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Zwischenakt

In diesem zweiten Frühjahr seines Wiener Aufenthaltes sagte der Major Zeller vom Feldmarschalleutnant Baron Winkler von Edeltreu zum ersten Male, was er dann noch oft und oft zu äußern pflegte: er hätte zweiunddreißig Jahre der Firma Habsburg und Lothringen gedient, die sechshundertunddreißig Jahre bestanden hätte, und dann elf Monate der Firma Groß und Co., die es nur auf zwei Jahre brachte. Und nun wäre er wieder ohne Stellung.

Tatsächlich löste sich die Unternehmung des Herrn Groß unter der Einwirkung der in diesem Frühjahr etwas rauhen Mailuft wieder auf und brach in sich zusammen. Herr Groß hatte zwar den Petroleumkonzern unter starker Beteiligung des Auslandskapitals zustande gebracht; als es aber dann zum Einzahlen kam, waren gewisse Aktienpakete der Gesellschafter plötzlich unauffindbar. Andere erwiesen sich als Nonvaleurs, obwohl die Besitzer offenbar große Stücke auf sie hielten und sich nur schwer von ihnen trennten. Ausfuhrbewilligungen waren nicht zu haben; Bestechungsgelder stiegen bei sinkendem Geldkurs ins ungemessene; Petroleumzölle drohten, die Monopolisierung des Erdöls drohte und schüchterte die ohnehin ängstlichen Teilhaber ein, mit ihrer Einlage herauszurücken; Briefe gingen verloren, Kassaschlüssel waren unauffindbar, Eisenbahnzüge kamen nicht an oder entgleisten, unglücklicherweise gerade jene, die die erwarteten Lei, Lewas oder Pfunde nach Wien hätten bringen sollen. Aber der Zins mußte bezahlt werden, die Gehälter mußten bezahlt werden; die Vermögensteuer wurde abgezogen. Herr Groß, als ein ehrlicher Mann, zahlte, daß er, wie er sich malerisch ausdrückte: »schwarz wurde«. Hierauf übersiedelte er nach Krakau. Und wie Melusine nach ihren trüben irdischen Erfahrungen in ihr freundlich Element, kehrte er am Ende zum Schmalz zurück, aus dem er so verheißungsvoll emporgestiegen war.

Baron Winkler war zum zweiten Male brotlos, und da man sich für die Kriegsanleihe so wenig wie für den Titel Karpatenleonidas kaufen konnte, so blieb demjenigen, der ihn führte, nichts anderes übrig, als noch einmal beim Kommerz seine Zuflucht zu suchen.

Er tat es in entgegengesetzter Richtung als das erstemal; das Erlebnis Blechinger-Huber wirkte nach. Diesmal hatte er die übeln Erfahrungen mit der Gruppe Blechinger gemacht, also wandte er sich um so entschlossener nun wieder der Partei Huber zu.

Prinz Waldperg, genannt der Saldakontist, gründete eine Bank. Die Präsidentenstelle war ihm zugesichert, ein Generaldirektor bald gefunden, ein Direktionsrat rasch gebildet, dem einige der klingendsten Namen des alten Österreich angehörten. Nebstdem gelang es, eine Flucht von Zimmern in einem ehemaligen Ministerium zu sichern und eine ehemalige Erzherzogin zu einer größeren Einlage zu bewegen. Somit zweifelte niemand mehr an der glänzenden Zukunft des so verheißungsvoll aufgebauten Unternehmens.

Der Feldmarschalleutnant zögerte trotzdem, sich dem Aufsichtsrat anzuschließen. Er verstand von Bankgeschäften so viel wie gar nichts; auch hatte er, der als Offizier ein Menschenkenner war, von dem Generaldirektor sofort den Eindruck eines Schwadroneurs. Als aber Herr Frank-Luschmann – so hieß der Generaldirektor – in einem allgemeinen Gespräch, das sie bereits in der Wohnung des Feldmarschalleutnants führten, in heilloser Weise über die Sozialisten zu schimpfen begann, änderte der General seine Meinung. Da Frank-Luschmann über die Sozialisten herzog und alle Hoffnung auf eine Rückkehr des Kaisers nach Ungarn setzte, mußte er doch wohl ein Ehrenmann sein.

