Hermann Bahr
Leander
Hermann Bahr

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Das Käferl

Zum letzten Mal geht Fräulein Jeannette mit ihm aus. Zum letzten Mal! Sie kann es noch gar nicht fassen. Zum letzten Mal . . . und dann nie wieder . . . nie! Sie hat es ja wissen müssen. Sie wundert sich auch gar nicht; sie wehrt sich nicht – sie ist ganz still, sie wird nicht weinen; es muß ja sein . . . und sie hat es ja immer gewußt! Aber dann? Morgen! Wenn er weg sein wird! Weg . . . und nie wiedersehen . . . nie! Wie soll sie denn ohne ihn leben? . . . Und ihr wird ganz schwarz und sie ist wie betäubt und sie hat solche Angst.

Fräulein Jeannette ist eine kleine Schweizerin, seit vier Jahren als Gouvernante in Wien. Eines Tages ist sie durch den Volksgarten gegangen, da hat Paul sie gesehen. Paul hat sie angesprochen, sie ist beleidigt gewesen – und so weiter, die ewige Geschichte. Das ist jetzt gerade drei Jahre her. Paul hat in der letzten Zeit schon angefangen, es ein bißchen lange zu finden. Da hat er die Stelle in Bozen bekommen, als Konzipient bei einem Advokaten. Das ist ihm sehr angenehm. So löst sich die Sache von selbst. Und einmal muß es ja sein. Paul, ein sehr gescheiter Mensch und sehr korrekt, hat nämlich das Prinzip: Alles zu seiner Zeit! Zur rechten Zeit das Vergnügen, zur rechten Zeit die Arbeit. Zur rechten Zeit lieben und zur rechten Zeit heiraten. Aber nur nichts übertreiben. Drei Jahre ist gerade genug. Da kommt ihm denn das mit Bozen sehr gelegen. So löst sich die Sache von selbst. Er braucht nicht zu »brechen«. Das hat er nicht gern.

Unangenehn war ihm nur, es ihr zu sagen. Aber brieflich – nein, das hätte nicht gut ausgesehen. Er hat nämlich das Prinzip: nur ritterlich, nur immer männlich! Er ist also heroisch gewesen und hat es ihr gestern gesagt. Wer liebt, muß auch ein Opfer bringen können. Es ist übrigens besser gegangen, als er gedacht hatte. Sie hat nicht getobt, sie hat nicht geheult. Man merkt eben seine Erziehung an ihr. Er hat nämlich das Prinzip: nur keine Szene! Das weiß sie, und er muß sagen: Sie hat sich sehr gut gehalten. Keine Tränen, kein Geschrei. Nur ein bißchen blaß ist sie geworden. Und dann hat sie eine Bitte an ihn gehabt: Heute noch einmal mit ihr zu gehen, denselben Weg wie damals, als sie zum ersten Mal mit ihm ausgegangen ist, vor drei Jahren. Nun, er hätte sich das eigentlich lieber erspart. So ein langer Abschied, so ein letzter Tag – das war eigentlich wenig nach seinem Geschmack. Er ist nicht für solche Sachen. Er hat nämlich das Prinzip: nur keine unnütze Aufregung! Sie hat es sich indessen aber nicht ausreden lassen. Und er hat doch nicht gut nein sagen können. Schließlich bringt er eben das Opfer. Und so geht er denn noch einmal mit ihr, zum letzten Mal, denselben Weg, wie damals, vor drei Jahren.

Alles wie damals! Ganz genau! Das hat sie sich ausbedungen. Und sie gibt genau acht, Punkt für Punkt. Er hat sie in der Früh abholen müssen, sie sind nach Rodaun gefahren, sie haben beim Stelzer gegessen, Krebse und ein Roastbeef mit Sauce tartare – oh, sie weiß ja noch alles von damals: jeden Bissen, den sie damals gegessen, jedes Wort, das sie gesprochen haben. Und bei jedem Schritte fragt sie ihn wieder: Erinnerst du dich noch? Dabei hilft ihr noch der Zufall: es ist gerade so ein schöner Tag wie damals. Und nach dem Essen gehen sie wieder durch den Wald, gegen die Mühle hin, und sie hängt sich ein und rings ist es ganz still und es wird sehr heiß. Wie damals! Erinnerst du dich noch? Er findet das eigentlich recht kindisch. So mit sich selber Komödie spielen, die Komödie des eigenen Gestern! Er ist nicht fürs Erinnern, es kommt selten was heraus dabei. Aber was will er tun? Er muß ja noch froh sein, wenn sie nicht tragisch wird. Er hat ohnedies immer so ein gewisses Gefühl. Er traut ihr nicht.

