten Fingern und den großen viereckigen Nägeln. Auf seinen Lippen schwebte das gefällige Lächeln, das die Kaufleute ihren Kunden gegenüber annehmen. Bei ihm war es überdies der Ausdruck seiner Zufriedenheit, seines Innern Gleichgewichts. Als Geschäftsmann war er mißtrauisch; im Geschäft hielt er Argwohn für unerläßlich; aber sein Geschäftssinn verließ ihn auf der Schwelle der Börse oder wenn er sein Hauptbuch zuklappte. Sein Gesicht zeigte eine gewisse komische Zuversichtlichkeit: mit Gutmütigkeit gemischtes Selbstbewußtsein. Dadurch wirkte er originell und unterschied sich von dem faden Typ des Pariser Spießbürgers. Ohne den leisen Zug von Naivität und Vertrauensseligkeit hätte er zuviel Respekt eingeflößt; er kam den Leuten dadurch näher, daß er auch dem Lächerlichen seinen Tribut zollte. Wenn er redete, legte er gewöhnlich die Hände auf den Rücken. Glaubte er etwas Galantes oder Witziges gesagt zu haben, dann wippte er sich zweimal mit den Fußzehen in die Höhe und ließ sich langsam wieder auf die Absätze zurückfallen, gleichsam als wolle er das Gesagte damit bekräftigen. Manchmal machte er im Eifer des Gesprächs eine rasche Drehung um sich selbst, oder er lief ein paar Schritte weg, als suche er Einwürfe, und kam dann hastig auf seinen Gegner zurück. Nie fiel er jemandem in die Rede. Bei dieser genauen Beobachtung der Konvenienz kam er freilich meist schlecht weg, denn die andern ließen ihn gar nicht zu Worte kommen, und der gutmütig Wartende hatte das Nachsehen. Während seiner langjährigen Kaufmannstätigkeit hatte er gewisse Gewohnheiten angenommen, die manche für Manieriertheit hielten. Wurde irgendein Wechsel nicht bezahlt, so übergab er ihn dem Gericht und ging rücksichtslos vor – bis zur Konkurserklärung des Schuldners. Cäsar selbst befaßte sich nicht weiter mit der Sache, als bis es galt, Forderung, Zinsen und Kosten einzustreichen. Im Falle eines Konkurses aber stellte Cäsar jedwede Verfolgung ein, erschien bei keiner Gläubigerversammlung und meldete seine Ansprüche nicht an. Dieses System und seine konsequente Verachtung für nicht mehr Zahlungsfähige hatte er von Ragon, der im Laufe seiner kaufmännischen Tätigkeit zu der Überzeugung gelangt war, daß der große Verlust an Zeit und Mühe, den Prozesse mit sich bringen, bei weitem nicht durch die magere und ungewisse Dividende aufgewogen wird, die der gerichtliche Vergleich am Ende ergibt. Man tue besser, behauptete er, seine Zeit aufs Geschäft zu verwenden, anstatt sich die Beine hinter zahlungsunfähigen oder böswilligen Schuldnern abzulaufen. »Ist der Mann redlich und erholt er sich wieder«, pflegte Ragon zu sagen, »so wird er schon von selber bezahlen. Hat er aber Unglück und kann nicht wieder in die Höhe kommen, wozu ihn dann noch quälen? Wenn er ein Schuft ist, bekommt man keinen roten Heller. Bin ich aber vorher in Geldsachen unnachgiebig, so wissen die Leute: mit mir ist nicht gut Kirschen essen! – und zahlen, so lange sie noch Geld in der Kasse haben.«

Wenn Cäsar sich mit jemandem verabredet hatte, so fand er sich zur festgesetzten Stunde pünktlich ein; zehn Minuten später aber zog er mit unerschütterlicher Unbeugsamkeit ab. Seine Pünktlichkeit machte daher auch die Leute pünktlich, die mit ihm zu tun hatten.

Seine Kleidung entsprach seinen Gewohnheiten und seiner Physiognomie. Keine Macht der Welt hätte ihn davon abgebracht, auf die weißmousselinenen Halstücher zu verzichten, deren herabhängende Enden seine Frau oder seine Tochter bestickt hatten. Seine senkrecht zugeknöpfte weiße Pikeeweste reichte weit über sein stattliches Bäuchlein hinab. Er trug blaue Beinkleider, schwarzseidene Strümpfe und Schuhe mit Bändern, deren Schleifen oft aufgingen. Sein stets zu weiter olivenfarbener Rock und sein breitkrempiger Hut gaben ihm das Aussehen eines Quäkers. Zu den Sonntagabendgesellschaften zog er seidene Kniehosen und Schuhe mit goldenen Schnallen an; seine unvermeidliche hohe Weste blieb dann oben etwas offen, um das gefältelte Spitzenjabot zu zeigen. Sein kastanienbrauner Frack hatte lange, breite Schöße. Dem Wechsel der Mode schloß er sich nur ungern und so spät wie nur möglich an.

So war Cäsar Birotteau ein Biedermann, dem das Schicksal die Fähigkeit versagt hatte, die Menschen und das Leben über das Detail hinaus zu beurteilen und sich damit über die konventionelle Oberflächlichkeit des Mittelstandes zu erheben, der allenthalben der Dummheit der Majorität folgt. Seine Ansichten kamen ihm von außen; er prüfte sie nicht nach. Er war blind, aber gut, gar nicht geistreich, aber tief religiös. Er besaß ein Kinderherz, und dieses Herz war erfüllt von einer einzigen großen Liebe, die seinem Leben Wärme und Kraft verlieh: der Liebe zu Frau und Tochter.

Frau Birotteau war damals siebenunddreißig Jahre alt. Sie glich der Venus von Milo so sehr, daß alle, die sie kannten, in der schönen Antike ihr Ebenbild sahen. Doch nur wenige Monate später hatte der Kummer ihren blendend weißen Teint gelblich getönt und die bläulichen Schatten um ihre schönen grünen Augen grausam vertieft und verdunkelt. Dadurch bekam sie Ähnlichkeit mit dem Typ altertümlicher Madonnenbilder: ein sanftes und keusches, treues und trauriges Aussehen. Man mußte sie immer noch schön nennen, diese Frau mit dem bescheidenen Auftreten voll Anstand und Würde. Auf dem von Cäsar geplanten Balle sollte sie übrigens zum letztenmal den Triumph ihrer Schönheit genießen.

Jedes Dasein hat seine Glanzperiode, während der Ursachen und Wirkungen harmonisch zusammenfließen. Dieser Lebensmittag, wo sich alle Lebenskräfte im Gleichgewicht befinden und sich immer von neuem voll erneuern, ist nicht allein den Einzelwesen beschieden, sondern ebenso Städten, Völkern, Ideen, Institutionen, Handelsunternehmungen. Alles in der Welt entsteht, blüht und vergeht in unerbittlicher Gesetzmäßigkeit. Der kluge Mensch könnte aus dem ewigen Immerwieder von Entwicklung und Verfall aus der Weltgeschichte und den tragischen Biographien großer Männer nützliche Lehren für sich ziehen. Aber nur höchst selten erfaßt einer klaren Blicks den Moment, wo das Spiel der eigenen Fähigkeiten zu ermatten beginnt. Weder Eroberer noch Künstler, noch schöne Frauen hören die mahnende Stimme. Selbst ein Napoleon hat sie nicht beachtet.

Auch Birotteau hätte merken können, daß er auf dem Gipfel seines Glücks stand. Statt dessen hielt er die Höhenrast für einen Ausgangspunkt zu noch Höherem. Er kannte sich nicht.

Vor dem Einschlafen fiel ihm ein, seine Frau könne ihm am nächsten Morgen mit allerhand Einwürfen kommen. Deshalb nahm er sich vor, recht zeitig aufzustehen, um alles ins reine zu bringen. Sobald der Tag graute, stand er geräuschlos auf, ließ seine Frau weiterschlafen, kleidete sich schnell an und ging ins Geschäft hinunter. Der Lehrling öffnete gerade die Fensterläden. Birotteau wartete auf die Kommis. Er stellte sich in die Ladentür und sah zu, wie sich Raguet, der Lehrling, bei seiner Arbeit anstellte – und Birotteau verstand sich darauf! Trotz der Kälte war das Wetter prachtvoll.

»Hol deinen Hut, Popinot, mach dich fertig und ruf Cölestin herunter! Wir beide wollen in den Tuileriengarten gehen und dort miteinander plaudern.« Popinot kam gerade die Treppe herunter.

Anselm Popinot, das prächtige Gegenstück zu du Tillet, hatte ein glücklicher Stern zu Cäsar geführt; er spielt in dieser Geschichte eine so große Rolle, daß sein Charakter geschildert werden muß.

Frau Ragon war eine geborene Popinot, Sie hatte zwei Brüder. Der jüngere war Jurist geworden und bekleidete damals die Stelle eines Kreisrichters. Der ältere hatte einen Handel mit Rohwolle angefangen und dabei sein Vermögen zugesetzt. Bei seinem Tode hinterließ er den Ragons und seinem kinderlosen Bruder, dem Richter, die Sorge für seinen einzigen Sohn, dessen Mutter im Wochenbett gestorben war. Anselm war klein und hatte einen Klumpfuß – wie Lord Byron, Walter Scott und Talleyrand. Er hatte die weiße sommersprossige Haut der Rothaarigen. Aber seine freie Stirn, seine grauen Augen, sein hübscher Mund, eine jugendlich anmutige Schüchternheit und die Zurückhaltung, die ihm sein körperliches Gebrechen auferlegte, erzeugten Beschützergefühle ihm gegenüber: wir lieben die Schwachen. Popinot erweckte Teilnahme. Der kleine Popinot – jedermann nannte ihn so – gehörte zu einer sehr frommen Familie, in der vernünftige Sitten herrschten und das Leben schlicht und gemütvoll dahinfloß. Er besaß alle Eigenschaften, die einen jungen Mann liebenswürdig machen; er war artig und herzlich, sanft wie ein Lamm, arbeitsfreudig, anhänglich und nüchtern.

Als Popinot von dem Spaziergange in den Tuilerien hörte – der Vorschlag dünkte ihm angesichts der frühen Stunde höchst merkwürdig! – glaubte er, sein Prinzipal wolle mit ihm von seiner Etablierung reden. Seine Gedanken sprangen sofort auf Cäsarine über, seine Rosenkönigin, die Verkörperung der Patronin des Hauses. Er hatte sich vom ersten Tage an sterblich in sie verliebt. Nebenbei gesagt: er war zwei Monate vor du Tillet in Birotteaus Geschäft gekommen. Als er jetzt die Treppe wieder hinaufstieg, mußte er plötzlich stehenbleiben, so wild klopfte ihm das Herz. Nach einer Weile kam er mit Cölestin, dem ersten Kommis, herunter.

Schweigsam gingen Cäsar und Anselm nach den Tuilerien. Popinot war damals einundzwanzig Jahre alt. Birotteau hatte sich in ebendem Alter verheiratet. Anselm sah also in seiner Jugendlichkeit kein Hindernis für die Heimführung seiner Cäsarine, wohl aber fürchtete er, daß seines Prinzipals Vermögen und seiner heimlichen Geliebten Schönheit der Erfüllung so ehrgeiziger Wünsche bedenklich entgegenstanden. Die Liebe aber lebt von der Hoffnung und vertraut ihr um so mehr, je unsinniger sie ist. Je weiter er sein Idol sich entfernt wähnte, desto heftiger wurde sein Verlangen. Ungeachtet der Zweifel, Bedenklichkeiten und Besorgnisse war er glücklich; aß er doch alle Mittage in Cäsarines Gesellschaft! Zu seiner Arbeit im Geschäft brachte er einen Eifer und ein Interesse mit, die ihm alles leicht machten. Er tat alles für seine Cäsarine, und so ermüdete er nie. Bei einem jungen Manne von einundzwanzig Jahren lebt die Liebe von stiller Ergebenheit.

»Das wird einmal ein tüchtiger Kaufmann, der wird es zu etwas bringen!« bemerkte Birotteau gelegentlich zu Frau Ragon, indem er Anselms Eifer in der Fabrik und im Geschäft pries und die Geschicklichkeit lobte, mit der er die kaufmännischen Finessen begriff.

Alexander Crottat, Roguins Bureauchef, bewarb sich offenkundig um Cäsarine. Sein Vater war ein reicher Gutspächter. Hier türmte sich ein neues Hindernis für Popinot auf. Aber es war nicht die schlimmste Gefahr, die er befürchtete. In der Tiefe seines Herzens ruhten traurige Geheimnisse, die ihm die Kluft zwischen Cäsarine und sich zu vergrößern schienen. Ragons Vermögen, auf das er hätte rechnen können, war gefährdet, und in seiner Dankbarkeit gab Anselm seinen Verwandten von seinem knappen Gehalt. Dennoch glaubte er an seinen Stern. Wiederholt hatte Cäsarines Blick voll Stolz auf ihm geruht, und er hatte in ihren blauen Augen schmeichelnde Versprechen zu lesen gewagt. Hoffnungsvoll und freudig erregt, schweigsam und zitternd – wie alle jungen Leute in ähnlicher Lage, für die das Leben, noch in der Knospe liegt – schritt er neben Birotteau hin.

»Geht's deiner Tante gut, Popinot?«

»Jawohl, Herr Birotteau.«

»Hm! Es will mir scheinen, als sähe sie seit einiger Zeit recht bekümmert aus. Sollte bei ihr was nicht im Lot sein? Hör mal, mein Junge, du darfst nicht zu geheimnisvoll gegen mich sein! Ich gehöre quasi zur Familie. Ich kenne deinen Onkel schon seit fünfundzwanzig Jahren. Als ich aus meinem Dorfe kam, bin ich in meinen genagelten Stiefeln zu ihm gegangen. Das Gut, aus dem ich stamme, heißt zwar Schatzhausen, aber mein gesamtes Vermögen bestand in einem einzigen Goldfuchs, den mir meine Patin geschenkt hatte, die Schloßherrin, die selige Marquise von Uxelles, eine Verwandte des Herzogs und der Herzogin von Lenoncourt, die zu unsern Kunden gehören, wie du weißt. Jeden Sonntag habe ich für sie und ihre Familie gebetet, und ihrer Nichte, der Frau von Mortsauf, schicke ich noch heute ihren Bedarf an Parfümerien in die Touraine. Sie hat mir manchen guten Kunden verschafft, zum Beispiel Herrn von Vandenesse, der alle Jahre für zwölfhundert Francs bei uns kauft. Wäre man nicht schon aus Anhänglichkeit dankbar, so müßte man es aus Berechnung sein. Na, Anselm, dir will ich wohl, ohne jedweden Hintergedanken, einzig und allein um deinetwillen!«

»Ach, Herr Birotteau, Sie sind, wenn ich mir erlauben darf, Ihnen das zu sagen, ein vornehmer Geschäftsmann!«

»Unsinn, mein Junge! Ich bin nicht besser als jeder andere! Ich bin nur ehrlich, wie sich das für einen Kaufmann so gehört, na, und – nicht engherzig. Das heißt, geliebt habe ich nur meine Frau! Die Liebe ist ein famoses Vehikel... Ein glücklicher Ausdruck, nicht ? Herr von Villèle hat ihn gestern in der Kammersitzung gebraucht.«

»Die Liebe!« echote Popinot; »ach ja, die Liebe...«

»Sieh mal! Ist das da nicht der alte Roguin, der zu Fuß von der Place Louis XV. herkommt? Frühmorgens um acht! Was will denn der hier?« fragte Cäsar. Er vergaß Anselm und die Nußessenz.

Die Vermutungen seiner Frau fielen ihm wieder ein, und anstatt in den Tuileriengarten zu gehen, näherte er sich dem Notar. Anselm folgte seinem Prinzipal in einiger Entfernung, ohne sich dessen plötzliches Interesse an einem dem Anscheine nach ziemlich gleichgültigen Umstände erklären zu können. Er war viel zu glückselig über die Ermutigung, die er aus Cäsars Worten von den genagelten Stiefeln, dem einzigen Goldfuchs und dem Bonmot über die Liebe herauslas, als daß er sich Gedanken darüber gemacht hätte.

Roguin war ein großer, dicker Mann mit einer stiermäßigen Stirn und schwarzem Haar, ein Mensch, den man nicht gleich wieder vergaß. In seiner Jugend ein tüchtiger Streber, hatte er sich vom Schreiberlehrling bis zum Notar aufgeschwungen. Wer ihn genauer musterte, erkannte in seinem Gesicht die Krähenfüße, die ein vergnüglich verbrachtes Leben zu hinterlassen pflegt. Ein Mann, der sich gemeinen Ausschweifungen hingibt, hat immer in seinem Antlitz – man kann kaum anders sagen! – sumpfige Stellen. So haftete auch der Haut und den Alterslinien des Notars etwas Ordinäres, Unvornehmes an. Anstatt jenes Schimmers, der über der Haut gesundsinnlicher Männer flammt, sah man ihm die Unreinheit seines ermatteten Blutes schon äußerlich an. Es war somit nicht zu verwundern, daß Frau Roguin seit ihrer Brautnacht von einer unüberwindlichen körperlichen Antipathie gegen ihren Gatten erfaßt war. Sie hatte sich sofort wieder von ihm scheiden lassen wollen; aber Roguin, der glücklich war, eine Frau mit fünfzigtausend Francs Vermögen bekommen zu haben – ungerechnet das, was sie noch zu erwarten hatte –, ließ sie nicht los und bat sie flehentlich, bei ihm zu bleiben. Er gewährte ihr dafür völlige Freiheit und fügte sich von vornherein in alle Konsequenzen dieses Paktes. Sobald sie somit absolute Herrscherin geworden war, behandelte sie ihren Ehemann wie eine Kurtisane einen verliebten alten Gecken. Sie beutelte ihn gehörig aus. Auf die Dauer war das dem Notar doch zu kostspielig. Er machte es wie so viele Pariser Ehemänner und mietete sich eine zweite kleine Wohnung. Da er sich zunächst in weisen Grenzen hielt, war das nicht besonders teuer. Er hielt kleine Grisetten aus, die sich unter seinem Schütze höchst glücklich fühlten. In den letzten drei Jahren war er jedoch einer jener grenzenlosen Leidenschaften erlegen, die Männer zwischen fünfzig und sechzig Jahren zuweilen überfallen. »Die schöne Holländerin« hielt ihn an Rosenketten, eins der schönsten Geschöpfe der damaligen Halbwelt. Ein Klient Roguins hatte sie einst aus Brügge mitgebracht, und als er 1815 aus politischen Gründen fliehen mußte, hatte er sie Roguin vermacht. Der Notar kaufte seiner Schönen ein kleines Haus an den Champs-Elysées, das er prächtig einrichten ließ. Die maßlose Verschwendungssucht und die kostspieligen Launen des Weibes verzehrten sein Vermögen. Er brachte es nicht fertig, ihr etwas abzuschlagen.

Roguins finsteres Gesicht hellte sich auf, als er seinen Klienten sah. Sein sorgenvolles Aussehen hing mit gewissen geheimnisvollen Vorgängen zusammen, denen du Tillet sein rasch erworbenes Vermögen zu danken hatte.

Du Tillet hatte bereits am ersten Sonntage, an dem er im Hause seines früheren Prinzipals Birotteau das Ehepaar Roguin kennenlernte, die wirklichen Beziehungen zwischen diesen Eheleuten richtig erkannt. Es war weniger seine Absicht gewesen, Frau Konstanze zu verführen, als sich vielmehr Cäsarines Hand als Entschädigung für eine überwundene Leidenschaft anbieten zu lassen. Der Verzicht auf diese erhoffte Ehe wurde ihm sehr erleichtert, als er in Erfahrung brachte, daß Cäsar, den er für reich gehalten, gar nicht so reich war. Er horchte den Notar aus und schmeichelte sich in sein Vertrauen ein. Dann ließ er sich auch bei der schönen Holländerin einführen und bekam heraus, wie sie mit Roguin stand. Er erfuhr, daß sie ihrem Liebhaber drohte, ihm den Laufpaß zu geben, wenn es ihm einfiele, ihren Luxus einzuschränken. Die schöne Holländerin gehörte zu jenen sorglosen Frauen, die sich keine Gedanken über das Woher des Geldes machen, das man ihnen gibt. Mit den Talern eines ermordeten Vaters sind sie imstande, einen Festschmaus zu geben. Niemals dachte sie auch nur an das Gestern noch zurück, und die Zukunft ging ihr nicht über den Augenblick hinaus. Das Ende des laufenden Monats lag für sie in grauer Ewigkeit, selbst wenn sie Rechnungen zu bezahlen hatte. Du Tillet freute sich, Roguin einen Dienst erweisen zu können, wie ihn verliebte Greise selten vergessen: er brachte die schöne Holländerin so weit, daß sie dem Notar ihre Liebe anstatt für fünfzigtausend für jährlich dreißigtausend Francs schenkte.

Nach einem Souper, bei dem viel Wein getrunken worden war, sprach sich Roguin gegen du Tillet über seine bedenkliche finanzielle Lage aus. Durch eine Hypothek, seiner Frau als Vorbehaltsgut eingetragen, war ihm eine größere Belastung seines Hauses unmöglich gemacht. Seine Leidenschaft hatte ihn nun notgedrungen dahin geführt, den ihm anvertrauten Geldern seiner Klienten eine Summe zu entnehmen, die bereits die Hälfte des Wertes seines Notariats überstieg. Sobald der Rest verschlungen, wollte er sich eine Kugel vor den Kopf schießen, denn er glaubte, sein Bankrott werde weniger abscheulich erscheinen, wenn er das öffentliche Mitleid erregte. Du Tillet erkannte sofort, daß sich ihm hier ein Weg zu einem schnellen und sicheren Glück bot. Diese Aussicht durchleuchtete ihn blitzartig. Er beruhigte Roguin und brachte ihn zunächst von seinen Selbstmordgedanken ab.

»Wenn ein Mann in Ihrer Stellung einmal so viel riskiert hat«, sagte er zu Roguin, »dann darf er nicht ängstlich und unschlüssig sein, sondern muß kühn nun erst recht weiterschreiten!«

Und nun riet er Roguin, ihm eine namhafte Summe anzuvertrauen, mit der er eines jener kecken Börsengeschäfte wagen wolle, wie sie damals gang und gäbe wurden. Wenn sie Glück hätten, wollten sie zusammen ein Bankhaus gründen; der Überschuß sollte Roguin zur Befriedigung seiner Leidenschaft gehören. Mißglückte aber das Unternehmen, so sollte Roguin ins Ausland fliehen statt sich zu erschießen. Du Tillet schwur ihm Treue bis zum letzten Heller. Dieser Vorschlag kam Roguin wie das bekannte Seil vor, das einem Ertrinkenden zugeworfen wird. Er war weit entfernt davon, zu ahnen, daß ihm der ehemalige Parfümeriekommis eine Schlinge um den Hals legte.

Du Tillet machte sich die Mitwissenschaft von Roguins Geheimnis zunutze. Er war entschlossen, den Mann, seine Frau und gleichzeitig auch seine Geliebte in seine Gewalt zu bekommen. Er setzte die ahnungslose Frau Roguin von dem Unheil in Kenntnis, das ihr drohte und das für möglich zu halten ihr nie auch nur im Traum eingefallen wäre; infolgedessen nahm sie du Tillets Bewerbungen an, der nunmehr, seiner Zukunft sicher, seine Stellung bei Birotteau aufgab. Es ward ihm weiterhin nicht schwer, seine Geliebte zu überreden, ebenfalls eine Summe zu wagen, um im Falle von Roguins Ruin nicht gezwungen zu sein, ihre Zuflucht zur Prostitution zu nehmen. Sie ordnete ihre Finanzen, raffte schnell ein kleines Kapital zusammen und übergab es dem Geliebten. Ihr Gatte händigte ihm voll gleichen Vertrauens zunächst hunderttausend Francs ein. Frau Roguins Interesse für du Tillet wandelte sich in Zuneigung, ja bald flammte die schöne Frau in heftigster Leidenschaft für den jungen Mann. Du Tillets Börsenspiel war vom Glück begünstigt. Er besaß einen seherischen Blick für die Lage, in der sich Frankreich damals befand. Er spekulierte während des russischen Feldzuges auf das Fallen der Kurse und bei der Wiedereinsetzung der Bourbonen auf das Steigen. Zwei Monate nach Ludwigs XVIII. Rückkehr besaß Frau Roguin zweihunderttausend Francs und du Tillet hunderttausend Taler. Der Notar, in dessen Augen der junge Mann ein Genie war, hatte sein finanzielles Gleichgewicht leidlich wiederhergestellt, aber die schöne Holländerin verschleuderte alles. Sie war insgeheim die Beute eines gewissenlosen Roués namens Maxim von Trailles. Du Tillet entdeckte den wahren Namen des Mädchens, als er irgendeinen schriftlichen Vertrag mit ihr abschloß. Sie hieß Sara Gobseck. Die Übereinstimmung dieses Namens mit dem eines Wucherers, von dem er hatte sprechen hören, machte du Tillet stutzig. Er suchte den alten Wechseljuden auf, um sich angeblich bei ihm zu erkundigen, wieweit er sich für seine Verwandte verbürge. Der hartherzige Geldmann wollte von seiner »Großnichte« nichts wissen, aber du Tillet, der sich für ihren Bankier ausgab, gefiel ihm. Die beiden paßten wunderbar zueinander und Gobseck bedurfte gerade eines geschickten jungen Mannes, den er zur Erledigung eines Geschäfts in das Ausland senden wollte.

Ein hoher Beamter war bei der Rückkehr der Bourbonen auf den Einfall gekommen, die Titel der von den Bourbonen während ihres Exils in Deutschland gemachten Schulden aufzukaufen, um sich durch diesen Dienst beim Könige einzuschmeicheln. Den pekuniären Gewinn bei der Sache, die für ihn nur ein Mittel war, Karriere zu machen, wollte er dem überlassen, der ihm die nötigen Gelder zur Ausführung seines Planes zur Verfügung stellte. Gobseck, der das Geschäft zu machen sich angeboten hatte, wollte das Geld aber nicht eher auszahlen, als bis er die Schuldtitel durch einen zuverlässigen Bevollmächtigten geprüft hatte. Wucherer sind mißtrauisch; sie gehen gern sicher, obgleich die Gelegenheit ihre Domäne ist. Du Tillet kannte die ungeheure Bedeutung, die in Paris die großen Wucherer spielen, die Werbrust, Gigonnet, Palma und wie sie alle hießen, die alle in Beziehungen zu Gobseck standen. Er stellte eine bare Kaution und machte sich einen gewissen Gewinnanteil zur Bedingung. Während der hundert Tage weilte er in Deutschland und kam zur zweiten Restauration zurück. Diese Reise mehrte weniger seine Glücksgüter als die Grundlagen zu seinem künftigen Glück. Er wurde der Freund des Mannes, dessen Bevollmächtigter er gewesen war. Nunmehr drang er in die verzwicktesten Geheimnisse der Pariser Börsenspieler und Geldgeber ein, denn der gerissene Gobseck spielte vor ihm mit offenen Karten. Du Tillet war obendrein einer, der die leiseste Andeutung verstand.

Nach seiner Rückkehr war ihm Frau Roguin treu ergeben wie zuvor. Ebenso sehnsüchtig wie sie hatte ihn ihr Gatte erwartet, den die schöne Holländerin inzwischen von neuem aufs Trockene gesetzt hatte. Du Tillet nahm die schöne Sara ins Gebet, denn alle ihre angeblichen Ausgaben erreichten die Höhe der vergeudeten Summe nicht. Dabei kam er hinter ihr sorglich gehütetes Geheimnis, hinter ihre maßlose Leidenschaft für Maxim von Trailles.

Unter diesen Umständen riet der Bankier du Tillet – das war er nunmehr – dem Notar dringend, einmal an sich selber zu denken und in seine weiteren Spekulationen die reichsten seiner Klienten mitzuverwickeln. Dabei könne er sich eine ordentliche Summe in die Reserve legen für den Fall, daß ihm das Spiel an der Börse schlecht ausliefe. Nach einigem Auf und Ab, wobei lediglich für du Tillet und Frau Roguin etwas heraussprang, hörte der Notar endlich sein letztes Stündlein schlagen. Er stand vor dem völligen Ruin. Sein »bester Freund« beutete seinen Todeskampf aus, indem er die Spekulation mit den Baustellen um die Kirche Saint-Madeleine inszenierte. Er bekam dadurch die hunderttausend Francs in die Hände, die Birotteau dem Notar anvertraut hatte. Du Tillet hegte die Absicht, den Parfümhändler kaufmännisch zu vernichten.

Das Land um die Madeleine hatte damals einen sehr geringen Wert, aber man mußte notgedrungen mehr dafür zahlen, als es im Augenblick wert war, weil die Vorbesitzer die Gelegenheit wahrnahmen, etwas zu verdienen. Du Tillet nahm sich von vornherein vor, aus der Sache Nutzen zu ziehen, ohne die Verluste einer mit der fernen Zukunft rechnenden Spekulation mitzutragen. Mit andern Worten: sein Plan bestand darin, das Geschäft zu ersticken, den Kadaver an sich zu bringen und neues Leben aus den Ruinen erstehen zu lassen. In solchen Fällen pflegten sich Leute wie Gobseck, Palma, Werbrust und Gigonnet einander die Hände zu reichen. Aber du Tillet war noch nicht intim genug bekannt mit ihnen, als daß er ihren Beistand erbitten konnte. Übrigens wollte er bei der Sache selber so wenig wie nur möglich aus dem Hinterhalt treten. Er sah sich somit gezwungen, sich einen sogenannten Strohmann zu verschaffen. Er fand ihn in einem ehemaligen Commis voyageur, der keinen roten Heller und keine andere Fähigkeit besaß, als daß er sich zu allem gebrauchen ließ. Diskret war er auch. Diesen Menschen, dem es nicht darauf ankam, seine Ehre für seinen Brotgeber zu lassen, machte du Tillet zum Bankier, zum Chef der Firma Claparon & Co. Für den Fall, daß die von du Tillet eingefädelten Spekulationen fehlgingen – und damit rechnete er –, war es Charles Claparons Rolle, den Juden und Pharisäern ausgeliefert zu werden.

Dem armen Teufel mit zwei Francs in der Tasche, der er, trübsinnig auf den Boulevards hinbummelnd, gewesen war, als ihn sein Freund du Tillet traf, war der bei der Sache verheißene kleine Gewinn ein gelobtes Land. Er sagte zu allem ja und amen und hing mit demütiger Ergebenheit an seinem Gönner wie ein Hund an seinem Herrn.