Winkler trat also, obwohl über den Unterschied von Repost- und Lombardgeschäft keineswegs hinlänglich aufgeklärt, dem Vorstand bei und leistete auch gleich eine größere Einlage, in Kriegsanleihe natürlich, da er ja nichts anderes besaß. Er wollte die Stücke persönlich in die Bank tragen; aber der Generaldirektor beruhigte ihn und sagte zuvorkommend: »Das hat Zeit, Exzellenz! Das hat Zeit! Die Hauptsache ist mir Ihr Name!«

Das war überhaupt ein Grundsatz des neuen Generaldirektors; er hielt etwas auf Äußerlichkeiten, zumal auf Namen. Seinem dekorativen Sinn, der auch in der schönen Mahagonieinrichtung seines Büros zum Ausdruck kam, entsprach eine selbstherrliche Art, die Geschäfte anzufassen und zu erledigen.

Berühmt wurde einer seiner Aussprüche, den die Beamten einander zutrugen und der das innerste Wesen des gewinnenden Mannes kennzeichnete. Eines Tages nämlich, bei Vorbereitung der ersten Halbjahresbilanz, hatte der Oberbuchhalter bescheidene Einwendungen gemacht gegen eine von Frank-Luschmann verfügte eigenmächtige Aufwertung gewisser Papiere: es erschiene ihm untunlich, einen anderen Kurs als den amtlichen Börsenkurs anzusetzen. Worauf ihm der hohe Herr, mahagonirot vor Zorn im Gesicht, bedeutete, daß er bezahlt werde, um zu gehorchen, und, die Tür öffnend, den Rebellen mit den Worten hinausschob: »Bei uns gibt's noch keine Republik! Bei uns ist noch die Monarchie!«

Daß einem Mann von solchen Grundsätzen, der noch dazu ein, wie erfahrene Bankdirektoren sagten, »Herzensdieb« war, niemand »Nein« sagen konnte, war klar, und auch Baron Weidenau, der überhaupt ein schwacher Neinsager war, brachte es nicht zuwege. Der Generaldirektor machte ihm nicht einen so ernsthaften Antrag wie dem Baron Winkler; aber er ließ deutlich durchblicken, daß ihm die Mitarbeit des Sohnes eines ehemaligen Handelsministers, der in den besten Kreisen Zutritt hatte und – was er nicht aussprach – mit reichen Frauen befreundet war, wohl erwünscht wäre. Auch würde sich, gab er zu verstehen, eine passende Form wohl finden. Remisier, sagte er, könne jeder werden, der gute Beziehungen und Manieren hätte, in England wären das die elegantesten Herren der Gesellschaft – ja, wenn man Herrn Frank-Luschmann Glauben schenken durfte, war England eigentlich eine Nation von Remisiers. Davon freilich war Weidenau nicht ganz durchdrungen, allein er brauchte Geld und in zunehmendem Maße. Bei der örtlichen Trennung von seiner Familie, die mit Rücksicht auf die Ernährung der Kinder und auch aus anderen Gründen im letzten Kriegsjahr erfolgt war, hatte er auf den Ertrag von Groslowitz, der übrigens nicht üppig war, verzichtet. Durch Börsenspekulationen hatte er wohl einiges verdient; indessen, wenn die Gewinnste eingingen, waren sie entwertet, und die Papiere waren es gleichfalls. Wie diesem Verdunstungsprozeß Einhalt tun? Der Teekoster unterbrach sich oft mitten in seinen Selbstanalysen, um, ohne Rücksicht auf den »eingeklemmten Affekt«, an dem er würgte, hierüber nachzudenken. Aber es fiel ihm nichts Gescheites ein. Da kam Herr Frank-Luschmann und gab zu erkennen, daß es auch anders ging. Vielleicht hat er recht, dachte Weidenau, vielleicht ist dies das Zeitalter der Remisiers. Und er machte mit dem verführerischen Generaldirektor für den nächsten Nachmittag eine Zusammenkunft aus, um ein fixiertes Abkommen mit der von diesem geleiteten »Deva«-Bank (»Devisen- und Valutenbank«) in den Grundzügen zu besprechen.