Und sein Gefühl hat recht: sie wird tragisch. Plötzlich – mitten im Wald – ganz unvermutet, ohne Übergang. Sie ist eben noch ganz ruhig und heiter gewesen, auf einmal stößt sie ihren Schirm so heftig in die Erde, daß er abbricht, und fährt los. Er ist ganz erschrocken, er weiß gar nicht, was sie auf einmal hat. Aber sie ist jetzt nicht mehr zu halten. Die Worte überstürzen, übersprudeln, überschlagen sich. Warum? warum war das gerade ihr geschehen? Was hatte sie denn getan? Warum mußte gerade sie das Opfer sein? Tausende waren schlechter und wurden glücklich. Nur sie – warum sollte gerade sie das bißchen Glück gleich mit dem ganzen Leben bezahlen? War das gerecht? Oh, er sollte nur ruhig sein, er brauchte sich nicht zu fürchten! Sie verlange nichts von ihm, sie hatte es ja immer gewußt! Aber warum? Warum ist das so eingerichtet auf der Welt, daß die einen alles dürfen, und nichts ist ihnen verboten und alles geht ihnen gut aus, und die anderen – denen ist alles verwehrt und nichts wird ihnen gegönnt?! Was ist das für eine Gerechtigkeit? Was hatte sie denn getan? Man muß doch etwas getan haben, wenn man bestraft wird! Aber nein! Die einen werden unverdient belohnt, die anderen werden ohne Schuld gezüchtigt – man muß rein glauben; der Teufel herrscht in der Welt! Ja, der Teufel!

Sie hatte das alles in der aufregenden Art der Französinnen gesagt, die leicht gleich ins Deklamieren gerät. Dabei lehnt sie an einer Birke und zittert am ganzen Leibe und ist ganz bleich. In der Hand hat sie immer noch den Schirm mit der abgebrochenen Spitze.

Paul hebt die Spitze auf, nimmt ihr den Schirm weg und sieht den Bruch an. Ihm ist das sehr zuwider. Was hat denn das für einen Sinn? Und jeden Augenblick konnte wer kommen. Das auch noch! Was sollte man von ihnen denken? Er hat nämlich das Prinzip: nur nicht vor den Leuten!

»Was regst du dich denn auf?« sagte er. »Das hat doch gar keinen Zweck. Damit verderben wir uns nur den schönen Tag! Schau, wenn du willst, kannst du mir ja ein anderes Mal – oder du kannst mir das ja schreiben! Wir werden uns ja doch öfter schreiben. Gelt? Sei vernünftig!« Und er will sie zärtlich am Kinn nehmen. Sie macht sich los und geht. Sie beißt sich auf die Lippen und wirft den Kopf zurück. Dann sagt sie, wieder ganz ruhig, nur ein bißchen müde: »Du hast recht, ich bin dumm! Verzeih! Komm!« Und sie nimmt den Schirm, nimmt die Spitze, wirft sie in die Luft, fängt sie mit ihren langen, dünnen Fingern auf und trällert leise dazu. Er folgt ihr. Bald verstummt sie. Sie gehen schweigend. Sie kommen aus dem Walde, über den Bach, in die Sonne. Drüben steigt ein schmaler Weg steil an. Sie geht voraus. Plötzlich schreit sie leise auf. Er sieht sie erschrecken und gleiten, er springt hin und fängt sie noch. »Was ist denn?« fragt er leicht besorgt, etwas ungeduldig. »Was hast du denn schon wieder?« Sie kann noch gar nicht reden, sie zeigt nur mit der Hand ganz entsetzt: »Da!« Er sieht nichts. »Aber was denn?« Sie blickt scheu hin. Und ganz leise, atemlos: »Schau nur! Das gräßliche Tier!«

Er muß lachen. Er hat es jetzt gesehen. Es ist ein Käfer, ein kleiner, dicker Käfer, der über den Weg kriecht. Der Käfer hat sich aus Erde und Staub eine große Kugel gemacht, die stößt er mit dem Kopfe vor sich her und plagt sich und wälzt sie gegen den Rand des Weges hin.