Claparon übernahm also scheinbar die eine Hälfte der Terrainspekulation, während die andere auf Birotteaus Schultern gewälzt wurde. Die Wechsel, mit denen dieser seinen Anteil an dem Baustellenkauf bezahlen würde, sollten von einem Wucherer diskontiert werden, der dem du Tillet auch nur seinen Namen herzugeben brauchte. Ohne die dem Notar Roguin anvertrauten Gelder mußte Birotteau in Konkurs geraten. Bei der Versteigerung der Baustellen wollte du Tillet sie dann zur Hälfte des Wertes erstehen und sie mit den Geldern Roguins und der Konkursdividende bezahlen. Der Notar ging auf diesen Plan ein, weil er einen guten Anteil an der kostbaren Beute – dem Vermögen Birotteaus und seiner Genossen – einzuheimsen glaubte; aber der Mensch, dem er sich überlieferte, wollte sich den Löwenanteil aneignen, und das gelang ihm auch wirklich. Der geprellte Notar konnte du Tillet vor keinem Gerichtshof verklagen; er mußte noch froh sein, wenn ihm von Zeit zu Zeit in seinem Exil in einem Winkel der Schweiz ein Knochen zum Abnagen vorgeworfen wurde.

Dieser teuflische Plan war keineswegs im Hirn eines Verfassers von Hintertreppenromanen entstanden, sondern hatte sich ganz einfach aus den Umständen ergeben. Haß ohne Rachsucht gleicht einem Samenkorn, das auf Felsen gefallen ist, aber die Rache, die du Tillet seinem früheren Prinzipal geschworen hatte, war von elementarer Fruchtbarkeit und frei von innerlichen Kämpfen zwischen Gut und Böse. Ermorden konnte du Tillet den einzigen Menschen, der um seinen Diebstahl wußte, nicht, wenigstens nicht ohne große Gefahr; aber er konnte ihn in den Schmutz treten und ihn kaufmännisch so vernichten, daß niemand auf sein Zeugnis mehr hörte. Schon lange keimte die Rache in du Tillets Herzen, ohne zur Entfaltung zu kommen. In Paris gelangt auch der Haßerfüllteste nur selten zur Tat: das Leben ist dort zu flüchtig, zu bewegt, zu reich an unvorhergesehenen Zufällen. Aber wenn diese fiebernde Rastlosigkeit auch keine Zeit zu tiefem Nachdenken läßt, so verhilft sie dem im Grunde eines energischen und listigen Herzens lauernden Gedanken gelegentlich doch zum Sprunge. Als Roguin sein Herz vor du Tillet ausschüttete, sah dieser sofort die Möglichkeit, seinen Feind vernichten zu können, und er täuschte sich hierin nicht.

Der Notar, dem die Trennung von seiner Geliebten bevorstand, genoß gierig die letzten Tropfen des Liebestranks; jeden Tag ging er in die Champs-Elysées und kehrte erst beim Morgengrauen nach Hause zurück. Die mißtrauische Frau Birotteau hatte somit recht. Auch heute kam er von der schönen Holländerin. Ein Mann, der sich dazu hergibt, eine Rolle zu spielen, wie sie du Tillet dem Notar zugeteilt hatte, wird zum vollendeten Schauspieler; er bekommt Luchsaugen und den Scharfblick eines Sehers; er versteht es, seine Opfer zu hypnotisieren.

Roguin hatte Birotteau von weitem schon längst bemerkt, ehe dieser ihn sah. Mit ausgestreckter Hand lief er auf ihn zu.

»Ich habe soeben das Testament einer hohen Persönlichkeit aufgenommen, die keine acht Tage mehr zu leben hat«, erzählte Roguin mit der natürlichsten Miene von der Welt, »aber man hat mich wie einen Dorfarzt behandelt; man hat mich in einem Wagen geholt und schickt mich zu Fuß wieder nach Hause.«

Seine Worte verscheuchten die leichte Wolke des Mißtrauens, die Birotteaus Stirn verfinstert hatte. Roguin hatte sie wohl, bemerkt und hütete sich gar sehr, zuerst von dem Kauf der Grundstücke zu sprechen... Er wollte seinem Opfer den Todesstoß geben.

»Erst ein Testament, dann einen Ehevertrag!'« meinte Birotteau, »so ist das Leben! Ach, ehe ich's vergesse: Vater Roguin, wann wird denn die Madeleine-Geschichte perfekt?«

»Na, wenn nicht heute«, antwortete der Notar mit diplomatischer Miene, »dann nie! Wir fürchten, die Sache kommt unter die Leute. Zwei meiner reichsten Klienten, die an der Spekulation teilnehmen wollen, haben mich schon stark angegangen. Jetzt heißt es: entweder – oder! Sofort nach Tisch will ich die Verträge aufsetzen. Bis ein Uhr muß ich Ihre Unterschrift haben! Adieu!«

»Gut! Abgemacht! Auf mein Wort!'« Birotteau bekräftigte sein Versprechen mit einem Handschlag: »Nehmen Sie die hunderttausend Francs, die ich meiner Tochter als Mitgift bestimmt hatte!«

Mit einem kurzen: »Recht so!« entfernte sich Roguin.

Cäsar ging zu Popinot zurück. Während der paar Schritte bis zu ihm ward ihm der Kopf siedeheiß, Er fieberte. Es sauste ihm in den Ohren.

»Was fehlt Ihnen, Herr Birotteau?« fragte Anselm, als er das aufgeregte Gesicht seines Brotherrn sah.

»Ja, mein Junge, ich habe eben durch ein einziges Wort ein großes Geschäft abgeschlossen. Niemand ist in solchen Fällen ganz Herr seiner selbst. Übrigens ist dir die Sache nicht fremd, und ich bin gerade deshalb mit dir ausgegangen, um ungestört mit dir darüber reden zu können. Niemand hört uns hier. Deine Tante ist in Geldverlegenheit ? Sag mal, wobei hat sie denn eigentlich ihr Geld eingebüßt?«

»Wobei? Sehen Sie, meine Verwandten hatten ihr Vermögen beim Bankier von Nucingen. Da wurden sie gezwungen, für das Geld russische Minenaktien zu nehmen, die noch keine Dividende geben. In ihrem Alter ist es schwer, von bloßen Hoffnungen zu leben.«

»Wovon leben sie denn da?«

»Von meinem Gehalt, das sie zu meiner Freude annehmen.«

»Du bist ein guter Junge, Anselm!« Dem Parfümeur waren Tränen in die Augen gestiegen. »Du verdienst meine Achtung und Liebe. Und weil du dir meine Geschäfte so angelegen sein läßt, sollst du eine hohe Belohnung bekommen.«

»Haben Sie vielleicht meine Liebe zu ...«

»Na, in wen bist du denn verliebt?«

»In Fräulein Cäsarine!«

»Hallo, mein Junge! Bist du toll? Behalte dein Geheimnis für dich! Ich will's nicht gehört haben. Aber morgen verläßt du mein Haus! Verdenken kann ich dir's ja nicht. An deiner Stelle ging mir's – beim Teufel! – ebenso. Das Mädel ist bildhübsch!«

»Herr Birotteau!« Dem Kommis trat der Angstschweiß auf die Stirn.

»Mein lieber Junge, so was macht sich nicht im Handumdrehen. Cäsarine hat ihren freien Willen, aber ihre Mutter hat so ihre Absichten mit ihr. Deshalb ermanne dich, trockne deine Tränen, halte dein Herz im Zaume! Und reden wir nicht mehr davon! Ich würde mich nicht schämen, dich zum Schwiegersohn zu bekommen. Als Neffe des Kreisrichters Popinot und der Ragons kannst du Ansprüche machen wie jeder andere. Doch es bleiben immerhin eine Menge Wenn und Aber. Lassen wir das also! Ich muß jetzt geschäftlich mit dir reden! Setz dich mit auf die Bank da! Weg mit der Verliebtheit! Jetzt sind wir Kaufleute! Hast du Mut? Mut, mit einem Stärkeren zu ringen ? Dich Mann gegen Mann zu schlagen?«

»Ja«

»Einen langen, gefahrvollen Kampf auszuhalten?«

»Um was handelt sich's denn?«

»Das Macassar-Öl totzumachen!« Birotteau warf sich wie ein Held in die Brust. »Täuschen wir uns nicht: der Feind ist stark, wohl verschanzt und respektabel! Der Macassar-Öl-Handel hat sich glatt abgewickelt. Die Erfindung war nicht übel. Die originelle viereckige Form der Flaschen hat viel für sich. Für mein Konkurrenzunternehmen dacht ich zunächst an dreieckige. Aber nach reiflichem Erwägen möchte ich doch lieber niedliche kleine, mit Stroh umflochtene Glasflaschen wählen; die sehen geheimnisvoll aus, und das zieht die Käufer an!«

»Ist aber kostspielig!« meinte Popinot; »man müßte alles so wohlfeil als möglich herstellen, um den Wiederverkäufern einen hohen Rabatt bewilligen zu können.«

»Ganz recht, mein Junge! Du verstehst dich aufs Geschäft! Siehst du, das Macassar-Öl wird sich verteidigen! Es ist gut eingeführt und hat einen verführerischen Namen, man gibt's für fremdländischen Import aus, und unser Artikel ist unglücklicherweise von hier! Sag also, Popinot, fühlst du die Kraft in dir, das Macassar-Öl zu übertrumpfen? Die Sache ist nicht so einfach! Das Macassar-Öl ist allbekannt. Wir dürfen es nicht unterschätzen! Das Publikum liebt und kauft es.«

»Ich mach's doch zuschanden!« rief Popinot mit blitzenden Augen.

»Womit denn? Was ihr jungen Leute immer gleich für Hitzköpfe seid! Laß mich doch erst mal ausreden!«

Popinot stellte sich militärisch stramm vor Birotteau hin wie ein Soldat vor einen Marschall von Frankreich.

»Anselm, ich habe ein Öl erfunden zur Förderung des Haarwuchses, zur Wiederbelebung der Kopfhaut, zur Erhaltung der Haarfarbe bei beiderlei Geschlecht. Diese Essenz wird ebenso ihr Glück machen wie meine Sultaninnen-Creme und mein Venus-Wasser! Aber ich will mein Rezept nicht allein ausbeuten. Ich trage mich nämlich mit der Absicht, mich vom Geschäft zurückzuziehen. Du sollst mein ,Comagen-Öl‘ der Welt schenken. Der Name ist sehr einfach entstanden. Comagen kommt nämlich von dem lateinischen Worte coma her, was, wie mir der Hof-Leibarzt Alibert gesagt hat, Haar bedeutet. Weißt du, in der Tragödie ,Berenice‘ läßt Racine einen König von Commagene auftreten, den Geliebten jener schönen, durch ihr Haar so berühmten Königin. Wahrscheinlich hat er aus galanter Schmeichelei seinem Königreich den Namen Commagene gegeben. Ja, die Männer des grauen Altertums, das waren Hauptkerle! Die kleinsten Kleinigkeiten waren ihnen wertvoll!«

Popinot blieb ernsthaft, als er den Blödsinn hörte, der offenbar nur in Anbetracht von Anselms guter Schulbildung vorgetragen wurde.

»Anselm«, fuhr Birotteau fort, »ich baue auf dich! Gründe in der Rue des Lombards ein Parfümgeschäft. Ich werde dein stiller Teilhaber. Das nötige Anfangskapital schieße ich dir vor. Nach dem Comagen-Öl versuchen wir's mit Zahnputz- und Schnupfenrnitteln. Na, was meinst du nun, strebsamer junger Mann ? Sagt dir das zu?«

Anselm konnte vor Beklommenheit nicht reden, aber seine Augen antworteten für ihn. Das Angebot schien ihm von väterlicher Nachsicht diktiert, die ihm sagte: Verdien dir Cäsarine, indem du reich und angesehen wirst!

»Herr Birotteau, ich mache mein Glück!«

»Genau so dachte ich einst auch!« rief Birotteau. »Wenn du auch meine Tochter nicht kriegst, mein Junge, so sollst du doch wenigstens zu Vermögen kommen.«

»Lassen Sie mich immerhin hoffen, daß ich beides erringe!«

»Verwehren kann ich dir das nicht, junger Freund!« versetzte Birotteau, von dem herzlichen Ton in Anselms Worten gerührt.

»Herr Birotteau, lassen Sie mich noch heute auf die Suche nach einem geeigneten Laden gehen, damit ich das Geschäft möglichst bald anfangen kann!«

»Meinetwegen! Morgen haben wir beide in der Fabrik zu tun. Ehe du in die Rue des Lombards gehst, sprichst du mal bei Livingston vor und fragst, ob meine neue hydraulische Presse morgen aufgestellt werden kann. Heute abend gehen wir beide zu dem berühmten Professor Vauquelin. Ich will ihn zu Rate ziehen. Er hat sich erst ganz neuerdings mit der Untersuchung des menschlichen Haares beschäftigt und wertvolle Studien über Farbe, Organismus und Ernährung des Haares gemacht. Das zu wissen ist von Bedeutung, lieber Popinot! Ich werde dich in meine Erfindung einweihen, und dann kommt es nur darauf an, sie geschickt auszubeuten. Vor Livingston gehst du zum Kunsthändler Pietro Benardi. Vauquelins Uneigennützigkeit ist nämlich schon nicht mehr schön; er nimmt nicht das Geringste von mir an. Da habe ich neulich durch Chiffreville erfahren, daß er nach einem Kupferstich der Sixtinischen Madonna, von einem gewissen Müller gestochen, fahndet. Benardi hat nach zweijähriger Korrespondenz mit einem Dresdener Kunsthändler endlich einen Abzug ,avant la lettre‘ auf chinesischem Papier aufgetrieben. Er kostet mich fünfzehnhundert Francs, mein Junge! Ich hab ihn einrahmen lassen. Hol das Bild ab! Unser Gönner soll den Stich heute, wenn er uns beim Abschiede hinausgeleitet, in seinem Vorzimmer finden. Ich beweise ihm damit meine Dankbarkeit. Also Popinot, die Sache ist abgemacht! Ich gebe dir das Geld und vertraue dir meine Erfindung an. Wir teilen uns beide zu gleichen Teilen in Kosten und Gewinn. Ein besonderer Vertrag ist nicht nötig. Laß das Glück nur kommen! Wir wollen's schon festhalten! Nun lauf! Ich gehe ins Geschäft. Halt, Popinot! In drei Wochen gebe ich einen großen Ball. Laß dir einen Frack bauen und erschein da zum erstenmal als selbständiger Kaufmann!«

Dieser letzte Zug von Wohlwollen rührte Popinot dermaßen, daß er Cäsars dicke Hand ergriff und küßte. Der gute Birotteau hatte den Verliebten durch sein Vertrauen gewonnen, und Verliebte sind zu allem fähig.

Armer Junge, sagte Birotteau bei sich, als er Anselm durch die Tuilerien laufen sah, wenn Cäsarine ihn nur lieben könnte! Aber er hinkt, hat Fuchshaare, und die jungen Mädchen sind so sonderbar! Ich glaube nicht, daß Cäsarine ... Na, und dann will ihre Mutter sie ja als Frau Notar sehen. Mit Alexander Crottat wird sie reich – und Reichtum macht alles wett, während Armut und Not jedem Glück ein Ziel setzt. Übrigens soll Cäsarine, solange sie keine Dummheiten begeht, freies Spiel haben!

Birotteaus Nachbar trieb einen kleinen Handel mit Regenschirmen, Sonnenschirmen und Spazierstöcken. Er hieß Cayron und war aus dem Languedoc gebürtig. Sein Geschäft ging schlecht, und Birotteau war ihm schon verschiedentlich gefällig gewesen. Cayron war bereit, sich fortan auf seinen Laden zu beschränken; er trat dem reichen Parfümeur gern die beiden Zimmer im ersten Stock ab, denn dadurch verminderte sich sein Mietzins bedeutend.

»Guten Tag, Nachbar!« begrüßte Birotteau den Schirmhändler gemütlich, als er bei ihm eintrat. »Meine Frau ist mit der Vergrößerung unseres Ladens einverstanden! Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir um elf zusammen zu Molineux.«

»Herr Birotteau, ich habe für die Abtretung nichts von Ihnen verlangt, aber Sie wissen, daß ein Kaufmann aus allem Geld schlagen muß.«

»Den Teufel auch!« rief Birotteau; »ich bin doch kein Krösus! Zunächst weiß ich noch gar nicht, ob der Baumeister, den ich bestellt habe, die Sache ausführbar finden wird. Ehe wir einig werden, hat er zu mir gesagt, müssen wir erst mal wissen, ob die Fußböden in beiden Häusern in gleicher Höhe liegen. Dann muß Molineux das Durchbrechen der Mauer gestatten. Und schließlich muß ich meine Treppe verlegen lassen und wer weiß, was so ein Neubau noch sonst alles verlangt. Das kostet summa summarum ein Heidengeld! Und ich will mich doch nicht dabei ruinieren.«

»Oho, Herr Birotteau! Eher stürzt der Himmel ein, als daß Sie sich ruinieren!«

Birotteau rieb sich das Kinn, wippte sich auf den Fußspitzen hoch und sank wieder auf die Fersen zurück.

»Übrigens«, fuhr Cayron fort, »will ich von Ihnen nichts weiter, als daß Sie mir diese Wechsel abnehmen.«

Er überreichte Cäsar ein Bündel Papiere: sechzehn Wechsel im Betrage von insgesamt fünftausend Francs.

»Hm!« brummte der Parfümhändler, indem er sich die Akzepte einzeln ansah; »zwei Monate, drei Monate...«

»Nehmen Sie sie mit sechs Prozent Abzug!« bat der Schirmhändler demütig.

»Mache ich denn Wuchergeschäfte?« fragte Birotteau vorwurfsvoll.

»Du mein Gott, Herr Nachbar, ich war bei Ihrem ehemaligen Kommis du Tillet. Der wollte sie um keinen Preis, wahrscheinlich nur um zu erfahren, wieviel ich daran wohl fahren lassen würde ...«

»Ich kenne die Akzeptanten nicht«, meinte Birotteau.

»Wir haben drollige Namen in unserer Branche. Es sind alles kleine Wiederverkäufer!«

»Na, alle nehme ich ja nicht, aber mit ein paar von den kürzesten will ich's mal versuchen!«

»Ach, bester Herr Birotteau, lassen Sie mich nicht den Blutsaugern in die Hände fallen, die einem das bißchen Verdienst am Geschäft wieder abzapfen! Nehmen Sie alle, Herr Birotteau! Mir diskontiert kein Mensch die Wechsel! Ich habe keinen Bankkredit. Das ist's ja, was uns Kleinhändler ruiniert!«

»Na gut, ich nehme Ihre Papiere! Cölestin mag Ihnen den Betrag auszahlen. Halten Sie sich um elf Uhr bereit! – Ah, da kommt ja auch mein Architekt, Herr Grindot!« Birotteau wandte sich dem herantretenden jungen Mann zu, mit dem er am Abend vorher eine Zusammenkunft verabredet hatte. »Sie sind gegen die Gewohnheit genialer Leute pünktlich!« Birotteau entfaltete seine ganze Kaufmannsliebenswürdigkeit. »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige! heißt es – und die Sparbüchse der Geschäftsleute! möchte ich hinzusetzen. Zeit ist Geld – auch für euch Künstler! Und die Baukunst, habe ich mir sagen lassen, ist die Königin aller Künste!«

Vier Jahre vorher hatte sich Grindot das Rom-Stipendium für Architekten errungen. Er war nun noch nicht lange aus der Kosmopolis zurück, wo er sich drei Jahre auf Staatskosten aufgehalten hatte. In Italien hatte der junge Künstler seinen Idealen angehört, in Paris mußte er nunmehr an sein Fortkommen denken. Die Regierung allein hat die Millionen, die ein Baukünstler zum Bau seiner Ruhmestempel braucht. Jeder, der aus Rom zurückkommt, hält sich für einen Palladio oder Bramante. Und so ist es sehr natürlich, daß ein ehrgeiziger Architekt dem Staatsdienste zuneigt. Aus manchem freigeistigen Bohémien wird ein sich hohe Gönner suchender Royalist, selbst auf die Gefahr hin, von den Kollegen als Streber verschrien zu werden.

Grindot standen zwei Wege offen: dem Parfümhändler wirklich zu dienen, oder ihn auszubeuten. Mit dem Stadtverordneten Birotteau, dem künftigen Besitzer der Baustellen an der Madeleine, wo früher oder später ein vornehmes Viertel entstehen mußte, mit dem mußte man vorsichtig umgehen! Grindot verzichtete somit um eines künftigen Vorteils willen auf den gegenwärtigen Gewinn. Geduldig hörte er die Pläne und Ideen Birotteaus an, der sich in seiner Rede ewig wiederholte. Cäsar war für den jungen Architekten einer jener Spießbürger, wie sie beständig die Zielscheibe des Spottes der Künstler und der Gegenstand ihrer Verachtung sind. Kopfschüttelnd hörte er Ihm zu. Erst als Birotteau ausgeredet hatte, brachte er seinen eigenen Vorschlag vor.

»Sie haben in Ihrem Hause drei Fenster nach der Straße, außerdem das Treppenfenster. Dazu kommen die beiden in gleicher Höhe im Nachbarhaus gelegenen Fenster. Die Treppe wird verlegt und dadurch nach der Front zu die Zimmerflucht hergestellt.«

»Sie haben mich vollkommen verstanden.« »Um Ihren Plan zu verwirklichen, muß die neue Treppe ihr Licht von oben bekommen. Die Hausmannswohnung kommt in das Souterrain ...«

»Ja«

»Hinsichtlich der Inneneinrichtung Ihrer Wohnung lassen Sie mir wohl freie Hand! Sie soll Ihrer würdig werden, Herr Birotteau!«

»Würdig! Ja! Damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, lieber Grindot!«

»Wieviel Zeit geben Sie mir zum Umbau?«

»Drei Wochen!«

»Und welche Summe wollen Sie für die Arbeiten ausgeben?«

»Wie hoch könnte der Umbau wohl zu stehen kommen?«

»Jeder Baumeister würde Ihnen das auf Heller und Pfennig vorausberechnen. Da ich mich aber nicht auf das Prellen verstehe – Verzeihung, das Wort ist mir entschlüpft! –, kann ich Ihnen nur sagen, daß ich es für unmöglich halte, den genauen Preis für den Umbau und was drum und dran hängt vorher genau festzustellen. Ich könnte Ihnen allerhöchstens in acht Tagen einen ungefähren Anschlag vorlegen. Schenken, Sie mir Ihr Vertrauen! Sie bekommen eine Prachttreppe mit Oberlicht, ein hübsches Vestibül nach der Straße zu und im Souterrain eine nette Portierswohnung! Machen Sie sich also keine Sorgen! Ihre Wohnung soll durch und durch die liebevolle Hand eines Künstlers verraten. Ja, Herr Birotteau: erst die Kunst, und dann das Brot! Ich muß mir vor allen Dingen erst mal ein Renommee machen, um daran in die Höhe zu klettern. Mein Grundsatz ist daher fürs erste: gut und billig!«

»Mit dem Grundsatz werden Sie Ihr Glück machen, junger Mann!« meinte Birotteau gönnerhaft.

»Deshalb wenden Sie sich«, fuhr Grindot fort, »unmittelbar an Ihre Maurer, Maler, Schlosser, Zimmerleute und Tischler. Ich werde die Rechnungen dieser Handwerker gern nachprüfen. Bewilligen Sie mir ein Honorar von nur zweitausend Francs! Sie sollen das Geld gut verwendet haben. Überlassen Sie mir morgen mittag das Terrain und weisen Sie mir Ihre Handwerksleute zu!«

»Wie hoch können sich die Kosten so ungefähr belaufen?«

»Zehn- bis zwölftausend Francs ohne das Mobiliar, das Sie doch wahrscheinlich erneuern. Geben Sie mir die Adresse Ihres Tapezierers; ich muß mich wegen der Farbenzusammenstellung mit ihm verständigen, damit wir ein stimmungsvolles Ganzes schaffen!«

»Der Tapezierer Braschon in der Rue Saint-Antoine! Er hat meine Anweisungen bereits entgegengenommen«, entgegnete der Parfümhändler mit der Würde eines Mediceers.

Grindot schrieb sich die Adresse in eins jener kleinen Notizbücher, die stets das Geschenk einer hübschen Frau sind.

»Also, ich verlasse mich auf Sie!« sagte Birotteau; »nur warten Sie noch, bis ich den Mietvertrag über die beiden Zimmer im Nachbarhause und die Erlaubnis zum Durchbruch der Wand bekommen habe.«

»Benachrichtigen Sie mich, bitte, bis heute abend durch ein paar Zeilen! Ich arbeite dann in der Nacht den Plan aus. Ich will mir doch gleich die Maße nehmen...«

»Schön! Und am festgesetzten Tage hübsch fertig werden! Sonst gibt's nichts!«

»Wird alles gemacht! Es soll Tag und Nacht gearbeitet werden! Die Malereien werden mit künstlichen Mitteln getrocknet. Aber lassen Sie sich nicht von den Handwerkern übervorteilen! Fragen Sie immer vorher nach dem Preis und geben Sie dann erst Ihre Aufträge!«

»Paris ist der einzige Ort in der Welt, wo noch Wunder geschehen! Geben Sie mir die Ehre, Herr Grindot, und kommen Sie auf meinen Ball! Nicht alle Genies sehen mit Geringschätzung auf den Kaufmannsstand herab. Sie. werden bei mir einen Gelehrten ersten Ranges treffen: den Professor Vauquelin, Mitglied des Instituts! Ferner Herrn de la Billardière, den Grafen von Fontaine, den Handelsgerichtspräsidenten Lebas. Von hohen Beamten erscheinen: Der Senatspräsident Graf von Granville, der Kreisrichter Popinot, der Handelsrichter Camusol und sein Schwiegervater Cardot; vielleicht auch der Herzog von Lenoncourt, Kammerherr Seiner Majestät! Ich habe alle meine Freunde eingeladen, sowohl um die Räumung Frankreichs von den fremden Truppen zu feiern, als auch meine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion ...«

Grindot machte eine rätselhafte Geste. Birotteau fuhr unentwegt fort:

»Vielleicht... habe ich mich dieser ... allerhöchsten ... königlichen ... Auszeichnung würdig gemacht, als ich Handelsrichter war und weil ich am 13. Vendémiaire auf den Stufen von Saint-Roch gekämpft habe, wobei ich von Napoleon verwundet worden bin. Meine Ansprüche ...«

Da trat Konstanze im Morgenkleide aus Cäsarines Schlafzimmer, wo sie sich angekleidet hatte. Ihr Blick hemmte den redseligen Erguß ihres Gatten, der einen Mustersatz zu drechseln versuchte, um seinem lieben Nächsten bescheidentlich einen Begriff von seiner Geistesgröße beizubringen.

»Guten Morgen, Schatz! Hier stelle ich dir Herrn von Grindot vor, einen vornehmen jungen Mann von großem Talent. Herr von Grindot ist der Architekt, den uns der Herr Oberbürgermeister zur Leitung unseres kleinen Umbaus hier empfohlen hat.«

Bei dem Worte »klein« zwinkerte der Parfümhändler dem Architekten zu und legte den Finger an den Mund. Der Künstler verstand das Zeichen.

»Konstanze, der Herr will alles ausmessen! Liebchen, laß ihn schalten und walten!«

Damit verduftete Birotteau.

»Wird die Geschichte sehr teuer für uns werden ?« fragte Konstanze.

»Nein, gnädige Frau, etwa sechstausend Francs...«

»Etwa! Ich bitte Sie! Fangen Sie ja nichts ohne Anschlag und feste Abmachung an! Ich kenne die Herren Handwerker. Sechstausend vorher heißt soviel wie zwanzigtausend nachher! Wir sind nicht in der Lage, Torheiten zu begehen. Mein Mann ist zwar Herr im Hause, aber die Sache muß er sich noch mal überlegen!«

»Gnädige Frau, der Herr Stadtverordnete hat mich beauftragt, binnen drei Wochen alles fertigzustellen. Ich darf keine Minute verlieren.«

»Das wird schön viel kosten!« jammerte Konstanze.

»Gnädige Frau! Meinen Sie vielleicht, es sei besonders ruhmvoll für einen Künstler, der unsterbliche Bauwerke schaffen möchte, eine Wohnung umzubauen ? Ich lasse mich zu der Handwerkerarbeit nur herab, um Herrn de la Billardière gefällig zu sein, und wenn ich Ihnen unliebsam ...«

Er ging nach der Tür zu.

»Nein, nein! Es ist schon gut!« Damit verschwand Konstanze im Nebenzimmer, wo sie ihrer Tochter um den Hals fiel.

»Mein Gott, Cäsarine, der Vater ruiniert sich und uns! Einen Architekten hat er engagiert, der einen Schnurrbart trägt und vom Schaffen unsterblicher Bauwerke schwatzt. Er will das ganze Haus umkrempeln und einen Louvre daraus machen! Cäsar ist zu jeder Dummheit fähig. Vergangene Nacht hat er mir seinen Plan eröffnet, tags darauf führt er ihn bereits aus...«

»Ach was, Mutter, laß den Vater nur machen! Der liebe Gott wird ihm schon beistehen!«

Sie umarmte ihre Mutter und setzte sich dann an, das Klavier. Sie wollte dem Architekten beweisen, daß auch im Hause eines Parfümhändlers die Künste ein Heim haben können. Es dauerte gar nicht lange, da erschien Grindot im Wohnzimmer, wo Cäsarine spielte. Das junge Mädchen gefiel ihm dermaßen, daß er sie ganz betroffen anstarrte.

Cäsarine sah in ihrem hübschen Morgenkleide in der Tat allerliebst aus: frisch und rosig, wie just eine niedliche achtzehnjährige blauäugige Blondine ausschaut. Ihr von einer Fülle sorglich gelegter Locken umrahmtes volles Gesicht hatte bei aller Zartheit des Teints Farbe. Durch diesen malerischen Reiz und auch in den bereits üppigen Formen ihres jungfräulichen Körpers erinnerte Cäsarine an die Flamländerinnen des Rubens, wenn auch gewisse echt französische Elemente in ihr nicht zu verkennen waren, so insbesondere ihre Lebhaftigkeit und ihre von der Mutter geerbten heiteren Züge. Auch eine gewisse Grazie fehlte ihr nicht. Vom Vater hatte sie die etwas schwerfälligen Füße und die roten Hände, Schönheitsfehler, die ihre bäuerlichen Vorfahren verrieten. Durch die häufige Berührung mit vornehmen und eleganten Damen, die den väterlichen Laden als Käuferinnen betraten, hatte sich Cäsarine gewisse mondäne Allüren angeeignet und sich schick zu kleiden gelernt. Damit verstand sie, allen jungen Männern die Köpfe zu verdrehen.

