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Wir sahen an, was der Sammler oder wie er, aus den dunklen Zuständen der Heimat abgelöst, um betrachtend, erhorchend durch die Welt zu schweifen, sich jetzt lieber nennen hört: der Planet von der Reise mitgebracht, und waren eben dabei, uns nach diesen Photographieen und wie er sie uns, Erinnerung aus seinen Heften ergänzend, kräftig zu beleben verstand, die Zeichnungen vorzustellen, die im fünften Saal der venezianischen Akademie sind. Erst wurden die des Leonardo bewundert, wenn auch unser junger Künstler, der Respekt nicht kennt und sich immer nur an sein lautes Gefühl hält, von diesen bizarren, bald schauerlichen, bald lächerlichen, niemals natürlichen, immer heftig über irdisches Maß hinausgetriebenen Köpfen fand, sie wären nicht gesehen, sondern Leonardo hätte hier damit gespielt, menschliche Stirnen oder Nasen oder Lippen willkürlich als bloße Linien zu behandeln, an welchen er beliebig, mit Verachtung der Wahrheit, seinen Übermut ausgelassen, in einer gewiß amüsanten, aber doch die Treue des wahren Zeichners, er nannte Dürer, verletzenden Art. Doch nahm sich der Meister, bei dem wir versammelt waren, der Blätter an, indem er, ähnlicher in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand und auch in unserer Albertina gedenkend und auf den Vasari verweisend, nach welchem sie keineswegs Karikaturen, sondern Abbildungen aus dem Leben wären, uns bat zu beachten, wie groß es wirke, daß diesen Zeichnungen jeder Gedanke an einen Zuschauer fehlt, und wie Leonardo sichtlich in seine Werke doch immer nur sich selbst eingetragen habe, was sein Auge sah, sein Sinn vernahm, unbekümmert, ob es gefallen oder empören würde. Wenn erzählt wird, fuhr er fort, daß er oft Verbrechern zum Galgen folgte, um die Zeichen der Todesangst auf ihren Stirnen zu sehen, oder auch daß er gern seltsam aussehende Leute, sei es, daß er in ihrem Antlitz eine besondere Tücke oder aber einen ungewöhnlich komischen Streich der Natur fand, zu sich in das Haus gelockt habe, um ihnen beim Essen mit munteren Freunden solche Späße vorzutragen, daß sie darüber und durch den Wein erregt aus vollem Halse lachen mußten, so wollen wir uns erinnern, daß er ebenso später, als ihm Lisa, die Frau des Messir Giocondo, saß, sie mit lieblicher Musik umgab, bis leise, von so süßen Tönen angezogen, Lächeln auf ihre Wangen glitt. Denn er wußte, wessen die Natur fähig ist, wenn sie gereizt wird, aber daß sie, leichten oder trägen Sinnes und auch immer gleich wieder von neuen Wünschen abberufen, es gern beim ersten Versuche vergeßlich bewenden läßt, weshalb sie den strengeren Künstler braucht, um sich auszuführen und zu vollenden. Er ging ihr nach, soweit sie kommt. Oft aber ließ er sie, die schnell ermüdet, dann hinter sich zurück, und wir haben doch erst durch ihn erfahren, was aus ihr, denkt man sie aus und hilft ihr nach, alles werden kann, sowohl nach der Seite der Schönheit hin als auch wie hier nach der andern Seite; er war freilich zu tief eingedrungen, um noch das Schöne und das andere zu trennen, bis in solchen Grund, wo diese Begriffe verloren sind. So meinte der Meister und schlug nun ein neues Blatt auf, aus jenem Skizzenbuch, das einst dem Raffael zugeschrieben war, sagend: »Hier seht her, um die Macht Leonardos zu fühlen, was sie gewesen ist, indem ihr, noch seinen rein aufnehmenden Geist in den Augen, jetzt die andern vergleicht, welche, während sie die Natur anzuschauen glauben, den Blick nicht vom Publikum lassen können. Immer fragen es ihre Gestalten: ›Bin ich nicht lieb?‹ Was es ihnen denn, geschmeichelt, auch prompt mit Bewunderung vergilt.«
Da wies der Sammler, der gerecht ist, während uns der Meister oft wiederholt, solche Tugend solle man lieber den Himmlischen überlassen, noch ein Blatt der venezianischen Sammlung her, dieses wirklich von Raffael, wie er beteuerte, nämlich den Marsyas mit dem Apoll, jenem Bild im Louvre ähnlich, das als der Raffael des Morris Moore bekannt, übrigens auch ungewiß ist, früher dem Mantegna zugewiesen, dann von manchen dem Perugino, jedenfalls als ein Umbrisches Werk erkannt. Von seinen Wanderungen und den Vermutungen der Kenner erzählte der Sammler nun, auch gab er an, worin es anders als die Zeichnung ist, auf welcher die Burg, die das Bild in blühender Gegend zeigt, die Leier, der Köcher und die Pfeile des Gottes fehlen, dieser aber dafür durch einen in seiner stillen Linie fast wie Musik süß wirkenden Stamm von seinem Gegner geschieden ist. Und dann beschrieb er uns noch mit Worten das