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»Das einzige« – fuhr der Erzähler fort –, »was Leben, Begierden, starke Wallungen in die stille Stadt brachte, war das Glücksspiel, die letzte Leidenschaft verbrauchter Seelen. Das ›Jeu‹ war die große Sache unter diesen altmodischen Edelleuten, die sich einbildeten, als Grandseigneurs zu leben, während sie wie blinde alte Weiber dahinsiechten. Sie waren vom Spielteufel besessen wie die alten Normannen, die Eroberer Englands.
Ihr Lieblingsspiel war das Whist, wohl darum, weil sein Wesen schweigsam und gemessen ist wie die Diplomatie der alten Zeit. Auch kam ihre Engländerei dabei zum Ausdruck. Dies Spiel mußte die bodenlose Leere ihrer faden Tage ausfüllen. Sie spielten alle Abend nach der Hauptmahlzeit bis zwölf oder ein Uhr. In den Augen der biederen Bürger waren so lange Sitzungen etwas Wüstes.
Am berühmtesten waren die Spielabende beim Marquis von Saint-Alban. Dieser Edelmann war gewissermaßen das Oberhaupt aller Adeligen. Man zollte ihm die höchste Achtung und Rücksicht. Er war ein Meister im Whist. Mit wem hatte er in seinem langen Leben nicht gespielt? Er war neunundsiebzig Jahre alt. Maurepas, der Graf von Artois, der Fürst von Polignac, der Kardinal Ludwig von Rohan. Cagliostro, Fox, Dundas, Sheridan, der Prinz von Wales, Talleyrand, vielleicht der Teufel selber hatten mit ihm am Spieltisch gesessen. Er war jedem Partner gewachsen. Jetzt fand er unter den Engländern ebenbürtige Gegner.
Eines Abends spielte man im Hause der Frau von Beaumont. Man erwartete einen Mister Hartford, der sich am berühmten Tisch des Marquis betätigen sollte. Dieser Gast besaß eine Baumwollspinnerei in Pont-aux-Arches, beiläufig gesagt, eine der ersten in der Normandie, diesem Lande, das allen neuen Dingen unzugänglich ist, weniger wegen der Dummheit und Schwerfälligkeit der Bevölkerung, vielmehr zufolge ihrer Vorsicht, des Grundzuges der normannischen Rasse. Die Menschen der Normandie gleichen den Füchsen, die, wenn sie übers Eis laufen, ihre Pfoten nur dorthin setzen, wo es fest ist.
Besagter Hartford – wie ihn die Jugend kurzweg nannte –, ein Fünfziger mit silberschimmerndem kurzgeschorenem Haar, das wie eine seidene Mütze aussah, ward vom Marquis sehr geschätzt. Kein Wunder, denn er war ein großartiger Spieler, der eigentlich nur lebte, wenn er die Karten in der Hand hielt. Er behauptete, das größte Glück sei, im Spiel zu gewinnen, das zweitgrößte, im Spiel zu verlieren. Ein prächtiger Ausspruch, den er von Sheridan hatte; aber diese Entlehnung verzieh man ihm, weil er das Wort so glänzend zur Tat machte. Übrigens besaß er, abgesehen von dem Laster des Spiels – in Hochschätzung dessen ihm der Marquis die hervorragendsten Tugenden nachgesehen hätte –, alle die Pharisäereigenschaften, die man in England mit dem handlichen Sammelnamen Honorability bezeichnet. Er galt als Gentleman ohne Tadel. Der Marquis nahm ihn öfters auf Wochen mit nach seinem Schloß, dem ›Vanillenhof‹, und in der Stadt kam er alle Abende mit ihm zusammen.
An diesem Abend verspätete sich der sonst peinlich pünktliche Hartford zur Verwunderung der ganzen Gesellschaft, vor allem des Marquis. Es war im August. Durch die offenen Fenster blickte man hinaus nach einem herrlichen Garten, wie ihn nur eine Landstadt haben kann. Die jungen Damen saßen beisammen in den Fensternischen und plauderten über ihren Stickereien. Der Marquis hatte sich bereits am Spieltisch niedergelassen, die dichten weißen Brauen gerunzelt, die Ellbogen aufgestützt. Sein herrisches Antlitz, das in seiner Würde dem Ludwigs des Vierzehnten glich, zumal im Unmut darüber, daß man ihn warten ließ, ruhte auf seinen greisenhaft schönen Händen.
Endlich meldete der Diener Herrn Hartford. Er erschien, tadellos wie immer gekleidet, in blendend weißer Wäsche, Ringe an allen Fingern (was damals nicht als unvornehm galt), ein Taschentuch aus indischer Seide in der Hand, ein duftendes Kügelchen im Mund, um den Nachhaucht der Anschovenpaste, der Harveytunke und des Portweins zu tilgen.