Das hübsche Mädchen machte die Männer verliebt, ehe sie sich klar wurden, wes Geistes Kind sie sei. Wozu braucht eine Frau geistreich zu sein – was man in Paris so nennt – in einer Gesellschaftsklasse, wo man zu einer glücklichen Ehe nichts braucht als eine Frau, die gesunden Menschenverstand hat und treu ist? In geistiger Hinsicht glich Cäsarine ihrer Mutter, nur besaß sie durch ihre Erziehung mehr sogenannte Bildung; sie spielte gern Klavier, konnte nach Vorlagen ganz nett zeichnen, liebte die Bücher der Göttin und der Riccoboni und kannte die Werke von Fénelon, Racine und Bernhardin de Saint-Pierre. In das Kontor kam sie selten; nur wenn sie ihre Mutter vertreten sollte. Wie das alle Parvenüs tun, verzogen und vergötterten Cäsar und Konstanze ihre Tochter, allerdings ohne daß diese das mißbrauchte.

Grindot maß das Zimmer aus. Frau Birotteau sah ihm dabei mit bekümmerter Miene und von Unruhe erfaßt zu. Sie liebte die kleinen Zimmer, wagte aber nicht, dem jungen Manne Vorhaltungen zu machen.

»Haben Sie keine Angst, gnädige Frau«, sagte der Künstler lächelnd, »ich nehme nichts mit!«

Cäsarine mußte lachen.

»Herr von Grindot«, bat Konstanze, die des Architekten Ironie gar nicht verstanden hatte, »machen Sie es möglichst billig! Wir werden uns dafür auch erkenntlich zeigen.«

Ehe Cäsar zu Molineux ging, dem Eigentümer des Nachbarhauses, wollte er von Roguin den Vertrag holen, den Crottat über die Mietabtretung anfertigen sollte. Als er aus dem Hause trat, sah er du Tillet drüben in Roguins Arbeitszimmer am Fenster stehen. Obgleich du Tillets Verhältnis mit Frau Roguin seine häufige Anwesenheit im Hause des Notars erklärte und trotz des grenzenlosen Vertrauens, das er in Roguin setzte, ward Birotteau doch unruhig. Du Tillets angeregter Gesichtsausdruck ließ auf eine lebhafte Unterhaltung schließen.

Sollte der an dem Geschäft beteiligt sein? fragte sich der Parfümhändler voll kaufmännischen Argwohns. Was machte du Tillet gerade heute bei Roguin, wo die Verträge in der Spekulationsangelegenheit zustande kommen sollten? Wie ein Blitz durchzuckte ihn dieser Verdacht. Er blickte nochmals hin und bemerkte Frau Roguin; nunmehr erschien ihm die Anwesenheit des Bankiers nicht mehr verdächtig.

Wenn Konstanze aber doch recht hätte? Unsinn! Auf Weibereinfälle zu hören! Aber auf jeden Fall will ich noch heute mit Pillerault darüber reden. Von Molineux bis zur Rue des Bourdonnais ist's ja nur ein Katzensprung!

Ein mißtrauischer Beobachter, ein erfahrener Kaufmann, der im Laufe seines Geschäftslebens auf manchen Gauner gestoßen, hätte Lunte gerochen; aber Birotteau war in seiner Beschränktheit unfähig, aus einer Kette von Erscheinungen auf die Ursachen zu schließen. Er war kein höherer Mensch und so war er der Gefahr nicht gewachsen.

Er fand den Schirmhändler in vollem Wichs und wollte gerade mit ihm zu Molineux gehen, als ihn Virginie, seine Köchin, beim Arme faßte.

»Die gnädige Frau läßt bitten, nicht eher zu Herrn Molineux zu gehen ...«

»Unsinn! Weibermucken!«

»... ehe der Herr den Kaffee getrunken hätte!« fuhr die Köchin fort.

»Richtig! Ach Gott, mir geht so viel durch den Kopf, daß ich schon das Essen und Trinken vergesse! Gehen Sie immer, lieber Nachbar, ich folge Ihnen auf dem Fuße! Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie Molineux die Sache inzwischen auseinandersetzen; wir sparen da Zeit.«

Johann Baptist Molineux war ein kleiner Rentier von der wunderlichen Sorte, wie man sie nur in Paris findet. Es ist wie mit dem isländischen Moos, das eben nur in Island wächst. Dieser Vergleich ist wirklich treffend; denn Molineux war ein Zwittergeschöpf von Tier und Pflanze. Er glich jenen Kryptogamen, die an, auf, in und unter den Mauern unheimlicher und ungesunder alter Häuser wachsen, blühen und vergehen. Diese Menschenpflanze, ein blaues Käppchen auf dem Kopfe, in grünem Rock und gelben Hosen, mit ihrem gedunsenen weißlichen Gesicht, hatte auf den ersten Blick durchaus nichts Giftiges. Dieses groteske Wesen war unverkennbar der typische kleine Rentner, der auf alle Zeitungsnachrichten schwört und alles, was er sagt, mit der stereotypen Phrase bekräftigt: »Es steht doch in der Zeitung!« Durch und durch Spießbürger, war er ein Freund jeglicher Ordnung; er schimpfte immer auf die Obrigkeit, gehorchte ihr aber stets. Die Bösartigkeit dieses Menschenschlages zeigt sich stets erst nach geraumer Zeit. Im Rudel sind sie immer harmlos, einzeln um so gefährlicher. Wie alle Pariser, hatte Molineux einen gewissen Herrscherdrang in sich. Irgendwie muß ein Pariser seine Souveränität bestätigen: an Weib oder Kind, am Mieter, Portier, Kommis, Diener, Pferd, Hund oder am Kanarienvogel. An irgendeinem armen Opfer rächt er sich für die Unbill, die ihm von Höherstehenden widerfahren. Der wacklige, alte Molineux hatte weder Frau noch Kind, weder Neffen noch Nichte. Seine Haushälterin behandelte er zwar grob, aber er konnte ihr nicht viel am Zeuge flicken, da sie jede Reibung vermied, indem sie ihren Pflichten höchst gewissenhaft nachkam. Seinen Tyrannengelüsten fehlte der Prügeljunge. Um sie dennoch zu befriedigen, hatte er die Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches über Mietverträge und Verhältnis zwischen Hausbesitzer und Mieter auf das gründlichste studiert; auf diesem Einzelgebiet war er ein halber Jurist geworden. Niemand verstand sich so gut wie er auf die Verwaltung eines Hauses in Paris bis in die nebensächlichsten Umstände: auf Pflichten, Rechte, Steuern, Abgaben, Lasten, Reinigungs- und Beleuchtungsvorschriften, Baugesetze, Verbote, Wasserwesen, Grubenräumerei, sanitäre Maßregeln, Polizeibefugnisse und so weiter. Er schonte weder Geld, Zeit, Mühe noch Geist; alles strengte er an, um sich in seinem Beruf als Hausbesitzer auf dem laufenden zu erhalten. Anfangs hatte ihn das belustigt, dann war es ihm zur Manie geworden. Ganz besondern Spaß machte es ihm, andere Hausbesitzer gegen behördliche Übergriffe zu wappnen. Da sein Tatendrang aber hierin selten Nahrung fand, richtete er ihn schließlich gegen seine Mieter. Jeder Mieter war sein Feind, sein Untergebener, sein Untertan, sein Dienstmann, sein Sklave, der ihm Ehrerbietung schuldete. Wer ohne Gruß auf der Treppe an ihm vorüberging, war ein Flegel.

Die Mietquittungen schrieb er eigenhändig und schickte sie am Fälligkeitstage mittags aus. Säumige Zahler bekamen einen Zahlungsbefehl. Dann folgten Klage, Pfändung, Kosteneintreibung und was drum und dran hängt mit fabelhafter Schnelligkeit. Molineux bewilligte keinen Aufschub, nicht die geringste Frist: in puncto Miete war sein Herz von Stein.

»Ich will Ihnen Geld leihen«, pflegte er zu sonst zahlungsfähigen Mietern zu sagen, »aber bezahlen Sie mir meine Miete! Jede Verzögerung zieht Zinsenverlust nach sich, für den einen kein Mensch entschädigt!«

Mieter folgen wie Dynastien aufeinander; ein jeder verwirft die Einrichtungen seines Vorgängers. Molineux studierte seine Leute. Eines Tages publizierte er eine Hausordnung, die er auf das gewissenhafteste ausgeklügelt hatte und auf deren Befolgung er peinlichst hielt. Der gute Mann ließ nichts reparieren: in seinem Hause rauchte nie ein Kamin, die Treppen waren ein für allemal sauber, die Zimmerdecken unbedingt weiß, die Simse selbstverständlich tadellos, die Fußböden ewig dauerhaft, der Anstrich sichtlich in Ordnung; die Türschlösser waren immer erst drei Jahre alt; zerbrochene Fensterscheiben und Mauerrisse waren Dinge der Unmöglichkeit. Schäden sah er nur, wenn jemand auszog; dann ließ er sie sich vom Schlosser, Glaser und Stubenmaler bestätigen. Dem Mieter stand im übrigen frei, Verschönerungen vorzunehmen. Richtete aber ein Unvorsichtiger seine Wohnung auf eigene Kosten her, dann grübelte der kleine Molineux Tag und Nacht darüber nach, wie er ihn aus seinem Hause verscheuchen und die vorgerichteten Zimmer selber bewohnen könne. Er umlauerte ihn, stellte ihm nach, kurz, er führte alle erdenklichen Bosheiten gegen ihn ins Feld. Er kannte alle Finessen der Pariser Gesetze und Bestimmungen, die für einen Hausbesitzer in Frage kamen. Prozeßsüchtig und schreibselig wie er war, richtete er verbindliche und höfliche Briefe an seine Mieter; aber hinter aller Freundlichkeit verbarg sich – ebenso wie hinter seinem zuvorkommend lächelnden Gesicht – die Seele eines Shylock. Seine Mietverträge enthielten eine Menge mißlicher Bestimmungen; er verlangte halbjährliche Vorausbezahlung; er überzeugte sich, ob die vermieteten Räume auch mit genügenden Möbeln zur eventuellen Deckung nichtgezahlter Miete versehen waren. Jeden neuen Mieter unterwarf er einer Art Kreuzverhör; gewisse Berufe konnte er nicht ausstehen; der leiseste Hammerschlag empörte ihn. Kam es endlich mit einem neuen Mieter zum Vertragsabschluß, so buchstabierte er den Kontrakt erst acht Tage lang durch, ehe er ihn unterschrieb, weil er irgendwelche juristische Spitzfindigkeiten darin befürchtete.

Als Hausbesitzer war Molineux also unerträglich; im übrigen konnte man ganz gut mit ihm auskommen. Er spielte Karten, lachte gern und schwatzte über alles mit: über die Bäcker, die nach falschem Gewicht verkauften, über die Bummelei der Polizei, über die heroischen siebzehn Deputierten der Linken. Er las den »Bons sens« des Pfarrers Meslier, ging aber, da er sich zwischen Deismus und Christentum nicht entscheiden konnte, doch wieder in die Messe. Mit einem Wort: er war und blieb ein kreuzbraver Spießbürger, der die herkömmlichen Feste in der herkömmlichen Feststimmung feiert, zu Neujahr gratuliert, Aprilscherze macht, bei gutem Wetter auf den Boulevards flaniert, dem Schlittschuhlaufen zusieht und – ein Butterbrot in der Tasche – auf der Terrasse der Place Louis XV. erscheint, wenn ein Feuerwerk abgebrannt wird.

Der »Holländische Hof«, wo dieser alte Krippensetzer wohnte, ist das Erzeugnis einer jener blödsinnigen Spekulationen, die dem Kulturfreund ewig unverständlich bleiben. Der klosterartige Gebäudekomplex ist ohne Zweifel errichtet worden, um dem Viertel Saint-Denis eine Art Palais Royal zu geben. Das ungesunde Gebäude ist auf allen vier Seiten unmittelbar von hohen Häusern umgeben. Nur am Tage herrscht hier Leben und Bewegung. Eine Menge dunkler Durchgänge treffen hier zusammen und verbinden im Verein mit der berüchtigten Rue Quincampoix das Markthallenviertel mit dem Quartier Saint-Martin. Nachts ist der Ort wie ausgestorben; man könnte ihn die Katakomben des Handels und Verkehrs nennen. Es wohnen nur Geschäftsleute hier, keine Holländer, aber viele Kolonialwarenhändler. Die Fenster dieses Kaufhauses gehen alle auf den gemeinsamen Hof. Die Mieten sind sehr niedrig. Molineux wohnte der Gesundheit wegen im sechsten Stockwerk, denn erst etwa siebzig Fuß über dem Erdboden wird dort die Luft einigermaßen gesund und rein. Wenn er seine Blumen begoß, die er trotz des Polizeiverbots auf dem Dach des Hauses zog – das sind die »hängenden Gärten« im modernen Babylon –, hatte er einen entzückenden Blick auf den Montmartre mit seinen Mühlen. Die Wohnung bestand aus vier Räumen, den köstlichen Garten im siebenten Stock nicht mitgerechnet. Das Dach war sein Gebiet, er hatte es kultiviert. Hiervon ließ er nicht ab. Die schamlose Nacktheit seiner Behausung verriet den Geiz ihres Bewohners. Im Vorzimmer standen sechs strohgeflochtene Stühle und ein Kachelofen. An den mit flaschengrüner Tapete beklebten Wänden hingen vier auf einer Auktion erstandene Stiche. Im Eßzimmer sah man ein altes Büfett, zwei Bauer voller Vögel, einen mit Wachstuch überzogenen Tisch, ein Barometer und ein paar Mahagonistühle mit durchgesessenen Polstern. Eine Glastür führte auf das Dach hinaus. Der Salon hatte verblaßte grünseidene alte Vorhänge und mit grünem Samt überzogene, weiß gestrichene Holzmöbel. Des alten Junggesellen Schlafstubeneinrichtung im Louis-Quinze-Stil war völlig abgenutzt und so unsauber, daß eine Dame im weißen Kleide sich nicht hineingewagt hätte. Auf dem Kamin prangte eine Standuhr mit einer speerwerfenden Diana. Den Fußboden versperrten Futternäpfe für die Katzen. Über einer Kommode aus Rosenholz hing ein Pastellgemälde; der junge Molineux! Auf einer Konsole thronten ausgestopfte Kanarienvögel. Ein paar Bücher und kleine Tische, auf denen grüne Pappkästen herumlagen, vervollständigten dieses Interieur. Zu guter Letzt war noch ein Bett vorhanden, dessen Unwirtlichkeit selbst eine Karmeliterin davongejagt hätte.

Cäsar Birotteau war entzückt über die ausgesuchte Höflichkeit Molineux', den er in seinem grauen Flanellschlafrock antraf, wie er gerade auf einem kleinen Kocher Milch heiß machte und seinen Zichorienkaffee aus einem braunen Töpfchen ganz langsam in eine Kaffeekanne durchgoß. Um seinen Hauswirt nicht zu stören, hatte Cayron an der Haustür auf den Parfümhändler gewartet und war erst mit ihm zusammen eingetreten. Molineux hatte vor den Stadträten und Stadtverordneten von Paris, die er Ratsoffiziere nannte, einen kolossalen Respekt. Als er also eine solche hohe Ratsperson erblickte, erhob er sich und blieb, sein grünes Käppchen in der Hand, stramm stehen, bis sich der große Birotteau gesetzt hatte.

»Ach, Herr Birotteau, wenn ich geahnt hätte, daß Sie, ein Ratsmitglied, mein Mieter werden wollen, so hätte ich es selbstverständlich für meine Pflicht erachtet, zu Ihnen zu kommen ...«

Birotteau ersuchte ihn durch einen Wink, sein Käppchen wieder aufzusetzen.

»Auf keinen Fall, Herr Birotteau! Nicht eher, als bis Sie sich gesetzt und bedeckt haben! Das Zimmer ist etwas kühl, Sie könnten sich erkälten! Meine geringen Einkünfte erlauben mir nicht... Ihr Wohlsein, Herr Stadtverordneter!«

Birotteau hatte geniest. Er suchte nach seinem Vertrage und reichte ihn Molineux. »Um jede Zeitverschwendung zu vermeiden«, fügte er hinzu, »habe ich gleich einen Vertrag mitgebracht. Der Notar Roguin hat ihn mir auf meine Kosten aufgesetzt...«

»Ich bestreite die Sachkenntnis des Herrn Roguin durchaus nicht!« unterbrach ihn Molineux. »Herr Roguin ist ein alter wohlbekannter Pariser Notar. Indessen habe ich so meine kleinen Gewohnheiten. Ich betreibe mein Geschäft selbst – eine verzeihliche Schwäche! – und mein Notar ist...«

»Na ja, aber unser Geschäft ist doch ureinfach!« unterbrach ihn der Parfümeur nochmals; er war das rasche Handeln eines beschäftigten Kaufmanns gewöhnt.

»Ureinfach? In puncto Mietvertrag ist nichts einfach! Ja, Sie Glücksmensch! Sie sind nicht Hausbesitzer! Wenn Sie wüßten, wie weit die Mieter heutzutage ihre Undankbarkeit treiben und zu wie vielen Vorsichtsmaßregeln unsereiner dadurch gezwungen ist! Ich habe da einen ...«

Eine geschlagene Viertelstunde lang erzählte nun Molineux, wie der Maler Gendrin den wachsamen Hausmann in seinem Hause in der Rue Saint-Honoré überlistet habe. Gendrin hätte Schändlichkeiten, eines Marat würdig, begangen; er hätte unzüchtige Zeichnungen gemacht... »Daß die bummelige Polizei derlei duldet!« Gendrin sei ein durch und durch unsittlicher Mensch; er käme mit liederlichen Dirnen nach Hause und hätte die Treppe verbarrikadiert! Und warum all die Schandtaten? Weil am fünfzehnten endlich die Miete von ihm verlangt worden wäre! Sie würden sich gegenseitig verklagen, denn obgleich der Künstler seine Miete nicht bezahle, beharre er darauf, wohnen zu bleiben. Molineux hätte einen anonymen Brief bekommen – zweifellos von Gendrin –, worin ihm gedroht worden sei, man würde ihn in dem Gäßchen, das zum »Holländischen Hof« führt, demnächst abends erdolchen.

»Sehen Sie, so weit hat er's getrieben«, schloß er seine Erzählung, »daß mir der Herr Polizeipräsident, den ich ins Vertrauen gezogen – ich habe ihm übrigens bei der Gelegenheit verschiedene Gesetzesvorschläge in dieser Hinsicht gemacht! –, daß mir der Herr Präsident erlaubt hat, zu meiner persönlichen Sicherheit eine Pistole zu tragen ... Hier ist sie!«

»Aber bester Herr Molineux! Von mir haben Sie doch so etwas nicht zu befürchten!« sagte Birotteau lächelnd und warf Cayron einen Blick zu, der sein Mitleid mit diesem Original ausdrückte.

Molineux fing den Blick auf; diese Verständnislosigkeit wurmte ihn, zumal an einer Ratsperson, die doch von Berufs wegen verpflichtet war, Hilflose zu schützen. Jedem andern hätte er das verziehen: dem Stadtverordneten Cäsar Birotteau nicht!

»Herr Birotteau«, sagte er bissig, »einer der geachtetsten Handelsrichter, ein Stadtverordneter, ein ehrenwerter Kaufmann wird sich selbstverständlich nicht in solche Niederträchtigkeiten – denn das sind Niederträchtigkeiten! – verlieren. Aber in unserm Falle handelt es sich um einen Durchbruch, zu dem auch erst Ihr Herr Hausbesitzer, Graf von Granville, seine Einwilligung geben muß. Des weiteren ist eine Abmachung wegen der Wiederherstellung der Wand nach Ablauf der Mietzeit, zu treffen. Zu guter Letzt sind auch die Mieten jetzt sehr niedrig; sie werden steigen. Der Place Vendôme wird gewinnen! Die Rue de Castiglione wird gebaut! Ich binde mich... Ich binde mich ...«

»Machen Sie's kurz!« sagte Birotteau peinlich berührt; »was wollen Sie? Ich bin hinlänglich Geschäftsmann, um zu erraten, daß Ihre Bedenken vor dem höheren Faktor, dem Gelde, verstummen werden! Also was wollen Sie?«

»Nur was recht ist! Auf wie lange wollen Sie denn mieten?«

»Auf sieben Jahre.«

»Wer weiß, wie viel mein erster Stock in sieben Jahren wert sein wird ? Wenn ich die beiden Zimmer ausmöblierte, könnte ich für sie in diesem Viertel vielleicht mehr als zweihundert Francs monatlich bekommen! Durch den Mietvertrag binde ich mich. Wir wollen die jährliche Miete für die beiden Ihnen von Herrn Cayron abgetretenen Zimmer auf fünfzehnhundert Francs festsetzen. Dann will ich einverstanden sein. Das Durchbrechen der Wand geschieht auf Ihre Kosten und unter der Bedingung, daß Sie mir die Einwilligung des Grafen von Granville und seinen Verzicht auf alle etwaigen Rechte bringen. Sie tragen die Verantwortung für alle Folgen dieses Durchbruchs ! Meinetwegen brauchen Sie die Wand nicht wieder herstellen zu lassen. Zahlen Sie mir dafür eine sofortige Entschädigung von fünfhundert Francs, und wir sind quitt! Ich will hinter niemandem herlaufen, wenn ich die Wand mal wieder zumachen lassen muß.«

»Ihre Bedingungen scheinen mir ziemlich gerechtfertigt«, gab Birotteau zu.

»So. Sie zahlen mir also siebenhundertundfünfzig Francs pränumerando für das erste halbe Jahr; der Kontrakt wird darüber quittieren. Na, ich nehme auch ein Wechselchen, wenn darauf steht: ,Wert für Miete‘ – um mein Vorrecht zu haben! – und zwar mit einem Ihnen passenden Fälligkeitstage. Ich bin kurz und bündig in Geschäften. Wir setzen noch fest, daß Sie die Tür nach meiner Treppe hin zumauern lassen. Sie haben somit kein Recht, sie zu betreten. Seien Sie ruhig: ich verlange nach Ablauf der Miete keine Entschädigung für die Wiederherstellung dieser Tür. Das ist miteinbegriffen in den fünfhundert Francs. Sie sehen, ich bin immer gerecht!«

»Wir Kaufleute sind nicht so krickelig!« meinte der Parfümhändler; »bei solchen Formalitäten würde überhaupt kein Geschäft zustande kommen!«

»Ja, im Handel, das ist ganz was anderes und besonders in der Parfümbranche; da wickelt sich alles hübsch glatt ab! In puncto Miete aber ist in Paris nichts gleichgültig. Sehen Sie, ich hatte da einen Mieter in der Rue Montorgueil, der...«

»Herr Molineux, ich wäre untröstlich, wenn ich Sie weiterhin von Ihrem Frühstück abhielte. Hier! Prüfen Sie den Vertrag! Vervollständigen Sie ihn! Was Sie sonst noch von mir verlangen, gestehe ich Ihnen im voraus zu. Unterzeichnen wir morgen und geben wir einander heute unser Wort! Morgen muß nämlich mein Architekt die Arbeit anfangen können.«

Molineux sah Cayron an und sagte dann: »Es ist am einfachsten, wenn Ihr Kontrakt von Januar zu Januar läuft. Die Miete bis ultimo Dezember zahlen Sie mir extra!«

»Meinetwegen!«

»Und dann: von jedem Francs einen Fünfer für den Portier...«

»Aber da Sie mir Treppe und Eingang nehmen, ist es eigentlich nicht gerechtfertigt, daß ...«

»Ja, Sie sind immerhin Mieter!« sagte Molineux bestimmt. »Hier walten Prinzipien! Selbstverständlich müssen Sie auch an der Tür- und Fenstersteuer Ihren Anteil tragen. Erst wenn alles gehörig besprochen ist, sind alle Schwierigkeiten beseitigt... Sie vergrößern Ihr Geschäft gewaltig! Es geht demnach gut?«

»Danke. Ich vergrößere aus andern Gründen: ich gebe meinen Freunden ein Fest; einerseits, um die Räumung unseres Gebietes von den fremden Truppen zu feiern, und dann wegen meiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion!«

»Ah! Eine wohlverdiente Auszeichnung!«

»Jawohl! Vielleicht habe ich mich dieser allerhöchsten königlichen Gunst würdig gemacht, als ich Handelsrichter war und weil ich auf den Stufen von Saint-Roch für die Bourbonen gekämpft habe, am 13. Vendémiaire, wobei ich von Napoleon verwundet worden bin. Meine Ansprüche ...«

»... sind ebenso berechtigt wie die unserer tapfern Soldaten der alten Armee! Das rote Band versinnbildlicht vergossenes Blut!«

Bei diesen dem »Constitutionnel« entlehnten Worten konnte sich Birotteau nicht enthalten, Molineux zu seinem Feste einzuladen. Der alte Mann erschöpfte sich in Danksagungen und verzieh ihm beinahe seine Geringschätzung der Vertragseinzelheiten. Er geleitete seinen neuen Mieter bis auf den Treppenabsatz und überschüttete ihn mit Höflichkeiten.

Als Birotteau mit Cayron über den Hof schritt, sah er seinen Nachbar lachend an.

»Ich hätte nicht geglaubt«, sagte er, »daß es so unkomplizierte Menschen gäbe!« »Dummköpfe« wollte er eigentlich sagen, unterdrückte das Wort aber noch rechtzeitig.

»Ja, es sind nicht alle so gescheit wie Sie!« entgegnete Cayron.

Birotteau hielt sich selbstverständlich dem alten Molineux gegenüber für einen höheren Menschen; die Huldigung des Schirmhändlers entlockte ihm ein befriedigtes Lächeln und er verabschiedete sich von ihm mit wahrhaft königlicher Würde.

Jetzt in die Markthalle, Nüsse kaufen! erinnerte er sich.

Eine Stunde lang fragte Birotteau vergebens bei allen Marktweibern herum. Schließlich schickte ihn eine in die Rue des Lombards. Er erkundigte sich bei seinen Freunden, den Matifat, und erfuhr dort, daß man Nüsse en gros nur bei einer gewissen Frau Angelika Madou kaufe. Diese Händlerin wohnte in der Rue Perrin-Gasselin und führte allein die echten Provencer Nüsse.

Die Straße Perrin-Gasselin ist eine der Gassen jenes Straßenlabyrinths, das vom Kai, von der Rue Saint-Denis, der Rue de la Ferronnerie und der Rue de la Monnaie viereckig umschlossen wird, und gleichsam das Stadtinnerste bildet. Es wimmelt dort von kleinen Händlern, die in ihren Läden Heringe, Mousselin, Seide, Honig, Butter, Tüll – alles neben- und miteinander – verkaufen. Ein alter Halsabschneider namens Bidault, genannt Gigonnet, der in der Rue Grenétat wohnte, saugte viele dieser Leute aus. Hier sind ehemalige Pferdeställe mit Öltonnen angefüllt, dort Wagenschuppen mit Ballen baumwollener Strümpfe vollgestopft. Dort sind Waren en gros aufgestapelt, die in den Markthallen im einzelnen verkauft werden. Frau Madou hatte früher frische Seefische verkauft. Aber infolge einer Liaison mit einem Fruchthändler – das Verhältnis war lange Zeit der Gegenstand des Markthallenklatsches gewesen – hatte sie nach dem Tode ihres Schatzes sein Geschäft mit Nüssen übernommen. Das war zehn Jahre her. Ihre ehedem derbe, herausfordernde Schönheit hatte sich seitdem in übermäßiger Wohlbeleibtheit verloren. Sie wohnte im Erdgeschoß eines gelb angestrichenen halbverfallenen Hauses, das durch Eisenträger gestützt wurde. Dem Verstorbenen war es gelungen, sich alle seine Konkurrenten vom Halse zu schaffen und seinen Handel zu monopolisieren. Trotz gewisser kleiner Bildungsmängel war seine Erbin imstande, das Geschäft geschickt fortzuführen. Sie war tüchtig hinter ihren Warenbeständen her und ließ nichts verderben. Bücher führte sie nicht; sie konnte weder lesen noch schreiben und beantwortete Briefe mit Faustschlägen, weil sie in ihnen eine Beleidigung sah. Im übrigen war sie eine gutmütige Frau. Sie wußte sich durch ihre Männlichkeit sogar die Achtung der Fuhrleute zu verschaffen, die ihr die Waren brachten und mit denen sie etwaige Zwistigkeiten zuletzt immer durch eine Flasche Landwein wieder gutmachte. Mit ihren Lieferanten geriet sie nie in Streit; sie zahlte stets bar und besuchte sie im Sommer.

Birotteau traf die robuste Handelsfrau mitten unter Säcken voller Haselnüsse, Kastanien und welscher Nüsse.

»Guten Tag, liebe Frau!« warf Birotteau leicht hin.

»Liebe! Na, mein Junge, haben wir denn mal angenehme Beziehungen zueinander gehabt? Oder haben wir etwa miteinander Schweine gehütet?«

»Ich bin Parfümhändler und Stadtverordneter von Paris! Als obrigkeitliche Persönlichkeit sowie als künftiger Kunde von Ihnen kann ich wohl verlangen, daß Sie in einem andern Tone mit mir reden!«

»Ich tu, was mir beliebt. Was gehen mich die Stadtverordneten an ? Ich bediene meine Kunden gut und spreche mit ihnen nach meiner Manier. Wem das nicht paßt, der kann sich ja anderswo das Fell über die Ohren ziehen lassen!«

Da sieht man wieder mal die Wirkung des Monopols! sagte Birotteau vor sich hin.

»Popole! I du meine Güte! Das ist ja mein Pate! Hat er etwa wieder mal dumme Streiche gemacht und kommen Sie gar seinetwegen, mein ehrwürdiger Herr Stadtverordneter?« Ihre Stimme wurde merklich sanfter.

»Nein, ich habe bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß ich als Käufer zu Ihnen komme!«

»Ja so! Na, wie heißt du denn aber, mein Junge? Ich habe dich noch nie gesehen!«

»In dieser Tonart verkauft Ihr wohl Eure Nüsse billiger? Ist mir auch recht!« meinte Birotteau belustigt und nannte seinen Namen und sein Geschäft.