Blatt, indem er es zugleich zärtlich, fast lüstern, von leisen Fingern anzufühlen erfreut war, um es mit allen Sinnen zu schmecken, und sprach: »Es ist in einem blaßrosigen Schimmer gehalten, nur an den Haaren des Gottes dunkle, in der Landschaft aber weiß. Links sitzt Marsyas auf einem Trunk, ein turnerisch ausgebildeter junger Mensch, leicht vorgebeugt, und die leise Neigung des Körpers, die behutsam die Flöte mehr wie liebkosende Hand und der in Vergessenheit der ganzen Welt und völliger Versunkenheit erloschene Blick lassen uns die Andacht, ja fast Angst des Künstlers empfinden, der nach seinen inneren Stimmen hinlauscht; alles an ihm ist durch ein starkes Gefühl von Ergriffenheit oder Sehnsucht gebunden. Apoll aber steht aufrecht da, den rechten Arm in die Hüfte gelegt, während sich die linke Hand um seinen langen Stab schließt. Das Haupt, von dem Locken an den Hals und in den Nacken ringeln, mit bekränzter Stirne, ein wenig gesenkt, blickt er zum Bläser lässig mit unbewegter Miene hin, die freilich unser Meister, der anderes bei sich hegt, vielleicht wieder leer, am Ende sogar kokett finden wird, während mir doch ist, als ob man die leise Verachtung, in welcher sich der schaffende Geist vor den dumpfen Bemühungen unbewußter Kraft zu sichern weiß, kaum liebenswürdiger ausdrücken könnte.«
»Dies also«, fragte der Meister, »scheint dir der Sinn des Blattes zu sein?« Und lächelnd wendete er sich dem jungen Künstler zu: »Du verzeihst, wenn wir, was dich, und du hast ja für dich ganz recht, nervös macht, uns doch nicht abgewöhnen können: in Werken der Kunst einen Sinn zu suchen.«
»Da die Zeichnung vortrefflich ist,« sagte der Künstler, aufmerksam über das Blatt gebeugt, »mag sie immerhin einen haben.«
»Sie ist es«, bestätigte der Meister. »Ich verkenne Raffael nämlich durchaus nicht, wie der Planet zu glauben scheint. Es hat vielleicht kein Maler je mehr Talent gehabt. Das weiß ich schon, nur müßt ihr mir erlauben, Talent, wenn es losgelöst ist, nicht so zu schätzen, wie meistens geschieht. Wenn es nicht auf einer großen Natur ruht und durch diese sozusagen entschuldigt wird, kommt es mir eher unheimlich vor. Übrigens aber achte ich Raffael, weil er schön war und sich nicht geplagt hat. Auch an diesem Blatt gefällt mir, daß es keine Mühe zeigt, sondern jene kindlich, bisweilen freilich schon auch fast kindisch unschuldige Lust an gefälligen und angenehmen Linien, die sich dieser doch sonst so sehr verdorbene Mensch wie durch ein Wunder bewahrt hat. Gedacht aber wird er sich kaum viel dabei haben.«
»Wenn ich dich recht verstehe,« griff nun der Arzt ein, zum Sammler gewendet, »so meinst du, er stelle hier den, der seine Kunst kann und bedacht hat, gegen den nur gefühlvollen Dilettanten, oder wie wir heute sagen würden: den Künstler gegen den Naturalisten auf. Das ließe sich ja hören, aber ich würde dann doch um einen andern Marsyas bitten müssen, wie zum Beispiel ich mich erinnere, daß der in Hellbrunn bei den Wasserkünsten ist, schon an die Fichte gebunden und vom Skythen, der das Messer wetzt, bedroht, wirklich ein so ruppiger Kerl, daß man dem Apollo seinen Sieg gönnt. Dagegen dieser hier, wie still und versonnen er sitzt, eher in der Haltung eines sanften bukolischen Dichters, ist mir dazu viel zu manierlich.«
»Ich gebe ja zu,« sagte der Sammler, »daß der Ausdruck niemals Raffaels starke Seite war. Was irgend eine Gestalt oder Situation, sei es der Mythen, sei es unserer Legenden, bedeuten mag, ist ihm im Grunde gleich und doch eigentlich immer nur ein Vorwand, sich in der Darstellung edel gegliederter Menschen zu ergehen. Wie seine Madonnen, unsere im Grünen oder die mit dem Stieglitz oder die schöne Gärtnerin, anmutig sitzende junge Frauen sind, so werden hier nur zwei Jünglinge gezeigt, ein innig wünschender und ein stolz verachtender, und nur leise schimmert der alte Sinn der Fabel doch noch hervor, der natürlich viel stärker an jenem gierig taumelnden Marsyas wirkt, wie ihn die Alten gebildet haben.«
»Von dir, Planet,« sagte der Meister da, »wundert es mich eigentlich, auch dich so schlechthin die Alten sagen zu hören, wie dies viele tun, da doch dir bekannt sein muß, daß es auch unter ihnen frühe und späte und zur selben Zeit wieder von verschiedenen Gesinnungen und, was wichtiger ist, immer solche von Talent und andere ohne Talent gab. Von ›den Alten‹ zu sprechen ist nicht viel klüger als von ›den Deutschen‹, zu welchen auch schließlich Wolfram von Eschenbach ebenso wie Paul Lindau gehört.«