Am selben Tage lud ihn die Baronin Lodersdorf telefonisch zum Tee ein. Sie entzog sich ihm seit Monaten auf die geschickteste Weise, und auch diese Einladung für denselben Nachmittag war, wie Weidenau mit sicherem Fingerspitzengefühl herausspürte, ein neuer Versuch in dieser Richtung; denn sie mußte annehmen, daß ein beschäftigter Teegast wie er bereits vergeben war. Doch hätte sie im Falle seiner Absage das Ihrige getan gehabt und ihm wieder monatelang vorhalten können: »Wer kann dafür, wenn Sie nie Zeit haben!« Allein Weidenau tat ihr diesen Gefallen mitnichten. Er sagte zwar, aus Politik, daß er nicht mehr frei wäre, fügte aber, noch bevor die Baronin es bedauern konnte, hinzu, daß er sich frei machen wolle. Auch tat er dies wirklich, indem er nämlich dem Generaldirektor ohne nähere Begründung mitteilen ließ, daß er am Nachmittag zu seinem allergrößten Bedauern verhindert wäre. »Schließlich«, sagte er sich, »ich muß ja nicht Remisier werden!«

Und er trug sein heißes Teeherz unternehmend zur Baronin Lodersdorf.

 

Weidenau litt seit zwei Jahren an jener seelischen Verschüttung, die er, ein wenig frei, aber im Geiste der Psychoanalyse, seinen »eingeklemmten Affekt« nannte. Er vergällte ihm alle Lust an der Liebe und bewirkte, daß er die Frauen mied bis auf eine, die nichts von ihm wissen wollte.

An diesem Nachmittag faßte er zum ersten Male wieder ein wenig Mut. Aber wie sehr täuschte er sich, wenn er sich von seinem Besuch eine Klärung der, wie es schien, nur für ihn noch unklaren Angelegenheit erhofft hatte. Zwar empfing ihn seine Teefreundin mit ausgesuchtem adeligen Anstand. Sie sah reizend aus in ihrem haselnußbraunen Frühlingskleid, dessen Farbe sie, ebenso wie fast alle anderen Farben: Rot, Blau, Gelb, Grün und Violett, ganz besonders gut kleidete. Sie lachte schon beim zweiten Wort, drehte »die elektrische Beleuchtung auf«, ging geschmeidig um den Teetisch herum, sorgte schwesterlich, ja beinahe mütterlich für ihren Gast, entwickelte Scharm und stellte eine Menge Fragen, so daß Weidenau, ihre Süßigkeiten kauend, kaum mit dem Antworten nachkam: wie es den Kindern und wie es »Nur-ein-Viertelstündchen« ginge, wie die Wintersaat auf Groslowitz stünde, ob er dieses Jahr Holz schlagen lassen werde und ob der sozialistische Dorfschullehrer noch immer so komische Aufmerksamkeitsexperimente mit den Schulkindern mache: wie zum Beispiel, daß er ihren kleinen Finger durch eine gestraffte Schnur mit einer Feder in Verbindung bringe, die einen Zeiger in Bewegung setze, so daß man jederzeit deutlich ablesen könne, welches Kind rascher und lebhafter eine Frage auffasse und infolgedessen begabter sei als ein anderes? Davon hatte Weidenau bei früheren Besuchen erzählt, und daß sie es so genau behalten hatte, war immerhin schmeichelhaft für ihn.

