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»Siehst du die Anarchisten«, sagte Jenny, als alle gegangen waren, »siehst du sie jetzt? Brauchst nur mal ein paar Tage kein Geschäft zu haben – gleich werden sie üppig. Nur in Verlegenheit braucht man zu kommen – schon laufen sie fort. Forellen müßt ich ihnen vorsetzen, das Kilo für acht Franken. Dann solltest du sehen! Diese Häsli – ach du mein Gottchen, wie sie hier ankam! Aus Gnade und Barmherzigkeit hat man sie aufgenommen. Das ist der Dank. Ausgehungert waren sie, daß Gott erbarm. Jetzt sind sie auf einmal vornehm. – Was machen wir nur, Max? Du wirst sehen, sie laufen uns fort!«
Aber Max hatte keine Lust zu Meditationen. »Ah was!« sagte er unwirsch und kramte verärgert in seiner Tischschublade.
Die Tür ging auf, und herein kam Fräulein Theres, lendenlahm und verdrießlich. Der Rheumatismus plagte sie heut ganz besonders. In der matt herunterhängenden Hand hielt sie einen angerauchten Stumpen und blies mit spitzem Munde den Rauch von sich. Unaufgefordert nahm sie Platz, knetete schmerzhaft ihren Gichtschenkel und drehte sich schnaufend auf dem Stuhl.
»Frau«, sagte sie, »wird gebügelt?«
»Jawohl, Theres, mach' die Eisen heiß.«
Und Theres erhob sich mühsam und troßte ab, um die Eisen heiß zu machen.
Und Fräulein Rosa legte den Bügelteppich auf den Tisch und holte den Wäschekorb aus dem Bretterverschlag, um die Wäsche einzuspritzen.
Flametti aber hatte beim Abschließen der Schieblade einen Schaden am Schloß gefunden, zückte den Hausschlüssel und hämmerte damit am Schlüsselloch.
Es klopfte. Die Türe ging auf, und herein trat Fräulein Lena, vormals Pianistin bei Flametti.
»Grüatzi!« sagte sie und schob sich in drei freundlichen Wellen herein.
»Tag, Lena!« nickte Jenny, »komm nur herein!«
»Wenns erlaubt ist!« sagte Lena.
»Tag, Lena!« bekräftigte Flametti, ohne aufzusehen; so versunken war er in seine Reparatur.
»Bügelt ihr?« fragte Lena.
»Ja, wir bügeln«, wischte Jenny sich die Schweißhände an den Busen.
Theres brachte das Bügeleisen, und Lena nahm ihren Stuhl.
»Schöne Sachen hört man!« rückte sich Lena auf ihrem Stuhl zurecht.
»Um Gotteswillen, Lena, was gibt es denn?«
»Ja, ja«, seufzte Lena.
»Was denn, Lena? Sprich doch!«
Und zu Rosa: »Geh mal raus in die Küche! Ich ruf' dich dann!«
Flametti hämmerte angelegentlich und beflissen am Schlüsselloch.
»Also hört zu«, strich Lena ihren Rock zu den Füßen, »sie machen euch aus, wo sie können. Sie erzählen, daß es rutschab geht: ihr zahlt keine Gagen mehr; es gibt nichts zu essen. Ihr bekommt keine Geschäfte mehr. Grad hab' ich den Bollacker getroffen. Mit dem hat's doch die Häsli. Von einem Türken haben sie erzählt und von Opium. Ich weiß ja nicht, was ihr da habt. Aber sie sagten, es sei ihnen zu brenzlich und sie sähen sich nach einem anderen Engagement um.«
»Was haben sie erzählt?« duckte sich Jenny. »So eine Gemeinheit! So eine Niedertracht! Hörst du, Max, was sie ausstreuen? Wie sie sich rächen? Ihren Gadsch hat sie instruiert, daß er herumgeht und uns das Geschäft verdirbt! So eine Infamie! – Weißt du was, Max? Die wollen selbst anfangen. Die laufen uns fort. – Wir, keine Geschäfte mehr! Lena, man läuft sich die Füße wund, daß wir spielen! An der Haustür fängt man uns ab! Wir brauchten nur rübergehen zum ›Krokodil‹! – Du kennst doch das ›Krokodil‹! Eins A, dreihundert Franken Draufgeld! Aber wir wollen nicht, weil wir neu einstudieren. Weißt du: der Braten war bißchen angebrannt. Das hat diese Alte so verbiestert, daß sie jetzt überall ausschreit, sie hätte zu hungern bei uns. Du kennst doch unsere Kost! Warst drei Jahre bei uns. Hast du dich je zu beklagen gehabt? Ist dir je etwas abgegangen?«
Lena schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte sich nie zu beklagen gehabt, noch war ihr je etwas abgegangen.
Max hämmerte gewaltsam mit seinem Hausschlüssel am Schiebladenschloß.
»Na, gut' Nacht!« rief Jenny, »ich sollte der Direktor sein! Ich würde sie anders zwiebeln! Hier die Gage, soundsoviel Abzug und den Schuh an den Hintern! Treppe hinunter.«
»Ja ja, ich hör' schon!« fuhr Flametti jetzt auf. »Ich hör' schon. Bin doch nicht schwerhörig! Dummes Geschwätz!«
Jenny war überrascht. Fräulein Lena ebenfalls. Er hatte doch gar nicht zugehört! Er hatte doch an dem Schloß laboriert!
Flametti stand auf, sehr rasch, krempelte seine Hemdärmel herunter, knöpfte das Halsbördchen zu und ging in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Er kam zurück, nahm Joppe und Hut und ging.