»So will ich denn,« erwiderte der Sammler, »obwohl ich einwenden könnte, daß damals in der Kunst der einzelne geringer, die Nation mächtiger und es, wie schon Lessing in jener Abhandlung über den Tod bemerkt hat, Sitte war, die sinnliche Vorstellung, welche ein geistiges Wesen einmal erhalten hatte, getreulich beizubehalten, dennoch will ich sagen, woran ich im besonderen gedacht habe, nämlich an den Marsyas, wie er auf dem Relief von Mantinea erscheint. Ihr wißt, daß dies drei Platten sind, im Jahre 1887 gefunden und auf eine Stelle im achten Buche des Pausanias bezogen, nach welcher es manche für ein Werk des jungen Praxiteles behaupten, aus jener Zeit, als er mit seinem Vater und dem Xenophon in Arkadien war. Andere zweifeln das freilich an, ich aber stimme mit unserem Freunde Ubell, der es, nach der ›lautlosen‹ Art seiner Komposition, wenn schon nicht für die Hand, so doch für die Werkstatt des Praxiteles anspricht. Hier ist nun der Gegensatz ganz wunderbar ausgedrückt: der Musen, die wie in den Genuß ihrer seligen Ruhe versunken scheinen, besonders die eine, welche sitzt, die Hände sanft an der Gitarre, und des Apoll, der, reich gekleidet, eine sehr große und kostbare Leier im Schoß, in feierlicher Stille und achtlos harrt, zum Rasen des stürmischen Marsyas, der hier wirklich der wilde Waldmensch ist, der θήρ, das Untier, das toll geworden ist, schnaubend von dampfenden Wallungen, geschüttelt durch Leidenschaft und wie verzückt, einem Derwisch gleich, den die Dämonen drehen, auf den ersten Blick als einer aus dem Schwarm des Bakchos, Sabazios oder Bassareus erkenntlich, den Sabaden und Mänaden verwandt, wie er denn bei Herodot einmal ausdrücklich der Silen und später oft schlechtweg der Satyr heißt. Oder ihr mögt euch an den im Lateran erinnern, den ihr ja doch alle kennt, den mit den Kastagnetten, der sich auch gleich als dionysisch verrät. Die Griechen haben eben immer zwischen dem Apoll und dem Dionysos geschwankt, von beiden verführt, bei keinem beruhigt, ewig unstet hin und her, und vielleicht macht dies eben ihre Kultur aus, dazwischen in der Mitte zu sein. So stellen sie bald den Pentheus auf, als eine Warnung für den Verstand, sich nicht gegen den Instinkt zu erfrechen, bald den Marsyas, um dem Instinkt mit dem Verstande zu drohen, wobei es denn nur in der Ordnung ist, wenn jenen Sieg schrankenlos musikalischer Macht die von ihr ergriffenen Dichter verkünden, diesen aber des ruhig anschauenden Gottes die Bildhauer, seine Schüler.«
»Euch hat doch dieser Nietzsche schon ganz verdreht«, sagte jetzt der Grammatiker. »Diese ganze Art, wie ihr meint, man hätte damals Statuen aufgestellt wie Tafeln für die Bürger, um sich daran in Zweifeln des Gewissens Rats erholen zu können, mag ich gar nicht begreifen. Ich sehe hier einen, der die Zither spielt, mit einem um die Wette, der die Flöte bläst, und denke mir, daß diese beiden Gilden oder Zünfte von Musikanten, verzankt und aufgebracht, solchen Tratsch gegeneinander erfinden mochten.«
Plötzlich fiel hier der Meister ein: »Hast du eine Abbildung des Reliefs da? Ich erinnere mich nicht mehr genau.«
»Nein,« sagte der Planet, »aber du findest es im Collignon.«
Der Meister holte den Band, um nachzuschlagen, und nahm noch andere Bücher her. Indessen fuhr der Grammatiker fort: »Genügt euch das aber noch nicht, so nehmt meinetwegen an, die Athener ... denn die Geschichte ist athenisch, mit einer Spitze gegen alles böotische Wesen ... hätten damit sagen wollen, daß ihrem empfindlicheren Gehör der lärmende und aufrührerische Schall der Flöten zuwider geworden war.«
»Zuwider kaum«, sagte der Arzt. »Das stimmt nicht. Eher gefährlich. Sie haben vielleicht Furcht vor ihr bekommen. Uns wird es freilich schwer, dies zu begreifen, weil wir jetzt in der Musik noch ganz anderen Tumult gewohnt sind. Dieses ganz frische Volk aber muß von einer unglaublich empfindlichen und erregbaren Nervosität der Ohren gewesen sein, der Töne, die für uns nicht einmal mehr besonders laut sind, schon unerträglich grell und heftig klangen.«
»Das ist wahr«, bestätigte der Sammler. »Ich erinnere mich, daß Pausanias, wo er das Gemälde des Polygnot in der delphinischen Lesche beschreibt, von den Phrygern in Kelainai erzählt, sie behaupteten, es habe sich in ihrer Schlacht gegen die Galater Marsyas aus dem Flusse erhoben, in welchen er verwandelt worden, und ihre Feinde durch sein Flötenspiel geschlagen. Wie muß dem Griechen die Flöte geklungen haben, daß man ihr zutrauen konnte, durch ihren bloßen Ton ein Heer zu vertreiben!«