»Seht mal an, Sie sind also der berühmte Birotteau, der die schöne Frau hat? Wieviel wollen Sie denn von meinen piekfeinen Nüssen, Verehrtester?«

»Sechstausend Pfund.«

»So viel sind gerade da!« flötete die Händlerin. »Mein lieber Herr, parfümieren Sie die jungen verliebten Mädels nur immer feste ein! Meinen Segen sollen Sie haben! Sechstausend Pfund! Das laß ich mir gefallen! Sie sind ein Prachtkunde und Ihr Name soll im Herzen der Frau, die ich am liebsten in der Welt habe, immerdar bewahrt werden!«

»Was für eine Frau meinen Sie denn?«

»Na so was! Ihre liebe Frau Madou natürlich!«

»Was kosten die Nüsse?«

»Weil Sie's sind, pro hundert Pfund fünfundzwanzig Francs, wenn Sie den ganzen Bestand nehmen.«

»Fünfundzwanzig Francs, das macht fünfzehnhundert Francs! Ich brauche jährlich etwa hunderttausend Pfund. Da muß ich einen Engrospreis bekommen!«

»Schauen Sie! Prima Ware!« pries sie, indem sie ihren roten Arm in einen Nußsack steckte; »Sie kriegen sie nirgends so billig! Soll ich Ihnen zuliebe an meiner Ware zusetzen ? Sie sind ein hübscher Kerl, aber dazu gefallen Sie mir doch nicht genug! Hm! Wenn Sie sehr viel brauchen, könnte man sich ja allenfalls auf zwanzig Francs einigen, denn einen Stadtverordneten soll man sich nicht entgehen lassen! Man weiß nicht, wozu es gut ist! Fassen Sie doch mal die schöne Ware an! Das sind Nüsse! Keine fünfzig gehen auf ein Pfund! Und nicht ein Wurm ist drin!«

»Na, dann schicken Sie mir morgen früh in meine Fabrik Rue du Faubourg du Temple sechstausend Pfund zu Zwölfhundert Francs, zahlbar in einem Vierteljahr!«

»Soll pünktlich besorgt werden, Herr Stadtrat. Adieu! Nichts für ungut! Wenn Sie's aber nicht geniert«, setzte sie hinzu, »so möchte ich mein Geld in sechs Wochen haben. Ich bin billig genug mit Ihnen, ich kann doch nicht auch noch den Diskont verlieren! Wenn der alte Gigonnet auch noch so'n zärtliches Herz hat, so saugt er unsereinen doch aus wie die Spinne eine Fliege!«

»Schön! Also in sieben Wochen! Aber wir wiegen nach! Und hundert Pfund Zugabe, um die hohlen auszugleichen! Sonst wird nichts aus der Sache!«

»Donnerwetter, der versteht's! Den kann man nicht beschummeln! Ja, ja, die großen Wölfe schonen die armen kleinen Lämmchen nicht!«

Das »arme kleine Lämmchen« war in diesem Falle fünf Fuß hoch, hatte drei Fuß Umfang und glich einem in gestreiftes Baumwollzeug gehüllten Prellsteine.

In Gedanken versunken ging der Parfümeur die Rue Saint-Honoré entlang. Er dachte an den Konkurrenzkampf mit dem Macassar-Öl, an die Etiketten, die Form der Flaschen und Stöpsel und die Farbe der Plakate. Und da wird behauptet, es sei keine Poesie im Handel! Newton brauchte zu seiner berühmten Entdeckung nicht mehr Berechnung als Cäsar für seine Nußessenz. Aus dem »Öl« war also eine »Essenz« geworden! Er sprang von einem Ausdrucke zum andern, ohne ihre einzelne Bedeutung zu kennen. In seinem Kopfe quirlte es richtig durcheinander. Dieses Grübeln ins Blaue hinein hielt er für etwas Geniales.

In seiner Versonnenheit ging er über die Rue des Bourdonnais hinaus und mußte wieder umkehren, als er sich an seinen Onkel erinnerte.

Joseph Pillerault war ehemals Kurzwarenhändler. Er war ein wirklich schöner Mensch: in Tracht und Benehmen, Verstand und Herz, Sprache und Gedanken. An ihm war alles harmonisch. Er war Frau Birotteaus einziger Verwandter; auf sie und Cäsarine hatte er auch seine ganze Liebe übertragen, nachdem er im Laufe der arbeitsreichen Jahre Frau, Sohn und Adoptivsohn – seiner Köchin Kind – durch den Tod verloren. Infolge der schmerzlichen Verluste war er zum Stoiker und Altruisten geworden. Diese wunderbare Weltanschauung verlieh seinem Dasein Inhalt und vergoldete seine letzten Tage wie die Winterabendsonne eine Schneelandschaft.

Mit seinem ernsten hagern Gesicht sah er aus wie die Verkörperung der Zeit. Er war von mittlerem Wuchse, eher untersetzt als dick, kräftig gebaut und so recht zur Arbeit und zum Sichabmühen geschaffen. Er war temperamentlos, nicht nervös, aber nicht unempfindlich. Daß er eine ziemlich verschlossene Natur war, zeigte schon sein ruhiges Wesen und sein bedächtiges Gesicht. Er hatte eine niedrige Stirn voller Falten und kurzes, starkes, silbergraues Haar. Sein feinliniger Mund verriet Klugheit. Offenbar war er weder kleinlich noch geizig. Seine grünlichen lichten Augen hatten etwas Jugendliches; sie zeugten von einer enthaltsamen Lebensweise. Rechtlichkeit, Pflichtgefühl und Bescheidenheit lagen in seinen Gesichtszügen ausgeprägt. Daß er durch und durch gesund war, sah man auf den ersten Blick.

Pillerault hatte sechzig Jahre hindurch das harte, nüchterne Leben eines unermüdlichen Arbeiters geführt. Bis zu seinem zweiunddreißigsten Jahre war er Kommis gewesen. Dann hatte er sich mit seinen Ersparnissen selbständig gemacht. Sein bedächtiger, kluger, vorsichtiger Charakter spiegelte sich in seiner Geschäftsführung wider. Wie alle nachdenklichen Naturen studierte er die Leute, indem er sie reden ließ. Oft lehnte er vorteilhaft aussehende Geschäfte ab, die dann seine Konkurrenten annahmen und hinterher zu bereuen hatten. Man sagte deshalb, Pillerault wittere die Gauner. Er zog kleine, aber sichere Gewinne gewagten Unternehmungen vor, bei denen man viel Geld riskieren mußte. Er handelte mit Eisenwaren, Haus- und Feldgerät und anderem. Dieser ziemlich undankbare Handelszweig erfordert viel körperliche Arbeit, und so stand sein Gewinn in keinem rechten Verhältnis zur aufgewandten Mühe. Kein Vermögen war somit auf ehrlichere und mühevollere Weise gewonnen als das seine. Als er sich im Jahre 1814 von seinem Geschäft zurückzog, bestand sein Vermögen aus siebzigtausend Francs in bar, die er im Staatsrentenbuch eintragen ließ und die ihm fortan fünftausend und soundso viel Francs Jahreszinsen brachten. Dazu kam der Erlös für sein Geschäft, das ihm einer seiner Kommis abgekauft hatte: vierzigtausend Francs, die aber erst – und zwar ohne Zinsen – in fünf Jahren fällig waren. Dreißig Jahre hindurch hatte er bei einem Jahresumsatz von hunderttausend Francs sieben Prozent Reingewinn gehabt, wovon er zu seinem Lebensunterhalt nur dreitausendfünfhundert Francs verwendet hatte. Seine auf dieses mittelmäßige Vermögen nicht besonders neidischen Nachbarn lobten seine Vorsicht und Mäßigkeit, ohne sie zu begreifen.

Nachdem Pillerault seinen Handel aufgegeben hatte, bewahrte ihn seine zur Gewohnheit gewordene nüchterne Lebensweise auch weiterhin davor, den Freuden eines untätigen Daseins nachzugehen, die so vielen Pariser Bürgern den Ruhestand gefährlich machen.

Politisch war er liberal, und zwar radikal liberal wie alle jene Arbeiter, die nach der Revolution im Bürgerstande aufgegangen waren. Sein einziger Fehler war sein Stolz auf seine Unabhängigkeit. Er wäre keinen Schritt von seinen Rechten, seiner Freiheit, von den Errungenschaften der Revolution abgewichen! Er haßte die Jesuiten, durch die er Wohlstand und Liberalismus gefährdet wähnte. Er verachtete die Hofschranzen, glaubte an die republikanischen Tugenden, hielt den General Foy für einen großen Mann, Lafayette für einen politischen Propheten und Paul Louis Courier für einen guten Menschen. Mit einem Wort, er weidete sich an edlen Phantastereien. Er liebte das Familienleben und verkehrte in den Familien Ragon, Popinot, Matifat, Lebas. Fünfzehnhundert Francs genügten ihm im Jahre, um seine persönlichen Bedürfnisse zu bestreiten. Den Rest seiner Einkünfte verwendete er auf gute Werke und zu Geschenken für seine Nichte Konstanze. Viermal im Jahre gab er seinen Freunden im Restaurant »Roland« in der Rue du Hasard ein kleines Festessen und ging mit ihnen in ein Theater. Er spielte die Rolle jener alten Hagestolze, von denen sich hübsche verheiratete Frauen kleine Summen zur Befriedigung ihrer Launen und Einfälle, Billetts in die Oper oder in die Folies Bergères oder Einladungen zu Landausflügen erschmeicheln. Er war immer glücklich, wenn er andere erfreuen konnte. Er lebte und webte im Herzen anderer. Selbst als er sein Geschäft verkauft hatte, blieb er in dem Stadtviertel wohnen, an das er sich gewöhnt hatte. Er hatte eine kleine Wohnung von drei Zimmern im vierten Stock eines alten Hauses in der Rue des Bourdonnais inne. Seine Lebensweise war in der klösterlich schlichten Einrichtung seiner Behausung wiederzuerkennen. Er hatte ein Vorzimmer, ein Eßzimmer und einen Salon. Im Vorzimmer, das nur ein Fenster hatte, hingen an den grün tapezierten Wänden drei Stiche: »Bonaparte als Erster Konsul«, »Die Schlacht von Austerlitz« und »Der Eidschwur der Nordamerikaner«. Im Salon gab es nichts besonders Beachtenswertes, und sein Schlafzimmer war einfach wie das eines Mönches oder eines ehemaligen Soldaten. Über dem Bett im Alkoven leuchtete ein Kruzifix, ein merkwürdiges Glaubensbekenntnis bei einem Stoiker und Republikaner! – Die Wirtschaft besorgte ihm eine alte Aufwartung; aber aus Achtung vor den Frauen ließ er seine Schuhe nicht von ihr reinigen, er hatte bei einem Stiefelputzer abonniert. Seine Kleidung war schlicht und immer gleich. Gewöhnlich trug er Überrock und Hose aus blauem Tuch, eine bunte, baumwollene Weste, ein weißes Halstuch und ausgeschnittene Schuhe. An Feiertagen legte er einen Anzug mit blanken Metallknöpfen an. Regelmäßigkeit und Beständigkeit dünkten ihn die Bürgschaften für Gesundheit und langes Leben zu sein. Er stand Tag für Tag zur bestimmten Stunde auf; ebenso pünktlich vollzogen sich Frühstück, Spaziergang, Mittagessen und so weiter.

Birotteau stieg die achtundsiebzig Stufen hinauf, die zu der kleinen braungestrichenen Tür Pilleraults führten. Er sagte sich dabei, der alte Mann müsse doch noch recht rüstig sein, wenn er Tag für Tag ohne Beschwerde diese Treppen erklomm. Als Cäsar oben anlangte, klopfte die Wirtschafterin gerade Alltagsrock und Hose des alten Herrn am Kleiderriegel vor der Tür aus. Währenddem saß Pillerault in philosophischer Würde drinnen im grauen Schlafrock am Kamin und frühstückte, wobei er im »Constitutionnel« las.

»Lieber Onkel«, begrüßte ihn Cäsar, »der Handel ist perfekt! Der Vertrag wird ausgefertigt! Wenn du aber Bedenken hast, so wäre es für dich noch Zeit, zurückzutreten ...«

»Zurückzutreten?« wiederholte Pillerault. »Nein! Das Geschäft ist gut. Es wird nur lange dauern, bis es was abwirft. Aber das ist bei allen sichern Geschäften so. Meine fünfzigtausend Francs liegen auf der Bank bereit. Gestern sind die letzten fünftausend für mein ehemaliges Geschäft eingegangen. Ragons setzen ihr ganzes Vermögen ein?«

»Ja! Von was wollen sie nun eigentlich leben?«

»Mach dir keine Sorgen! Sie leben.«

»Danke, ich verstehe!« Er drückte Pillerault gerührt die Hand.

»Erzähle mir mal ein paar Einzelheiten von unserer Sache!« bat Pillerault.

»Ich bin mit drei Achteln dabei beteiligt, du und Ragons mit einem Achtel...«

»Du mußt doch recht reich sein, mein Junge«, unterbrach ihn Pillerault, »daß du gleich dreihunderttausend Francs zur Verfügung hast! Riskierst du da wirklich nicht zu viel? Kannst du die Summe gänzlich aus deinem Geschäft ziehen? Wird das auch nicht darunter leiden? Na, das ist schließlich deine Sache. Solltest du mal in der Klemme stecken: die Staatsrenten stehen auf achtzig! Ich könnte im Notfalle welche davon verkaufen. Bedenke nur das eine, wenn du mich mal um Hilfe angehen solltest: du greifst dann das Vermögen deiner Tochter an!«

»Das sagst du alles so, als sei es selbstverständlich! Ich bin ganz gerührt.«

»Das war ich eben auch, als ich vom General Foy las ... Na, geh nun und schließ die Sache ab! Die Baustellen kriegen keine Beine. Sie gehören uns dreien vorläufig zur Hälfte. Wenn wir sie auch sechs Jahre behalten müssen. Einen gewissen Ertrag geben sie doch. Holzhöfe zahlen auch Pacht. Nur eine Gefahr könnte uns drohen: wenn uns Roguin, statt mit unsern vierhunderttausend Francs die jetzigen Besitzer zu bezahlen, durchginge ...«

»Dasselbe hat Konstanze geunkt!«

»Natürlich ist das Unsinn! Roguin und durchbrennen? Warum?« lachte Pillerault. Er nahm einen Scheck aus seiner Brieftasche und füllte ihn aus.

»Hier hast du eine Anweisung auf hunderttausend Francs auf die Bank von Frankreich! Meinen und Ragons Anteil! Weißt du übrigens, daß Ragons dem Gauner, dem du Tillet, ihre fünfzehn russischen Minenaktien verkauft haben, um ihre Summe zu erfüllen? Brave Leute in Not, die tun mir immer leid! Es sind wirklich biedere und anständige Menschen. Echte Bürger aus der guten alten Zeit! Sie haben – wie ich – ein Menschenalter hindurch tüchtig gearbeitet... Nebenbei bemerkt, der Richter Popinot, der Bruder von Frau Ragon, weiß nichts von ihrer Beteiligung. Sie wollen es vor ihm geheimhalten. Sonst könnten sie sich seiner Unterstützung nicht erwehren.«

»Hoffentlich habe ich mit meinem Comagen-Öl Glück!« sagte Birotteau beim Gehen; »das sollte mich aber freuen! Na adieu, lieber Onkel! Kommst du nächsten Sonntag mit Ragons, Roguin und Claparon mit zu mir zu Tisch? Wir unterzeichnen da den Vertrag, denn morgen ist Freitag, da mache ich nicht gern Geschäfte.«

»Du bist doch nicht etwa abergläubisch?«

»Ach nein, Onkel, aber der Freitag, das ist nun einmal so ein Tag ...«

»Also am Sonntag auf Wiedersehen!« unterbrach ihn Pillerault rasch.

Als Birotteau wieder hinabstieg, sagte er zu sich:

Abgesehen von seinen politischen Ansichten ist Onkel Pillerault ein Idealmensch! Er sollte sich gar nicht um politische Dinge kümmern. Das wäre das beste. Aber gerade seine politische Verblendung liefert den Beweis, daß es hienieden keinen vollkommenen Menschen gibt...

Um drei Uhr kam er nach Hause.

Cölestin fragte: »Diese Wechsel sollen diskontiert werden?« Er hatte die sechzehn Wechsel des Schirrnhändlers in der Hand.

»Freilich! Sechs Prozent Zinsen abrechnen, keine Provision!« Konstanze bekam den Auftrag: »Leg mir meinen guten Anzug zurecht! Ich will zum Professor Vauquelin. Du weißt warum. Vor allem eine weiße Krawatte!«

Er erteilte den Kommis noch etliche Befehle. Anselm sah er nicht. Mein künftiger Herr Kompagnon wirft sich in Gala! sagte er sich. Als er in sein Zimmer kam, stand die Sixtinische Madonna, prächtig gerahmt, prompt da.

»Na, ist die nicht niedlich?« fragte er Cäsarine.

»Niedlich darfst du hier nicht sagen, Vater!« belehrte ihn seine Tochter; »wenn das jemand hört, lacht er dich aus. Sagt schön!«

»Seh mal einer das Küken an, das klüger ist als die Henne! Meinem Geschmack nach ist ,Hero und Leander‘ viel schöner! So eine Madonna macht sich sehr gut in einer Kapelle; aber ,Hero und Leander‘! Die muß ich mir kaufen! Ich habe so meine Ideen mit dem Comagen-Öl!«

»Vater, ich versteh dich nicht!«

»Virginie, eine Droschke!« rief Cäsar mit schallender Stimme, als er sich rasiert hatte und der schüchterne Popinot hinkend eintrat.

Der Verliebte hatte noch nicht bemerkt, daß sein Gebrechen für Cäsarine gar nicht vorhanden war. Solch köstlicher Liebesbeweis wird nur Menschenkindern zuteil, die mit irgendeinem Körperfehler behaftet sind.

»Herr Birotteau, unsere Presse kann morgen arbeiten!« Dabei wurde Popinot so feuerrot, daß ihn Cäsar fragte, was er habe.

Der Kommis schob es auf das Glück, daß er in der Rue des Cinq-Diamants für jährlich Zwölfhundert Francs einen Laden mit Hinterstube, Küche, Lagerräumen und drei Stuben darüber gefunden habe.

»Du mußt zusehen, daß du einen Mietvertrag auf achtzehn Jahre kriegst! Komm jetzt zu Vauquelin! Unterwegs reden wir weiter über die Sache!«

Cäsar und Anselm stiegen in die Droschke vor den Augen der andern Kommis, die über den sonntäglichen Anzug der beiden und das extravagante Vehikel staunten; sie wußten ja noch nichts von den hochfliegenden Plänen, mit denen sich der Herr der »Rosenkönigin« trug.

»Wir werden eine Vorlesung über die Nüsse hören!« prophezeite Birotteau.

»Nüsse?« fragte Popinot.

»Damit kennst du mein Geheimnis!« gab sein Prinzipal zur Antwort. »Ich habe eben das Wort ,Nüsse‘ ausgesprochen. Dieses Wort sagt alles. Nußöl allein vermag auf das Haar zu wirken, und noch keine Parfümerie hat daran gedacht! Als ich den Kupferstich ,Hero und Leander‘ betrachtete, sagte ich mir: Wenn die Alten ihr Haar mit so viel Öl tränkten, so hatten sie irgendeinen Grund dazu. Denn die Alten sind und bleiben die Alten! Trotz der Anmaßung der Modernen bin ich der Meinung Boileaus über die Alten. Davon bin ich ausgegangen. Und dem kleinen Bianchon, deinem Vetter, dem Studenten der Medizin, verdanke ich's weiterhin, daß ich gerade auf das Nußöl gekommen bin. Er hat mir nämlich erzählt, er und seine Kameraden hätten in der Schule Nußöl als Bartwuchsmittel angewandt. Wir brauchen jetzt nur noch die Bestätigung des berühmten Vauquelin. Mit seinem Gutachten kann von einer Täuschung des Publikums keine Rede sein. Vorhin war ich bereits bei einer Nußhändlerin, Frau Madou, wegen des Rohmaterials. Jetzt gehen wir zu einem der ersten Gelehrten Frankreichs, der uns über die Verarbeitung aufklären wird. Sprichwörter sind gar nicht so dumm! ,Die Extreme berühren sich‘, heißt es. Siehst du, mein Junge! Der Handel ist der Vermittler zwischen der Natur und ihren Produkten und der Wissenschaft! Frau Madou erntet, Vauquelin experimentiert, und wir verkaufen das Resultat. Ein Pfund Nüsse kostet fünf Sous. Vauquelin verhundertfacht ihren Wert, und wir leisten der Menschheit vielleicht einen Dienst. Denn da die Eitelkeit den Leuten große Sorge verursacht, ist ein gutes Schönheitsmittel eine Wohltat.«

Die heilige Bewunderung, mit der Popinot dem Vater seiner Cäsarine zuhörte, erhöhte Birotteaus Beredsamkeit; er erlaubte sich die kühnsten Phrasen, die sich ein Laie überhaupt leisten kann.

»Sei ehrfurchtsvoll, Anselm!« sagte er, als die Droschke in die Straße einbog, wo Vauquelin wohnte; »wir stehen im Begriff, in ein Heiligtum der Wissenschaft zu treten. Stelle die Madonna auf einen Stuhl im Eßzimmer, so daß sie in die Augen fällt! Hoffentlich gerate ich mit meiner Rede nicht aus dem Konzept. Dieser Vauquelin regt mich geistig und körperlich auf! Ich bin ganz befangen. Er ist mein Wohltäter, Anselm, und in wenigen Augenblicken wird er auch deiner sein!«

Bei diesen Worten überlief's den kleinen Popinot eiskalt; als sie ausstiegen, zitterten ihm die Knie. Unruhig schaute er die Mauer des Hauses hinauf.

Vauquelin war in seinem Arbeitszimmer, als ihm Birotteau gemeldet wurde. Der Akademiker wußte, daß der Parfümeur Stadtverordneter war und sehr in Gunst stand. Er nahm ihn an.

»So haben Sie mich also in Ihrem Glück nicht vergessen?« fragte der Gelehrte. »Freilich, Chemiker und Parfümeurs reichen sich die Hände!«

»Oh, zwischen Ihrem Genie und meiner Einfalt liegen Abgründe. Ich verdanke Ihnen das, was Sie mein Glück nennen, und werde das weder in dieser noch in jener Welt je vergessen!«

»Na, in jener da drüben sollen wir doch alle gleich sein, die Könige wie die Schuhflicker!«

»Das heißt: Die Könige und die Schuhflicker, die sich auf Erden eines frommen Lebenswandels befleißigt haben!« fügte Birotteau hinzu.

»Ihr Sohn ?« fragte Vauquelin mit einem Blick auf den kleinen Popinot, der ganz verdutzt darüber war, daß er im Arbeitszimmer eines Gelehrten, wo er Ungeheuerlichkeiten, Riesenmaschinen, metallene Schwungräder und belebte Substanzen vermutet hatte, so gar nichts Außergewöhnliches vorfand.

»Nein! Es ist ein junger Mann, der mir nahesteht und der Sie um eine Ihrer Gelehrsamkeit gleichkommende Güte bitten will. Nach einem Zeitraum von sechzehn Jahren komme ich zum zweitenmal, um mir einen Rat zu holen in einer wichtigen Angelegenheit...«

»So! Um was handelt sich's denn?«

»Ich weiß, daß Sie sich mit Untersuchungen des Menschenhaares beschäftigen. Sie denken an Ihren Ruhm, ich an mein Geschäft!«

»Also eine Haaruntersuchung wollen Sie von mir?«

Er nahm ein Heft zur Hand.

»Ich werde in der Akademie der Wissenschaften demnächst eine Vorlesung über den Gegenstand halten. Das Haar besteht aus einer reichlichen Quantität Mucus, aus wenig weißen und viel schwarzgrünen öligen Bestandteilen, aus Eisen, aus einigen Atomen Manganoxyd, aus Kalkphosphat, ganz wenig Kalkkarbonat, Kiesel und viel Schwefel. Je nach den Prozentsätzen der einzelnen Bestandteile entsteht eine verschiedene Färbung des Haares. Rote Haare haben zum Beispiel viel mehr schwarzgrünes Öl als die andern ...«

Cäsar und Anselm rissen die Augen sperrangelweit auf.

»Neunerlei Bestandteile!« rief Birotteau. »Wie? Im Haare finden sich Metalle und Öle! Wahrhaftig, nur Sie, ein Mann, den ich verehre, darf mir so was sagen, ohne daß ich daran zweifle! Es ist erstaunlich! Der liebe Gott ist ein großer Meister, Herr Professor!«

»Das Haar wächst aus einem drüsenartigen Organ hervor, aus einer Art Tasche, die an beiden Enden offensteht; das eine Ende hängt mit Nerven und Gefäßen zusammen, aus dem andern geht das Haar hervor. Nach der Meinung einiger meiner Kollegen, namentlich nach Blainville, ist das Haar eine aus dieser Tasche oder Gruft herausgetriebene tote Absonderung einer breiigen Substanz ...«

»Das ist gerade so, als wenn man sagte, es gäbe geronnenen Schweiß!« rief Popinot, dem der Parfümeur daraufhin einen leisen Fußtritt verabreichte.

Vauquelin lächelte über Popinots Vergleich.

»Ein begabter junger Mann, nicht wahr?« sagte Cäsar mit einem zärtlichen Blick auf Popinot. »Aber verehrter Herr Professor, wenn die Haare tot geboren werden, dann kann doch kein Mittel sie lebendig machen. Es ist also nichts mit unserer Sache! Der Prospekt müßte lügen! Sie wissen nicht, wie komisch das Publikum ist! Man kann ihm doch nicht sagen, daß ...«

»Daß es Exkremente auf dem Kopfe hat!« ergänzte Popinot, der Vauquelin noch einmal zum Lächeln bringen wollte.

»Leichen!« versetzte der Chemiker, auf den Scherz eingehend.

»Und die Nüsse, die ich gekauft habe!« rief Birotteau, den der Verlust schmerzte. »Aber warum verkauft man denn Mittel, die ...«

»Beruhigen Sie sich! Ich sehe, daß es sich hier um irgendein Rezept handelt, um das Ausfallen oder Weißwerden der Haare zu verhindern. Hören Sie, zu welcher Ansicht meine Arbeiten geführt haben!«

Popinot spitzte die Ohren wie ein Männchen machender Hase.

»Die tote oder lebende Haarsubstanz verliert meiner Meinung nach ihre Farbe durch das Aufhören oder die Unterbrechung der Absonderung von Farbstoff in der Kopfhaut. Das würde auch erklären, warum in kalten Ländern der Pelz der Tiere im Winter bleicht. Offenbar hängt diese Veränderung des Haares mit dem Klima zusammen ...«

»Merk dir das, Anselm! Merk dir das!« rief Cäsar.

»... mit der abwechselnden Kälte und Wärme oder mit innern Erscheinungen, die dieselbe Wirkung ausüben. Das Innere geht die Ärzte an; für das Äußere schaffen Sie geeignete Mittel.«

»Sie machen mir wieder Hoffnung! Ich habe nämlich die Absicht, Nußöl als Haarpflegemittel zu verkaufen; denn, sehen Sie, die Alten ölten das Haar tüchtig und die Alten sind eben die Alten! Ich bin da Boileaus Meinung. Warum salbten die Athleten ...«

»Olivenöl ist genau so gut wie Nußöl. Alles Öl ist gut, um den Bulbus vor schädlichen Einflüssen zu schützen und ihn in Tätigkeit zu erhalten ... Vielleicht haben Sie recht. Ja, ja! Dupuytren behauptet, Nußöl wirke anregend... Ich werde einmal alle Öle daraufhin untersuchen ...«

»So habe ich mich also nicht getäuscht!« rief Birotteau triumphierend. »Ich bin mit einem großen Mann einer Meinung! Das Macassar-Öl ist geschlagen! Macassar-Öl, verehrter Herr Professor, ist nämlich ein Kosmetikum, das für wirksam zur Beförderung des Haarwuchses ausgegeben und verkauft, ja teuer verkauft worden ist.«

»Lieber Herr Birotteau, Macassar-Öl – echtes gibt's übrigens in Europa kaum! – hat nicht die geringste besondere Wirkung auf die Haare, wenn es auch die Malaien wegen seiner angeblichen, das Haar erhaltenden Kraft mit Gold aufwiegen. Walfischtran ist ebenso gut. Es kann kein Mittel geben, um auf Kahlköpfen neue Haare hervorzuzaubern, und ebenso werden Sie rote oder weiße Haare nie gefahrlos färben. Indessen werden Sie durch das Anpreisen Ihres Öles keinen Irrtum begehen und keine Lüge sagen. Wer Öl anwendet, meine ich, wird sein Haar immer konservieren ...«

»Glauben Sie, daß die Königliche Akademie der Wissenschaften mein Mittel empfehlen würde?«

»Oh, hier ist ja von gar keiner neuen Erfindung die Rede! Übrigens ist der Name der Akademie so oft mißbraucht worden, daß er niemandem mehr viel nützt. Mein Gewissen sieht im Nußöl nichts Besonderes.«

»Auf welche Weise kann man es am besten gewinnen? Durch Kochen oder Pressen?« fragte Birotteau.

»Beim Pressen zwischen zwei heißen Platten wird der Ertrag reichlicher ausfallen als zwischen zwei kalten Platten; aber das auf die letzte Art erhaltene Öl wird von besserer Qualität sein. Man muß es übrigens nur leicht in die Kopfhaut reiben, nicht die Haare damit einfetten! Das hat wenig Zweck!«

»Merk dir ja alles, Anselm!« rief Birotteau enthusiastisch und mit glänzenden Augen. »Verehrter Herr Professor, Sie sehen hier einen jungen Mann, der den heutigen Tag zu den schönsten seines Lebens zählen wird. Er kannte und verehrte Sie bereits, ohne Sie je gesehen zu haben; denn es ist bei mir oft die Rede von Ihnen! Ein Name, der beständig im Herzen ist, kommt oft auf die Lippen. Meine Frau, meine Tochter und ich beten täglich für Sie, wie man es für einen Wohltäter tun muß.«

»Das ist zu viel für so wenig!« wehrte Vauquelin ab, den die zu wortreiche Erkenntlichkeit des Parfümeurs in Verlegenheit setzte.

»Verbieten Sie uns nicht, Sie zu lieben, da Sie nie etwas von uns annehmen. Sie sind wie eine Sonne, Sie verbreiten Licht, und die, die Sie erleuchten, können Ihnen nicht einmal dafür danken.«

Der Gelehrte lächelte und stand auf, Birotteau und Popinot erhoben sich gleichfalls.

»Anselm, sieh dir hier alles genau an! Sie erlauben doch ? Ihre Zeit ist so kostbar. Anselm wird vielleicht nie wieder herkommen!«

»Na, sind Sie nun mit Ihrem Geschäft zufrieden ?« fragte Vauquelin. »Im Grunde sind wir doch beide Kaufleute!«

»Vollkommen!« entgegnete Birotteau, indem er gegen das Eßzimmer zu retirierte. »Das heißt, um diese Comagen-Essenz in den Handel zu bringen, dazu ist noch viel Geld nötig...«

»Essenz wie Comagen sind zwei greuliche Wörter!« meinte der Gelehrte. »Nennen Sie doch Ihr Haarpflegemittel Birotteau-Öl! Oder wenn Sie Ihren Namen nicht preisgeben wollen, so taufen Sie es... Beim Zeus, was sehe ich! Das ist ja meine Sixtina! Ei, ei, Herr Birotteau, wollen Sie meine Ungnade?«

Der Parfümhändler ergriff des Chemikers Hände.