»Da hast du es!« klagte Jenny, »da geht er. Ach Lena, ich bin ganz verzweifelt! So macht er es immer. Seit er die Geschichte hat mit dem Türken, ist er wie verdreht. Kaum den Löffel aus dem Mund – fort ist er. Alles mögliche hab' ich versucht. Er hört mich nicht einmal an. Wir gehen zu Grund. Ich seh's ja. Was soll ich nur machen?«
»Tja«, meinte Lena, »was ist da zu machen?«
Flametti war dieser ›Summs‹ zuwider.
Gewiß, er liebte seine Frau. Sie war ein wenig furchtsam von Gemüt und leicht zu Übertreibungen geneigt, wie alle furchtsamen und aufgeregten Gemüter. Aber sie meinte es gut, war keine böse Natur und er hätte ihr gerne ein wenig Gehör schenken dürfen. Doch er schätzte es nicht, seine innersten Geschäfts- und Familiengeheimnisse coram publico verhandelt zu sehen.
Gewiß, das Geschäft ging schlecht. Schlechte Zeiten und keine Schlager.
Gewiß, ein Ensemble von zehn lebendigen Menschen verlangt, sich standesgemäß zu nähren, zu kleiden und zu Triumphen geführt zu werden.
Obendrein: eine Konkubinatsstrafe von hundertachtzig Franken war zu zahlen – der Beamte der Kriminalabteilung hatte zweimal bereits die Quittung präsentiert – und von der Fischerei konnte man das nicht bestreiten. Das wußte Flametti selbst.
Aber Schlager fallen nicht vom Himmel. Er hatte schon seine Pläne. Man brauchte ihn nicht zu hetzen und die halbe Nachbarschaft dabei zuzuziehen.
Gar diese Lena: Ein schönes Stück Malheur! Die mußte dann gerade noch kommen! Grausliches Weib! Keine galante Erinnerung aus seiner Direktorenzeit war Flametti unangenehmer als diese. Ein Vampir. Nicht von der Spur wich sie, wenn sie einmal Blut geleckt hatte.
Tüchtig war sie, als Pianistin. Russisch sprach sie auch, von Lodz her. Aber ein Mundwerk hatte sie wie ein Schwert. Eine böse Zunge. Und das nun verstand Flametti nicht, wie Jenny sich mit ihr einlassen konnte.
Man soll ihn in Ruhe lassen. Er wird es schon machen.
Die Hände in beide Hosentaschen gesteckt, so daß der Rockschoß weit hinten abstand, den breitkrämpigen Filzhut tief in die Stirne gerückt, froh, seinem häuslichen Glück entronnen zu sein, schickte Flametti sich an, einen Gang zu unternehmen durch sein Revier.
Dieses Revier nannte sich »Fuchsweide« und war der Konzert- und Vergnügungsrayon aller lebenslustig-abseitigen Kreise der Stadt. Treffpunkt der großen Welt, Schlupfwinkel einiger unsicherer Elemente, zugegeben. Aber alles in allem ein Monaco und Monte Carlo im kleinen.
Flametti fühlte sich frei wie ein Fürst. Aller Hader fiel von ihm ab. Aller Kleinmut verließ ihn. Hier kannte er jeden Weg, jeden Steg; jede Kneipe, jede Latrine. Hier war der Felsen, hier mußte gesprungen werden. Hier fielen die Würfel, hier war man zu Hause.
Vorbei am Alteisengeschäft des Herrn Ruppel und an der ›Drachenburg‹; vorbei an der Fischhandlung ›Teut‹ mit ihren Riesenaquarien voll stumpfsinniger Hechte und Karpfen, vorbei an ›Hähnleins Kleiderbazar‹ und ›Lichtlis Frisiersalon‹; vorbei am ›Olivenbaum‹ und an der ›Tulpenblüte‹, schwenkte Flametti in die Hauptverkehrsader der Fuchsweide, die bucklige Quellenstraße ein.
Er verlangsamte seine Schritte und klimperte, überlegend, mit dem Geld in der Tasche. Er schnupperte in der Luft, die nach Kaffee roch, und zündete sich eine Zigarette an.
Hier war der Korso! Hier war der Betrieb! Es weitete sich seine Brust und er atmete auf. Kein Gesicht, das er nicht kannte. Kein Laden, mit dessen Inhaber er nicht schon Tausch und Geschäfte hatte.
Auf dem ›Mönchsplatz‹ saßen die Katzen und putzten sich in der Sonne. Es war eine Unmenge Katzen, graue, schwarze und rote. Aber es war Platz genug für sie da. Nachts sangen sie hoch auf den Dächern.
Auf dem ›Mönchsplatz‹ lärmten die Kinder. Sie putzten einander die Nasen, banden einander die Hosen zu, säuberten sich die Köpfe. Aber um jeden Kopf legte die Sonne eine kleine Gloriole.
Über den ›Mönchsplatz‹ sprang Fräulein Frieda, die Kellnerin, daß die Röcke flogen.
»Servus Flametti!« rief sie. Es war eine Lust zu leben.
Die Niedermeyers hatten Umzug heute. Auf ein Rollwägelchen hatten sie ihre Sachen gepackt; auch den Kanarienvogel. Der Mann schob. Die Frau half drücken. Die Kinder halfen auch drücken und der kleine Peter hob die Sachen auf, die vom Wagen herunterfielen.
»Wo wohnt ihr jetzt?« rief Flametti.
Und Herr Niedermeyer rief: »Kuttelgasse 33, V.!«
»Angenehmer Flohbiß!« rief Flametti zurück. Er war ein großer Mann und konnte sich's leisten.
Die Hände in den Hosentaschen, breitspurig und schwer, den Schritt wuchtig aufs Pflaster gesetzt, ging er hinüber zur Postfiliale.
»Eine Fünferkarte!«
Der Beamte händigte ihm die Karte aus und Flametti schrieb an Herrn Fritz Schnepfe, Varietélokal, Basel:
»Werter Freund!