»Das beweist auch«, sagte der Arzt, »ihr Gebrauch in der Medizin. Sie sollen mit der Flöte Ischias geheilt haben. Besonders aber scheint sie zur Kur gegen jene merkwürdige Tollheit verwendet worden zu sein, die Enthusiasmus oder Korybantiasmus hieß. Bei solchen Erkrankungen des Gemüts, die wir uns wohl als eine Art Veitstanz zu denken haben, fanden sie, daß, um den inneren Sturm zu beschwichtigen, nichts besser als äußerer Lärm sei, wie ja auch Ammen, um unruhige Kinder einzuschläfern, sie schütteln und singend mit ihnen tänzeln, was ruhige dagegen aufwecken würde. Durch diesen Vergleich sucht uns Plato die Heilungen mit rauschender Musik zu erklären, die auch dem Aristoteles sehr interessant waren und ihn auf seinen Begriff der tragischen Katharsis gebracht haben mögen. War ihnen aber die Flöte so stark, dann verstehen wir, daß sie es rätlich fanden, sie wie ein schlimmes Gift nur als Arznei in extremis anzuwenden, die Gesunden aber vor ihr zu bewahren. Und wie wir heute in Zeitungen oder Versammlungen gegen den Tabak oder Alkohol predigen, dachten sie vielleicht zur Warnung diese Geschichte von Marsyas aus.«
Der Meister ließ nun die Bücher, in welchen er nachgesehen hatte, und sagte: »Daran denkt aber keiner von euch, wer im Symposion mit Marsyas verglichen wird? Ratet.«
»Aber natürlich,« fiel der Grammatiker ein, »Sokrates ist es, den er trunkene Alkibiades mit dem Marsyas vergleicht.«
»Ja,« sagte der Meister, »und nicht bloß an Gestalt, was, meint er frech, Sokrates selbst nicht leugnen werde, sondern auch sonst, dem Wesen nach. Denn erstens, fragt er ihn, bist du nicht ein Frevler? Gestehst du das nicht zu, so will ich Zeugen bringen. Und bist du kein Flötist? Wahrlich ein viel erstaunlicherer noch als jener. Der hat nämlich die Menschen durch die Gewalt seines Mundes mit Hilfe der Flöte bezaubert, du aber ohne Flöte durch bloße Worte allein. Dies dürfen wir ja nun freilich nicht schwerer nehmen, als es beim Mahl gemeint ist, obwohl Alkibiades noch ausdrücklich versichert, es sei nicht spöttisch vorgebracht, sondern im vollen Ernst: του̃ αληθου̃ς ένεκα, ου̃ του̃ γελοίον. Aber es wäre doch zu sonderbar, da wir uns einen tieferen Gegner des Dionysischen ja kaum denken können, als Sokrates war, wenn nun für das Gefühl der Athener, zu welchen Alkibiades sprach, der Marsyas, wie der Sammler glaubt, eine dionysische Gestalt behauptet hätte. Doch, ich stimme sonst dem Grammatiker nicht zu, wenn er gegen Nietzsche murrt, aber darin hat er wohl recht, wir treiben dieses ewige Spiel mit dem Apollinischen und dem Dionysischen jetzt schon gar etwas arg, die bereits angefangen, zu jenen ›Prachtausdrücken‹ zu gehören, von denen Bernays einmal gespöttelt hat, daß sie jedem Gebildeten geläufig und keinem Denkenden deutlich sind. Vergeßt nur auch nicht, daß die Götter der Griechen sich unablässig verwandeln, sie sind nichts Starres, sie haben keine Grenzen, sie dehnen sich aus und verfließen. Erinnert euch der vielen seltsamen Zauberer, die, durchaus dionysisch wirkend, plötzlich wieder geheimnisvoll durch irgendein Zeichen, etwa wie Abaris durch den goldenen Pfeil, doch auch dem Apoll verbunden scheinen. Denkt an Melampus, den merkwürdigen Medizinmann, den Retter der rasenden argivischen Weiber, der, seit ihm die Schlangen, während er schlief, die Ohren ausgeleckt, die Stimmen der Vögel verstand: dieser, von dem Herodot und nach dem Diodor erzählt, er zuerst habe aus Ägypten den Namen und den Dienst des Dionysos zu den Griechen gebracht, wird von Hesiod φίλτατος τω̃ Απόλλωνι genannt. Wie denn für das βακχεύειν, für die dionysische Verzückung und Begeisterung, die Sprache ganz ebenso zuweilen auch φοιβόλαμπτος: vom Apoll ergriffen, sagt. Oder wie wir plötzlich wieder beim Pausanias lesen, durch den Sakadas, der zuerst in Delphi das pythische Flötenspiel blies, sei der alte Haß, den Apoll noch vom Marsyas her auf die Flöte geworfen, beschwichtigt und gestillt worden. Diese Rätsel werden wir nicht lösen und wollen darum doch lieber behutsam sein.«
»Gott sei Dank!« rief der Künstler aus. »Ein schöner junger Gott in seinem feierlichen Stolz, ein wilderregter bärtiger Mensch, genügt euch das wirklich nicht? Muß denn immer erst noch etwas bewiesen sein?«
»Halt«, sagte der Meister. »Den reinen Artisten will ich deshalb nun auch wieder nicht machen. Sehen wir uns doch einmal in aller Ruhe das Relief an und fragen dann, was uns etwa die Dichter noch über denselben Fall zu sagen wissen. Bietet sich uns daraus schließlich eine Lehre an, so weisen wir sie nicht ab; nur zwängen wir keine hinein.«
»Das will doch auch ich nicht«, bemerkte der Planet.