»Herr Professor, dieser seltene Stich hat nur durch die Beharrlichkeit Wert, mit der ich ihm nachgespürt habe! Man hat ganz Deutschland durchstöbern müssen, um einen Abzug auf chinesischem Papier und ohne Unterschrift zu finden. Ich wußte, daß Sie sich diese Madonna wünschten; aber Ihre Studien ließen Ihnen keine Zeit, sich selber auf die Suche danach zu begeben, und da habe ich mich zu Ihrem Commis Voyageur gemacht. Erkennen Sie durch die gütige Annahme dieses bescheidenen Kupferstiches nichts an als die Mühe und Sorgfalt, die meine unbegrenzte Ergebenheit beweisen sollen! Ich wollte, Sie hätten sich etwas gewünscht, das man aus den tiefsten Tiefen hätte holen müssen, um es Ihnen schaffen und sagen zu können: ,Da ist's!‘ Verschmähen Sie das Bild nicht! Unsereiner gerät so leicht in Vergessenheit. Erlauben Sie mir daher, daß ich mich und meine ganze Familie hierdurch in Ihrer Erinnerung erhalte! Wenn Sie die Madonna sehen, sollen Sie sich sagen: ,Es gibt gute Menschen, die an mich denken!‘«

»Ich nehme das Geschenk an!«

Popinot und Birotteau trockneten sich die Augen, so gerührt waren sie durch den gütigen Ton, den der Gelehrte in seine Worte legte.

»Wollen Sie Ihrer Güte die Krone aufsetzen?« fragte Birotteau.

»Womit?«

»Ich habe einige Freunde gebeten«, er wippte sich in die Höhe, behielt aber trotzdem seine ergebene Miene bei, »um die Räumung unseres Gebietes von den fremden Truppen zu feiern, und auch wegen meiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion...«

»Ah!« sagte Vauquelin erstaunt.

»Vielleicht habe ich mich dieser allerhöchsten königlichen Auszeichnung würdig gemacht, als ich Handelsrichter war und weil ich auf den Stufen von Saint-Roch gekämpft habe, am 13. Vendémiaire, wobei ich von Napoleon verwundet worden bin ... Meine Frau gibt Sonntag in drei Wochen einen Ball. Darf ich Sie dazu einladen, Herr Professor? Erzeigen Sie uns die Ehre, an dem Tage bei uns zu Mittag zu essen! Für mich wird das genau so sein, als bekäme ich ein zweites Ehrenkreuz. Ich werde Ihnen noch die schriftliche Einladung zukommen lassen.«

»Schön, ich komme!«

»Mein Herz zerspringt vor Freude!« rief Cäsar laut aus, als er wieder auf der Straße war. »Vauquelin kommt zu mir ... Ich fürchte ... ich habe vergessen, was er über das Haar gesagt hat! Hast du alles behalten, Popinot?«

»Ja! Noch nach zwanzig Jahren werde ich mich an jedes einzelne Wort genau erinnern!«

»Das ist ein Mann!« Birotteau war noch ganz außer dem Häuschen. »Dieser Blick! Dieser Scharfsinn! Er brauchte nicht erst lange zu fragen. Im Augenblick erriet er unsere Gedanken und legte uns die Mittel in die Hand, das Macassar-Öl totzumachen! Verlorene Haare wachsen nicht wieder! Macassar-Öl ist also Schwindel! Popinot, unser Glück ist gemacht! Morgen früh um sieben sind wir in der Fabrik. Die Nüsse kommen heute, und morgen machen wir Öl! Vauquelin kann gut sagen, jedes Öl sei heilsam! Wenn das Publikum das erführe, wären wir geliefert! Wie sollten wir das Fläschchen unseres Öls für drei oder vier Francs verkaufen können, wenn wir nicht das bißchen Nußessenz darin betonten!«

»Sie bekommen einen Orden, Herr Birotteau? Welche Ehre für...«

»... für den Kaufmannsstand! Nicht wahr, mein Junge?«

Die triumphierende Miene Birotteaus, der sich in nicht allzu weiter Ferne im Besitz eines großen Vermögens sah, blieb bei seinen Kommis nicht unbemerkt. Sie machten einander Zeichen, denn die Fahrt im Wagen, der Wichs des Prinzipals und des Kassierers hatten sie auf die unsinnigsten Vermutungen gebracht. Cäsar und Anselm tauschten verständnisinnige Blicke aus, die ihre große Befriedigung verrieten. Zudem sah Popinot einigemal mit hoffnungsvollen Augen auf Cäsarine. Irgendein wichtiges Ereignis bereitete sich vor, mutmaßten die Kommis. In ihrem fast klösterlichen Ladenleben gewannen die kleinsten Dinge Gewicht. Auch die bedenkliche Miene, mit der die Prinzipalin das geheimnisvolle Gebaren ihres Mannes beobachtete, deutete entschieden darauf hin, das große Ereignisse in Sicht waren, denn für gewöhnlich war Frau Birotteau zufrieden und gutgelaunt, zumal wenn das Geschäft gut ging. Und heute waren sechstausend Francs eingenommen worden: man hatte einige rückständige Rechnungen bezahlt.

Das Eßzimmer und die von einem engen Hof aus beleuchtete Küche befanden sich im Zwischenstock. Sie waren durch einen Gang getrennt, in den die aus einem Winkel des Hinterladens emporsteigende Innentreppe mündete. Früher hatte das Ehepaar Birotteau im Zwischenstock gewohnt, und in dem jetzigen Eßzimmer hatten Cäsar und Konstanze ihre Flitterwochen verlebt. Es sah wie ein kleiner Salon aus. Während der Mahlzeit hütete Raguet, der Lehrling, den Laden. Beim Nachtisch entfernten sich die Kommis und ließen Cäsar, seine Frau und seine Tochter allein. Diese altmodische Sitte rührte noch von Ragons her, die zwischen sich und den Kommis den großen Abstand aufrechterhielten, der ehedem zwischen Meister und Lehrlingen bestand. Alsdann schlürfte der Parfümeur im Lehnstuhl am Kamin behaglich seine Tasse Kaffee, die ihm eine der beiden Frauen bereitete. Zu dieser Stunde pflegte Cäsar seine Frau von den kleinen Ereignissen des Tages zu unterrichten; er erzählte ihr, was er in der Stadt gesehen und was sich in der Vorstadt du Temple ereignet hatte, die kleinen Mißhelligkeiten in der Fabrik.

»Liebe Frau«, sagte er, als sich die Kommis entfernt hatten, »der heutige Tag ist zweifellos einer der wichtigsten unseres Lebens. Die Nüsse sind gekauft, die hydraulische Presse steht für morgen bereit, das Geschäft mit den Baustellen ist abgeschlossen ... Hier, schließ doch mal den Scheck in den Geldschrank! – Der Umbau ist entschieden, unsere Wohnung wird vergrößert! Mein Gott, da habe ich heute im ,Holländischen Hof‘ einen sonderbaren Kauz kennengelernt!«

Er erzählte von Molineux. Seine Frau unterbrach ihn mitten in einer Tirade:

»Ich konstatiere, daß du Zweihunderttausend Francs Schulden machst!«

»Ach ja!« Birotteau begann, eine kleine Komödie zu spielen. »Du lieber Gott, wie sollen wir die bezahlen?« sagte er anscheinend tiefbesorgt. »Auf die Baustellen um die Madeleine, wo dermaleinst das schönste Viertel der Stadt erstehen soll, ist zunächst so gut wie gar nicht zu rechnen.«

»Dermaleinst, jawohl, Cäsar!«

»Ach!« fuhr er fort, »meine drei Achtteile bringen mir erst in sechs Jahren eine Million ein. Von was soll ich die zweihunderttausend Francs bezahlen?«

Er zog eine bei Frau Madou eingesteckte, sorgsam aufbewahrte Nuß aus der Tasche.

»Hiermit bezahlen wir sie!« rief er aus.

Er hielt die Nuß hoch. Seine Frau schwieg, aber Cäsarine sagte, indem sie ihrem Vater den Kaffee reichte, in schelmischem Tone:

»Du machst wohl Spaß!«

Birotteau hatte – ebenso wie die Kommis – zu seinem Erstaunen gewisse Blicke beobachtet, die Popinot Cäsarine bei Tische zuwarf. Er wollte klar sehen.

»Sieh, Kindchen«, sagte er, »diese Nuß ist die Ursache einer Umwälzung in unserem Hause. Heute abend wird einer weniger unter unserm Dache schlafen!«

Cäsarine blickte ihren Vater an, als wollte sie sagen: Was geht mich das an?

»Popinot geht nämlich!«

Cäsar war ein miserabler Beobachter, dennoch erriet er in seiner väterlichen Zärtlichkeit den Wirrwarr der Gefühle, der im Herzen seiner Tochter entstand und sich dadurch offenbarte, daß es auf ihrer Stirn und auf ihren Wangen gleich roten Rosen zu glühen begann, während sie die leuchtenden Augen niederschlug. Nun glaubte er, Cäsarine und Popinot hätten sich bereits ausgesprochen. Darin irrte er sich jedoch; die beiden Kinder verstanden einander, wie alle heimlich Liebenden, ohne sich je ein Wort gesagt zu haben.

Es gibt Moralisten, die halten die Liebe für die unfreiwilligste, uneigennützigste, am wenigsten berechnende Leidenschaft nächst der Mutterliebe. Diese Meinung ist grundfalsch. Wenn die meisten Menschen auch die Gründe nicht kennen, warum sie lieben, so ist deshalb doch jede körperliche oder seelische Zuneigung nicht weniger auf Berechnungen des Verstandes, der Gefühle oder der Brutalität begründet. Die Liebe ist eine wesentlich egoistische Regung. Und Egoismus ist Berechnung. Daher muß es einem logischen Kopfe zunächst unwahrscheinlich oder höchst sonderbar vorkommen, wenn ein schönes Mädchen wie Cäsarine seine Liebe einem rothaarigen hinkenden Menschen schenkt. Trotzdem steht dieses Phänomen mit der Mathematik der bürgerlichen Gefühlswelt durchaus im Einklang. Sobald man hinter das Geheimnis einmal gekommen ist, wundert man sich nicht mehr über die erstaunlich vielen Ehen zwischen schönen Frauen und körperlich unscheinbaren oder selbst häßlichen Männern.

Einem Manne, der mit irgendeinem körperlichen Gebrechen, gleichviel welcher Art, behaftet ist, stehen nur zwei Wege zur Eroberung schöner Frauen offen. Er muß sich so geben, daß ihn die Frauen entweder grenzenlos fürchten oder außergewöhnlich liebenswürdig und gütig finden. Die tausend Spielarten zwischen diesen beiden Extremen kommen für ihn nicht in Betracht. Im ersten Falle muß er Genie, Talent oder Macht haben. Die Frauen empfinden Angst vor dem Bösen, Verehrung vor dem Genie, Furcht vor zu viel Geist. Im zweiten Fall erringt er die weibliche Gunst, indem er sich der Tyrannei der Frau unterwirft oder sie gar bewundert und sich als größerer Liebeskünstler erweist denn der Mann von untadeligem Körper.

Anselm Popinot war ein Erziehungsprodukt des Ragonschen Ehepaares, dieser Idealbürgersleute von Anno dazumal. Ein weiteres Vorbild war ihm sein Onkel, der Richter Popinot, mit seiner Sittenstrenge und kirchlichen Gesinnung. So war auch er ein braver Mustermensch geworden, dem man sein leichtes Körpergebrechen gern nachsah. Cäsar und Konstanze hatten ihn oft in Cäsarines Gegenwart gelobt, und die Lobeserhebungen fanden ein Echo im Herzen des jungen Mädchens. Trotz ihrer Unberührtheit erkannte sie aus Anselms Augen seine heftige Leidenschaft. Die schmeichelt jedem Weibe, so daß es Alter, Stand und Gestalt des Liebenden übersieht. Der kleine, häßliche Popinot mußte viel inniger lieben als ein schöner Mann. Zumal in eine schöne Frau würde er bis zum letzten seiner Tage vernarrt sein; seine Liebe würde ihn ehrgeizig machen; er würde für die Geliebte in den Tod gehen; er würde ihr die Herrschaft im Hause lassen und sich in sie fügen. So dachte Cäsarine instinktiv, vielleicht nicht ganz so brutal. Sie stellte Vergleiche an. Das Glück ihrer Mutter stand ihr vor Augen. Sie wünschte sich kein anderes Leben. Sie sah in Anselm einen durch Bildung vervollkommneten Cäsar. Sie träumte sich aus, Popinot sei Bürgermeister, und fand Vergnügen daran, sich auszumalen, wie sie einst mit ihm in ihrem Stadtviertel Besuche machte, gleichwie ihre Mutter im Kirchspiel Saint-Roch. Schließlich bemerkte sie den Unterschied zwischen Popinots rechtem und linkem Bein nicht mehr; sie wäre imstande gewesen zu sagen: Aber hinkt er denn auch wirklich? Sie liebte sein offenes Auge und freute sich an der Wirkung, die ihr Blick auf diese Augen ausübte, die alsdann in reinem Feuer erglänzten und sich melancholisch senkten. Alexander Crottat in seiner routinierten Frühreife besaß ein halb zynisches, halb joviales Wesen, das die sehr bald durch die Gemeinplätze seiner Unterhaltung gelangweilte Cäsarine gründlich anwiderte. Popinots Schweigen verriet ein zärtliches Gemüt; sie liebte sein schwermütiges Lächeln, das harmlose Scherze ihm entlockten. Sein unermüdlicher Arbeitseifer gefiel Cäsarine. Wenn die andern Kommis tuschelten: »Cäsarine wird den Bureauchef des Herrn Roguin heiraten!« so hatte sie das Gefühl: der lahme rotköpfige Anselm verzagt doch nicht an seinem heimlichen Liebesglück. Große Hoffnung beweist große Liebe.

»Wohin geht er denn ?« fragte Cäsarine ihren Vater, indem sie eine gleichgültige Miene anzunehmen versuchte.

»Er macht sich in der Rue des Cinq-Diamants selbständig – im Vertrauen auf den lieben Gott!« gab Birotteau zur Antwort, ohne daß ihn weder Frau noch Tochter völlig verstanden.

Wenn Birotteau auf eine ideelle Schwierigkeit stieß, so benahm er sich wie die Ameisen vor einem Hindernis: er machte einen Umweg. Er gab der Unterhaltung eine andere Wendung, indem er sich insgeheim vornahm, mit seiner Frau über Cäsarine zu sprechen.

»Ich habe deine Besorgnisse und deine Ansichten über Roguin Onkel Pillerault erzählt; er hat darüber gelacht!«

»Du darfst niemandem offenbaren, was wir unter uns sagen«, warnte Konstanze. »Dieser arme Roguin ist vielleicht der anständigste Mensch von der Welt. Er ist achtundfünfzig und denkt wahrscheinlich nicht mehr an ...«

Sie hielt inne, als sie wahrnahm, daß Cäsarine aufmerksam wurde, und zwinkerte ihrem Manne mit den Augen zu.

»Ich habe also recht gehandelt, indem ich abgeschlossen habe?«

»Du bist ja der Herr.«

Cäsar faßte seine Frau bei den Händen und küßte sie auf die Stirn. Die eben von ihr gesprochenen Worte bedeuteten stets ihre stumme Einwilligung in die Pläne ihres Mannes.

»Aufgepaßt!« rief der Parfümeur, als er ins Geschäft hinunterkam, seinen Kommis zu, »der Laden wird um zehn Uhr geschlossen! Meine Herren, ein Hauptrummel! Während der Nacht müssen alle Möbel aus dem ersten in den zweiten Stock hinaufgeschafft werden! Wir wollen sozusagen mal die kleinen Töpfe in die großen setzen, damit mein Baumeister morgen früh freie Bahn hat.

Popinot ist ohne Erlaubnis weggegangen!« fuhr er fort, nachdem er sich vergeblich nach ihm umgesehen hatte. »Na, meinetwegen! Er schläft ja nicht hier, wie mir eben wieder einfällt.« Bei sich dachte er: Der Mensch ist ausgegangen, entweder um Vauquelins Idee zu Papier zu bringen, oder um sich einen Laden zu mieten.

»Wir kennen die Ursache des Umzugs«, sagte Cölestin Crevel, der im Namen der beiden andern Kommis und Raguets, die alle miteinander hinter ihm standen, das Wort ergriff; »ist es uns erlaubt, unserm verehrten Chef zu einer ehrenvollen Auszeichnung Glück zu wünschen, die auf das ganze Geschäft Glanz wirft? Popinot hat uns gesagt, daß der Herr...«

»Na ja, meine Kinder, es ist schon so! Man hat mich dekoriert. Nicht bloß zur Feier des Umzuges, sondern auch zur Feier meiner Aufnahme in die Ehrenlegion will ich deshalb unsern Freunden ein Fest geben. Gewiß habe ich mich dieser allerhöchsten königlichen Auszeichnung würdig gemacht, als ich Handelsrichter war und weil ich für die königliche Sache, als ich so in eurem Alter war, auf den Stufen von Saint-Roch am 13. Vendémiaire gekämpft habe. Auf Ehre, Napoleon Bonaparte hat mir eigenhändig eine Wunde beigebracht! Und zwar am Schenkel, und Frau Ragon war es, die mich damals verbunden hat. Der Mensch muß nur Mut haben, dann wird er schon belohnt werden! Seht, liebe Kinder, selbst ein Unglück ist nie nutzlos!«

»Man wird sich nicht wieder auf der Straße schlagen!« bemerkte Cölestin.

»Man kann es nicht wissen!« entgegnete Birotteau, der die Gelegenheit ergriff, seinem Personal eine längere Erziehungspredigt zu halten, die er mit einer Einladung schloß.

Die Aussicht auf den Ball erregte in den drei Kommis, in Raguet und Virginie einen Feuereifer, der ihnen die Gelenkigkeit von Equilibristen verlieh. Alle fünf stiegen schwerbeladen treppauf, treppab, ohne etwas zu zerbrechen oder umzustoßen. Um zwei Uhr morgens war das Umräumen beendet. Birotteau und seine Frau schliefen im zweiten Stock; Popinots Kammer bezogen Colestin und der zweite Kommis. Der dritte Stock wurde einstweilen zu Lagerräumen bestimmt.

Besessen von jenem heiligen Feuer, das bei ehrgeizigen oder verliebten Leuten, denen große Pläne durch den Kopf gehen, das Gefühl erzeugt, die ganze Welt erobern zu können, gebärdete sich der sonst so sanfte und ruhige Popinot nach Tische im Laden wie ein Rassepferd vor dem Rennen.

»Was hast du denn vor?« fragte Cölestin.

»Welch ein Tag, mein Lieber! Ich etabliere mich, und Cäsar Birotteau hat einen Orden gekriegt!« sagte er ihm ins Ohr.

»Du bist ein Glückspilz! Der Prinzipal unterstützt dich ?« erwiderte Cölestin.

Popinot antwortete nicht; er verschwand, wie vom Sturme des Glücks hinweggefegt.

»Ein Glückspilz! Ha!« bemerkte einer der Kommis, der Etiketten sortierte, zu einem andern, der Handschuhe zu Dutzenden packte. »Der Alte hat die Äugelei satt, mit der Popinot der Mamsell Cäsarine nachstellt! Wie gerissen aber der Chef ist! Er schafft ihn sich vom Halse, weil er ihm wegen seiner Verwandten unmöglich einen Korb geben lassen kann! Na, und Cölestin nimmt die Schlaumeierei für Edelmut!«

Anselm Popinot ging die Rue Saint-Honoré hinunter und eilte in die Rue des Deux-Ecus, um einen jungen Mann aufzusuchen, von dem ihm sein Kaufmannsinstinkt sagte, er sei ein unschätzbares Werkzeug zu seinem Glück.

Popinots Onkel hatte dem gewandtesten Geschäftsreisenden von Paris, der sich durch sein alles besiegendes Mundwerk und seine Erfolge die Benennung »der berühmte Gaudissart« erworben hatte, früher einmal einen großen Dienst geleistet. Der damals noch Unberühmte nannte sich noch schlechtweg Gaudissart. Einundzwanzig Jahre alt, begann er sich gerade erst auf seinem Spezialgebiet auszuzeichnen. Er war ein beweglicher, höflicher, verbindlicher Mensch von unermüdlichem Gedächtnis und sympathischem Aussehen; mit einem einzigen Blick orientierte er sich über den Geschmack eines jeden; kurz und gut, er verdiente damals bereits zu sein, was er nachher wurde: der »König der Reisenden«.

Popinot war Gaudissart einige Tage vorher auf der Straße begegnet und hatte von ihm erfahren, daß er im Begriffe war, Paris zu verlassen. Die Hoffnung, ihn noch anzutreffen, trieb unsern Verliebten in die Rue des Deux-Ecus, wo er erfuhr, daß sich der Reisende seinen Platz in der Postkutsche bestellt habe, aber zum Abschied von der Hauptstadt noch einmal ausgegangen sei, um sich eine neue Posse anzusehen. Popinot beschloß, auf ihn zu warten.

Popinot hatte diesen Gaudissart in der Tasche. Der Reisende, der so gewandt war, wenn es galt, die kleinen Händler der Provinz zum Kaufen zu animieren, hatte sich ungeschickterweise in die erste nach den hundert Tagen gegen die Bourbonen angezettelte Verschwörung verwickelt, und so war er, der nichts mehr schätzte als die frische Luft und seine Ungebundenheit, unter der Last einer Anklage auf Leben und Tod ins Gefängnis gekommen. Popinots Onkel war in seiner Eigenschaft als Kreisrichter mit der Voruntersuchung beauftragt. Als er erkannte, daß der junge Mann lediglich aus unvorsichtiger Geckenhaftigkeit in die Geschichte verwickelt worden war, hatte er ihn auf freien Fuß gesetzt. In den Händen eines andern Untersuchungsrichters, der begierig gewesen wäre, der Staatsgewalt oder dem Ultraroyalismus zu gefallen, hätte der unglückliche Mensch zum Tode verurteilt werden können. Gaudissart, der somit diesem Untersuchungsrichter vielleicht in der Tat das Leben zu verdanken hatte, war damals geradezu unglücklich, daß er seinem Retter nur eine tatenlose Dankbarkeit bezeigen konnte. Da er einem Richter dafür, daß er Gerechtigkeit geübt, nicht danken durfte, war er zu Ragons gegangen und hatte ihnen erklärt, daß er der Familie Popinot sein lebelang zu Diensten stände.

Um sich die Zeit zu vertreiben, ging Popinot natürlich wieder in die Rue des Cinq-Diamants und besah noch einmal seinen Laden. Er ließ sich daselbst die Adresse des Hausbesitzers geben, um demnächst mit ihm wegen des Mietvertrags unterhandeln zu können.

Wie er dann wieder vor dem Hotel du Commerce am Ende der Rue des Deux-Ecus Wache stand, hörte er endlich gegen Mitternacht fern in der Rue de Grenelle die Schlußmelodie einer Operette pfeifen. Es war Gaudissart, der dazu mit seinem schweren Spazierstock taktmäßig das Straßenpflaster bearbeitete.

»Herr Gaudissart«, redete Anselm ihn an, indem er aus dem Torwege trat und sich plötzlich zeigte, »auf zwei Worte!«

»Auf ein Dutzend, wenn's Ihnen Spaß macht«, erwiderte der Reisende, indem er den bleigefüllten Knopf seines Stockes gegen einen etwaigen Angreifer zur Wehr bereithielt.

»Ich bin Anselm Popinot!«

»Na natürlich!« rief Gaudissart aus; er erkannte ihn jetzt. »Was wünschen Sie? Geld? Ich habe zufällig keins, werde aber welches auftreiben. Brauchen Sie meinen Arm zu einem Duell? Ich bin ganz der Ihre, von der Sohle bis zum Scheitel!« Er begann, ein Soldatenlied zu trällern: »Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!«

»Schenken Sie mir ein paar Minuten Gehör, aber nicht in Ihrem Zimmer, wo man uns belauschen könnte, sondern auf dem Quai de l'Horloge. Jetzt um diese Zeit ist niemand dort. Es handelt sich um etwas höchst Wichtiges!«

Zehn Minuten später kannte Gaudissart Popinots großes Geheimnis.

»Da gilt's also, die sämtlichen Parfümhändler und Friseure der Welt zu animieren! Na, ich werde alle Ladeninhaber Frankreichs attackieren! Eine Idee! Ich wollte abreisen, nun bleibe ich aber und sammle zunächst die Aufträge der Pariser Parfümerien.«

»Wozu?«

»Um Ihre Konkurrenten abzumurksen, Sie unschuldsvoller Engel, Sie! Ich werde alle die andern elenden Haarmittel in Ihrem Öl ersäufen, indem ich mich bloß mit Ihrem Artikel befasse, bloß von ihm rede! Die Macht eines Reisenden ist enorm! Ja, wir! Wir Reisenden, wir sind die Diplomaten des Handels! Und die Sorge für Ihren Prospekt überlassen Sie nur mir. Ich habe da einen Jugendfreund an der Hand: Andochius Finot. Sein Vater ist Hutmacher in der Rue du Coq. Durch den Alten bin ich Hutreisender geworden. Andochius besitzt viel Geist; sein Grips geht nicht unter die hunderttausend Hüte, die sein Alter fabriziert hat. Mein Freund ist Literat. Er schreibt die kleinen Szenen im ,Courrier des Spectacles‘. Der alte Finot hat es faustdick hinter den Ohren, aber er hat so seine Gründe, den Geist nicht zu lieben; er glaubt nicht an den Geist und es ist unmöglich, ihm zu beweisen, daß man auch Geist verkaufen kann, daß man sein Glück auch im Handel mit Geist machen kann. Daran glaubt er nicht. Das geht ihm gegen das Einmaleins! Nun will der alte Finot den jungen Finot durch eine Hungerkur fassen. Andochius ist riesig begabt, dazu, wie gesagt, mein Freund! Mit Narren befasse ich mich nur geschäftlich. Aber die Genies sind meine Freunde! Finot macht Witze für den ›Treuen Schäfer‹. Der zahlt, während die Tageszeitungen, für die er sich halbtot schindet, ihm das Geld malen! Die Konkurrenz ist zu groß! Finot hat ein köstliches Lustspiel in einem Akt für Fräulein Mars geschrieben, den Stern aller Sterne! Ja, das ist eine Schauspielerin, wie ich sie liebe! Na, denken Sie, um sein Stück aufgeführt zu sehen, hat er's der Gariète geben müssen. Andochius ist ein Meister im Dichten von Prospekten; er geht auf die Ideen des Bestellers ein. Er ist sehr bescheiden; er wird uns den Prospekt gratis liefern. Du lieber Gott, mit einer Punschbowle und ein paar Stück Kuchen ist er zufrieden. Also, Popinot, keine Widerrede! Ich reise ohne Spesen und Provisionen. Ihre Konkurrenten sollen zahlen! Ich will sie schon an die Hammelbeine kriegen. Verstehen wir uns? Für mich ist der glückliche Erfolg dieses Geschäfts eine Ehrensache! Ich wünsche keine andere Belohnung, als bei Ihrer Hochzeit Brautführer zu sein! Ich werde eine Tour durch Italien, England und Deutschland machen! Ich nehme Plakate in allen Sprachen mit und lasse sie allerwärts ankleben, in den Dörfern, an den Kirchtüren, an jeder passenden Stelle, die ich in den Provinzstädten sehe! Ihr Öl wird Furore machen. Und bei Ihrer Hochzeit wird es hoch hergehen. Sie bekommen Ihre Cäsarine, oder ich will nicht ,der berühmte Gaudissart‘ heißen! Den Namen hat mir übrigens Finots Vater verliehen, weil ich seine grauen Zylinder in die Mode gebracht habe. Wenn ich Ihr Öl gut verkaufe, bleibe ich bei meiner Spezialität, dem menschlichen Kopfe! Haaröl und Hüte sind die Schutzheiligen des Haarwuchses!«

Als Popinot zu seiner Tante, wo er schlafen sollte, zurückkehrte, befand er sich durch die Voraussicht auf einen glücklichen Erfolg in einem derartigen Fieber, daß er die Straßen für Ölbäche hielt. Er schlief schlecht und ihm träumte, seine Haare wüchsen wie toll; zwei Engel erschienen ihm, die ein Plakat aufrollten, auf dem in Riesenlettern stand: »Cäsarinen-Öl!« Er erwachte, erinnerte sich des Traumes und beschloß, sein Nußöl »Cäsarinen-Öl« zu taufen, denn er hielt die Erscheinung für einen Wink des Himmels.

Cäsar und Popinot waren bereits vor der Ankunft der Nüsse in der Fabrik in der Vorstadt du Temple. Während sie auf Frau Madous Markthelfer warteten, erzählte Popinot triumphierend sein Bündnis mit Gaudissart.

»Wir haben den berühmten Gaudissart! Nun sind wir gemachte Leute!« rief der Parfümeur, indem er seinem Kassierer die Hand mit einer Miene reichte wie Ludwig XIV., als er den Marschall von Villars bei seiner Rückkehr von Denain bewillkommnete.

»Wir haben auch noch was ganz anderes!« frohlockte der glückliche Kommis, indem er eine Flasche von der Form einer breitgedrückten Kugel aus der Tasche zog. »Ich habe zehntausend solcher Flaschen fix und fertig gefunden, zu zwei Groschen das Stück! Ziel ein halbes Jahr!«

»Anselm!« Birotteau nahm einen ernsten Ton an. »Gestern in den Tuilerien, da hast du zu mir gesagt: ,Ich werde mein Glück machen!‘ Heute sag ich zu dir: ,Du machst dein Glück!‘ Zwei Groschen das Stück, und ein halbes Jahr Ziel! Eine originelle Form! Viel origineller als die Flaschen vom Macassar-Öl! Die machen wir schon damit tot! Wie gut, daß ich auch die Nüsse gekauft habe! Wo hast du eigentlich die Flaschen aufgetrieben?«

»Ich wartete auf Gaudissart und bummelte einstweilen umher...«

»Wie ich damals!« rief Birotteau.

»Als ich so die Rue Aubry-le-Boucher hinabgehe, bemerke ich bei einem Glashändler en gros, der riesige Bestände hat, dieses Fläschchen... Es stach mir sofort in die Augen, und eine Stimme rief nur zu: ,Das ist was für dich!'‘«

Der geborene Kaufmann! Er soll meine Tochter kriegen! sagte Cäsar bei sich.

»Ich trete in den Laden und sehe Tausende solcher Flaschen in Kisten.«

»Du erkundigst dich nach dem Preise?«

»Sie werden mich doch nicht für so dämlich halten?« rief Anselm schmerzlich.

Der geborene Kaufmann! wiederholte Birotteau bei sich.