Aber nachdem sie all das wie im Sturm gefragt hatte und sich Weidenaus wie gewöhnlich in der zweiten halben Stunde eine erwärmte Teestimmung zu bemächtigen begann – diese wunderbare Stimmung, in der die lustigsten Einfälle in seinem Kopf aufsprühten und die reizendsten Geschichtchen sternschnuppenartig durch sein Denken flogen –, schlug sie plötzlich die Beine übereinander, was bei ihr immer auf reifgewordene innere Entschlüsse deutete, und fragte, indem sie nach der Mode der Zeit einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres die zierlichste Fessel umspannenden Seidenstrumpfs enthüllte, mit unverhohlener Absichtlichkeit nach Doktor Höfer, den sie noch immer den öffentlichen Ankläger nannte. Ob Weidenau mit ihm in der letzten Zeit viel beisammen gewesen wäre? Sie selbst hätte ihn zwar erst gestern zum letztenmal gesehen; aber sie kenne sich gar nicht mehr aus bei ihm.

»In welcher Beziehung?« fragte Weidenau unschuldig.

»In jeder«, erwiderte die Baronin. »Was macht er eigentlich? Wovon lebt er? Warum tritt er nicht in ein Industrieunternehmen ein?«

»Er will Richter bleiben«, antwortete der Baron, mit der Beantwortung der letzten Frage beginnend; und in der Tat, das wollte Doktor Höfer. Das Recht der armen Witwe gegen die Mitleidlosigkeit ihrer Versorger, unmündige Kinder gegen die räuberischen Übergriffe eines Vormundes zu schützen, den Hilflosen beizustehen, den Reichen die Schärfe des Gesetzes fühlen zu lassen, ihm zu zeigen, daß, auch jetzt noch, für Geld nicht alles zu haben war: mit einem Worte, Gewissensinstanz zu bleiben und nichts für sich zu beanspruchen als die moralische Genugtuung, es zu sein, dies genügte Doktor Höfer, mehr wollte, mehr verlangte er nicht. »Materielle Vorteile reizen ihn nicht!« bemühte sich der Baron seiner schönen Freundin den Fall zu erklären: »Seine Bedürfnisse sind äußerst bescheiden, und für das wenige, was er braucht, reicht noch immer notdürftig sein Gehalt, das er ja bis zu seiner Wiederverwendung weiterbezieht.«

»Aber das ist doch kein Leben, in so einem kleinen Hotelzimmerl!« unterbrach sie ihn mit einer reizenden und gereizten Natürlichkeit. »Wenn er noch wenigstens eine anständige Wohnung hätt'.«

Weidenau unterdrückte ein psychoanalytisches Lächeln.

»Sie haben ja vollkommen recht, liebste Freundin! Trotzdem, ich find', es ist doch etwas enorm Nobles, wenn ein Mensch so gar nichts für sich haben will.«

»Aber etwas muß man haben wollen!« rief sie in ihrer lebhaften Art: »Sonst ist man ein Narr!«

»Das sind die feineren Menschen mehr oder weniger alle«, meinte Baron Weidenau, der nicht abließ, seinen Nebenbuhler ritterlich in Schutz zu nehmen. »Und übrigens entspricht es seiner Gesinnung!«

»Ja, das ist der andere Punkt. Warum ist er eigentlich so – so streng mit uns?«

»Ich glaube, es hängt tief mit seinem Leben zusammen«, versetzte Weidenau nach einem kurzen Nachdenken. »Auch mit seiner Ehe, ja mit der wohl hauptsächlich. Ein gewisses Ressentiment dürfte wohl auch seine politische Haltung bestimmen –«

»Von der er glücklicherweise keinen öffentlichen Gebrauch macht«, fiel die Baronin ein. »Hat er nie daran gedacht, Abgeordneter zu werden?«

Weidenau schüttelte den Kopf.