Teile mir, bitte, umgehendst mit, ob du geneigt bist, Flamettis Varietéensemble zu engagieren für die Zeit vom 1. bis 31. Dezember laufenden Jahres, sowie die Bedingungen. Wir haben lauter neue Nummern, erstklassige Attraktionen, und es dürfte nur in deinem Interesse sein, dir mein Ensemble für die allfällige Zeit zu sichern.
Hochachtungsvoll Dein Flametti.«
Kehrte dann zurück in die Quellenstraße und lenkte, am Luftgäßlein vorbei, vorbei an dem kleinen, aber seiner Weine wegen berühmten Gasthaus zu den ›Drei Sternen‹, vorbei am Mordloch mit den Gastwirtschaften ›Hopfenzwilling‹ und ›Jerichobinde‹, vorbei an der Stutenreite, in die Obere Träufe.
Es war ein Gang voller angestrengter Gedankenarbeit. Im Gehen pflegte Flametti zu denken. Bei scheinbarem Schlendern fand er die besten Entschlüsse.
Zwei Herren kamen die Straße herunter, geradenwegs auf ihn zu. Verflucht nochmal!
Der eine elegant, schwarzer Schnurrbart aufgekräuselt, glattes, feistes Gesicht und glänzende Drehaugen. Der andere hager, fanatisch, nervös: »Peter und Paul«. Ein Schäferhund, leichte Patten, tief wehender Hängeschwanz, folgte ihnen wippend auf dem Fuß.
Flametti steckte die Hände noch tiefer in seine Taschen, festigte seinen Gang um ein Erhebliches und grüßte forciert: »Salü!«
Die beiden nahmen ihn scharf aufs Korn, musterten unauffällig mit einem kurzen Blick seinen Anzug und gingen vorüber.
Herr Abraham Cohn stand unter der Tür seines Magazins ›Zum Chnusperhüsli‹. Er deutete mit dem Kopf nach den beiden sacht gehenden Beamten.
Flametti benutzte die Gelegenheit, stehenzubleiben und meinte: »Die Apostel gehen um!«
»Was wolln se?« meinte Herr Cohn, »mer muß se hamm. Wär mer sonst sicher?«
Flametti trat ein und kaufte eine Tüte Leckerli.
Er ging weiter und kehrte ein im Gasthaus ›Zum Vogel Strauß‹ wo die ausgestopfte Gebirgsgemse und der balzende Auerhahn standen, rechts und links vom Entrée.
Der Auerhahn trug die Fischkarte mit beigedruckten Preisen um den Hals gehängt. Die Gebirgsgemse fletschte die Zähne, ganz unnötigerweise, und sah todesmutig gen Himmel, ein Symbol ihrer Heimat. Auf dem Sockel aus Felsen und Moos lagen zerstreut die Haare, die sie gelassen hatte im Kampf mit der Scheuerbürste des Hausknechts.
Flametti trat ein und überflog mit einem Adlerblick die drei Gäste, die hier versammelt waren.
Verflucht nochmal! In der Ecke saß Kranemann! Kranemann, das Moskitogesicht; Kranemann, die geschniegelte Niedertracht und Korrektheit; Kranemann, Flamettis erbittertster Feind. Das war nicht vorauszusehen.
Einen Moment überlegte Flametti. Sollte er umkehren? Soller tun, als habe er sich im Lokal geirrt? Sollte er an den Hut fassen und grüßen: »Salü! Komme später«?
Da stand aber Kranemann schon auf, kam auf ihn zu, wie von ungefähr, und sagte: »Ah, Flametti! – was ist mit der Quittung? Wann wird sie eingelöst? Höchster Termin!«
»Hoi, hoi, hoi!« bockte der und trat einen Schritt zurück. »Nur langsam! Laß erst mal absitzen, damischer Kerl!« Und beschloß jetzt zu bleiben.
»Nix da!« rief Kranemann und faßte ihn leicht beim Kragen, »heut ist der letzte Termin! Zahlen!« und warf ein Zwanzig-Centimes-Stück auf den Tisch.
Und wieder zu Flametti: »Den ›damischen Kerl‹ werden wir uns merken. Wir sprechen uns noch!« Schob seine Röllchen zurück und verschwand.
»Was hat's denn?« fragte der Wirt neugierig, drückte den schwarzen Kneifer fester auf die Nase und kam näher. Auch die Gäste am Kartentisch waren aufmerksam geworden.
»Na«, sagte Flametti, »was hat's? Du kennst doch das damische Luder!«
Der Wirt schien das ›damische Luder‹ durchaus nicht zu kennen.
»Ne Halbe?« rief die Kellnerin. Und Flametti nahm Platz.
»Du mußt nämlich wissen«, vertraute er dem Wirt, »ich hab' doch die Konkubinatsstrafe, weil wir nicht verheiratet waren. Nun hab' ich doch inzwischen geheiratet und prozessiert. Und da haben sie abgelehnt. Nun macht's mit den Prozeßkosten zusammen seine hundertachtzig Stein. Und die wollen sie haben von mir. Und dieser Kerl war doch früher Latrinenbesitzer. Dann ist er zur Polizei übergegangen. Das ist dieser Kranemann. Und das dumme Luder meint nun, er kann mich schikanieren. – Siehst du, er tut mir ja leid. Aber es ist doch zu fad: wo man hinspuckt, stolpern einem diese traurigen Kreaturen über die Füsse!«
»Ah, so so so so!« verstand jetzt der Wirt, »das ist der Kranemann. Ja, so zahl' doch die paar Stein! Dann hast du doch Ruhe! Man immer berappen!«
»Siehst du«, kippte Flametti sein Bier, »jetzt erst recht nicht! Jetzt sollen sie sich mal die Beine in den Leib laufen!«
»Tja«, meinte der Wirt bedenklich, »die verstehen keinen Spaß. Da ist's schon das Gescheitste, man gibt nach.« Er lächelte schablonig und strich sich die Hände.