»Ich frage nach Glasnäpfen, und indem ich um die Näpfe feilsche, tadle ich so nebenbei die Form dieser Flaschen. Da erzählte mir der Händler haarklein, daß Faille & Bouchot, die neulich Pleite gemacht, zu irgendeiner Schönheitstinktur Flaschen von auffallender Form haben wollten; er traute ihnen nicht recht und verlangte die Hälfte des Rechnungsbetrags in bar voraus. In der Hoffnung, daß ihnen das Geschäft gelinge, zahlten Faille & Bouchot, aber während der Herstellung der Flaschen machte die Firma Bankerott. Der Konkursverwalter unterhandelte mit dem Händler und ließ ihm schließlich die Flaschen samt dem angezahlten Geld als Entschädigung für das lächerlich und unverkäuflich erachtete Fabrikat. ,Die Flaschen kosten vier Groschen das Stück‘, sagte der Kaufmann, ,aber ich gebe sie gern für die Hälfte weg, damit ich das Zeug nur loswerde! Wer weiß, wie lange das wegen seiner Form unbrauchbare Zeug noch lagern wird ...‘ Ich frage nun den Mann, ob er mir zehntausend solcher Flaschen, das Stück zu zwei Groschen, liefern wolle. Ich sei Kommis bei Herrn Birotteau. Ich wolle meinen Prinzipal beschwatzen, um was dabei zu verdienen. Er sagte ja!«

»Zwei Groschen das Stück!« meinte Birotteau. »Weißt du, daß wir da unser Öl auf drei Francs die Flasche herabsetzen können und immer noch fünfzehn Groschen dran verdienen, selbst wenn wir unsern Wiederverkäufern zehn Groschen Rabatt geben?«

»Cäsarinen-Öl!« rief Popinot.

»Cäsarinen-Öl? Du verliebter August! Du willst Vater und Tochter zugleich schmeicheln! Na, meinetwegen! Cäsarinen-Öl! Drei Francs die Flasche! Das Macassar-Öl kostet doppelt so viel. Gaudissart wirkt für uns! Rechnen wir auf alle Köpfe, die auf sich halten, zwölf Flaschen jährlich – das macht achtzehn Francs Reingewinn. Nehmen wir an: achtzehntausend Köpfe – das macht hundertundvierundvierzigtausend Francs. Wir werden Millionäre!«

Als die Nüsse angekommen waren, kernten Raguet, die Arbeiter, Popinot und Cäsar eine hinreichende Menge davon aus, und ehe es vier Uhr schlug, waren bereits einige Pfund Öl gewonnen. Popinot trug es zu Vauquelin und der gab ihm ein Rezept, wonach die Nußessenz mit andern öligen, nicht so teuren Substanzen vermischt und wohlriechend gemacht wurde.

Glück verursacht einen Rausch, den der Durchschnittsmensch nicht verträgt. Die Begeisterung hatte ein leicht vorherzusehendes Resultat. Grindot kam und legte einen verführerischen Entwurf für die innere Einrichtung der neuen Wohnung vor. Birotteau willigte ganz entzückt in alles. Alsbald erdröhnte das Haus von Hammerschlägen. Konstanze seufzte. Lourdois, der reiche Dekorationsmaler, der es sich zur Pflicht machte, gründlich zu sein, sprach von Vergoldung des Salons. Da mischte sich aber Konstanze ein.

»Sie haben dreißigtausend Francs Rente, Herr Lourdois, und bewohnen ein eigenes Haus. Sie können darin machen, was Ihnen beliebt, aber hier ...«

»Gnädige Frau, ein Geschäft muß repräsentieren! Übrigens gehört Herr Birotteau zur Regierung. Er nimmt eine hervorragende Stellung ein ...«

»Ja, er gehört aber auch noch in seinen Laden«, sagte Konstante in Gegenwart der Kommis und fünf anderer Personen, die es hörten, »und weder ich noch er, weder seine Freunde noch seine Feinde, sollen das je vergessen!«

Birotteau nahm die Hände auf den Rücken und wippte auf und nieder.

»Meine Frau hat recht!« entschied er; »wir wollen im Glück nicht übermütig werden! Übrigens muß ein Mann, solange er noch im Geschäft steht, bedächtig in seinen Ausgaben sein, mäßig in seinem Aufwand. Das Gesetz macht ihm das zur Pflicht. Er darf keine übermäßigen Ausgaben machen. Wenn die Vergrößerung meines Ladens und die Verschönerung meiner Wohnung über die rechten Grenzen hinausgingen, so wäre das unklug von mir. Sie selbst würden mich tadeln, Lourdois! Das ganze Stadtviertel sieht auf mich! Leute, denen es in der Welt glückt, haben immer Konkurrenten und Neider. Sie werden das auch bald erfahren, junger Mann!« sagte er zu Grindot. »Wenn man uns auch verleumdet, so wollen wir den Leuten doch wenigstens keinen Grund geben, uns Schlechtes nachzusagen!«

»Verleumdung und Klatsch kann Sie nicht erreichen«, rief Lourdois, »Sie sind bereits über den Berg hinaus und besitzen eine solche Geschäftsklugheit, daß Sie Ihre Unternehmungen zu berechnen verstehen. Sie haben Routine!«

»Das stimmt! Ja. ich bin in Geschäften kein Neuling mehr. Aber kennen Sie denn die Ursache unserer Wohnungsvergrößerung? Wenn ich so sehr auf pünktliche Ausführung meiner Bestellung bestehe, so geschieht das...«

»Ich bin gespannt!«

»Na, wir sehen einige Freunde bei uns, einmal, um die Räumung Frankreichs von den fremden Truppen zu feiern, und dann auch wegen meiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion ...«

»Was? Wie? Sie haben das Ritterkreuz bekommen?«

»Ja! Vielleicht habe ich mich dieser allerhöchsten königlichen Auszeichnung würdig gemacht, als ich Handelsrichter war und weil ich auf den Stufen von Saint-Roch am 13. Vendémiaire für die königliche Sache gekämpft habe, wobei ich von Napoleon verwundet worden bin! Kommen Sie mit Ihrer Frau und Ihrem Fräulein Tochter ...«

»Ich bin hocherfreut über die Ehre, die Sie mir erweisen!« sagte der liberale Lourdois. »Aber Sie sind ein Schlaumeier, Vater Birotteau! Sie wollen sicher sein, daß ich mein Wort halte, und deshalb laden Sie mich ein. Na, ich werde meine geschicktesten Arbeiter aussuchen. Wir wollen ein Höllenfeuer machen, um die Malereien zu trocknen. Es soll alles prompt fix und fertig werden!«

Drei Tage nachher war die ganze Kaufmannschaft des Stadtviertels durch die Vorbereitungen zu Birotteaus Ball in Aufregung. Alle Welt konnte die baulichen Veränderungen beobachten. Die emsige Arbeit, die auch bei Licht fortgesetzt wurde – es gab nämlich Tag- und Nachtschichten –, verlockte die Müßiggänger und Neugierigen zum Zusehen von der Gasse aus, und die Klatschbasen des Viertels raunten sich Wunderdinge von der erstehenden Pracht zu.

An dem zum Abschluß des Geschäftes bestimmten Sonntage kamen Ragons und Onkel Pillerault nachmittags gegen vier Uhr zu Birotteau. In Anbetracht des Baurummels im Hause hatte Cäsar nur Claparon, Crottat und Roguin zu sich gebeten. Der Notar brachte das »Journal des Debats« mit, in das irgendein Gönner Birotteaus, vielleicht de la Billardière, folgenden Artikel lanciert hatte:

»Wir erfahren, daß die Räumung unseres Gebiets von den fremden Truppen in ganz Frankreich mit Begeisterung gefeiert werden wird. In Paris insbesondere haben die Mitglieder des Stadtrats das Gefühl, der Augenblick sei gekommen, in der Hauptstadt das ehemalige glänzende gesellschaftliche Leben wiedererstehen zu lassen, das aus naheliegenden Rücksichten während der Okkupation schlummern mußte. Jeder Stadtrat und jeder Stadtverordnete hat sich vorgenommen, einen Ball zu geben. Der Winter verspricht sehr glänzend zu werden, wenn diese nationale Regung um sich greift. Unter allen Festen, die vorbereitet werden, zieht der Ball des durch seine treue royalistische Gesinnung bekannten Herrn Birotteau, der zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden ist, die öffentliche Aufmerksamkeit besonders auf sich. Herr Birotteau, der an der Kirche von Saint-Roch am 13. Vendémiaire verwundet worden ist und einer der geschätztesten Richter am Handelsgerichte war, hat diese allerhöchste Auszeichnung somit doppelt verdient.«

»Wie hübsch man doch jetzt schreibt!« schmunzelte Cäsar. »Man spricht von mir im Journal!« sagt er zu seinem Onkel.

»Na, was ist denn da dabei ?« entgegnete Pillerault, der eine unüberwindliche Abneigung gegen das »Journal des Debats« hegte.

»Vielleicht fördert der Artikel den Absatz der Sultaninnen-Creme und des Venus-Wassers«, meinte Frau Birotteau leise zu Frau Ragon.

Frau Ragon war groß, hager und verschrumpelt; sie hatte eine sehr dünne Nase und schmale Lippen und erinnerte in ihrer Gesamterscheinung ein wenig an die Marquisen des Ancien régime. Wie bei allen Frauen, die viel durchgemacht haben, lagen ihre matten Augen ziemlich tief. Ihr ernstes, würdiges, doch nicht unfreundliches Wesen flößte Ehrerbietung ein. Übrigens hatte sie etwas Seltsames an sich, etwas Auffälliges, doch keineswegs Lächerliches, das in ihrer Art, sich zu kleiden, und in ihren Manieren lag. Sie trug Handschuhe ohne Finger und trennte sich nie von ihrem Sonnenschirm, der einen so hohen Stock hatte wie der der Königin Marie Antoinette im Trianon. Ihr Kleid, dessen Farbe meist jenes matte Braun war, das man feuillemorte nennt, fiel in unnachahmlichen Falten über ihre Hüften; die vornehmen Witwen der vergangenen Zeit haben das Geheimnis dieses Faltenwurfs mit ins Grab genommen. Dazu trug sie ewig denselben schwarzen Spitzenumhang und dieselben, altmodischen koketten Häubchen. Sie schnupfte Tabak mit exquisiter Sauberkeit und dem Gebärdenspiel, an das sich die Jugend von damals noch erinnerte, die das Glück gehabt hatte, ihre Großmütter und Großtanten zu sehen, wie sie goldene Dosen feierlich neben sich auf den Tisch legten und die auf ihr Busentuch fallenden Tabakskrümchen graziös abschüttelten.

Herr Ragon war klein, höchstens fünf Fuß hoch, und hatte ein Nußknackergesicht, in dem man nichts weiter sah als die Augen, zwei spitze Backenknochen, eine Nase und ein Kinn. Er hatte keine Zähne und verschluckte die Hälfte seiner Worte. Seine Unterhaltung war geschwätzig, galant, prätentiös. Er lächelte in einem fort so, wie er weiland gelächelt, als er die schönen Damen bewillkommnete, die der Zufall in seinen Parfümladen geführt hatte. Der Puder zeichnete auf seinem glänzenden Schädel einen schneeigen Halbmond, der hinten von zwei Haarbüscheln flankiert wurde, die ein mit einem schwarzen Bande geschmückter Zopf trennte. Der alte Mann trug einen kornblumenblauen Frack, eine weiße Weste, seidene Kniehosen und Strümpfe, Schuhe mit goldenen Schnallen und schwarzseidene Handschuhe. Er hatte den Spleen, stets den Hut in der Hand zu tragen. Alles in allem sah er aus wie ein Hoflakai, wie einer jener Leute, die bei irgendeiner obrigkeitlichen Macht angestellt sind, deren Glanz sie um so mehr usurpieren, je geringer sie selber sind.

»Na, Birotteau«, fragte er in hoheitsvollem Tone, »reut es dich, mein Junge, daß du damals auf uns gehört hast? Haben wir je an der Dankbarkeit unserer vielgeliebten Herrscher gezweifelt?«

»Sie müssen sehr glücklich sein, meine Liebe!« wandte sich Frau Ragon an Konstanze.

»O ja«, entgegnete die schöne Parfümeursfrau ganz im Banne des königlichen Sonnenknickers, der altmodischen Haube und des riesigen Busentuches à la Julie.

»Cäsarine ist reizend. Kommen Sie doch näher zu mir, mein liebes Kind!« sagte Frau Ragon gönnerhaft mit ihrer Fistelstimme.

»Machen wir die Geschäfte vor Tisch ab?« fragte Onkel Pillerault.

»Wir müssen auf Claparon warten. Als ich ihn verließ, zog er sich bereits an«, entgegnete Roguin.

»Roguin«, rief Cäsar, »Sie haben ihm doch hoffentlich gesagt, daß wir in dem gräßlich engen Zwischengeschoß essen ...«

Vor sechzehn Jahren fand er es prächtig, dachte Konstanze betrübt bei sich.

»... mitten unter Schutt und Arbeitern.«

»Tut nichts!« meinte Roguin; »Sie werden einen guten Kerl kennenlernen, der keine Ansprüche macht.«

»Ich habe Raguet im Laden als Posten ausgestellt. Durch die Haustür kann man momentan nicht gehen! Sie haben wohl gesehen, daß alles demoliert ist«, sagte Cäsar zum Notar.

»Warum haben Sie Ihren Neffen nicht mitgebracht?« fragte Pillerault Frau Ragon.

»Kommt er nicht?« fügte Cäsarine hinzu.

»Nein, mein Herzblättchen! Anselm rackert sich zu Tode, der gute Junge! Die luft- und lichtlose Rue des Cinq-Diamants macht mir Sorge. Im Rinnstein fließt's immer grün, blau oder schwarz. Ich fürchte, er kommt dort um. Aber laßt nur junge Leute etwas im Kopfe haben!'«

Bei dem Worte »Kopf« tippte sie sich auf das Herz und blinzelte Cäsarinen zu.

»Er hat also fest gemietet?« fragte Cäsar.

»Gestern, und zwar vor dem Notar. Auf achtzehn Jahre!«

»Na, Ragon, sind Sie mit mir zufrieden?« fragte Cäsar; »ich habe ihm das Rezept einer Entdeckung überlassen!«

»Sie sind immer der liebe gute Cäsar!« entgegnete der alte Ragon, indem er Birotteau kräftig die Hand drückte.

Roguin war nicht ohne Besorgnis, wie sich Claparon, dessen Wesen und Manieren einen braven Spießbürger nicht gerade berückten, einführen würde. Er hielt es deshalb für nötig, die Gemüter vorzubereiten.

»Sie werden in Claparon ein Original kennenlernen, das seine Geistesgaben unter einer rauhen Hülle verbirgt. Er hat sich aus sehr untergeordneter Stellung emporgearbeitet. Wenn er weiterhin viel mit Bankiers verkehrt, wird er ohne Zweifel bessere Formen annehmen. Man kann ihm zuweilen auf den Boulevards oder im Café begegnen, bummelnd oder Billard spielend und nicht besonders gut angezogen. Er macht da seine Beobachtungen oder grübelt nach, wie er die Industrie durch neue Einfalle heben kann.«

»Ich begreife das«, versetzte Birotteau, »meine besten Ideen sind mir gekommen, wenn ich rumbummelte. Nicht wahr, Konstanze?«

»Claparon«, fuhr Roguin fort, »gewinnt in der Nacht die Zeit wieder, die er am Tage darauf verwendet hat, Geschäfte auszuklügeln. Alle Genies führen ein bizarres, mystisches Dasein. Na, ich weiß es aus eigener Anschauung. Bei ihm geht alles drunter und drüber, aber an sein Ziel kommt er immer! Er hat in unserer Sache alle Grundstücksbesitzer zum Nachgeben gebracht; sie wollten erst nicht alle, manche waren argwöhnisch. Claparon hat sie bearbeitet, ihnen was vorgemacht, sie immer wieder heimgesucht, und so sind wir nun Herren der Baustellen!«

Ein sonderbares Brummen, das Schnaps- und Likörtrinkern eigen ist, kündigte das originelle Wesen an, das Cäsars Zukunft in die Hände bekommen und entscheiden sollte. Birotteau eilte auf die enge, dunkle Innentreppe, sowohl um Raguet das Schließen des Ladens anzubefehlen, als auch um sich bei Claparon über den Empfang im Eßzimmer zu entschuldigen.

»Was denn ? Ist ja hier alles ganz famos, um lustig... ich wollte sagen, um Geschäfte zu erledigen!« meinte der Ankömmling.

Trotz der geschickten Vorbereitung Roguins wurden die waschechten Spießbürger, der Philosoph Pillerault, Cäsarine und ihre Mutter durch die Erscheinung dieses angeblichen Bankiers der obern Zehntausend anfänglich doch sehr unangenehm berührt.

Claparon war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt und hatte nicht ein Haar mehr auf dem Kopfe. Deshalb trug er eine Perücke mit Korkzieherlocken, die sein finniges, braunrotes, ausgemergeltes Gesicht nur noch auffälliger machten. Vorzeitige Runzeln und tiefe Falten zeugten von seinem liederlichen Leben, nicht minder die verdorbenen Zähne und die dunklen Flecken auf seiner rauhen Haut. Er sah aus wie ein häßlicher, frecher Schmierenkomödiant, der alle Rollen parodiert. Sein fideles Trinkergesicht ließ den Gedanken an Geschäftsernst schwerlich aufkommen. Claparon mußte sich somit redliche Mühe geben, ehe es ihm gelang, eine einigermaßen wirkende Würde zu heucheln. Du Tillet hatte seiner heutigen Toilette beigewohnt, sorglich wie ein Schauspieldirektor vor dem Debüt eines neuen ersten Liebhabers. Damit die losen Gewohnheiten dieses Bummlers den Gesellschaftsfirnis nicht durchbrächen, hatte er ihm allerlei gute Lehren gegeben.

»Tu den Mund möglichst wenig auf!« hatte er zu ihm gesagt. »Ein Bankier schwatzt nicht, er handelt, denkt, überlegt, hört und wägt ab. Willst du für einen echten Bankier gelten, so halt dein Maul oder bring unbedeutende Dinge vor! Schau ernst drein, meinetwegen blöde! In der Politik sei für die Regierung und wirf mit allgemeinen Redensarten um dich, wie zum Beispiel: Das Budget ist arg. Zwischen den Parteien ist ein Ausgleich unmöglich. Die Liberalen, das sind gefährliche Leute! Die Bourbonen müssen jeden Konflikt vermeiden. Der Liberalismus ist das Mäntelchen eigennütziger Interessen. Die Bourbonen bereiten uns eine Ära des Wohlstandes vor; unterstützen wir sie, wenn wir sie auch nicht lieben! Frankreich hat politische Erfahrungen genug gemacht! Und ähnlichen Blödsinn. Lümmle dich nicht auf den Tisch auf! Bedenke, daß du die Würde eines Millionärs zu wahren hast! Schnupf deinen Tabak nicht wie ein alter Invalide; spiele mit der Dose! Schau auf deine Füße oder an die Decke, ehe du antwortest, und gib dir ein tiefsinniges Aussehen. Vor allen Dingen aber lege die unglückliche Gewohnheit ab, über alles zu räsonieren! Das ist nichts für einen Bankier. Ach so, vergiß nicht, gelegentlich zu bemerken, daß du die Nächte hindurch arbeitest, daß die ewige Rechnerei angreife! Es gehöre so vielerlei dazu, eine Sache in Gang zu bringen! Du hättest toll zu tun! Schimpfe besonders recht auf die Geschäfte! Geschäfte seien gräßlich, strapaziös, schwierig, dornenvoll. Weiter gehst du aber nicht, spezifizierst auch nichts! Sing bei Tisch ja nicht etwa die albernen Lieder deines Béranger und trink nicht zu viel! Beschwipst du dich, so richtest du deine Zukunft zugrunde! Roguin wird auf dich aufpassen. Du wirst dich unter sittenstrengen, ehrbaren Bürgersleuten befinden; entsetze sie ja nicht durch deine Stammtischwitze!«

Diese Sittenpauke hatte geistig auf Claparons Geist genau dieselbe Wirkung hervorgebracht wie in körperlicher Beziehung seine neue Kleidung. Dieser Bruder Lustig war jedermanns Freund. Er war an bequeme lose Kleidung gewöhnt, die seinen Körper nicht genierte; ebenso pflegte er zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Eingezwängt in den neuen Anzug, auf den ihn der Schneider auch noch lange hatte warten lassen, ging er steif einher, als hätte er ein Lineal verschluckt. Er war in seinen Bewegungen wie in seiner Rede unsicher geworden. Zerstreut griff er mit der Hand nach seiner Schnapspulle in der Brusttasche, zog sie aber gerade noch zur rechten Zeit zurück. Oder er hielt mitten in einem Satze inne. Dem feinen Beobachter Pillerault fiel der lächerliche Zwiespalt an ihm auf. Das rote Gesicht und die Perücke mit den lustigen Korkzieherlocken straften seine steife Haltung Lügen. Ebenso lagen offenbar seine Gedanken mit seinen Worten im Streite. Schließlich aber nahmen die guten Leutchen diese beständigen Dissonanzen für Zerstreutheit.

»Er hat so viele Geschäfte im Kopf!« entschuldigte ihn Roguin.

»Vor lauter Geschäften vernachlässigt er entschieden seine Bildung!« bemerkte Frau Ragon zu Cäsarine.

Roguin hörte das, legte einen Finger an den Mund und meinte, sich Frau Ragon zubeugend: »Er ist reich, gewandt und außerordentlich ehrlich!«

»Na, da kann man ihm ja manches nachsehen!« bemerkte Pillerault leise zu Ragon.

Roguin schlug vor, nunmehr den Vertrag vorlesen zu lassen. Die Frauen zogen sich zurück.

Crottat verlas das Schriftstück. Cäsar unterzeichnete dann einen Hypothekenbrief in der Höhe von vierzigtausend Francs auf die Baustellen und seine in der Vorstadt du Temple gelegene Fabrik. Diese vierzigtausend Francs wollte ein Klient Roguins geben. Dann übergab er dem Notar Pilleraults Bankanweisung, zahlte ohne Quittung zwanzigtausend Francs bar und hundertvierzigtausend Francs in Wechseln auf Claparons Order.

»Ich brauche Ihnen keine Quittung zu geben«, sagte Claparon, »Herr Roguin ist die Zentrale der ganzen Unternehmung. Die Verkäufer der Baustellen werden durch ihn bar bezahlt. Ich bin zu nichts weiter verpflichtet, als ihm die Ergänzung Ihres Anteils gegen Ihre hundertvierzigtausend Francs in Wechseln bar zu schaffen!«

»Ganz recht!«

»Meine Herren, nun holen wir die Damen zurück! Ohne Weiber ist's bockig!« rief Claparon und sah dabei Roguin an, wie um sich zu vergewissern, ob diese Ausdrucksweise nicht doch etwa zu stark wäre.

»Das Fräulein ist ohne Zweifel Ihre Tochter!« redete er Birotteau an. »Hol mich der Teufel! Eine brave Leistung! Die Rosen, die Sie ausquetschen, können sich vor ihr verstecken. Wer weiß, vielleicht ist gerade Ihre Routine, Rosen, zu destillieren, daran schuld, daß ...«

»Ich muß sagen«, unterbrach ihn Roguin, »daß ich einen Bärenhunger habe!«

»Gehen wir also zu Tisch!« forderte Birotteau auf.

»Sie machen wohl im Augenblick sehr viele Geschäfte?« fragte Pillerault, indem er sich absichtlich neben Claparon setzte.

»Erstaunlich viel! Schockweise! Aber Geschäfte sind gräßlich, strapaziös, schwierig, dornenvoll! Da sind zum Beispiel die Kanalprojekte! Diese Lausekanäle! Sie können sich nicht vorstellen, was die einem für Scherereien machen. Und doch ist es begreiflich. Die Regierung will die Kanäle! Die Provinzen sehnen sich nach einem Kanalsystem. Industrie und Handel verlangen danach. Sie wissen das ja selbst! Pascal hat gesagt: ,Flüsse sind wandernde Wege!‘ Kanäle heben den Reichtum im ganzen Lande. Aber die Regierung hat ihre Ingenieure, ihre Sachverständigen. Und so ist es verteufelt schwer, den Staat hineinzulegen, wenn man sich nicht gut mit seinen Leuten steht. Und dann das Abgeordnetenhaus! Ich sage Ihnen, das Abgeordnetenhaus, mein lieber Herr, das macht uns unglaubliche Schwierigkeiten. Dort will man die soziale Frage nicht verstehen, die hinter der finanziellen steckt. Keiner traut dem andern. Das ist ganz unglaublich. Ein Beispiel: Franz Keller ist Bankier und Politiker; er greift die Regierung wegen der Kanäle an. Jetzt kommt er nach Hause und da findet uns der Bursche mit unsern Finanzierungsvorschlägen der Kanalprojekte; sie sind prima. Man muß sich also hierüber mit der Regierung ins Einvernehmen setzen, obgleich man sie erst wenige Minuten vorher unverschämt angegriffen hat! Die Interessen des Politikers und des Bankiers stehen also einander gegenüber. Wir sind zwischen zwei Feuern! Sie begreifen jetzt, wie dornenvoll die Geschäfte sind! Man muß es zu vielerlei Herren recht machen: der Kammer hier, den Ministern da ...«

»Den Ministern?« rief Pillerault, der seinen Associé durchaus ergründen wollte.

»Freilich, den Ministern!«

»Da haben die Zeitungen also doch recht!«

»Na freilich, nun ist Onkel Pillerault glücklich bei seiner Politik«, meinte Birotteau, »Herr Claparon macht sich bei ihm lieb Kind.«

»Ach, die Zeitungen, die lügen das Blaue vom Himmel runter!« rief Claparon, »die machen das Treiben gleich ganz verrückt! Manchmal sind sie ja gut zu gebrauchen, aber selten! Sie verursachen einem bloß schlaflose Nächte. Vom vielen Lesen und Rechnen habe ich sowieso schlechte Augen bekommen!«

»Um wieder auf die Minister zu kommen ...«, warf Pillerault hin, immer in der Hoffnung, ihn zu durchschauen.

»Die Minister halten es lediglich mit der Regierung. Aber was esse ich denn da? Köstliches Zeug! So eine Sauce bekommt man einzig und allein in gutbürgerlichen Häusern. In den Kneipen ...«

Bei diesen Worten wackelten die Blumen auf Frau Ragons Haube bedenklich. Claparon merkte überraschend schnell, daß er aus der Rolle gefallen war, und wollte sich verbessern:

»Wir Bankmenschen nennen alles Kneipen, auch die eleganten Restaurants wie Véry und so weiter. Aber weder die wirklichen Kneipen, noch unsere gelehrten Köche verstehen eine anständige Sauce zu bereiten ...«

Pillerault versuchte es noch mehrfach im Laufe des Mahles, diesem Menschen ordentlich auf den Zahn zu fühlen, aber er stieß bei all seinen Bemühungen immer wieder auf inhaltlose Leere und hielt ihn schließlich für ein gefährliches Subjekt.

»Ich bin mit Ihnen zufrieden!« flüsterte Roguin Claparon ins Ohr.

»Warten Sie nur ab! Ich werde gleich meinen Rock ausziehen!« erwiderte ihm Claparon, der dem Ersticken nahe zu sein glaubte.

»Herr Claparon«, sagte Birotteau, »wenn wir heute genötigt sind, das Eßzimmer auch als Salon zu verwenden, so geschieht das nur, weil wir in drei Wochen einige Freunde bei uns sehen werden, einerseits um die Räumung Frankreichs von den fremden Truppen zu feiern ...«

»Ja freilich, Herr Birotteau, auch ich halte zur Regierung!« erwiderte Claparon. »Ich bewundere den großen Staatsmann, der die Schicksale des Hauses Österreich lenkt. Das ist ein famoser Bursche! Erhalten, um zu erwerben, und besonders erwerben, um zu erhalten! Das ist mein. Wahlspruch wie der des Fürsten Metternich.«

»... andererseits auch zur Feier meiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion ...« fuhr Cäsar fort.

»Ja, ja, ich weiß schon. Wer hat mir's doch gleich gesagt. Keller oder Nucingen?«

Roguin war ob Claparons sicherem Benehmen erstaunt; er machte eine Gebärde der Bewunderung.

»Ach nein, nicht doch«, fuhr Claparon fort, »in der Kammer war es, wo ich es erfahren habe.«

»In der Kammer! Gewiß von Herrn de la Billardière?« fragte Cäsar.

»Richtig!«

»Er ist bezaubernd!« flüsterte Cäsar seinem Onkel ins Ohr.

»Ach was! Er drischt nichts als Phrasen!«

»Vielleicht habe ich mich der allerhöchsten königlichen Auszeichnung würdig gemacht...« fuhr Cäsar endlich in seinem ersten Satze fort.

»Durch Ihre Verdienste in der Parfümerie«, unterbrach ihn Claparon von neuem. »Die Bourbonen verstehen jedes Verdienst zu belohnen. Ja, halten wir treu zu diesem edeln Fürstenhause, dem wir noch unerhörtes Glück zu verdanken haben werden! Glauben Sie mir, die Restauration weiß nur allzu genau, daß sie im Wettkampf mit dem Kaiserreich steht. Sie wird ihre Eroberungen im vollen Frieden machen, und wir werden noch Eroberungen erleben ...«

»Wird uns Herr Claparon die Ehre erzeigen, unserm Balle beizuwohnen?« fragte Frau Birotteau.

»Um einen Abend mit Ihnen zu verbringen, gnädige Frau, würde ich Millionen im Stiche lassen!«

»Er ist wirklich nur ein eitler Schwätzer!« gab Cäsar Pillerault zu.

Während die Ruhmessonne der Parfümerie »Zur Rosenkönigin« sinkend die letzten Strahlen warf, stieg am Kaufmannshimmel ein neuer, noch winziger Stern auf. Es war der Stern des kleinen Popinot, der zur selben Stunde den Grund zu seinem Glück in der Rue des Cinq-Diamants legte.

Diese Straße, eine enge, kleine Gasse, durch die beladene Wagen nur mit Mühe durchkommen, beginnt an der Rue des Lombards und endet an der Rue Aubry-le-Boucher angesichts der Rue Quincampoix, dieser berühmten Straße des alten Paris. Trotz ihrer Enge war sie als Zentrum des Drogenhandels sehr verkehrsreich, und so hatte Popinot nicht schlecht gewählt. Dafür waren aber seine Wohnräume so düster, daß sie zuweilen am hellerlichten Tage erleuchtet werden mußten. Der große, geräumige Laden hatte schwere, eisenbeschlagene, grün angestrichene Türen. Hinterladen und Küche erhielten ihr Licht vom Hofe. Nach hinten hinaus lag auch der Lagerraum, der ehemals ein Pferdestall gewesen sein mochte. Auf einer vom Hinterladen ausgehenden Innentreppe gelangte man in den Zwischenstock zu zwei Räumen, die ihr Licht von der Straße bekamen. Dorthin gedachte Popinot seine Kasse und sein Kontor zu legen. Über dem Hinterladen und dem Lagerraum befanden sich drei schmale, düstere Zimmer mit Aussicht auf den winkligen Hof. Hier wollte Anselm sein Heim aufschlagen. Eine einzige dieser Kammern hatte einen Kamin und alle drei waren sie untapeziert.