»Gewiß nicht,« sagte der Meister, »nur hättest du dir den Marsyas besser ansehen sollen, Lieber! Du hast ihn uns geschildert, als ob er verzückt und in jener heiligen Raserei, die wir von den thrakischen Weibern her kennen, dargestellt wäre. Einem Derwisch gleich, hast du gesagt, um die Besessenheit noch besonders auszudrücken. Und ebenso finde ich ihn bei unserem Freunde Ubell geschildert, der auch von seinen ›grotesken und eckigen Sprüngen‹ spricht, da er doch in Wahrheit ... seht ihn euch, bitte, hier nur an ... gar nicht tanzt oder springt, sondern vielmehr, das rechte Bein gestreckt, ins linke, das er beugt, sein ganzes Gewicht legt, wie einer, der alle Kraft zusammennimmt und pumpt und, wie wir sagen würden, ›druckt und druckt‹. Dich mag Erinnerung an jenen römischen Marsyas getäuscht haben, der aber auch bloß falsch ergänzt ist. Denkst du dir die Kastagnetten weg, die man ihm später gegeben hat, so bleibt auch an ihm nichts, das als tänzerisch oder trunken zu deuten wäre. Auch ist er keineswegs verzückt, sondern er reißt bloß das Gesicht vor Neugier und Lüsternheit nach der Flöte auf, welche die Athene weggeworfen hat. Nun, darauf komme ich noch. Hier, von Praxiteles, wird uns jedenfalls nur gezeigt, daß der Marsyas sich sehr geplagt hat. Mit welchem Erfolge, wie seine Musik eigentlich war, süß oder wild, lockend oder schreckend, sanft oder rauh, darüber sagt uns das Relief nichts. Aber auch, merkt wohl, die Dichter nirgends. Nirgends steht, daß er schlecht musiziert und durch Mangel an Kunst verspielt hätte. ›Eitel Ohrgeschinder und nichts dahinter‹ etwa, wie Wagner so sächsisch gereimt hat, und darum ›versungen und vertan‹. Keineswegs. Er ist vielmehr dem Apoll an Kunst überlegen gewesen und von diesem erst hinten herum durch einen recht athenischen Kniff überlistet und um den Erfolg betrogen worden. Nämlich, Diodor erzählt dies so: Anfangs spielen sie redlich um die Wette, Apoll auf der Zither, Marsyas auf der Flöte, und da ist es Marsyas, der die Richter gewinnt, die Flöte klingt ihnen schöner, bis Apoll plötzlich den Einfall hat, zur Zither nun auch noch zu singen; umsonst wehrt sich Marsyas, daß dies nicht verabredet sei, der schlaue Gott wendet ein: Wir tun doch dasselbe, die Bedingungen sind gleich, wir gebrauchen beide die Finger und den Mund, die Finger beide zum Spielen, den Mund du zum Blasen, ich zum Singen; paßt dir das nicht und willst du, daß ich schweige, so tu aber auch du den Mund zu und zeige, was du mit den bloßen Fingern kannst. Die Richter lachen, und der arme brave Marsyas ist blamiert.«
»Mordsgaukler«, sagte der Künstler, »müssen diese Griechen schon gewesen sein.«
»Immer der erste zu sein«, erwiderte der Meister, »und vorzustreben den andern, heißt es schon im Homer. Dies wird dem Achill und dem Glaukos von den Vätern mit in den Krieg gegeben, und dies ist den Griechen immer der höchste Wunsch geblieben. Immer der erste zu sein, sich in allen Lagen zu behaupten, Sieger zu bleiben. Wie, war ihnen ziemlich gleich. Man wurde bei ihnen ein Held nicht nur durch die Kraft, sondern ebenso durch Witz: Odysseus steht neben dem Achill. Und wenn also der Fall des Marsyas schon etwas lehren soll, so wäre dies nur: es entscheidet nicht, was du kannst; nicht der Stärkere an Kunst, sondern der Klügere an List behält recht. Und es könnte vielleicht die Flöte gerade darum gewählt worden sein, weil die mächtiger als die Zither klang, um erst recht den wachen Apoll zu zeigen, der auch mit der schlechteren Waffe noch zu siegen verstand.«
»Das hört sich hübsch an,« bemerkte der Planet, »stimmt aber wohl auch nicht recht. Wir wissen doch, daß in der Tat, der Grammatiker hat es schon gesagt, die Flöte zur Zeit des Alkibiades in Athen aus der Mode und in Verruf kam, wie Plutarch erzählt.«
»Aber warum?« fragte der Meister. »Das ist die Frage. Weil sie ihnen gefährlich wurde, hat der Arzt gemeint. Ich weiß nicht; die Griechen haben doch sonst keine Gefahr gescheut, und Thukydides läßt den Perikles in der großen Rede dies besonders an den Athenern rühmen, daß sie die Gefahren kennen, aber vor keiner zurückweichen. Nun sehen wir uns dazu noch einmal den Marsyas an, der im Lateran ist. Er wird jetzt allgemein für eine Kopie nach dem Myron genommen, aus einer Gruppe, die dieser auf der Akropolis hatte, wie wir, eine Stelle des Pausanias mit einer im Plinius vergleichend, wohl annehmen dürfen. Sie ist uns übrigens in Nachbildungen auch auf Münzen und auf einer rotfigurigen Vase erhalten, welche in einem Grabe bei dem attischen Ort Vari gefunden und ins Berliner Museum gebracht wurde. Auch mußt du im fünften Saal des Athenischen Museums, wo das Eleusinische Relief ist, beim Pfeiler rechts, vor dem die Lenormantsche Athene steht, im Winkel eine große marmorne Vase gesehen haben, recht zerhauen und verstoßen freilich, welche dieselbe Szene zeigt: Athene hat die Flöte mit Abscheu