»Maidche, komm her!« rief Flametti der Kellnerin und zog die Tüte mit den Leckerli aus der Rocktasche. »Das ist für dich!« Und Maidche nahm beschämt die Leckerli in Empfang.
»Ein Don Juan, dieser Flametti!« versicherte der Wirt seinen schmunzelnd weitertrumpfenden Gästen.
»War der Mechmed da?« fragte Flametti die Kellnerin.
»Nein, bis jetzt nicht.«
Flametti sah nach der Uhr, geschäftsmäßig, ohne indessen verabredet zu sein. Nach der dritten Halben, als er eben gehen wollte, öffnete sich die Tür und herein trat Mechmed.
Ali Mechmed Bei hieß der Türke. Er wohnte im Parkhotel und kam aus Aleppo. Und darin hatte Jenny wohl recht, daß Flametti ein wenig verdreht war im Kopf, seit er den Türken kannte.
Ali Mechmed Bei: schon der Name faszinierte Flametti. Eunuchen, Sklaven und Harem wirbelten vor seinen aufleuchtenden Augen, wenn er in heimlichen Stunden den Namen vor sich hinsprach.
Ali Mechmed Bei: enorme Gelder mußte er haben. Man wußte nicht recht, was er eigentlich trieb. Aber er kam häufig in den ›Vogel Strauß‹, und dort hatte Flametti seine Bekanntschaft gemacht.
Ein großes Tier mußte er sein unter seinesgleichen. Denn er hatte noble Allüren an sich. Dämonisch zog er die dichten, weißen Augenbrauen hoch, wenn man ihn ansprach, und pflegte mit den Fingern zu trommeln auf der Tischdecke. »Tja, mein lieber Freund!« sagte er dann, nickte mit dem Kopfe in einer weltmännisch-gewitzigten Weise und sah nach der Decke, wo er jede Fliege, jeden Schnörkel der Tüncherarbeit eingehend verfolgte.
Tiefe kaffeebraune Tränensäcke hingen ihm unter den Augen, und diese Augen selbst blickten in abgründiger Melancholie.
Horrende Trinkgelder gab er, besaß einen Geldbeutel aus Affenhaut und roch, seiner orientalischen Herkunft gemäß, nach Zwiebel, Henna und Kokosnuß.
Dieser Türke Mechmed trat jetzt ins Lokal, und Flametti verfolgte jede seiner Bewegungen mit glühender, heißhungriger Sympathie.
Paletot und Regenschirm hing Herr Mechmed an den Kleiderhaken, und es kann zugestanden werden, daß die kleine, untersetzte Gestalt, die jetzt, zerfallen und morbid, aber freundlich lächelnd auf Flametti zukam, den mysteriösen Gestus jener Leute hatte, die im Traum wiederkehren. Jener Leute, die sehr wohl die Macht besitzen, ein Varietéunternehmen zugrunde zu richten, dessen Direktor nicht Zurückhaltung zu wahren weiß.
Dieser Türke Mechmed nämlich, dessen Smoking ölig glänzte, dessen Äußeres fadenscheinig war, besaß ein Opiumlager, hier am Platz, auch Kokain und Haschisch, im beiläufigen Werte von vierzigtausend Franken, nur prima reine, unverfälschte Ware, erste Qualität, das er – je nun! – geschmuggelt hatte, und das er – verstehen Sie! – ohne Profit, nur weil es ihn behinderte, bereit war, bei konvenierender Gelegenheit abzustoßen.
Und da Flametti sozusagen Fachmann war – er rauchte Opium in der Zigarette, nahm es wohl auch im Bier –, den Rummel verstand, ein Kerl war, so sollte er, bei Gelegenheit, mal sehen, was sich tun ließ. Man hat Bekannte, einen Arzt, einen Advokaten, einen Geschäftsfreund. Ist ja 'ne Bagatelle, vierzig Mille, liegt ja auf der Straße, ist ja gefunden, ist ja ein Dusel. So sollte er also mal sehen, ob man nicht, unter der Hand, vielleicht einen Interessenten fände.
Und Flametti hatte sich auch umgesehen, seit acht Tagen – Geschäft ist Geschäft! Spitzbuben gibt es hier wie dort! – und einen Interessenten gefunden. Aber jetzt wollte er auch wissen, wofür.
»Siehst du, Mechmed«, begann Flametti, als Mechmed Platz genommen, die Nase geschneuzt und sich ein Helles hatte kommen lassen, das er mit den Händen wärmte, »ist ja alles schön und gut. Wir kennen uns jetzt seit vierzehn Tagen. Wir haben Brüderschaft getrunken. Aber wir müssen doch jetzt einmal weiterkommen. Dein Paß ist abgelaufen – wann?«
»Zweiundzwanzigsten.«
»Zweiundzwanzigsten. Bis dahin mußt du das Quantum los sein.«
Mechmed nickte, allem Anschein nach ganz vertrottelt und schläfrig.
Flametti rückte seinen Stuhl näher ran und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Hör' mal zu: ich bin doch kein dummes Luder, versteht sich.«
Mechmed nickte.
»Du brauchst also innerhalb vierzehn Tagen einen Käufer. – Zwanzig Prozent!«
Mechmed nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger weit von sich weg, blies langsam den Rauch aus und überlegte einen Moment.
»Zwanzig Prozent Provision?« sagte er dann und wiegte den Kopf, »gut! Abgemacht! Was heißt?« und war sehr verwundert, wie man an seiner Courtoisie zweifeln konnte.
»Langsam!« sagte Flametti. »Ich hab' den Käufer. Drei Tage Bedenkzeit. Vierzig Mille bar auf den Tisch des Hauses.«
Mechmed wurde plötzlich sehr lebendig. Mit einem Ruck fuhr er auf seinem Stuhle herum. Sein Ellbogen auf der Stuhllehne stach spitz gegen die Kellnerin, die mit einem geschickten Seitwärtsschwenken der Hüften den Tisch passierte.