Vom frühen Morgen an klebten Gaudissart und Popinot mit Hilfe eines von Gaudissart aufgegabelten Tapezierers eine billige Tapete in die eine kahle Kammer. Die Einrichtung, die hineinkam, bestand aus einem Feldbett, einem wackligen Nachttisch, einer altmodischen Kommode, einem Tisch, zwei Lehnsesseln und sechs Stühlen, die der Richter Popinot seinem Neffen geschenkt hatte. Gaudissart hängte über dem Kamin einen ordinären halbblinden Spiegel auf.

Gegen acht Uhr abends saßen die beiden Freunde vor dem Kamin, in dem ein Bündel Reisig brannte; Popinot setzte den Rest des Frühstücks auf den Tisch.

»Weg mit dem kalten Schöpsenfleisch! Das paßt gar nicht zu einem fidelen Einzugsschmaus!« rief Gaudissart leichtherzig.

»Freilich!« meinte Popinot, indem er an die zwanzig Francs dachte, die er zur Bezahlung des Prospekts in der Tasche hatte. »Indessen ... ich ...«

»Ich?« wiederholte Gaudissart und kniff ein Vierzigfrancsstück wie ein Monokel ins Auge.

In dem Augenblick fiel der Klopfer zweimal gegen die Haustür, so daß es durch den sonntäglich-einsamen Hof hallte.

»Da kommt das Tischlein-deck-dich!« meinte der gewichtige Gaudissart. »Siehst du, ich sorge für alles!«

Wirklich brachte ein Kellner, dem zwei Küchenjungen folgten, in drei Körben ein Diner für drei Personen und sechs Flaschen exquisiten Wein.

»Himmel! Wohin soll denn all das Essen?« rief Popinot erstaunt aus.

»Unser Gelehrter Finot ist auch noch da! Denkst du, der bleibt weg? Der bringt einen Bärenhunger und einen Mordsdurst mit! Darauf kannst du dich verlassen!«

»Fort, ihr Kerle!« herrschte er die Küchenjungen an. »Hier ist Mammon!«

Mit einer Geste, deren sich sein angebeteter Napoleon nicht hätte zu schämen brauchen, spendete er ihnen zehn Sous.

»Und du, mein Sohn!« sprach er zu dem Burschen, der zur Bedienung zurückblieb. »Es gibt hier im Hause irgendwo in der Tiefe eine Höhle, in der sie haust, eine Hausmannsfrau! Begib dich zu selbiger, flehe ihren Beistand an und begeistere sie dafür, diese Schüssel auf ihren Herd zu setzen. Sage ihr, junger Mann, der Segen Gottes werde auf ihr ruhen, und ebenso der Segen des Herrn Felix Gaudissart, des Sohnes des seligen Herrn Johann Franz Gaudissart, Enkels und Urenkels der Gaudissarts, seiner Vorfahren, lauter echter alter gemeiner Proletarier! Lauf und sieh zu, daß alles geschieht, so ich gesagt! Sonst dreh ich dir einen Zirkumflex in deine Visage!«

Der Klopfer dröhnte von neuem gegen die Tür.

»Da kommt unser Voltaire, der lang Erwartete!« sagte Gaudissart.

Ein pausbäckiger, dicker, mittelgroßer Bursche, der vom Scheitel bis zur Sohle etwas Steifes und Altkluges an sich hatte, erschien alsbald auf der Bildfläche. Sein Kalmückengesicht, das Elend und Armut verriet, hellte sich merklich auf, als er den einladenden Tisch und den Wein erblickte. Seine grauen Augen bekamen Glanz. Er begrüßte Popinot auf eigenartige Weise: ohne Unterwürfigkeit, ohne Respekt, just wie einer, der sich nicht an seinem Platze fühlt, aber keine Zugeständnisse machen will. Er war gerade damals zu der Einsicht gekommen, daß er durchaus kein literarisches Genie war. Trotzdem hatte er sich vorgenommen, bei der Literatur zu bleiben, geistreiche Leute auszubeuten und damit Geschäfte zu machen, anstatt selber schlecht bezahlte Werke zu schreiben.

Er hatte es satt, sich mit demütigenden Bemühungen und Versuchen zu befassen; er wollte fortan wie finanziell gutgestellte Leute dreist auftreten. Zunächst brauchte er Geld, und deshalb hatte ihn Gaudissart mit in die Ölangelegenheit gezogen.

»Du wirst auf seine Rechnung mit den Zeitungen unterhandeln«, hatte ihn Gaudissart instruiert. »Richte ihn aber ja nicht zugrunde, sonst gibt's ein Duell auf Leben und Tod! Mach ihm für sein Geld eine brauchbare, ordentliche Reklame!«

Popinot betrachtete den Ankömmling unruhig. Der echte Kaufmann steht einem Schriftsteller immer mit gemischten Gefühlen gegenüber. Popinot hatte zwar eine gute Schulbildung genossen, aber die Lebensanschauung, die Ideen, die Gewohnheiten seiner Umgebung und die verdummende Ladenluft hatten seinen Verstand wieder eingeengt und eingeschränkt. Man kann diese Erscheinung an neunundneunzig von hundert Schulkameraden beobachten, die gleichzeitig mit einem die gleiche Schule verlassen haben, wenn man sie nach zehn oder zwanzig Jahren wiedersieht. Finot nahm Popinots Schweigen für geheime Bewunderung.

»Erledigen wir den Prospekt vor dem Essen!« schlug Gaudissart vor. »Wir können dann um so vergnügter zechen! Nach dem Essen arbeitet sich's schlecht! Die Zunge will nach ihrer Berufstätigkeit auch ihr Mittagsschläfchen halten!«

»Herr Finot«, bemerkte Popinot, »ein Prospekt ist oft soviel wie ein Vermögen!«

»Für Leute meines Schlages«, entgegnete der Schriftsteller, »ist Vermögen nur Prospekt.«

»Allerliebst!« fiel Gaudissart ein. »Herr Andochius hat Witz wie ein Akademiker!«

Der ungeduldige Gaudissart nahm das Manuskript des Prospekts in die Hand und begann laut und mit Emphase vorzulesen:

»Kephalol!«

»Kephalol!« wiederholte Popinot nachdenklich. »Wenn ich ehrlich sein soll, muß ich gestehen: ich hätte lieber ›Cäsarinen-Öl‹!«

»Liebster Freund«, entgegnete Gaudissart, »du kennst die Provinzler nicht! Bei ›Cäsarinen-Öl‹ denken sie natürlich an Julius Cäsar, und der Gedankensprung von diesem Manne auf unser Haaröl ist ein bißchen gar zu umständlich!«

»Ohne das von mir vorgeschlagene neuerfundene Wort herausstreichen zu wollen«, sagte der Schriftsteller, »bemerke ich nur, daß Kephalol soviel sagen will wie Öl (oleum) für den Kopf (kephalos), also Ihre Erfindung markant charakterisiert!«

»Gut! Weiter!« rief Popinot ungeduldig.

Hier folgt nun der Prospekt:

Auf der Ausstellung von 1827 mit der goldenen Medaille ausgezeichnet!

KEPHALOL!

Das Vollkommenste auf dem Gebiete der Haar-Erhaltungsmittel!

Es gibt kein künstliches Mittel, Haare wachsen zu lassen, wo keine mehr da sind; ebenso auch kein chemisches Präparat, das das Haar ohne Nachteil für die Gesundheit zu färben imstande wäre. Die moderne Wissenschaft hat festgestellt, daß kein Mittel das Ausfallen oder Ergrauen der Haare absolut verhindern kann. Es gibt aber Vorbeugemittel. Um das Dünnerwerden des Haares oder das Kahlköpfigwerden aufzuhalten, muß man den Bulbus, das heißt die Haarwurzel, vor jeder äußeren atmosphärischen Einwirkung zu schützen und der Kopfhaut immer ihre normale Wärme zu erhalten suchen. Das

KEPHALOL

beruht auf diesen von der Akademie der Wissenschaften festgestellten Prinzipien und hat diese wichtige Wirkung! Die alten Griechen und Römer, ebenso die alten Germanen, denen das Haar der edelste Schmuck war, kannten bereits das Mittel. Gelehrte Forschungen haben ergeben und nachgewiesen, daß die Edlen, die sich ehemals durch die Länge der Haare auszeichneten, kein anderes Mittel angewandt haben. Ihr Verfahren, das von Herrn Anselm Popinot glücklich wieder aufgefunden worden ist, war lediglich verlorengegangen.

Zu erhalten, was da ist, das ist die Aufgabe des

KEPHALOL

Es verzichtet auf schädliche und von vornherein erfolglose Experimente mit Haar und Kopfhaut. Kephalol hat einen angenehmen Geruch und ist aus Substanzen zusammengesetzt, von denen die Lambertsnußessenz den Hauptbestandteil bildet. Es macht in der Tat jedwede Einwirkung der Atmosphäre auf die Kopfhaut unschädlich, es beugt dem Schnupfen, den Kopfschmerzen, der Migräne und allen schmerzhaften Affektionen der Gehirnmasse vor, weil es der Kopfhaut ihre normale Temperatur erhält. Bei dauernder Anwendung von

KEPHALOL

behalten die Haarwurzeln die haar- und färbeerzeugende Substanz und werden niemals von Kälte oder Hitze angegriffen und geschädigt. Das Haar, der prächtigste Schmuck des gesunden Menschen, auf das Männer wie Frauen aller Stände mit Recht den höchsten Wert legen, behält bis in das späteste Alter bei jedem, der sich des

KEPHALOL

dauernd bedient, den Glanz, die Feinheit, die Weichheit, die Fülle und die Farbe der Jugend!

Jeder Flasche ist eine Gebrauchsanweisung beigegeben, die ihr als Hülle dient.

GEBRAUCHSANWEISUNG DES KEPHALOL

Es ist durchaus verlorene Liebesmüh, die Haare zu pomadisieren. Das ist nicht allein ein lächerlicher und altmodischer Unfug, sondern überhaupt ein im höchsten Grade gesundheitsschädliches Verfahren, weil alle Pomaden und ähnliche Kosmetika ausnahmslos unerwünschte Wirkungen haben. Es genügt vielmehr, alle Morgen einen feinen Schwamm mit

KEPHALOL

zu befeuchten, das Haar auseinanderzukämmen, mit Kamm und Bürste zu säubern und dann Haar um Haar an der Wurzel mit dem Schwamme zu benetzen, so daß die Kopfhaut leicht mit Kephalol getränkt wird.

Kephalol wird in Originalflaschen, die nur echt sind, wenn sie Siegel und Namenszug des Erfinders tragen, bei

ANSELM POPINOT

Rue des Cinq-Diamants, Quartier des Lombards, Paris, zum Preise von drei Francs die Flasche verkauft.

Bestellungen werden frankiert erbeten!

»Mein lieber Freund«, sagte Gaudissart zu Finot, »dein Prospekt ist wirklich großartig abgefaßt! Zum Teufel auch! Das nenne ich echt wissenschaftlich! Wir machen keine albernen Redensarten! Wir gehen gerade auf unser Ziel los! Ich mache dir mein aufrichtigstes Kompliment! Diese Art Literatur hat wenigstens ihren Zweck!«

»Ein prächtiger Prospekt!« rief Popinot enthusiastisch.

»Ein Prospekt, dessen erstes Wort schon das Macassar-Öl tötet!« Gaudissart erhob sich, um mit Stentorstimme folgende Sätze zu sprechen, wobei er jedes einzelne Wort für sich betonte:

»Niemand – kann – Haare – wachsen – lassen! – Niemand – färbt – das – Haar – ohne – Gefahr! – Das heißt Reklame! Die moderne Wissenschaft gräbt die Rezepte der Alten wieder aus. Damit macht man es altmodischen wie modernen Menschen recht. Hat man es mit einem Altmodischen zu tun, so sagt man: ›Mein Herr, die alten Griechen und Römer hatten recht; das waren gescheite Kerle!‹ Hat man es mit einem Modernen zu tun, dann sagt man etwa so: ›Mein lieber Junge, schon wieder eine Entdeckung, die wir dem Fortschritt verdanken! Was dürfen wir alles vom Dampf, vorn Telegrafen und andern modernen Dingen noch erwarten! Kephalol ist das jüngste Resultat der Forschungen des Herrn Professors Vauquelin!‹ Wie wär's übrigens, wenn wir dazu eine Stellungnahme aus einer der Vorlesungen Vauquelins in der Akademie der Wissenschaften abdruckten, die unsere Behauptung bestätigt? Was? Famos! – Na, Finot, jetzt auf zu Tisch! Vertilgen wir die Atzung und den edlen Wein auf das Glück unseres jungen Freundes und Erfinders!«

»Ich bin der Ansicht«, sagte der Schriftsteller bescheiden, »daß die Zeiten des scherzhaften Prospekts vorbei sind. Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft; somit bedarf es des gelehrten Dissertationsstiles, des Professorentones, um dem Publikum zu imponieren.«

»Unser Kephalol wird rasend abgehen, mir juckt es schon in allen Gliedern!« rief Gaudissart aus. »Ich bekomme Aufträge von allen, die sich mit Haarpflege befassen. Keine Fabrik gibt mehr als dreißig Prozent. Geben wir vierzig, und ich bürge für hunderttausend Flaschen in einem halben Jahre! Ich werde alle Apotheker, Drogisten und Friseure von ganz Frankreich besuchen! Wenn wir ihnen vierzig Prozent geben, überschütten sie ihre ganze Kundschaft mit Kephalol!«

Die drei jungen Leute aßen wie die Löwen und zechten wie die Bayern. Der künftige Erfolg des Kephalol berauschte sie.

»Dieses Kopföl wirkt wirklich auf den Kopf!« scherzte Finot.

Gaudissart erschöpfte sich nun in ähnlichen Wortspielen. Mitten unter dem homerischen Gelächter der drei Freunde beim Nachtische schlug der Türklopfer zum drittenmal an.

»Das ist mein Onkel! Ich glaube gar, er will mich besuchen!« meinte Popinot.

»Ein Onkel, und wir haben kein Glas für ihn!« rief Finot.

»Der Onkel meines Freundes Popinot ist Kreisrichter!« belehrte Gaudissart den Schriftsteller. »Er darf nicht angeulkt werden. Er hat mir einmal das Leben gerettet. Ich sage dir, wenn man sich einmal in seinem Leben derartig in hochnotpeinlichster Klemme befunden hat wie ich, beinah schon unter der Guillotine, wo es heißt: ›Ratz! Adieu Kopf!‹ – dabei machte er das verhängnisvolle Fallbeil durch eine Geste nach –, dann erinnert man sich sein lebelang des Mannes, dem man die Erhaltung der Rinne dankt, durch die der Sekt zum Magen rieselt. Man erinnert sich dieses Mannes und wenn man sternhagelvoll ist! Du weißt übrigens gar nicht, lieber Finot, ob du nicht auch noch einmal diesen Herrn Popinot nötig hast. Hol mich der Teufel, wir sind dem Manne Respekt schuldig, und zwar gehörig!«

Der Richter fragte bei der Hausmannsfrau in der Tat nach seinem Neffen. Als Anselm seine Stimme erkannte, ging er mit dem Leuchter in der Hand hinunter, um ihn heraufzugeleiten.

»Guten Abend, meine Herren!« sagte der Eintretende.

Gaudissart verneigte sich tief. Finot begrüßte ihn mit trunkseligen Augen, er fand ihn recht trottelig.

»Besonders luxuriös ist es hier nicht!« bemerkte der Richter ernst, indem er sich im Zimmer umblickte. »Aber, mein lieber Anselm, wenn man etwas Großes werden will, muß man es verstehen, damit anzufangen, nichts zu sein.«

»Was ist das für ein Philosoph!« flüsterte Gaudissart Finot zu.

»Stoff zu einem ganzen Artikel!« entgegnete der Journalist.

»Aj, da sind Sie ja, Herr Gaudissart!« rief der Richter, indem er den Reisenden erkannte. »Was machen Sie denn hier?«

»Herr Kreisrichter, ich habe die Absicht, soweit das in meinen schwachen Kräften steht, zu dem Glück Ihres lieben Neffen beizutragen. Wir haben eben über den Prospekt seines neuen Haarmittels konferiert, und hier in diesem Herrn sehen Sie den Verfasser des Prospektes. Er dünkt uns eine Glanzleistung der Parfümerieliteratur zu sein!«

Der Richter sah Finot an. Gaudissart fuhr fort:

»Herr Andochius Finot, einer der begabtesten jungen Literaten! Er ist der Verfasser von politischen Leitartikeln in den Zeitungen der Regierung und schreibt auch kleine Theaterstücke. Ein Minister und Dichter in spe!«

Finot zupfte Gaudissart am Rockschoß.

»Na, das ist ja sehr schön, meine lieben Kinder!« versetzte der Richter, dem diese Worte die Anwesenheit der Reste eines wohl zu entschuldigenden Schmauses auf dem Tisch erklärten. »Mein lieber Freund«, fügte er zu seinem Neffen gewandt hinzu, »zieh dich an! Wir wollen heute abend zu Herrn Birotteau gehen. Ich bin ihm einen Besuch schuldig. Ihr werdet euren Gesellschaftsvertrag unterzeichnen. Ich habe ihn sorgfältig geprüft. Ich denke, er wird dir auch seine Fabrik in der Vorstadt du Temple zur Verfügung stellen, und zwar vertragsmäßig. Man muß alles schriftlich machen. Damit vermeidet man in jedem Falle spätere umständliche Erörterungen... Die Wände hier in deiner Stube scheinen mir übrigens feucht zu sein, Anselm! Du mußt Strohmatten an der Wand aufhängen, an der dein Bett steht!«

»Erlauben Sie, Herr Kreisrichter«, unterbrach ihn Gaudissart mit geradezu höfischer Artigkeit, »wir haben erst heute die Wände selbst tapeziert und ... sie ... sind ... noch nicht ganz trocken.«

»Sparsame Leute! Das laß ich mir gefallen!« lobte der Richter.

»Hör mal«, sagte Gaudissart leise zu Finot, »mein Freund Popinot ist ein solider junger Mann. Er geht mit seinem Onkel. Wie wär's, wenn wir beide den Abend bei meiner Tante zubrächten?«

Der Journalist zog das Futter seiner Westentasche heraus. Popinot bemerkte die Geste und steckte dem Verfasser seines Prospekts das Zwanzigfrancsstück zu.

Der Richter hatte am Ende der Straße seine Droschke halten lassen und fuhr nun in ihr mit seinem Neffen zu Birotteau.

Bei ihrer Ankunft daselbst trafen die beiden Pillerault, Herrn und Frau Ragon und den Notar Roguin beim Doppelkopf an; Cäsarine stickte an einem Halstuch. Roguin saß gegenüber von Frau Ragon, neben der Cäsarine saß. Er bemerkte die Freude des jungen Mädchens über Anselms Kommen; sie ward rot wie eine Päonie. Roguin zwinkerte Crottat zu.

»So soll der Vertrag also heute abgeschlossen werden!« sagte Birotteau, als ihm der Richter nach der Begrüßung die Ursache seines Besuches mitteilte.

Cäsar, Anselm und der Richter gingen in den zweiten Stock hinauf, in Cäsars provisorisches Zimmer, um den Mietkontrakt und den vom Richter aufgesetzten Gesellschaftsvertrag abzuschließen. Der Mietkontrakt der Fabrik wurde auf achtzehn Jahre abgeschlossen, entsprechend dem in der Rue des Cinq-Diamants. Das war dem Anscheine nach ein geringfügiger Umstand, der dem jungen Popinot aber späterhin Gelegenheit gab, du Tillet zu fassen. Als Birotteau und der Richter durch das Zwischengeschoß kamen, fragte der über die allgemeine Umräumung und die Gegenwart der Arbeiter am Sonntage in einem so kirchlich gesinnten Hause erstaunte Richter nach dem Grund. Auf diese Frage hatte der Parfümhändler gewartet.

»Sie werden es verstehen, verehrter Herr Kreisrichter, daß wir die Räumung unseres Gebietes feiern müssen. Aber das ist es nicht allein. Wenn ich einige Freunde bei mir vereinige, so geschieht das auch mit zur Feier meiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion!«

»Aha!« sagte der Richter, der keinen Orden besaß.

»Vielleicht habe ich mich der allerhöchsten königlichen Auszeichnung würdig gemacht, als ich Handelsrichter ... war... oder weil ich für die Bourbonen auf den Stufen...«

»Na freilich!« meinte der Richter.

Birotteau redete weiter:

»... von Saint-Roch am 13. Vendémiaire mitgekämpft habe, wobei mich Napoleon verwundet hat...«

»Na«, unterbrach ihn der Richter, »wenn meine Frau gerade auf dem Damme ist, bringe ich sie gern mit.«

»Alex«, sagte Roguin zu seinem Bureauchef, als sie vor der Tür waren, »gib deine Heiratsabsichten mit Cäsarine ja auf! In sechs Wochen wirst du einsehen, daß ich dir damit einen guten Rat gegeben habe.«

»Warum?« fragte Crottat.

»Siehst du, mein Lieber, Birotteau steht im Begriff, ein Heidengeld für den Umbau seines Hauses und einen großen Ball auszugeben, und trotz meiner Warnungen riskiert er sein Vermögen bei einer Terrainspekulation. In sechs Wochen werden die Leutchen keinen roten Heller mehr besitzen. Heirate die Tochter des Dekorationsmalers Lourdois; sie bekommt dreimalhunderttausend Francs mit! Ich habe dir diesen Ausweg aufgespart. Wenn du mir für meine Notarstelle auch nur hunderttausend Francs anzahlst, sollst du sie morgen haben!«

Die Zeitungen brachten im voraus Notizen von der Pracht des Balles, den Cäsar Birotteau vorbereitete. Gerüchte, zu denen die Arbeiten bei Tag und Nacht Veranlassung gaben, flogen hin und her. In den kaufmännischen Kreisen munkelte man hier: Cäsar habe drei Häuser gemietet, dort: er lasse seine Salons vergolden; wieder woanders: bei der Tafel würden eigens für diese Gelegenheit erfundene Gerichte herumgereicht. Irgendwer brachte auf, die Kaufleute würden nicht eingeladen, das Fest sei nur für die Spitzen der Behörden; andere tadelten des Parfümeurs Ehrgeiz streng, man hielt sich über seine politische Arroganz auf oder leugnete gar seine Verwundung bei Saint-Roch. Der Ball gab Anlaß zu allerhand Intrigen. Die Freunde verhielten sich ruhig, aber die Forderungen der bloßen Bekanntschaften waren ungeheuer. Jedes Glück lockt Schmarotzer herbei. Eine ansehnliche Anzahl von Leuten lief sich die Beine ab, um eine Einladung zu ergattern. Die Familie Birotteau war starr über die Menge von Freunden, von deren Existenz sie bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Der Andrang versetzte Frau Birotteau in Furcht und Schrecken; ihre Miene ward von Tag zu Tag düsterer. Sie gestand Cäsar, daß sie absolut nicht wisse, wie sie sich verhalten solle. All die Einzelheiten vor dem Feste machten sie geradezu kopflos. Woher sollten die Gläser, das viele Silberzeug, das Tischzeug, das Porzellangeschirr genommen werden? Wer sollte alles überwachen?

Zehn Tage vor dem Fest gab Grindot die Versicherung, die Wohnung werde prompt zum Festtage, zum 17. Dezember, fertig sein. Nunmehr fand in dem bescheidenen Salon des Zwischenstocks eine Konferenz statt, an der Cäsar, seine Frau und seine Tochter teilnahmen. Man setzte die Gästeliste auf und füllte die Einladungskarten aus. Der Drucker hatte sie in der üblichen Fassung auf schönes rosa Briefpapier gedruckt.

»Daß wir nur niemand vergessen!« seufzte Birotteau.

»Und wenn auch, so wird sich der Betreffende schon melden!« beruhigte ihn Konstanze. »Frau Derville, die uns noch nie einen Besuch gemacht hat, ist gestern nachmittag in einer Staatskarosse vorgefahren.«

»Eine sehr nette Frau! Sie hat mir riesig gut gefallen!« meinte Cäsarine.

»Vor ihrer Verheiratung war sie noch weniger als ich einmal: Näherin in der Rue Montmartre. Sie hat früher für deinen Vater Hemden genäht«, erzählte Konstanze.

»Fangen wir mit unserer Liste an!« ermahnte Birotteau. »Die Vornehmsten schreiben wir zuerst mal auf! Also Cäsarine: Herzog und Herzogin von Lenoncourt...«

»Mein Gott, Cäsar, lade doch nicht Leute ein, die du nur kennst, weil du ihnen Waren lieferst! Willst du etwa auch die Fürstin von Blamont-Chauvry einladen, die mit deiner verstorbenen Patin, der Marquise von Uxeltes, verwandt war? Und die Herren von Vandenesse, von Marsay, von Ronquerolles, d'Aiglemont, kurz, alle deine adligen Kunden? Du bist verrückt. Die Namen haben dir den Kopf verdreht!«

»Na, aber doch den Grafen von Fontaine und seine Familie? Weißt du, er kam unter dem Namen ›Grand-Jacques‹ mit dem ›Gars‹ – das war der Marquis von Montauron – und mit Herrn de la Billardière, der vor der großen Affäre vom 13. Vendémiaire ›le Nantais‹ hieß, in die ,Rosenkönigin‘. War das damals ein Händedrücken! ›Mein lieber Birotteau, Mut! Gehen Sie mit uns für die gerechte Sache in den Tod! Wir sind alle Kameraden bei der Verschwörung!‹ hieß es.«

»Na ja, schreib ihn auf!« sagte Konstanze; »denn wenn unser Herr Oberbürgermeister kommt, muß er auch jemand haben, mit dem er sich unterhalten kann.«

»Weiter, Cäsarine! Ob er kommt oder nicht, ist egal. Er ist der Höchste! Ehre, wem Ehre gebührt! Also: Herr Oberbürgermeister de la Billardière nebst Sohn. Dann: mein Kollege, der Stadtverordnete Granet nebst Frau. Sie ist zwar häßlich, doch das kommt hier nicht in Frage! Wir können sie nicht übergehen ...«

»Juwelier Curel, Oberst der Bürgergarde, nebst Frau und zwei Töchtern. So, das wären die Spitzen. Nun kommen die großen Tiere! Graf und Gräfin von Fontaine und Tochter Komtesse Emilie ...«

»Eine hochmütige Person, die mich bei jeder Witterung an den Wagenschlag kommen läßt, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen!« bemerkte Frau Birotteau. »Wenn die kommt, so tut sie es nur, um sich über uns lustig zu machen!«

»Sie wird schon kommen«, antwortete Cäsar, der möglichst viele Gäste haben wollte. »Weiter, Cäsarine! Graf und Gräfin von Granville, unsere Hausbesitzer. Er ist der schlaueste Kopf bei Hofe, wie Derville sagt... Da fällt mir eben ein: Herr de la Billardière, unser Oberbürgermeister, läßt mich ja morgen durch den Grafen von Lacépède persönlich zum Ritter schlagen. Es schickt sich also, daß ich dem Großmeister eine Einladung zum Ball und Diner sende. Also: Graf von Lacépède! Dann Herr Professor Vauquelin! Schreib: Ball und Diner, Cäsarine, und vergiß nicht: die ganze Familie Chiffreville und. ebenso die Familie Protez! – Herr Kreisrichter Popinot nebst Frau. – Herr Thirion, Hofportier, nebst Frau und Tochter. Das sind Freunde von Ragons ....«

»Cäsar, vergiß den kleinen Horaz Bianchon nicht! Weißt du, Popinots Neffen und Anselms Vetter!«

»Nein, nein! Cäsarine hat schon eine Vier hinter Popinots gesetzt! – Weiter: Herr Kanzleidirektor Rabourdin mit Frau. – Herr Cochin nebst Frau und Sohn. – Herr Matifat mit Frau und Tochter ...«

»Matifats haben eine Einladung erbeten für ihre Freunde, die Familien Colleville, Thuillier und Saillard«, warf Cäsarine ein.

»Wir wollen sehen. Erst mal: Herr und Frau Julius Desmarets ...«

»Oh! Frau Desmarets wird Ballkönigin sein!« rief Cäsarine. »Ich mag sie furchtbar gern, sie gefällt mir viel besser als alle andern!«

»Weiter! Derville und seine Frau ...«

»Schreib doch auch Herrn und Frau Coquelin auf, die Nachfolger Onkel Pilleraults«, sagte Konstanze. »Sie rechnen so fest darauf, eingeladen zu werden, daß sich die arme kleine Frau bei meiner Schneiderin schon ein prachtvolles Ballkleid machen läßt, das Unterkleid aus weißem Satin, darüber eine gestickte Tüllrobe. Beinahe hätte sie sich eine Hofschleppe dranmachen lassen. Wenn wir sie übergehen, werden sie uns spinnefeind!«

»Schreib sie auf, Cäsarine! Wir müssen den Handelsstand ehren, denn wir gehören selber dazu! – Herr und Frau Roguin!«

»Na, Frau Roguin wird sicher ihre Halskette, all ihre Brillanten und ihr Kleid mit den Brüsseler Spitzen tragen!« spottete Cäsarine.

»Herr und Frau Lebas. – Dann der Herr Präsident des Handelsgerichts mit Frau und zwei Töchtern. Ich habe ihn vorhin bei den Spitzen vergessen! – Herr und Frau Lourdois nebst Tochter. – Herr Bankier Claparon, Herr du Tillet, Herr Grindot, Herr Molineux, Onkel Pillerault und sein Hausbesitzer, Herr und Frau Camusol, die reichen Seidenhändler mit ihren Kindern, Herr Cardot, Camusols Schwiegervater nebst allen Kindern! Halt! Und die Familie Guillaume in der Rue du Colombier, Lebas' Schwiegereltern, alte Leute, die als Staffage dienen. – Alexander Crottat, Cölestin Crevel ...«

»Papa, vergiß Herrn Andochius Finot nicht und Herrn Gaudissart, die beide Herrn Anselm sehr nützlich sind.«

»Gaudissart! Der hat schon mit dem Staatsanwalt zu tun gehabt! Aber das macht nichts. In ein paar Tagen reist er ab als unser Kephalol-Agent. Aber was geht uns Andochius Finot an?«

»Herr Anselm sagt, er würde mal ein sehr angesehener Mann werden; er sei witzig wie Voltaire!«

»Ein Schriftsteller! Das sind alles gottlose Kerle!«

»Lad ihn nur ein, Papa! Wir haben noch nicht Tänzer genug. Übrigens ist der schöne Prospekt von eurem Kephalol von ihm!«

»Er glaubt an unser Kephalol! Gut! Schreib ihn auf!«

»Auch meine Schützlinge!« bat Cäsarine.