weggeworfen, Marsyas eilt lüstern neugierig her und will darnach greifen, sie wehrt es ihm drohend, er taumelt vor ihrem Zorne zurück, zögert aber doch, ihr zu gehorchen, weil er seine Lust kaum beherrschen kann, und steht so zwischen Furcht und Gier, leidenschaftlich abgeschreckt und angelockt zugleich, was eben mimisch auszudrücken auch offenbar den Künstler der Lateranischen Figur gereizt hat. Ich aber frage nun wieder: warum? Warum wehrt es ihm die Athene? Was geht mit ihr vor? Warum zürnt sie? Was hat sie gegen die Flöte plötzlich, die sie selbst doch erfand? Denn dies wissen wir ja aus dem Pindar, welcher im zwölften der pythischen Gesänge, der Midas, dem Akragantiner, einem Flötenspieler, gewidmet ist, uns erzählt: Als Perseus, von der Athene geschirmt, das Haupt der Medusa schlug, hätten ihre Schwestern, Stheno und Euryale, so furchtbar aufgeseufzt und ihre Schlangen so wimmernd vor Leid gezischt, daß Athene, diesen επικλάγκτον γόον immer noch im Ohr, ihn nicht mehr vergessen konnte, bis sie ihn zuletzt auf dem Rohre nachgeahmt. Seitdem war ihr die Flöte lieb. Und nun plötzlich aber diese Wut auf sie? Woher? Warum? Auch dies wissen wir von den Dichtern. Als sie nämlich, sagen diese, sich einst wieder, an einem Bache, in den Tönen der geliebten Flöte gefiel, habe sie sich im Wasser erblickt und sei zurückgeprallt, entsetzt, wie häßlich durch das Blasen aus vollen Wangen ihr edles Gesicht verzerrt erschien: da habe sie das Rohr ergrimmt verworfen und mit einem fürchterlichen Fluche jeden verwünscht, der jemals wieder nach ihm greifen würde. Dies ist, meine ich, der Sinn des Marsyas.«
»Dies wäre der Sinn?« fuhr da der Künstler heftig auf. Und er wiederholte: »Dies meinst du?« Dann aber faßte er sich und sagte, sogleich wieder lächelnd: »Vielleicht ... mag ja sein; ich weiß nur nicht, warum mir das so seltsam ist. Und eigentlich, daß ich es nur bekenne: eigentlich fast unangenehm.«
Da nahm ihn der Meister am Ohr, zog ihn ein wenig und sprach: »Mit Recht! Denn es handelt von dir, und dich geht es an. Dich zuerst, Lieber!«
Dann fragte der Planet: »Also wäre Marsyas der Künstler? Ich kann aber noch nicht recht verstehen, wohin du willst. Denn was ist dann Apoll?« »Gleich«, sagte der Meister. »Nur ein wenig Geduld, eines hübsch nach dem andern. Also diese Geschichte, wie Athene ihr Gesicht vom Blasen verzerrt im Wasser erblickt, mögt ihr in den Fasten des Ovid nachlesen. Was sie aber bedeutet, sagt Plutarch heraus, im zweiten Kapitel des Alkibiades. Hier hören wir, wie dieser Knabe, als er in die Jahre kam, wo es an das Lernen geht, den anderen Lehrern gern gehorsam war, aber dem auf der Flöte sich entzog, weil er es für unedel und gemein hielt, sie zu spielen, da durch die Leier und den Kiel, übt man sie, nichts an der Haltung oder Gestalt verdorben werde, die einem freien Manne geziemen, wenn aber ein Mensch mit dem Mund in die Flöte bläst, das Gesicht sich so verziehe, daß es selbst für den vertrauten Freund kaum mehr zu erkennen sei. Auch könne man zur Leier singen und sagen, während die Flöte die Stimme verstopft und das Wort erstickt. Laßt darum die Söhne der Thebaner blasen, rief er aus, die nicht zu reden wissen: wir in Athen stammen von der Athene und dem Apoll, sie warf die Flöte weg, er schund den Flötisten! Solches, zum Spaß und doch halb im Ernst gesagt, lief unter den Knaben der Stadt herum, und bald stimmten alle dem Alkibiades zu, die Flöte zu verachten und ihre Schüler zu verhöhnen, wodurch sie denn, erzählt Plutarch, allmählich ganz aus den freien Künsten verfiel. Erinnern wir uns nun, daß doch derselbe Alkibiades seinen geliebten Sokrates mit dem Marsyas an Kunst vergleicht und die hohe Macht der Flöte ausdrücklich rühmt, so wird uns klar, daß durch jene Legende keineswegs ihre Musik getadelt oder verfemt werden soll, wohl aber der Musikant, der sie macht. Jene ist schön, aber um den Preis, daß dieser häßlich wird; was der Freie zu teuer findet. Erlaubt mir aber, euch ausdrücklich zu bemerken, daß ich ja jetzt nicht meine Meinung zu diesen Dingen sagen will, sondern die der Griechen. Wir denken, daß, wer ein Werk wirkt, das wir loben, auch selbst zu loben sei. Sie trennten das. Die Kunst galt ihnen viel, nicht der Künstler. Χαίροντες τω̃ εργω̃ του̃ δημιούργου καταφρονούμεν, sagt Plutarch: ›Wir schätzen ein Werk und verachten seinen Schöpfer.‹ Und er fährt fort, hört zu und paßt gut auf, ihr vernehmt hier den tiefsten Sinn der Griechen: ›Wie wir uns ja auch an Salben und Purpur erfreuen, deren Köche und Färber deswegen aber doch für uns gemeine Banausen bleiben.‹ Und ebenso, gleich darauf: ›Kein anständiger junger Mensch, der den Zeus in Pisa oder die Hera in Argos sieht, wird sich deshalb wünschen, ein Phidias oder Polyklet zu sein: denn wenn uns ein Werk angenehm und gefällig ist, braucht darum doch noch keineswegs sein Schöpfer unsere Nacheiferung zu verdienen.