»Aber«, sagte Flametti und kreuzte die Arme vor sich auf dem Tisch, »ich muß nochmal Proben haben und zwei Mille Vorschuß.« Wenn man acht Mille Provision zu erwarten hatte, konnte man wohl zwei Mille Vorschuß verlangen.
»Nix Proben!« lehnte Mechmed schwerfällig ab, die Hand am Ohr, um besser folgen zu können.
Flametti lächelte.
»Sei mal vernünftig, Mechmed«, begann er von vorne, »mein Geschäft leidet. Seit acht Tagen bin ich nun unterwegs, dir einen Käufer zu suchen. Rechne die Spesen! Man trifft sich im Café, zahlt die Zeche standesgemäß. Verabredungen da und dort, hin und her. Du weißt selbst, wie das ist – –«
»Wie heißt der Käufer?« fragte Mechmed, ohne den Kopf zu drehen.
Flametti wich aus. »Wie heißt er? Tut nichts zur Sache. Prima prima. Kassa. Zahnarzt.« Es handelte sich also um den Zahnarzt, der Jennys Goldkronen geliefert hatte, einen Herrn von unzweifelhafter Solvenz, gewiß, der aber bis dato weder von des Herrn Mechmed Opiumlager, noch von Flamettis Hoffnung und Agentur die leiseste Ahnung hatte.
»Tja, mein lieber Freund!« trommelte Mechmed auf der Tischkante und sah zur Decke, »wird sich nicht machen lassen. Sieh mal her!« und er entnahm seinem Portefeuille einen ganzen Pack fremdartig kuvertierter Briefe, mit denen er eine Hausse aller orientalischen Narkotika und die gierige Nachfrage nach diesen Artikeln spielend belegte.
»Was heißt das?« stutzte Flametti, ein wenig rauh.
»Das heißt – –:« – der Türke gähnte, schüttelte den Kopf und bestellte einen Zwiebelsalat – »läßt sich nicht machen. Unter fünfzig Mille ausgeschlossen. Offerten: Papierkörbe voll.« Und er zog die Briefe aus den Kuverts.
Flametti sah den Türken in blaue Fernen entschwinden. Perdu. Futsch. Aus. Ihm schwindelte. Aber er versuchte, der Situation gewachsen zu sein.
»Mechmed«, sagte er, räsonnabel genug, »du bist kein Filz und ich bin kein Ganeff. Ich weiß: es kommt dir nicht darauf an, wenn du siehst, daß was läuft. Gut: ich verzichte auf die Proben. Macht fünfzig Franken. Weg damit! Aber die zwei Mille Vorschuß – man muß sich bewegen, auftreten können. Nimm doch Vernunft an! Das ist ja nicht so! Wir sind doch gut Freund! Du verstehst schon!«
Mechmed verstand. Er nickte. Aber dann schüttelte er ablehnend den Kopf – er schluckte dabei den Zwiebelsalat –: »Nicht zu machen. Gefährliche Sache.« Und musterte jenen mit einem profunden Blick. »Varieté«, meinte er, »Weiber, Feuer, Indianer: ja. Ja, ja. Aber Opium – –.« Er schüttelte.
»Mein lieber Freund«, sagte er väterlich, »schwierige Sache. Diffizile Sache. Nicht zu machen.« Und dabei verblieb er. Den Daumen hatte er in den Hosenbund eingehängt. Den linken Arm ließ er über die Stuhllehne herunterbaumeln. Er schien darüber nachzudenken, wen er zum Nachfolger ernennen könnte.
»So?« rief Flametti erbost, »das sagst du mir heut? Nach acht Tagen? Das hätt'st du mir wohl auch acht Tage früher sagen können.«
»Nix Proben!« schüttelte Mechmed versunken den Kopf und suchte den Zahnstocher in seiner Westentasche.
»Ah, ich pfeif' dir auf deine Proben! Hier und hier und hier, wenn du sie wieder haben willst.« Aus der inneren Rocktasche brachte Flametti dreimal je eine kleine Papiertüte, Haschisch-, Opium- und Kokainprobe zum Vorschein, die er heftig in einer Reihe nebeneinander auf den Tisch schlug und dem Mechmed zuschob.
Aber Mechmed hatte die überlegene Geste des père noble. »Merci, mon cher ami, c'est pour bonhomie!« und schob Flametti, ohne einen Blick darauf zu werfen, die Pulvertüten wieder zu. »Zahlen!« rief er und schlug den Geldbeutel aus Affenhaut, den er an einer Ecke gefaßt hielt, grandenhaft auf den Tisch.
Flametti raffte die Proben zusammen, steckte sie ein und sprang auf.
»Wieso Merci? Wieso Proben? Weißt du, Mechmed, das ist – – das ist – – –« Seine Augen funkelten. Er schien zu Tätlichkeiten geneigt. »Also weißt du – – –«
Aber Mechmed hatte sich, etwas schwach auf den Waden, schon zum Kleiderhaken begeben, nahm Paletot, Hut und Regenschirm herunter; sagte, mit einer einzigen, großen, zauberhaften Handbewegung über den Tisch und Flametti wegsegnend zur Kellnerin: »Deux francs, l'addition. Bonjour die Herrn!« und wandte sich wackelnd zum Ausgang.
Flametti stand gebannt und entwaffnet. Und da er die Blicke der Gäste auf sich gerichtet sah, ließ er seinen Ärger in ein entschuldigendes Lächeln übergehen, setzte sich wieder hin und drehte an seinen Ringen.
Zu dumm, diese ganze Affäre! Was würde Jenny dazu sagen? Was war nun das Resultat von vierzehn Tagen? Drei Tüten Niespulver.