»Aber geh«, sagt er, »wie kann man denn so ungeschickt sein! Schau dir das arme Käferl doch an! Schau, wie es schwitzt! Das wird dich nicht beißen. No, so komm doch her!«

Sie zögert noch immer, die Hände mit Abscheu ausgestreckt, aber er faßt sie, zieht sie hin, und wie sie jetzt das dicke Käferl in der Nähe sieht, muß sie selber lachen. »Ich bin nur so erschrocken«, entschuldigt sie sich. »Zuerst schaut man aber doch«, sagt er. »Das Käferl da ist ja froh, wenn es selbst das Leben hat. Schau nur, wie es schleppt!« Und sie betrachten jetzt beide das Käferl, das die große Kugel wälzt. Das ist nicht leicht. Gegen den Rand hin ist es da nämlich uneben und das Käferl muß ordentlich antauchen. »Das ist offenbar ein Käferl«, erklärt Paul, »das sich eine Villa bauen will, weißt? Das da, was es da schleppt, das ist offenbar das Hochparterre. Verstehst? Aber jetzt! Da schau – jetzt wird es wild! Ah, da hört sich doch alles auf, was so ein Käferl für Ideen hat!« In diesem Augenblick gibt nämlich das Käferl der Kugel einen Stoß, daß sie rollt. »Sehr gescheit!« sagt Paul. Und das Käferl rennt der Kugel nach. Aber das Käferl hat vergessen, daß da ein kleiner Stein ist – an den Stein stoßt die Kugel an, prallt ab und liegt wieder unten. Das Käferl dreht sich um und schaut. »Ja, mein Herr«, sagt Paul, »das kommt davon, wenn man es sich gar zu bequem machen will! Jetzt bin ich neugierig.« Aber das Käferl ist beharrlich, beutelt sich ab, kehrt um, kriecht herab, packt wieder an und beginnt wieder zu schieben. »Das nennt man Charakter«, sagt Paul. »Es ist doch interessant, da sieht man deutlich, es weiß ganz genau, wohin es will. Es hat sich da oben offenbar einen sehr guten Bauplatz gekauft! Aber, mein Käferl, mir scheint, du stellst dir das auch leichter vor, als es ist. Da wirst du noch gehörig antauchen müssen!« Je höher das Käferl kommt, desto schwerer wird nämlich die Geschichte, weil da Steine und Stauden und die schrecklichsten Gefahren sind. Aber das Käferl gibt nicht nach, läßt die Kugel nicht mehr aus und stoßt und schiebt und pufft, bis sie wirklich oben ist – da hält es an, da legt es sie hin, unter ein paar Gräser, und stellt sich daneben und rastet sich aus. »Aha«, sagt Paul, »also da ist der Platz! Das Käferl ist ganz schlau: da hat es eine schöne Aussicht und Schatten ist auch, von den Gräsern! Mein Käferl, du bist ein Lebemann, du kennst dich aus! Und schau nur, wie vergnügt es jetzt dasteht, ganz stolz! Da sieht man halt gleich, was ein Hausherr ist! Aber wart nur! Du sollst das Leben erst kennenlernen – denn das Schicksal schreitet schnell!« Und Paul läßt Jeannetten los, macht behutsam einen Schritt hin und hebt leise seinen schmalen, dünnen Stock. »Jetzt paß auf«, sagt er. »Jetzt kommt die Katastrophe. Jetzt werden wir sehen, wie es sich benehmen wird!« Und er nähert sich ein wenig, neigt sich behutsam vor und gibt der Kugel mit dem Stock einen ganz kleinen Puff – die Kugel springt, rollt und liegt wieder unten, weg von den Gräsern, unten in der Sonne. »Ja, da schaust«, sagt Paul triumphierend. »So ist das Leben!« Aber das Käferl ist nicht faul, rennt der Kugel nach, packt sie an, dreht sie um und taucht, bis es sie wieder oben in den Gräsern hat. Aber jetzt ist es schon klüger geworden, jetzt kratzt es die Erde auf, ein ganzes Loch, und legt dann die Kugel behutsam hinein, wie in ein Bett, und stellt sich in seiner ganzen Breite vor sie hin, wie ein Wächter. Und da wird Paul bös, weil Jeannette lacht. Das läßt er sich nicht gefallen, daß das Käferl recht behalten soll. »Glaubst du«, sagt er höhnisch und stupst wieder mit dem Stock an die Kugel. Aber Jeannette will nicht mehr. »Geh, laß es jetzt schon«, sagt sie. »Komm!