‹ So Plutarch im ersten und zweiten Kapitel seines Perikles, und ihm sagt es, fast auf das Wort, Lukian nach. Diesem seien, als er die Schule verließ und nun sein Vater mit den Freunden beriet, was aus ihm werden sollte, nach seiner Lust, Wachs zu kneten, geneigt, ihn zu einem Oheim zu geben, der ein tüchtiger Bildhauer war, da seien ihm im Traum zwei Frauen wunderlich erschienen, die eine, schmierig und struppig, die Kunst, die andere aber, welche sehr schön und von edler Haltung und feierlich gekleidet war, die Bildung; sie hätten um ihn gezankt, daß er fast von ihnen zerrissen worden wäre, die Bildung aber habe gesagt: ›Folgst du der Kunst, so wirst du stets ein unscheinbarer und bedrückter Mann sein, um den kein Freund wirbt, vor dem keinem Feind bangt, auf den kein Bürger blickt, nur so einer aus der Menge, der sich immer bücken muß und immer schmeicheln muß und immer Angst wie ein Hase hat; und würdest du selbst den Phidias erreichen oder den Polyklet und hättest die schönsten Werke getan, so lobt man zwar deine Kunst, nicht aber dich, und kein vernünftiger Mensch wird sich wünschen, so wie du zu sein. Was denn den Lukian auch wirklich bestimmt, die Kunst zu verlassen, um lieber zu werden, was wir jetzt einen Journalisten nennen würden. Ich aber möchte dich, mein Künstler, hören, wäre heute ein Journalist so kühn, einen solchen Traum zu haben.«
Die anderen lachten, aber der junge Künstler sagte, dringend und ungeduldig: »Nur erst weiter, laß höre, ich bin begierig.«
Der Meister nickte und sprach: »Ganz recht. Erst wollen wir alles vernehmen, was uns die Griechen darüber zu sagen haben. Da ist nun die Reihe an Aristoteles, der auch von der Athene Mißgeschick mit der Flöte weiß. Er meldet es im achten Buche der Politik, welches von der Erziehung handelt. Merkwürdig ist nun, wie er, der ja doch nirgends nach besonderen eigenen Gedanken, sondern überall bloß die geläufigen mittleren Meinungen der Gebildeten fast pedantisch darzulegen strebt, hier der Musik nur zögernd und als ob er Bedenken hätte, einen Wert für die geistige Bildung der Tugend zuzumessen sich erst allmählich entschließen kann. Erinnern wir uns, was sie noch dem Plato war, der sie für so wichtig hielt, daß er sich ihre Gesetze nicht geändert denken konnte als nur zugleich mit der gesamten Ordnung des Staates, was auch wieder nur aus jener über alles empfindlichen Nervosität der griechischen Ohren zu erklären ist. Bedenken wir dies, so will es uns wundern, wie mißtrauisch sich Aristoteles anfangs gegen sie stellt, als sei sie ›ohne einen ernsten Zweck‹ und nur etwa wie ›Schlaf und Wein‹ hinzunehmen, über welcher er den Euripides zitiert: sie sind ›angenehm und wiegen die Sorge im Schlummer‹; und so nennt er die Musik ein ›sehr großes Vergnügen‹, mit Recht gesellig angewandt, ›weil sie das Herz erfreut‹, und zählt sie den ›unschädlichen Freuden‹ zu, lobt die ›Erholung‹, die sie gewährt, und heißt sie dann wieder ›ein Vergnügen physischer Art‹ und drückt sich lange herum, bis er ihr zuletzt doch auch noch einen ›edleren Zweck‹ gibt, nämlich den: ›auf die Sittlichkeit und auf die Seele zu wirken‹. Als er nun aber endlich so weit ist, darum doch dem Unterricht im Musikalischen zuzustimmen, zweifelt er erst doch wieder, ob es ein Unterricht bloß im Genießen oder einer auch zur Ausübung der Musik zu sein habe, und läßt er diese schließlich zu, so doch nur aus recht verdächtigen Gründen, erstens nämlich, weil es schwierig sei, richtig zu schätzen, was man nicht selbst getrieben hat, zweitens aber, weil die Kinder eine Unterhaltung brauchen; darum, sagt er, hat ja auch Archytas die Klapper erfunden, die man den Kindern reicht, damit sie, mit ihr beschäftigt, im Hause nichts zerbrechen sollen, denn die Jugend kann keine Ruhe geben, und was also die Klapper für die Kleinen, mag für die Größeren die Musik sein; später, sind sie erst reif, geben sie es schon von selbst auf und üben sie nicht mehr aus, sondern hören ihr nur zu und haben so doch ihre Schönheit richtig genießen gelernt. Dies ist es offenbar allein, was auch ihm eines freien Mannes würdig scheint: die Kunst zu genießen, nicht sie auszuüben. Zeus singt ja auch nicht, sagt er ausdrücklich. Zeus spielt auch nicht die Zither, und wer dies tut, den halten wir für einen Banausen und, es zu tun, für unwürdig eines Mannes, es sei denn, daß er einen Rausch hat oder einen Spaß macht. Was er aber unter banausisch versteht, hat er schon früher einmal gesagt, nämlich jedes Werk, jede Kunst und Wissenschaft, welche den Leib oder die Seele oder den Geist der freien Männer untüchtig zur Tugend machen. Mit Maß, meint er, μέχρι τινός, bis zu einem gewissen Grade könne ein freier Mann manche der Künste und Wissenschaften schon treiben, nur nicht, dies sind seine Worte, nur nicht gründlich und genau. Weshalb er denn auch zuletzt ausdrücklich lobt, was aus den alten Zeiten von der Flöte überliefert wird. Athene, sagt er, die sie erfand, warf sie weg, und es ist hübsch, ου κακώς μὲν ου̃ν έχει, daß sie dies getan haben soll: erzürnt über die Verunstaltung ihres Gesichtes.«