Er mußte lächeln, wenn er an den alten Knacker dachte, der es verstanden hatte, ihn hinzuhalten. Aber es war ein Lächeln, das saurer wurde, je länger es währte.
Eigentlich hatte er gehofft, der Türke würde ihm aus der Klemme helfen. Und mehr:
Beim brasilianischen Konsulat hatte er vorgesprochen zwecks Auskünften. Auszuwandern gedachte er, wenn die acht Mille vom Türken erst flüssig würden.
Sich in der Schweiz mit den Lölis placken? Man ist doch kein Narr. Die brasilianische Regierung stellt Land zur Verfügung, soviel man haben will. Baut einen Rancho. Zwanzig Jahre Kredit. Jenny wird Kaffee pflanzen. Max Sumpfhühner schießen. Ein Pferd kostet dreißig Franken. Eine Kuh zwanzig. Ein Kalb zehn. Und man atmet in freier Luft; Brust an Brust mit den Botokuden.
»Das machen Sie gut!« unterbrach sich Flametti mit einer Floskel aus seinem Varietéjargon, »freie Luft!«
Ihm fiel die Konkubinatsstrafe ein. Was wird nun damit geschehen? Nachdem der Türke versagt hat? Kranemann wird keinen Pardon mehr geben. In die Wohnung wird er kommen mit dem Arrestbefehl. Mit dem Loch wird er drohen.
Er, Kranemann, ihn, Flametti arretieren! Flametti lachte. Zur Treppe wird er ihn spedieren, den Herrn Kranemann. Vors Fenster wird er ihn hängen, wie er die Möbel seiner ersten Frau, dieser Xanthippe, vors Fenster gehängt hat: den Nachtstuhl, den Schrank, die Kommode, alles hinaus vors Fenster, an langen Stricken. Da hol' dir's!
Das war ein Auflauf auf der Straße. Mit Fingern zeigten sie auf die Hausfront.
Nun, man soll erst mal sehen, wenn die Detektivs draußen hängen! Jeder am Rockkragen säuberlich zum Lüften aufgehängt. Ist's ein Wunder? Geld hat man keins. Fürs Loch hat man keine Zeit. Und doch wird man aufs Blut kuranzt...
Wenn man's bei Licht besieht: die sind doch die eigentlichen Apachen. Mit diesem Beruf! Warum betreiben sie ihn? Aus Rechtlichkeit? Ganz gewiß nicht. Aus Ordnungsliebe? Keine Spur. Raufbrüder sind es, verkappte. Herausfordernde Protzen. Leisetreter. Drohnen der Gesellschaft.
Auch diese Schäferhunde: das sind schon die rechten! So ein Vieh, ansehen muß man's: entartete Bestien. Wirf ihnen einen Brocken hin: sie schnuppern nicht einmal dran. Hochverräter an ihrer ganzen Rasse. Leisetreter wie ihre Herrn.
In seinem, Flamettis Fall: wowohl, er hatte in Konkubinat gelebt. Die Scheidung von seiner ersten Frau war noch nicht durchgeführt. Wer beklagte sich drüber? Niemand. Macht hundertfünfzig Franken Buße. Inklusive Prozeßkosten: hundertachtzig Franken. Sah man von diesem Geld je etwas wieder? Wurde dafür die Fuchsweide verschönert? Ein neuer Bahnhof gebaut? Flametti reiste wenig. Ihn interessierte es nicht. Aber die hundertachtzig Franken, die interessierten ihn.
»Zahlen!« rief er laut und patzig.
Als er auf die Straße trat, fielen ihm Jenny und das Geschäft wieder ein.
Hinüber lenkte er zur Filiale des ›Tagblatt‹ und gab eine Annonce auf: »Lehrmädchen gesucht. Kostenlose Aufnahme und Ausbildung. Flamettis Varieté-Ensemble.«
Kostete drei Franken achtzig. Er nahm die Quittung und seinen Ausweis in Empfang und kehrte um. Seine Stimmung, so sehr er auch grübelte, klärte sich auf.
Auf dem Brunnplatz hielt ein kleines Gerümpelauto. Ein Mechaniker in blauem Arbeitsanzug flickte am Reifen. Eine Anzahl Kinder um ihn herum. Die Verwegensten drückten verstohlen auf die Gummiblase der Hupe, was einige grunzende, mißfarbige Laute zur Folge hatte.
Flametti stoppte und sah sich den Karren an.
»Panne?« fragte er den Chauffeur.
»Panne«, erwiderte dieser, eifrig beschäftigt.
Der Schaden war rasch repariert. Die Kinder des Autobesitzers stiegen auf. Der Chauffeur ebenfalls. Einige grunzende Laute der Hupe und der Kraftwagen setzte sich unter dem lauten Johlen der schmutzigen Kinderschar, die sich aus allen Löchern und Winkeln eingefunden hatte, in Bewegung. Die Kinder des Besitzers spuckten dabei von ihrem Sitz aus in weitem Bogen und mit aller Anstrengung auf die Proletarierkinder, die sich hinten angehängt hatten und mit geknickten Beinen, trompetend, nachschleppen ließen. Ein Auto in der Fuchsweide, so früh am Abend, war ein Ereignis.
Die Quellenstraße wieder hinunter schritt Flametti, vorbei an Ismaëls ›Holländerstübli‹, vorbei an ›Muselmanns Zigarettengeschäft‹, wo im Schaufenster der Philipp saß, den roten Fes auf dem Kopf, Zigaretten fabrizierend; vorbei am ›Schlankeren Jacob‹ und an den Geschäftslokalitäten der Heilsarmee, hinein ins ›Krokodil‹.
»Salü!« grüßte er, setzte sich, kramte in seinen Taschen und brachte zum Vorschein: ein altes Trambahnbillett und den in der Frühe gekauften hellblauen Tschibuk.