« Und sie will gehen. Aber Paul ruft ihr nach: »Noch einen Moment! Bleib da! ich muß dir noch was zeigen.« Sie wendet sich um und sieht ihn an. Er lacht leise. Sie kennt dieses Lachen. Er hat es manchmal, und es steht ihm sehr gut. Er zeigt dabei seine großen weißen Zähne, und das frische Gesicht bekommt einen spöttischen, fast ein wenig grausamen Zug. Sie mag das aber nicht: denn meistens sagt er dann etwas, das ihr weh tut. »Komm doch schon«, sagt sie. Aber er tritt zu ihr, hängt sich ein und sagt, indem er auf das Käferl zeigt, auf das arme Käferl, das sich jetzt wieder in der Sonne plagen muß: »Was glaubst du, was denkt sich das Käferl jetzt? Es ist doch offenbar ein gebildetes Käferl, das sieht man an allem. Es baut sich eine Villa, es gehört also der besitzenden Klasse an, es hat also gewiß eine gute Erziehung genossen, es hat gewiß eine Menge gelernt, es hat sich gewiß eine geschlossene Weltanschauung erworben. Ja – und jetzt steht es da mit der Weltanschauung! Jetzt muß es an der ganzen Philosophie doch verzweifeln! Nicht? Jetzt muß es sich doch sagen: »Wie ist das, wie geht das zu? Woher kommt das? Da gibt's andere Käferln, die sind faul, die liegen irgendwo im Schatten, unter einem Gras, und pflegen sich und tun gar nichts. Ich aber, ein braves Käferl, ein wahres Muster von einem Käferl, das in der Sonne schwitzt und sich plagt – ich werd vom Schicksal so behandelt! Warum? Warum gerade ich? Ist das gerecht? Warum ist das so eingerichtet auf der Welt, daß manchen Käferln alles glückt – und andere Käferln sollen sich nicht einmal eine Villa bauen?« Und wenn das Käferl bisher fromm gewesen ist, so wird es jetzt ein Atheist oder es sagt gar: Die Welt regiert der Teufel, und will vom lieben Gott nichts mehr hören, weil das keine Gerechtigkeit ist! Der liebe Gott kann aber doch gar nichts dafür, der liebe Gott ist so weit weg vom Käferl! Und wenn das Käferl glaubt, daß ich der Teufel bin – aber Käferl! Ich hab dir ja gar nichts getan! Hab ich das Käferl quälen wollen? Ich hab bloß sehen wollen, wie es sich benehmen wird! Und ich hab halt ein bißl mit ihm gespielt! Wenn aber das Käferl deswegen jetzt gleich ein Bösewicht wird, dann ist es sehr dumm. Geduld muß ein Käferl haben. Geduld!«

Jeannette hat den Blick gesenkt. Jetzt sagt sie traurig, langsam, mit einem leisen Vorwurf: »Paul, du meinst . . .«

»Ich mein gar nichts«, sagt er kurz. »Ich habe nämlich das Prinzip: nur nicht dozieren, nur keine guten Lehren! Ich sage nur: wenn ein Käferl gescheit ist, fragt es nie, warum. Davon hat man gar nichts. Und ein gescheites Käferl hadert auch nicht gleich mit dem lieben Gott und wird nicht gleich bös auf das Schicksal, sondern es denkt sich: Aha, jetzt spielt sich das Schicksal wieder einmal ein bißl mit mir, weil es sehen will, wie ich mich benehme; ich sitze ihm aber nicht auf, ich warte es ab, es wird schon wieder aufhören!«

Sie stehen noch immer in der Sonne, Jeannette und Paul; und unten kriecht das Käferl. Da legt er den Arm auf sie und zieht sie fort: »Komm, Käferl! Wir wälzen halt alle unsere Kugel – und keiner weiß, was ihm passiert, und keiner weiß, warum. Die Hauptsache ist, daß man sich gut benimmt dabei.« Und er lacht; ihr aber ist zum Weinen.

 


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