»Nun müßte man aber«, warf hier der Grammatiker ein, »freilich erst noch zu erfahren trachten, ob es nicht am Ende bloß die Späteren sind, die, schon platonisch verdorben, solches über die Kunst dachten.«
»Nicht über die Kunst,« sagte der Meister, »nur über den Künstler, verwechselt mir das nicht: man schätzt die Kunst und verachtet den Künstler, weil er, um das Schöne zu schaffen, es nicht könne, ohne selbst häßlich dadurch zu werden. Das ist die Meinung, davon reden wir. Und da fällt mir ein, was uns neulich der Planet aus dem Herodot erzählte, erinnert ihr euch? von der schönen Agariste, der Tochter des Tyrannen Kleisthenes. Um sie warben viele, aber Hippokleides aus Athen, der dem prüfenden Vater mehr als alle anderen Freier gefiel, bekam sie dennoch nicht: denn er tanzte zu gut, besser als einem freien Manne geziemt. Womit doch auch wieder gewiß nicht der Tanz getadelt sein soll, den alle bewunderten, sondern was wohl auch wieder nur heißt, daß es unedel sei, mehr zu können, als sich mit der ruhigen Schönheit des Edlen verträgt. So Herodot. Wenn du aber, Planet, noch einen älteren Zeugen willst, so nimm Homer, wie bei dem Hephaistos, der κλυτοτέχνης der Vater der Kunst, erscheint: das rußige Ungetüm, lahm, plump auf dünnen Beinen, mit schwerem Nacken, von zottiger Brust. Hephaistos, der Künstler unter den Göttern, ist der einzige häßliche Gott, und noch auf der vatikanischen Herme, der wir die schöne Betrachtung Heinrich Brunns verdanken, sehen wir sein mächtiges Haupt mit der spitzen Mütze der Matrosen und Knechte bedeckt: der Künstler blieb für alle Zeit, selbst als Gott, ins gemeine Volk verwiesen.«
»Also doch!« rief jetzt der Künstler aus, unwillig erregt. »Willst du doch darauf hinaus! Mir war es schon lange verdächtig. Schon lange spüre ich, daß ihr in eurer radikalen Skepsis nun am Ende auch an der Kunst zu zweifeln beginnt. Aber was bleibt denn dann noch? Das trügerische Wort, das alles beweisen oder nach Belieben vernichten kann und in leeren Dunst zergeht. Möglich, daß die Griechen den Künstler verachteten. Wer aber hatte den Nutzen davon? Der Sophist. So weit wären wir nun also.«
»Wo ist deine schöne Ruhe hin?« fragte der Meister. »Du lachst uns sonst aus, wenn wir hitzig sind. Und ich habe doch nur versucht, ganz gelassen die griechische Meinung vorzubringen.«
»Laß sie mich lieber«, sagte der Arzt, »noch einmal wiederholen, ob wir dich auch recht verstanden haben. Im Zank des Apoll mit dem Marsyas den Sieg bewußter Kunst über das dumpfe Gefühl zu sehen, wie der Planet will, weigerst du dich, weil es ja gar nicht Marsyas ist, der die Flöte erfand, sondern die helle Athene, der wir doch, heißt es beim Aristoteles einmal, die Wissenschaft und die Kunst zuschreiben. Auch könne nicht gemeint sein, die Flöte hätte schlecht geklungen, dies hast du uns aus den alten Nachrichten widerlegt. Ferner scheint dir der Marsyas, sowohl des Reliefs wie der lateranischen Figur, keineswegs einer, der schwärmt und sich verzückt, sondern du siehst ihm an, wie ernst es ihm um die Kunst ist und wie er sich mit ihr plagt, mehr als er verträgt. Und dies erinnert dich an den Zorn der Athene, da sie durch die Mühe, die das Blasen macht, ihr reines Antlitz verzerrt sah. Auf den Aristoteles gestützt, gehst du nun bis zum Hephaistos hinauf, durch welchen schon die Griechen gesagt hätten, das Schöne hervorzubringen mache häßlich, weshalb es unwürdig eines freien Mannes sei.«
»Nein,« sagte der Sammler, »so wohl nicht. So kann es nicht gemeint sein. Ich wenigstens will den Meister anders verstanden haben. Apoll, der siegt, ist ja doch auch Künstler. Nicht also gegen diesen geht es, als ob, wie du gesagt hast, Schönes nur um den Preis, selbst dadurch häßlich zu werden, zu schaffen sei; nicht Kunst auszuüben, denn dies tut auch Apoll, wird getadelt, sondern nur ein besonderer Betrieb der Kunst, der des Marsyas, der auf der Flöte, nämlich der, welcher auf Kosten der Schönheit geschieht, während jener des Apoll mit der Zither, welcher des Künstlers Schönheit schont, gepriesen wird. Weshalb ich auch, lieber Künstler, gar nicht weiß, was dich so verdrießen mag. Es sei denn, daß du ein schlechtes Gewissen hast, das dich schilt, auch, indem du Schönes wirkst, an der eigenen Schönheit zu verlieren, auch du!«
»Ich bin Maler«, sagte der Künstler mürrisch. »Das schmutzt die Finger. Aber man wäscht sie.«
»Durch ungeduldigen Witz«, warnte der Meister, »wirst du mir nicht entkommen. Oder hättest du nicht bemerkt, daß es auch geistig gemeint sein könnte? Von Werken nämlich, welche das Gemüt des Künstlers verstören, so daß er um ebensoviel innere Schönheit, als sein Werk den Menschen bringt, ärmer zurückbleibt?«