»Ist der Beizer da?« Beizer nannte man in der Fuchsweide den Wirt.
»Jawohl, kommt gleich!« sagte die Kellnerin. Die hieß Anna.
»Gut!« sagte Flametti und nahm einen kräftigen Schluck aus der frischen Halben.
Der delikatere Teil seiner Aufgabe stand ihm bevor.
So leicht, wie Jenny sich vorstellte, war es nicht, im ›Krokodil‹ engagiert zu werden. Herr Schnabel, der Krokodilwirt, kannte die Vorzüge seines Lokals zu gut, als daß er für jeden Schnorrer wäre zu haben gewesen. ›Centrale Lage‹ stand auf den Empfehlungskarten seines Hotels. Und dem Krokodil, das über dem Eingang prangte, sagte man nach, daß es vorzeiten wirklich am Nil sein Unwesen getrieben, allwo es, etliche Heiden und Christen im Magen, dem Büchsenschuß eines Verwandten des Herrn Schnabel erlegen war, um gegerbt und entkröst als Emblem dem Ruf des Herrn Schnabel zu mehrerem Glanz zu verhelfen.
Nein, es war gar nicht leicht, im ›Krokodil‹ anzukommen. Denn es war eine Ehre.
Wer bei Herrn Schnabel spielte, war ein gemachter Mann. Wen Herr Schnabel auftreten ließ, war ein Ehrenmann. Ein von Herrn Schnabel vollzogener Kontrakt war ein Ausweis und Leumundszeugnis. Herr Schnabel, mit Annahme und Ablehnung, teilte Zensuren aus.
Aber Flametti würde es schaffen. Er hatte sich's vorgenommen. Und hier ist es am Platz, zu sagen, daß Flametti keineswegs unvorbereitet um eine Konferenz mit Herrn Schnabel nachsuchte. Er hatte die spielfreien Abende benützt: er hatte sich umgesehen. Mit Jenny im ›Germania-Cabaret‹: Stanislaus Rotter, Schnelldichter und Conférencier – man hatte ihn seine Schmonzes vortragen hören; seinen redegewandten Improvisationen nicht ohne Gewinn gelauscht. Er war es, von dem Flametti das Heil erwartete.
Angenommen, der Rotter, alter Bekannter von Max, Stadtgröße, würde sich, nur für ein einziges Mal, bestimmen lassen, Flametti ein Ensemble zu schreiben, ein unerhörtes, ein buntes, nie dagewesenes Gesangstableau: es würde die Kassen füllen, die Konkurrenz totschlagen, und wäre ein voller Ersatz für den Türken.
Freilich: hingehen mußte man, zu ihm, in seine Wohnung; ihn bitten, devotest, um soviel Güte. Aber wer weiß: vielleicht würde er's tun. Ein gutes Ensemble von ihm, exotisch, wild, mit der Streitaxt, brutal – und alles wäre in Ordnung. Herr Schnabel würde nicht Nein sagen können: schon wegen der Konkurrenz. Die Konkubinatsstrafe könnte beglichen werden. Die Schwierigkeit wäre behoben.
Flametti hatte, wie gesagt, den Tschibuk aus der Tasche genommen, und was war natürlicher, als daß er dabei an Ersatz für den Türken dachte?
»Lauf, hol' mir ein Paket Goldshag!« sagte er zur Kellnerin, die neugierig den Tschibuk bewunderte, und gab ihr Geld. Steckte das Rohr des Tschibuks in den Mund, blies hindurch, probierte den Zug und besah die Arbeit. Es war die erste stille Minute seit früh um halb sechs.
»Ah, Flametti!« trat der Herr Wirt freundlich näher, »wie geht's, wie steht's? Pfeife rauchen?«
»Mein neuer Tschibuk«, renommierte Flametti, »fürs ›Harem‹.«
»Neue Ausstattung?« meinte Herr Schnabel. Und mit Bezug auf den Tschibuk: »Schönes Stück. – Echtes Stück?«
»Jawohl«, bestätigte Flametti prompt und zuvorkommend. »Tschibuk aus Aleppo. Echte Arbeit.«
»Ah, von dem Mechmed«, riet Herr Schnabel aufs Geratewohl. Flamettis Beziehungen zum Türken waren ihm nicht unbekannt.
»Nix Mechmed!« beeilte Flametti sich, mit gesundeter Selbstironie hausbacken zurückzuweisen. »Orientbazar. Sieben Franken fünfzig.«
»Ist auch besser so«, meinte Herr Schnabel leichthin und nur halb bei der Sache. Er drehte die Hand in der Hosentasche, verfolgte mit wachsamen Augen den Hausknecht, der zapfte; die Kellnerinnen, die sich anschickten, den Saal fürs Konzert herzurichten, und entschwand zum Büfett. Er hatte offenbar viel zu tun.
Flametti war in Verlegenheit. Was sollte er tun?
Die Kellnerin brachte den Goldshag und Flametti stopfte die Pfeife. Ein glücklicher Umstand kam ihm zu statten: Frau Schnabel erschien im Lokal, freundlich lächelnd nach allen Seiten, eine aufgehende Sonne.
»Sie, Herr Schnabel!« rief Flametti vertraulich, winkte mit dem Kopfe und griff in die Brusttasche: »Was sagen Sie dazu? Kennen Sie den?« Und lächelte Madame Schnabel ein ›Guten Abend‹ zu.
Herr Schnabel, abgelöst am Büfett, trat wieder näher. Aus Flamettis Hand, zeremoniös umschlossen, stieg eine Photographie in Postkartenformat, darstellend einen Herrn in den mittleren Jahren, mit englisch gestutztem Schnurrbart, Schillerkragen und Künstlerkrawatte.
»Das ist doch der – Rotter?« riet der Wirt. »Jerum, der Rotter!« rief er erstaunt seiner Frau zu und beugte sich näher, um über Flamettis Schulter hinweg die Photographie zu betrachten. Auch Frau Schnabel trat näher.