Er kam aber nicht allein. Er begrüßte den Marquis und stellte ihm – wie zur Abwehr jedweden Vorwurfs – einen seiner Freunde vor, einen Schotten, Herrn Marmor von Karkoël, der ihm (so berichtete er) wie eine Bombe gerade bei Tisch ins Haus geflogen wäre. Nebenbei bemerkt, sei er der beste Whistspieler der drei Königreiche.
Diese Empfehlung entlockte den fahlen Lippen des Marquis ein liebenswürdiges Lächeln. Alsbald war die Partie im Gange. In seinem Eifer vergaß Karkoël seine Handschuhe auszuziehen, die in ihrer Vollkommenheit an die berühmten Handschuhe Brummells erinnerten, die bekanntlich von drei besonderen Handwerkern hergestellt wurden, zweien für die Finger und einem für die Daumen. Der Schotte war der Partner des Marquis. Die verwitwete Gräfin von Hautcardon hatte ihm diesen Platz überlassen, der sonst der ihre war.
Dieser Herr von Karkoël, meine Damen, war nach seiner Erscheinung ein Mann von etwa achtundzwanzig Jahren. Aber die Tropensonne, mir unbekannte Überanstrengungen, vielleicht auch Leidenschaften, hatten seinem Gesicht das Gepräge eines Fünfunddreißigjährigen aufgedrückt. Es war nicht schön, aber ausdrucksvoll. Sein schwarzes starkes Haar war aufrecht gebürstet und ziemlich kurz geschnitten. Merkwürdig oft fuhr er mit der Hand über die Schläfen und strich es zurück. Diese Bewegung war ungemein, aber auch unheimlich beredt. Man hatte die Empfindung, als wolle er einen reuevollen Gedanken verscheuchen. Dies fiel einem im ersten Augenblick auf, und wie alles Geheimnisvolle immer wieder. Ich bin mehrere Jahre lang viel mit diesem Karkoël zusammengekommen, und ich muß sagen: diese düstere Geste, die er wohl zehnmal in der Stunde wiederholte, erweckte bei jedermann stets den nämlichen Gedanken. Seine regelmäßig geformte, aber niedrige Stirn verriet Verwegenheit, und die Unbeweglichkeit seiner Oberlippe hätte Lavater in Verzweiflung gebracht, der bekanntlich behauptet, in den beweglichen Linien des Mundes eines Menschen ständen seine verborgenen Gedanken besser zu lesen als im Ausdruck seiner Augen. Er trug keinerlei Bart. Wenn er lächelte, tat er es, ohne daß seine Blicke daran teilnahmen, und es zeigte sich der Perlenglanz seiner Zähne. Sein Gesicht war länglich, in den Wangen eingefallen, von der matten Farbe der Olive, aber durchglüht von der Sonne, und zwar von einer feurigeren als der des Nebellandes. Seine lange gerade Nase trat zwischen zwei schwarzen Macbethaugen hervor, die überaus finster und unverhältnismäßig eng aneinandergerückt waren, was ein Zeichen von seelischer Ungeheuerlichkeit oder Geisteskrankheit sein soll. Er war erlesen gekleidet. Wie er in seiner nachlässigen Haltung am Spieltisch saß, erschien er nicht so klein wie vordem stehend, was daher kam, daß sein Oberkörper im Vergleich zu seiner ganzen Gestalt zu lang war. Abgesehen von diesem Fehler war er gut gebaut und, ich möchte sagen, tigerhaft-geschmeidig in seinen samtnen Bewegungen. Was schließlich sein Französisch anbelangt, überhaupt seine Sprechweise, so weiß ich heute nicht mehr, ob seine Stimme (der goldene Griffel, mit dem wir unsern Willen in die Herzen unserer Zuhörer eingraben, um sie zu verführen) im Einklang stand mit der schon geschilderten häufigen Gebärde der Hand nach dem Kopf. Eines ist mir nur noch erinnerlich. An jenem Abend klangen seine Worte kein bißchen schauerlich. Was er sagte, hatte keine besondere Betonung. Er sprach nichts als die beim Whist nötigen Worte, die in gleichmäßigen Abständen in die weihevolle Stille des Spiels fielen.
Außer seinen Spielgenossen schenkte keiner der zahlreichen im geräumigen Salon Anwesenden dem hereingeschneiten Whistspieler Beachtung. Die Gegenwart eines Engländers war ja nichts Auffälliges. Die jungen Mädchen wandten nicht einmal den Kopf nach ihm. Sie waren der immer wieder auftauchenden Ausländer längst überdrüssig, da sie doch allesamt nichts als die Karten im Kopf hatten. Selbst die Spieler an den anderen Tischen hatten ihm nur bei seiner Ankunft einen flüchtigen Blick gegönnt und sich alsbald, kopfüber wie Schwäne auf dem Teich, von neuem in ihren Whist versenkt.