»Schreib auf: Herr Mitral, Herr Haudry, unser Hausarzt. Der Form wegen, er kommt doch nicht.«

»Cäsar, ich hoffe, du wirst den Abbé Loraux zum Diner einladen.«

»Ich habe bereits an ihn geschrieben.«

»Vergeßt die Schwägerin von Herrn Lebas nicht, Frau Augustine von Sommervieux! Die arme Frau! Sie ist immer leidend, sie stirbt vor Gram, meint Lebas.«

»Das kommt davon, wenn eine einen Künstler heiratet!« eiferte der Parfümeur. »Sieh mal an: deine Mutter ist eingeschlafen!« sagte er ganz leise zu seiner Tochter. »Wünsche wohl zu ruhen, Frau Birotteau! – Kind, wie steht's eigentlich mit Mutters Toilette?«

»Es wird alles zur rechten Zeit fertig sein, Vater! Mutter glaubt, sie bekäme bloß ein Crêpe-de-Chine-Kleid wie ich. Die Schneiderin liefert das Kleid bestimmt ohne Anprobe!«

»Wieviel Personen sind es im ganzen?« fragte Cäsar laut, als er seine Frau die Augen wieder öffnen sah.

»Hundertundneun mit den Kommis.«

»Wo sollen wir die alle unterbringen?« fragte Konstanze. »Gott sei Dank! Auf diesen Sonntag wird ein Montag folgen!« fügte sie naiv hinzu.

Bei Leuten, die auf der sozialen Leiter eine Sprosse höher hinauf wollen, darf nichts in schlichter Weise vor sich gehen. Weder Frau Konstanze noch Cäsar selbst, noch sonst wer durfte sich unter irgendeinem Vorwand in den ersten Stock einschleichen. Birotteau hatte dem Lehrling Raguet für den Balltag einen neuen Anzug versprochen, wenn er gut Wache halte und seinen Auftrag treu ausführe. Gleich dem großen Napoleon, als er Schloß Compiègne zu seiner Hochzeit mit Marie Louise von Österreich restaurieren ließ, wollte Birotteau nichts teilweise sehen, er wollte sich an der vollendeten Überraschung weiden. Die beiden ehemaligen Gegner trafen also, ohne ihr Wissen freilich, noch einmal miteinander zusammen: nicht im Gefecht, sondern auf dem Gebiete der menschlichen Eitelkeit.

Grindot mußte Cäsar an die Hand nehmen und ihm die Wohnung zeigen, wie einem ein Führer ein Raritätenkabinett zeigt. Jeder im Hause war übrigens darauf bedacht gewesen, die Überraschung noch zu vermehren, Cäsarine hatte ihren ganzen Schatz, zweitausend Francs, darauf verwandt, ihrem Vater eine kleine Bibliothek zu kaufen. Grindot hatte ihr eines Morgens anvertraut, daß in ihres Vaters neuem Zimmer zwei Bücherschränke ständen. So hatte Cäsarine die Werke von Bossuet, Racine, Voltaire, Jean Jacques Rousseau, Montesquieu, Molière, Buffon, Fénelon, Delille, Bernardin de Saint-Pierre, Lafontaine, Corneille, Pascal, Laharpe angeschafft, die übliche Klassiker-Bibliothek, die man überall findet und die doch ihr Vater nie gelesen haben würde. Cäsars Überraschung für seine Frau bestand in einem spitzenbesetzten kirschroten Samtkleid, von dem nur seine Tochter wußte. Konstanze überraschte den neuen Ritter mit einer Krawattennadel und einem Paar goldener Schuhschnallen. Als Hauptüberraschung für alle blieb die neue Wohnung, der dann ein paar Wochen später das Vergnügen, alle die Rechnungen zu bezahlen, folgen sollte.

Cäsar hatte sich reiflich überlegt, welche Einladungen persönlich und welche durch Raguet erfolgen sollten. Er nahm eine Droschke und machte mit seiner Frau an einem Vormittag zweiundzwanzig Besuche. Konstanze sah im Federhut und mit einem neuen Schal, den sie sich schon seit fünfzehn Jahren gewünscht hatte, recht vorteilhaft aus.

Cäsar hatte seine Frau aller Sorgen und Mühen enthoben, die die Zurichtung eines großen Festschmauses im eigenen Hause erfordert. Er schloß einen diplomatischen Vertrag mit dem berühmten Traiteur Chevet. Dieser lieferte sein kostbares Silbergeschirr, das ihm durch das Vermieten jährlich so viel einbrachte wie ein Rittergut; er lieferte ferner das Diner, die Weine, den Tafelordner und die Bedienung. Sein Quartier schlug er im Zwischenstock in der Küche und im alten Eßzimmer auf; er hatte um sechs Uhr das Diner für zwanzig Personen und nachts um eins ein prächtiges Souper zu servieren. Birotteau hatte sich mit dem Café Foy wegen des Fruchteises verständigt, das in niedlichen Tassen mit vergoldeten Löffeln auf silbernen Platten serviert werden sollte. Tanrade, eine andere berühmte Firma, lieferte die Erfrischungen.

»Mach dir nur keine Sorgen!« sagte Cäsar zu seiner Frau, als er sie am Tage vor dem Feste ängstlich und bekümmert sah, »Chevet, Tanrade und Foy haben den Zwischenstock inne. Virginie hütet den zweiten, und der Laden wird fest zugeschlossen. Wir brauchen uns also nur um den ersten zu kümmern.«

Am 16. Dezember um zwei Uhr holte Herr de la Billardière Birotteau ab, um ihn nach der Ordenskanzlei zu geleiten, wo er nebst einem Dutzend anderer neubackener Ritter vom Grafen von Lacépède in den Orden der Ehrenlegion aufgenommen werden sollte.

Der Parfümhändler ging mit Tränen in den Augen. Seine Frau hatte ihn eben mit der neuen Krawattennadel und den goldenen Schnallen überrascht.

Wie herrlich, so geliebt zu werden! dachte er, als er in Gegenwart der versammelten Kommis, Cäsarines und Konstanzes in die Kutsche stieg. Alle bewunderten ihn in der seidenen Kniehose, den seidenen Strümpfen und dem neuen kornblumenblauen Frack, den alsbald das rote Bändchen schmücken sollte.

Als Cäsar zum Mittagessen heimkehrte, war er bleich vor Freude; er besah sich mit seinem Kreuz in allen Spiegeln; im ersten Freudenrausch begnügte er sich nicht bloß mit dem Bändchen. Er wollte sich in voller Glorie sehen und hatte auch den Orden angelegt.

»Liebe Frau«, schwärmte er, »der Großmeister ist ein Prachtmensch! Auf ein Wort von Herrn de la Billardière hat er meine Einladung angenommen. Er kommt also, ebenso der Professor Vauquelin! Herr von Lacépède ist ein großer Mann, ja, ja! Noch größer als Vauquelin. Aber welcher Schriftsteller ist Pair von Frankreich ? Er hat vierzig Bände geschrieben. Wir wollen ja nicht unterlassen, ihn ,Euer Gnaden‘ und ›Herr Graf‹ anzureden!«

»Aber so iß doch nur! Ach, Cäsarine, dein Vater ist schlimmer als ein Kind!«

»Vater, so ein Orden nimmt sich doch sehr nett aus! Wird nun vor dir präsentiert? Dann mußt du gleich mal mit mir Spazierengehen!«

»Jede Schildwache muß vor mir präsentieren!«

Grindot, Rohault und Braschon kamen herunter.

»Nach Tisch können die Herrschaften die Zimmer besichtigen!«

Drei Arbeiter zündeten sämtliche Kerzen an.

»Hundertundzwanzig Kerzen!« bemerkte Braschon.

»Das macht eine Rechnung von zweihundert Francs bei Trudon!« klagte Frau Birotteau, aber der neubackene Ritter brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.

»Ihr Fest wird prächtig, Herr Ritter«, lobte Braschon.

Cäsar hörte die Schmeichelei wohl, ignorierte aber ihre geheime Absicht. Der reiche Tapezierer aus der Rue Saint-Antoine hatte bereits ein dutzendmal den vergeblichen Versuch gemacht, mit Frau, Tochter, Schwiegermutter und Tante eingeladen zu werden. Als auch dieser letzte Sturm fehlging, wurde er Birotteaus Todfeind. An der Tür nannte er ihn schon nicht mehr »Herr Ritter«.

Birotteau dachte bei sich: Da haben wir's ja! Der ist auch bloß einer von den Schmeichlern! Der Abbé Loraux hat mich vor ihren Fallstricken gewarnt. Ich will bescheiden bleiben und mich immer an meine geringe Herkunft erinnern!

Die Hauptprobe begann. Cäsar, Konstanze und Cäsarine verließen den Laden und betraten ihr Haus von der Straße aus. Die neue Haustür war pompös; auf beiden Flügeln waren je drei gleich große viereckige Felder zu sehen, und die Mittelfelder hatten dekorative Metallbeschläge. Das war etwas ganz Neues in Paris, das schnell Nachahmung finden sollte. Im Hintergründe sah man zwei Treppenaufgänge, zwischen denen sich eine kleine Portierskabine befand. Die Diele war mit schwarzen und weißen Marmortäfelchen gepflastert; die Wände ganz von Marmor. Die Beleuchtung ging von einem vierfüßigen antiken Kandelaber aus. Der Architekt hatte Reichtum mit Schlichtheit gepaart. Ein schmaler roter Teppich kontrastierte zu dem Weiß der polierten Steinstufen. Der erste Absatz führte in den Zwischenstock. Die Zimmertüren waren im Stile der Haustür.

»Wie elegant alles wirkt!« rief Cäsarine; »und doch ist nichts aufdringlich!«

»Sehr treffend gesagt, gnädiges Fräulein! Die vornehme Wirkung rührt von den ruhigen Proportionen her. Und dann habe ich nichts vergoldet; die Farben sind abgetönt. Sie sehen in der Tat nichts Aufdringliches oder Protziges!«

»Dazu gehört ja eine richtige Wissenschaft!« meinte Cäsarine.

Alle betraten nun das parkettierte, geräumige, einfach ausgestattete Vorzimmer. Dann ging es in den nach vornzu gelegenen dreifenstrigen, weiß und rot gehaltenen, prächtigen Salon. Ein paar ernst wirkende Gemälde an den Wänden. Der Kamin mit seinem von Säulen getragenen Aufsatz aus weißem Marmor paßte vorzüglich in die ruhige Stimmung des Ganzen. Allenthalben verriet sich die feine Hand des Künstlers. Nirgends Spießbürgertum! Im Glanze der vierundzwanzig Kerzen des Kronleuchters schimmerte das Rot der seidenen Wandbekleidung. Das Parkett glänzte so verlockend dazu, daß Cäsarine die Lust zum Tanzen ankam.

Durch ein grün und weiß gehaltenes Zimmerchen kam man in Cäsars Zimmer.

»Hier habe ich ein Bett eingebaut«, erklärte Grindot, indem er die Tür eines zwischen den beiden Bücherschränken geschickt verborgenen Alkovens öffnete. »Sie oder die gnädige Frau könnten mal krank sein und dann hat jedes einen besonderen Schlafraum!«

»Mein Gott, die vielen schön gebundenen Bücher! Von dir, Konstanze?«

»Nicht doch, das ist ja Cäsarines Überraschung für dich!«

Der Parfümhändler umarmte seine Tochter.

»Verzeihen Sie die Rührung eines Vaters!« bemerkte er zu Grindot.

»Oh, bitte, tun Sie sich durchaus keinen Zwang an! Sie sind ja in Ihrem Hause!«

In Cäsars Zimmer herrschte braun und grün vor; jeder Raum stand in seiner Farbenstimmung in irgendeinem sehr geschickt getroffenen Zusammenhang mit den benachbarten Räumen. So kehrte die Farbe, die den Grundton des einen Zimmers ausmachte, im andern in den ausschmückenden Zutaten wieder, oder umgekehrt. Der Stich »Hero und Leander« hing eingerahmt in des Hausherrn Zimmer.

»Du sollst das alles bezahlen!« lachte Birotteau dem Bilde zu.

»Diesen schönen Kupferstich hat dir Herr Anselm geschenkt!« vermeldete Cäsarine ihrem Vater.

Also auch Anselm hatte sich seine Überraschung erlaubt.

»Der liebe Junge! Er hat's gemacht wie ich mit Herrn Professor Vauquelin!«

Nun kam man in Frau Birotteaus Zimmer. Hier hatte der Architekt eine Pracht entfaltet, die die wackern Leute, die er für sich gewinnen wollte, begeistern mußte. Er hatte sein Wort gehalten und den Umbau und die Inneneinrichtung wirklich con amore ausgeführt. Das Gemach war mit himmelblauer Seide ausgeschlagen und hatte weiße Verzierungen; die Möbel waren mit blau bemaltem, weißem Seidenstoff überzogen. Auf dem weißen Marmorkamin prangte eine Standuhr mit einer sitzenden Venus. Ein türkischer Teppich trennte diesen Raum von Cäsarines grünblauem, sehr kokett gehaltenen Zimmerchen. Ein Klavier, ein niedlicher Glasschrank, ein schmales Bett mit einfachen Vorhängen und alle die kleinen Möbel, die junge Mädchen so gern haben, standen darin.

Das Eßzimmer lag hinter dem Schlafzimmer des Ehepaares und hatte seinen Eingang von der Treppe aus. Es war im Stil Louis-Quatorze. Das Büfett zeigte Einlagen von Kupfer und Perlmutter, die Wände waren mit Stoff bespannt und mit vergoldeten Nägeln verziert. Eine prächtige Standuhr tickte im Zimmer.

Das Glück der drei Menschen läßt sich nicht beschreiben. Es erreichte bei Frau Birotteau den Höhepunkt, als sie in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett das spitzenbesetzte kirschfarbene Samtkleid liegen sah, das ihr Cäsar schenkte und das Virginie, auf den Fußspitzen gehend, hineingetragen hatte.

»Herr Grindot, die Wohnung wird Ihnen viel Ehre, machen! Wir werden morgen über hundert Personen bei uns sehen und Sie werden von jedermann Lob ernten!«

»Ich werde Sie empfehlen!« setzte Cäsar zu diesen Worten seiner Frau hinzu. »Sie werden sich morgen der Elite der hiesigen Kaufmannschaft präsentieren und in einem Abend bekannter werden, als wenn Sie zwanzig Häuser gebaut hätten!«

Konstanze dachte nicht mehr an die Ausgaben, noch daran, ihrem Mann Vorwürfe zu machen. Der Grund war folgender:

Als Anselm Popinot, von dessen Intelligenz Konstanze eine hohe Meinung hatte, am Morgen »Hero und Leander« brachte, hatte er ihr hoch und heilig den glücklichen Erfolg des »Kephalol« versichert, an dessen Herstellung und Vertrieb er mit beispiellosem Eifer arbeitete. Er hatte bestimmt erklärt: trotz der hohen Summe, die Birotteaus Torheiten kosteten, würden die Ausgaben binnen eines halben Jahres durch seinen Anteil am Ertrage des neuen Artikels gedeckt werden. Nach neunzehnjähriger Mühe und Sorge war es friedsam, sich einmal einen einzigen Tag der Freude zu überlassen! Konstanze versprach ihrer Tochter, das Glück des Familienhauptes durch keinen Vorwurf zu trüben und sich selbst ganz und gar dem Glück hinzugeben.

Als sich Grindot gegen elf verabschiedete, warf sich Konstanze ihrem Manne um den Hals und stammelte unter Freudentränen: »Ach, Cäsar, du machst mich überglücklich!«

»Wenn das nur immer so bliebe, nicht wahr?« fragte Birotteau lächelnd.

»Es wird immer so bleiben! Ich habe keine Angst mehr.«

»Na, endlich lernst du mich recht kennen!«

Wer das Leben und die Schwächen der Menschen kennt, wird verstehen, daß die einstige arme Waise, die vor achtzehn Jahren Verkäuferin gewesen war, und der ehemalige arme Bauernbursche aus der Touraine, der mit Knotenstock und Nagelschuhen in Paris eingewandert war, wie berauscht sein mußten, ein großes Fest in solchen Räumen geben zu können.

»Gott, ich würde gleich hundert Francs geben, wenn wir jetzt einen Besuch bekämen!« schmunzelte Birotteau.

Abbé Loraux erschien. Jetzt Vikar an der Saint-Sulpice-Kirche, war er ein Priester von echtem Seelenadel. Er machte auf alle, die ihn kennenlernten, einen unvergeßlichen Eindruck. Er hatte ein häßliches Gesicht, das aber nicht abstoßend wirkte, sondern im Gegenteil durch den himmlischen Frieden, der darüber lag, anzog. Seine Reinheit, seine Aufrichtigkeit, seine Milde und Menschenfreundlichkeit tilgten jedweden Mangel seines Äußeren. Seine Stimme war sanft, ruhig und eindringlich. Er trug sich wie alle Priester in Paris; nur erlaubte er sich einen kastanienbraunen Überrock.

Mit friedsamen Augen betrachtete er den Luxus, lächelte über die drei entzückten Menschenkinder und schüttelte sein weißes Haupt.

»Liebe Kinder«, sagte er, »es kommt mir nicht zu, Festen beizuwohnen; mein Beruf ist es, die Bekümmerten zu trösten. Ich wünsche Herrn Cäsar Glück! Einmal werde ich aber gern zu einem Fest hierherkommen: Zur Hochzeit unserer lieben Cäsarine!«

Nach einer Viertelstunde entfernte sich der Abbé, ohne daß der Parfümeur oder seine Frau es gewagt hatten, ihm alle Zimmer zu zeigen. Seine ernste Erscheinung dämpfte die freudige Stimmung etwas. Man begab sich zur Ruhe, und alle schliefen ein, um von den Freuden des kommenden Tages zu träumen.

Nichts hatte je Frau Birotteau besser gestanden als das kirschfarbene spitzenbesetzte kurzärmelige neue Samtkleid. Ihre schönen, noch jugendlichen und frischen Arme, ihr Hals, ihre leuchtende Brust kamen durch den reichen Stoff und seine kräftige Farbe voll zur Geltung. Die naive Zufriedenheit, die jede Frau empfindet, wenn sie sich in ihrer ganzen Schönheit sieht, verlieh dem kameenfeinen Gesicht Konstanzes mit seinem griechischen Profil eine wunderbare Lieblichkeit.

Cäsarine, im weißen Kreppkleid, trug einen Kranz von weißen Rosen um das Haar und eine rote Rose im Gürtel. Ein Schal umhüllte ihre Schultern. Popinot war toll verliebt.

Vauquelin, leutselig und liebenswürdig, kam mit Lacépède, seinem Kollegen vom Institut, der ihn im Wagen abgeholt hatte. Als die beiden die schöne Parfümeursfrau sahen, sagten sie Gelehrtengalanterien.

»Gnädige Frau«, meinte der Chemiker, »Sie haben sicherlich ein Rezept, ewig jung und schön zu bleiben, das die Wissenschaft nicht kennt!«

»Betrachten Sie sich als hier zu Hause, Herr Akademiker!« bewillkommnete ihn Birotteau. »Herr Graf!« versetzte er dann, sich zu dem Großmeister der Ehrenlegion wendend, »ich verdanke mein ganzes Glück Herrn Professor Vauquelin... Ich habe die Ehre, Euer Gnaden den Herrn Präsidenten des Handelsgerichts vorzustellen ...« Joseph Lebas, der neben, dem Präsidenten stand, bekam noch zu hören: »Das ist Graf von Lacpeède, Pair von Frankreich, einer der großen Männer unseres Vaterlandes; er hat vierzig Bände geschrieben!«

Die Gäste waren pünktlich. Das Diner war, wie alle Festlichkeiten bei Kaufleuten, außergewöhnlich fröhlich. Witze, Scherze, Anekdoten erregten immer neues Lachen. Die Vortrefflichkeit der Gerichte und die Güte der Weine wurden gehörig gewürdigt.

Als die Gesellschaft zum Kaffee in den Salon ging, war es halb zehn Uhr. Einige Droschken hatten bereits die ersten ungeduldigen Tänzerinnen gebracht. Eine Stunde später war der Salon gefüllt und der Ball begann.

Lacépède und Vauquelin entfernten sich zum großen Bedauern Birotteaus, der die beiden Herren bis an die Treppe geleitete und sie vergeblich bat, noch länger zu bleiben. Es gelang ihm aber, den Oberbürgermeister und den Kreisrichter Popinot zurückzuhalten.

Nur drei Frauen sahen wirklich schick aus, die Repräsentantinnen der Aristokratie, der Hochfinanz und der Regierung: Fräulein von Fontaine, Frau Julius Desmarets und Frau Rabourdin. Durch ihre glänzende Schönheit, ihre Toiletten und ihr Benehmen stachen sie von allen andern ab. Die übrigen Frauen trugen schwerfällige, ungeschickte Kleider; sie hatten etwas Protziges und jenes gewisse Etwas an sich, das der bürgerlichen Masse ein so gewöhnliches Aussehen gibt. Um so mehr traten die Grazie und der Schick jener drei Damen hervor. Die Bourgeoisie der Rue Saint-Denis machte sich in voller Arroganz breit und fühlte sich in ihrer witzelnden Albernheit glücklich. Es waren jene typischen Spießbürger, die ihre Kinder in Soldatenkostümen umherlaufen lassen, von Hintertreppenromanen zu Tränen gerührt werden, sich am Aufziehen der Wachtparade begeistern, sonntags mit Kind und Kegel Landpartien machen, sich die größte Mühe geben, vornehm auszusehen, hohe Ämter und Titel erträumen und so weiter, eifersüchtige, kleinliche, wiederum gutmütige, dienstbereite, ergebene, rührselige und mitleidige Leute!

Frau Matifat, die sich hatte hervortun wollen, trug zum Tanz einen Turban auf dem Kopf und ein schweres, rotes, golddurchwirktes Kleid. Diese Toilette harmonierte mit ihrem hochmütigen Gesicht, der römischen Nase und dem hochroten Teint. Herr Matifat, der bei den Paraden der Bürgergarde mit seinem Schmerbauche so gebieterisch aussah, ward von dieser Kontortyrannin völlig beherrscht. Dick und stämmig, mit einem Klemmer bewaffnet, in einem Hemdkragen, der ihm beinahe bis über die Ohren reichte, machte er sich durch seine Stentorstimme und die Reichhaltigkeit seines Wortschatzes bemerkbar. Niemals sagte er bloß »Corneille«, sondern stets »der göttliche Corneille«! Racine war der »sanfte Racine«! Voltaire: »mehr Witzbold als Genie und doch ein Genie!« Rousseau: »ein dunkler Geist, ein stolzer Mann!« Umständlich erzählte er gemeine Anekdoten von Piron, der im Bürgertum als Mordskerl gilt. Matifat schwärmte für Schauspielerinnen; er hatte überhaupt einen leisen Hang zum Libertin. Es ging sogar das Gerücht, er habe eine Geliebte. Wenn er seine Anekdoten erzählte, fiel ihm seine Frau oft ins Wort: »Dicker, achte auf deine Worte!« Die umfangreiche Drogistin brachte sogar Fräulein von Fontaine aus ihrer aristokratischen Ruhe. Das hochmütige Mädchen konnte sich des Lachens nicht erwehren, als die Frau zu ihrem Manne sagte: »Sieh nicht immer in den Spiegel, Dicker! Das macht man nicht!«

Die in ihren Festkleidern beengten Bürgersfrauen fanden sich wunderschön und ließen naiv ihre Freude sehen, die deutlich bewies, daß ein Ball in ihrem arbeitsreichen Leben eine Seltenheit war. Nur jene drei Damen der großen Welt, für die Balltoiletten etwas Alltägliches waren, machten sich keine Gedanken darüber, was für Eindruck sie hervorriefen. Auf ihren Gesichtern trugen sie nicht den feierlich-festlichen Ausdruck der andern. Sie tanzten mit Grazie und in jener weichen Auflösung des Körpers, die unbekannte Genies in gewissen antiken Statuen festgehalten haben. Die übrigen hingegen behielten ihre schwerfälligen Bewegungen und waren ausgelassen lustig. Sie blickten voll Neugierde; ihre Stimmen blieben nicht bei dem leisen Flüstern, das der Ballunterhaltung etwas unwillkürlich Pikantes gibt. Die Ruhe und die gemessene Haltung, die Leute von großer Selbstbeherrschung auszeichnet, gingen ihnen ab. Frau Roguin, Konstanze und Cäsarine bildeten gleichsam das Bindeglied zwischen der Bourgeoisie und jenen drei Mondänen. Wie auf allen Bällen, so kam auch hier ein Zeitpunkt, da Licht, Lust, Musik und Tanz eine Art Rausch erzeugten. Man wurde laut und lärmend.

Die Komtesse von Fontaine wollte sich verabschieden. Aber Birotteau, seine Frau und Tochter suchten sie noch zurückzuhalten.

»Ihr Heim durchweht ein Parfüm von gutem Geschmack, das mich wahrhaft in Erstaunen setzt«, meinte sie impertinent; »ich mache Ihnen mein Kompliment!«

Birotteau fühlte in seinem Rausch die Anzüglichkeit nicht heraus, aber seine Frau errötete und wußte nicht, was sie antworten sollte.

»Wirklich ein Nationalfest, das Ihnen Ehre macht!«

lobte der liberale Camtisol, Seidenhändler aus der Rue des Bourdonnais.

»Ich habe selten einen so prächtigen Ball mitgemacht«, versicherte de la Billardière, dem es auf eine Höflichkeitslüge nicht ankam.

Birotteau nahm alle Komplimente ernst.

»Ein herrliches Bild! Und die vorzügliche Kapelle! Werden Sie öfter solche Bälle geben?« forschte Frau Lebas.

»Ach, welch ein reizendes Zimmer! Ist es nach Ihren Angaben ausgeführt?« fragte Frau Desmarets.

Birotteau riskierte eine Lüge und ließ Frau Desmarets bei ihrem Glauben.

Cäsarine tanzte jede Tour. Bei einem Konter wagte es Anselm, mit dem reizenden Mädchen von seiner Liebe zu sprechen; er brachte es aber, wie alle schüchtern Liebenden, nur auf einem Umwege zustande.

»Mein Glück hängt von Ihnen ab, gnädiges Fräulein!«

»Wieso?«

»Der Erfolg in meinem Geschäft hängt davon ab, ob ich hoffen darf.«

»So ? Dann hoffen Sie nur!«

»Wissen Sie auch, was Sie alles mit diesen zwei Worten sagen ?«

»Hoffen Sie auf Ihr Glück!« wiederholte Cäsarine schelmisch.

»Gaudissart«, sagte Anselm nach dem Konter zu seinem Freunde, indem er ihm den Arm mit herkulischer Kraft drückte, »mache deine Sache gut oder ich erschieße mich! Wenn wir Glück haben, heiratet mich Cäsarine; sie hat mir's eben gesagt. Gott, sieh doch, wie schön sie ist!«

»Ja, sie ist wirklich allerliebst! Und reich! Wir wollen sie schon kriegen!«

Das gute Einverständnis zwischen Crottat, Roguins Nachfolger in spe, und Fräulein Lourdots ward von Frau Birotteau bemerkt. Sie vermochte sich nicht ohne Verdruß von der Hoffnung zu trennen, ihre Tochter dereinst als die Frau eines Pariser Notars zu sehen. Onkel Pillerault setzte sich in einen Lehnsessel, betrachtete die Spieler, hörte auf die Unterhaltung und kam von Zeit zu Zeit an die Tür, um die Jugend tanzen zu sehen. Seine Haltung war ganz die eines Philosophen.

Die Männer sahen im allgemeinen grotesk aus; nur wenige machten eine Ausnahme, wie du Tillet, der sich bereits die Manieren der großen Welt angeeignet hatte, der junge de la Billardière, ein angehender Dandy, Julius Desmarets und die offiziellen Persönlichkeiten. Aber all die mehr oder minder komischen Figuren, denen die Gesellschaft ihren Gesamtcharakter verdankte, übertraf eine ganz besonders bizarre: der Tyrann aus dem »Holländischen Hofe«. Er hatte einen grün und weiß melierten Frack an, in dem er wie eine große Eidechse aussah; über der roten Weste eine riesige Uhrkette mit einem Pfund klappernder Berlocken. Dazu trug er feine, aber durch langes Liegen vergilbte Wäsche und ein vorsintflutliches Spitzenjabot, in dem eine Nadel mit einer bläulichen Kamee steckte. Die schwarzseidenen Kniehosen zeigten seine spindeldürren Beine. Cäsar führte ihn triumphierend durch die vier Zimmer, die der Architekt im ersten Stock geschaffen hatte.

»Hm, ja! Das haben Sie fein gemacht, Herr Birotteau! Wie sie jetzt aussieht, ist meine erste Etage tausend Taler wert!« Am liebsten hätte er auf der Stelle die Miete gesteigert.

Der Ball erlosch wie eine glänzende Rakete früh um fünf. Von den hundert und einigen Wagen standen um die Zeit noch etwa vierzig in der Rue Saint-Honoré. Man tanzte zuletzt einen Großvater und dann noch einen Kotillon und einen Galopp. Du Tillet, Roguin, Graf von Granville und Julius Desmarets hatten gejeut, wobei du Tillet dreitausend Francs gewann. Dem letzten Tanze sahen auch die Spieler zu, das Kerzenlicht erstarb im Morgengrauen.

In bürgerlichen Kreisen arten Feste stets aus. Der vornehmere Teil der Gäste hat sich entfernt; die heiße Luft und der Wein steigen den Bleibenden in die Köpfe. Selbst Matronen mischen sich unter die Tanzenden. Alles überläßt sich mehr oder weniger der Narretei des Augenblicks. Die Männer, denen das Haar in das erhitzte Gesicht hängt, werden in ihren Bewegungen albern und lächerlich; die jungen Frauen lassen sich gehen, ihre Frisuren lösen sich. Überall lautes Lachen. Scherze fliegen hin und her.

Matifat tanzte zu guter Letzt, einen Damenhut auf dem Kopfe, Cancan. Die Frauen klatschten ihm, außer Rand und Band, Beifall zu.

»Wie lustig sie alle sind!« sagte Birotteau glücklich.

»Wenn nur niemand was zerbricht!« meinte Konstanze besorgt.

»Sie haben den wundervollsten Ball gegeben, den ich je mitgemacht habe. Und das will was heißen!« schmeichelte du Tillet seinem ehemaligen Prinzipal.

Das großartige Finale aus der C-moll-Symphonie Beethovens beschloß das Fest. Müde, aber glücklich, legte sich die Familie Birotteau gegen morgen zur Ruhe. Der Ball hatte einschließlich des Umbaues, der Herrichtung, der neuen Möbel, der Bibliothek, der Toiletten, des Aufwands und so weiter alles in allem an die sechzigtausend Francs gekostet.


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