»Ja, der Rotter«, bestätigte Flametti und stand auf, um die Photographie auch Madame zugänglich zu machen. »Wissen Sie, wo der jetzt auftritt?« Er war ein wenig verwirrt, eine Supplikantenrolle zu spielen, wurde verlegen und lächelte. »Als Schnelldichter im Germania-Cabaret.«
»So so!« meinte Frau Schnabel skeptisch und dünn, als habe sie den Pips an der Zunge. Sie neigte den Kopf zur Schulter, drehte die Hand in der Schürzentasche und sah mit hochgezogenen Augenbrauen hinunter auf ihren Spangenschuh.
»Conférencier und Improvisator-Berühmtheit!« versicherte Flametti. »Fünfhundert Franken Gage. Karrieremacher. Feiner Kerl!«
»Waren ja Freunde, ich und der Rotter«, wandte er sich an Madame. »Je Gott! Dort drüben« – er zeigte nach einer Nische – »nebeneinander sind wir gesessen und haben Asti gezecht!«
Und wieder zu Herrn Schnabel: »Erinnern Sie sich? Und im ›Bratwurstglöckli‹ z'Basel: Sie kennen doch den Rotter, was der für 'nen Appetit hat! – Als der Kaiser nach Bern kam: wer hat das Begrüßungsgedicht verfaßt? Erinnern Sie sich?«
Herr Schnabel hatte die Hand in Zangenform an die Stirne gelegt. »Richtig!« fuhr er in großem Bogen von der Stirn weg in die Luft.
»Macht ja Karriere!« rühmte Flametti und schob klotzig den Unterkiefer vor, um die brutal verdrängende Energie des Herrn Rotter respektvoll zu charakterisieren. »Verdient ja ein Heidengeld! Stadtgespräch!«
»Na und jetzt?« interessierte sich Herr Schnabel.
»Unnahbar. Nichts zu machen. Keiner kommt an ihn ran. Wie abgeschnitten.«
Und wieder mit unwiderstehlicher Großartigkeit zu Madame Schnabel: »Ein Talent! Der Kerl schüttelt die Verse nur so aus dem Ärmel. Stundenlang. Phänomenal.«
»So so!« lächelte Frau Schnabel wie oben, mit einem so liebenswürdig knappen Mißtrauen, daß es Flametti die Glieder lähmte.
»Elegant!« schwang Herr Schnabel sich auf und versuchte, mit einem ermunternden Blick auch seine zurückhaltende Ehehälfte zu gewinnen.
»Tipp topp!« überbot Flametti. »Man muß ihn abends sehen, bei Beleuchtung. Im Frack. ›Elegant‹! Das ist das Wort zu viel!« und etwas wie Ironie und leise Verachtung mischte sich in Flamettis unendlich überlegenes Interesse. Er war sich bewußt, seinen letzten Trumpf auszuspielen. Jetzt oder nie.
»Siehst du, Flametti«, sagte Herr Schnabel unvermittelt und setzte sich an den Tisch, »so etwas müßtest du engagieren! Mich geht's ja nichts an: aber laß doch den Kram mit dem Türken und such' dir 'nen Schlager!«
Flametti klopfte gerade den Tschibuk aus. Er bekam Oberwasser. Das alte, vertrauliche ›Du‹ des Herrn Schnabel ehrte ihn. Er steckte die Photographie ein. »Jawohl! Und wieviel Draufgeld zahlst du mir?«
»Was Draufgeld! Je nachdem! Zweihundert Franken, dreihundert Franken. Haben schon vierhundert gezahlt im Monat.«
»›Je nachdem‹!« lächelte Flametti gerissen und nahm sein Bierglas zwischen die Hände. »Ist ja Stuß. Aber ich will dir was sagen: Was zahlst du, wenn er mir ein Ensemble schreibt?«
»Was zahl' ich?« gigampfete Herr Schnabel. »Kommt drauf an!« Und er stieg mit der Stimme. Er stand auf, drehte sich auf dem Absatz und strich sich den Schnauzbart.
Frau Schnabel kannte das Gehaben ihres Gatten. Sie wußte: jetzt kam's zum Geschäft. Sie zeigte ein Lächeln, das schon im voraus ihre Zustimmung zu allen etwaigen Maßnahmen des Gatten zum Ausdruck brachte. Ein Lächeln, das, drüber hinaus, Ermutigung zu bedeuten schien für den glücklichen Kontrahenten, dem es gelungen war, das Interesse ihres Gemahls, des Herrn Schnabel vom ›Krokodil‹ zu erregen.
»Minimum!« rief Flametti, der nun einmal den Schnabel gefaßt hielt und nicht gewillt war, ihn wieder loszulassen.
»Kommt darauf an, was ihr bringt!« schaukelte Herr Schnabel sich von den Absätzen auf die Zehenspitzen und von den Zehenspitzen wieder auf die Absätze.
Flametti zählte an den Fingern seine Mitglieder her: »Zehn Personen. Drei Lehrmädel.«
»Gut«, sagte Schnabel, »wenn du was bringst von dem Rotter, und alles anständig, dezent –: dreihundert Franken und am fünfzehnten könnt ihr kommen.«
»Abgemacht!« schwitzte Flametti und streckte Herrn Schnabel die Hand zu über den Tisch. »Anna, 'ne Halbe!«
Jenny lag schon zu Bett, als Flametti von diesem an Aufregungen reichen Tage nach Hause kam.
»Na, Max, was ist? Was hast du erreicht?« Sie war sehr besorgt.
»Engagement im ›Krokodil‹. Fünfzehnten fangen wir an.«
Jenny setzte sich im Bett auf und strich sich das Haar aus der Stirn. »Aber was spielen wir denn?«
»Morgen geh' ich zum Rotter.«