Zwischen dem Marquis von Saint-Alban und Herrn Hartford, dem neuen Spieler gegenüber, hatte die verwitwete Gräfin von Tremblay-Stasseville ihren Platz, während ihre Tochter Hermine, die holdeste Blume im Kranz der jungen Mädchen in den Fensternischen, mit Fräulein Ernestine von Beaumont plauderte. Nach der Mutter schauend, fiel ihr Blick auch auf den Schotten.
»Sieh einmal, Ernestine«, sagte sie leise zu ihrer Freundin, »wie dieser Mensch die Karten gibt!«
Karkoël hatte inzwischen seine Handschuhe abgestreift und verteilte mit seinen aus ihrer parfümierten Gemslederhülle befreiten weißen wohlgeformten Händen (mit denen eine Mondäne, wenn sie sie besessen hätte, sich selbst vergöttert hätte) die Karten, jede einzeln, wie dies beim Whist Vorschrift ist, und zwar mit wirklich unheimlicher Gewandtheit, die man bewundern mußte wie die Finger Liszts. Einer, der mit solcher Fingergeschwindigkeit die Karten gibt, ist unbedingt ihr Meister. Ein so vielsagendes Geschick erwirbt man sich nur, wenn man zehn Jahre lang in Spielhöllen verkehrt hat.
›Ein Handwerk‹, meinte Ernestine in verächtlichem Ton, ›das ich nicht comme il faut finde.‹
Comme il faut sein war der hochmütigen jungen Dame das höchste. Es galt ihr mehr als noch so geistreich sein. Sie hatte ihren Beruf verfehlt, diese Ernestine von Beaumont; und ich glaube, sie ist vor Herzeleid gestorben, weil sie nicht die Camerera major der Königin von Spanien geworden ist.
Fabelhaft wie sein Kartengeben war Karkoëls Spiel. Er zeigte darin eine derartige Meisterschaft, daß der alte Marquis vor Vergnügen berauscht war. Mit einem solchen Partner hatte er sich seit langem nicht gemessen. Jede Art Überlegenheit ist Verführung. Wer sie besitzt und wirken läßt, zieht sein Opfer unwiderstehlich in seinen Bann. Mehr noch! Ein solcher Verführer macht auch andere fruchtbar. Man denke an die großen Plauderkünstler! Sie reden und säen zugleich die Gegenrede aus. Wenn sie zu sprechen aufhören, fallen die Dummköpfe, beraubt des Schimmers, der sie vergoldete, matt in den flachen Strom der Unterhaltung zurück, wo sie wie tote Fische schwimmen, den schuppenlosen Bauch nach oben. Karkoël aber regte diesen Mann, dem das Leben keine Reize mehr bot, nicht nur an. Er steigerte die Hochschätzung, die sein Gegenspieler von sich selber hegte, indem er dem feinlinigen Obelisken, den sich dieser ›König des Whistes‹ schon längst in der verschwiegenen Einsamkeit seines Dünkels erbaut hatte, noch eine Krone aufsetzte.
Trotz der Erregung, die ihn verjüngte, beobachtete der Marquis den Fremden während des Spiels aus den Winkeln seiner Krähenfüße – so nennen wir unverschämterweise das Brandmal, das uns die freche Klaue der Zeit in die Gesichter schlägt! –, die seine geistfunkelnden Augen zügelten. Der Schotte konnte nur von einem ganz hervorragenden Spieler gewürdigt, geschätzt und genossen werden. Er besaß jene tiefe nachdenkliche Aufmerksamkeit, die während der Wechselfälle des Spiels über Berechnungen grübelt, sie aber mit prächtiger Unerschütterlichkeit verschleiert. Neben ihm hätten sich im Flugsand der Wüste kauernde Sphinxe wie Sinnbilder der Redseligkeit ausgenommen. Er spielte, als habe er drei Paar Hände zur Verfügung, die ihm wie von selbst die Karten hielten.
Die letzten Lüftchen des Augustabends trugen leisen Duft zu den bloßen Köpfen der dreißig jungen Mädchen, um beladen mit neuem Wohlgeruch und dem Balsam der Jungfräulichkeit von den leuchtenden Scheiteln zurückzuwallen und schließlich an jener bronzenen breiten niedrigen Stirn, dieser Klippe aus lebendigem Marmor, hängenzubleiben. Karkoël spürte es nicht. Seine Nerven waren stumm. In diesem Augenblick mußte man ihm zugestehen, daß er den Namen Marmor mit vollem Recht trug. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß er der Gewinner war.
Der Marquis zog sich stets gegen Mitternacht zurück. ›Er ist wirklich der König der Karten, dieser Karkoël!‹ sagte er voll Begeisterung, noch immer überrascht, zu Hartford, der ihn ehrerbietigst an seinen Wagen geleitete, nachdem er ihm den Arm geboten hatte. ›Sorgen Sie dafür, daß er uns nicht sobald wieder verläßt.‹
Der Engländer versprach es, und der alte Edelmann nahm sich, seinen Jahren und seinem Geschlecht zum Trotz vor, dem schottischen Odysseus gegenüber die Rolle der gastfreundlichen Sirene zu spielen.