»Alle Parteien sind ihm gleich zuwider, nämlich als Parteien. Er will Richter bleiben, auch über sie.«

»Gott sei Dank!« ließ sich die Baronin Lodersdorf vernehmen. »Aber was das Ressentiment betrifft, von dem Sie reden, Baron Erni – wie könnt' man denn das kurieren?«

»Ja, das dürfte schwer sein«, erwiderte Weidenau, verstimmt über ihre Beharrlichkeit und auch über den »Baron Erni«, der so schlecht zu seiner »liebsten Freundin« paßte. »Sehr schwer. Das Leben müßte ihn in eine Art psychoanalytischer Behandlung nehmen. Vielleicht hat sie sogar schon angefangen«, fügte er hinzu, mit einem Blick auf das halbabgewandte Gesicht der Baronin, das so klar im Umriß war wie eine Dürersche Bleistiftzeichnung; und nach kurzem Besinnen: »Er leidet eben auch an einem eingeklemmten Affekt.«

»Auch?« erkundigte sich die Baronin, die seine Anzüglichkeiten ganz gut verstanden hatte. »Wer denn noch?«

Weidenau hatte den Mut nicht, es in diesem Augenblick auszusprechen. Er sagte daher nur vorsichtig und ganz im allgemeinen:

»Gott, mehr oder weniger leiden wir doch alle an solchen Affekten … Man kann sie auch Narben des Lebens nennen.«

Tinett Lodersdorf war nicht für philosophische Randbemerkungen. Sie sprang auf und sagte:

»Wissen Sie, was ich glaub', Baron Erni? Daß, was ein Mensch an einem anderen gesündigt hat, immer nur ein Mensch wieder gutmachen kann. Und zwar ein ganz bestimmter Mensch. In diesem Fall eine Frau.«

Weidenau nickte besonnen und ein wenig schmerzlich:

»Das glaub' ich auch!«

Sie tat ein paar überstürzte Züge aus ihrer Zigarette, die zu Ende ging. Dann reichte sie ihm die Hand:

»Leider muß ich Ihnen jetzt Adieu sagen, lieber Freund. Meine fürstliche Tante hat nämlich den netten Einfall gehabt, mich für heut abend in eine Loge in die Oper einzuladen. Und vorher muß ich noch meinem Buben die ›Wandelnde Glocke‹ abhören.«

»Ah! Hat die Fürstin Albertine sich mit der Republik ausgesöhnt?« fragte Weidenau, als ein Weltmann die Peinlichkeit seiner Verabschiedung mit einem Scherz überbrückend.

»Mit der Republik nicht«, stellte die Baronin in der Türe lachend richtig: »Vorläufig nur mit der Oper. Und auch das nur, weil die Weidt heut abend singt.«

 

Tatsächlich hatte die Fürstin seit dem Umsturz keines der ehemaligen Hoftheater mehr betreten. Sie warte die Rückkehr des Kaisers ab, pflegte sie zu sagen, wenn man sie auf ein neues Stück oder eine glänzende Besetzung aufmerksam machte.

Aber der Kaiser blieb lange aus, und die Fürstin war musikalisch. Sie verkehrte mit Dirigenten, mit Sängerinnen. Eine von ihnen hatte einmal den Mut, ihr die Sinnlosigkeit ihres Kunstschmollens begreiflich zu machen. »Verzeihung, Durchlaucht, aber das kommt mir grad so vor, wie wenn Durchlaucht nichts mehr essen wollten, weil wir jetzt eine Republik haben … Und dann, wie kommen denn wir armen Künstler dazu, wir haben's ja nicht gemacht.«

Die Fürstin, die eine Frau von Geist war, ließ dieses freimütige Argument gelten. Und da zudem »Fidelio« ihre Lieblingsoper war, nahm sie die ihr gesandte Loge gnädig an und ließ durch den Sekretär ihre Nichte einladen, sie mit ihr zu teilen.

Sie tat es aus zwei Gründen: einmal, weil sie die Baronin Lodersdorf, die ihr zu sehr für das Mittelmäßige in der Kunst zu schwärmen schien, für alle diese Puccini und Leoncavallo und tutti quanti, einmal wieder den Begriff großer Kunst, der einzigen, die die Fürstin gelten ließ, zu Gemüte führen wollte, und dann, weil sie ihr etwas zu sagen hatte, was in der richtigen Weise und im richtigen Augenblick gesagt werden mußte, wozu sich, wenn man sie zu benützen versteht, eine Theaterloge ganz besonders eignet.

Die Baronin Lodersdorf hatte auch gleich eine Art Vorgefühl, als der mit seinen Banksorgen belastete Prinz Waldperg die Loge schon nach dem ersten Akt verließ. Doch rührte sie sich nicht und unterhielt, allein geblieben, die Fürstin während des Zwischenaktes, so gut sie konnte.

Die Fürstin ließ sich unterhalten. Sie genoß die herrliche Aufführung, sprach von Beethoven wie von ihrem Zeitgenossen und schien an nichts anderes zu denken, als an Fidelio. Plötzlich aber, am Ende des zweiten Zwischenaktes, als der Dirigent schon wieder ins Orchester trat, sagte sie, mit ihrem geistreichen Altfrauenlächeln das scharfgeschnittene, lustige Gesicht herumdrehend:

»Ja richtig, weißt du schon das Neueste? – Man hat mir dieser Tage, auf dem Jour der Fürstin Leopoldin', erzählt, daß du den Doktor Höfer heiraten willst!«

Das Gesicht der Baronin veränderte sich nicht; nur ihre Zunge wanderte unbemerkt von rechts nach links und drückte von innen ein wenig gegen die Wange. Dann öffnete sie den Mund und fragte mit leicht zusammenrückenden Brauen:

»Und was hast du geantwortet, Tant' Albertin'?«

»Gott, weißt du, mein liebes Kind: Ich hab' gesagt: Heutzutag ist schon alles möglich!«

Der Dirigent bestieg den kutschbockartigen Stuhl zu Häupten des sich sammelnden Orchesters, die Beleuchtung erlosch, die Oper ging weiter.

Die Oper ging weiter.

Als aber einige Tage später Höfer die Baronin einlud, mit ihm zusammen zu »Tosca« zu gehen, und hinzufügte, daß er diesmal durch das Ministerium Sitze im Parkett zu bekommen hoffe, von wo aus man doch unvergleichlich besser sehe und höre, schüttelte sie den Kopf:

»Nein, bleiben wir nur bei unseren Galerieplätzen. Es ist mir lieber …«

Doktor Höfer zuckte mit den Wimpern; dann, nach ein paar Schritten – er hatte die Baronin in der Stadt getroffen und begleitete sie – sagte er:

»Es wird Sie interessieren, zu erfahren, daß ich bereits in allernächster Zeit das außerstreitige Referat in Gloggnitz übernehmen soll.«

»Oh, Sie gehen fort von Wien?« rief sie, unverhohlen bestürzt.

»Zunächst nur über den Sommer – in Vertretung eines erkrankten Kollegen. Die eigentliche Entscheidung über meine Zuteilung wird erst im Herbst fallen.«

»Ach so!« sagte die Baronin aufatmend: »Nur über den Sommer! Das macht nichts. Da bin ich ja auch nicht in Wien … Aber im Herbst müssen Sie unbedingt wieder da sein!« Er lächelte über die reizende Bestimmtheit, mit der sie in die Verfügungen des Justizministeriums eingriff.

Sie lächelte gleichfalls, von der Seite, aus dem Augenwinkel, unter ihrem schon sommerlichen, blumengeschmückten, breitrandigen Strohhut. Und übermütig, ganz ohne an »Fidelio« zu denken, fügte sie hinzu:

»Und in die Liechtensteingalerie gehen wir auch noch, bevor Sie nach Gloggnitz verschwinden!«


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