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Auf dieser Fahrt machte ein Gedanke die Wangen Reinhards von einer fremden Glut entbrennen. Er kam soeben aus den Kreisen der teppichunterbreiteten Existenzen, alsbald überkam ihn ein besonderes Behagen an dieser verfeinerten Welt, an dieser Anmut heiterer Geistesspiele, voll tändelnder Musik und sprühender Witzfunken, fernab von der rauhen Wirklichkeit, ausschreitend aus der engbürgerlichen Umzäunung; er hatte das Gelüste rasch niedergekämpft, jetzt kam es in veränderter Gestalt wieder und zeigte ihm, wie Lorle diese Freiheit des Lebens nie verstehen werde, wie sie doch seinem ganzen künstlerischen Denkkreise fernstehe – er war in seinem eigenen Hause mit seinem tiefsten Wollen ein Fremder.
Das war ein böser Blutstropfen in Reinhard, und er machte ihm die Wangen glühen.
Den Gedanken, Lorle nach und nach heranzubilden, warf er bald von sich, und er rief fast laut: »Nein, sie soll das frische Naturkind bleiben mitten im Trödel der Stadt; sie bedarf keiner andern Welt, ich bin ihre ganze Welt.« – Er bat sie in Gedanken um Verzeihung, daß sein Sinn nur einen Augenblick sich von ihr entfernen konnte.
Für ein erregbares Gemüt haben weite Strecken, die von einer Lebenswendung bis zur andern zu durchmessen sind, ihr Gutes und ihr Schlimmes; sie dämmen oft die berauschende Seligkeit des Gefühls, beschwichtigen aber auch die leicht sich eröffnenden Zwiespältigkeiten.
Sorglos, als wäre das nicht der entscheidendste Lebensgang, fuhr Reinhard dahin; selbst seine Sehnsucht war eine abgeklärte, friedsame. In der Amtsstadt ließ er sein Gepäck zurück und eilte auf dem Waldwege dem Dorfe zu. Je näher er kam, desto heftiger loderten die Flammen der Liebe wieder in ihm auf; mit zitternden Pulsen rannte er dem Hause zu. Die Bärbel stand unter der Tür und reichte ihm die schwielige Hand: »Ihr kommet bald wieder, ich hätt's nicht glaubt«, sagte sie; Reinhard konnte nicht antworten, zu Lorle wollte er sein erstes Wort sprechen; er eilte die Treppe hinan, niemand war im Hause. Lorle war, wie Bärbel erzählte, mit den Eltern nach der Stadt gefahren, von wo Reinhard eben herkam.
Mit der Botschaft der Lebenserfüllung auf den Lippen stundenlang harren zu müssen, das war eine schwere Aufgabe.
Reinhard machte sich bald wieder auf, den Ankommenden entgegen zu gehen, aber als er schon eine Stunde den Waldweg gegangen war, besann er sich erst, daß er so in Gedanken dahingeschritten sei, während doch das Wägelchen mit den Heimkehrenden bereits den Fuhrweg dahingerollt sein konnte; er kehrte still wieder um, traf jedoch auch die Erwarteten noch jetzt nicht zu Hause. Mit namenloser Angst quälte ihn der Gedanke, daß ihm Lorle mit Gewalt entzogen sein konnte, die Eltern waren ja mit ihr in der Stadt, und er mußte sich sagen, daß er durch seine Zweifel solches verschuldet haben konnte; aber die ganze Treue Lorles stand wieder vor ihm, und als es Nacht wurde, war es ihm, als ob das Bild auf der Staffelei hell leuchte; er zündete Licht an und betrachtete jetzt nach längerer Abwesenheit das Bild wieder; er staunte fast vor sich selbst, hier war ihm etwas gelungen, was ein anderer, ein Mächtigerer geschaffen hatte.
Reinhard nahm die Zither und wollte spielen und singen, aber er hörte bald wieder auf, er legte sich endlich angekleidet auf das Bett, er wollte heute noch die Seinigen sprechen, keine Stunde seines Glückes versäumen; er verschlief aber doch die Ankunft der Hausbewohner, die spät in der Nacht erfolgte.
Die Mutter war zu Bett gegangen, der Vater saß im Stüble und las die mitgebrachten Zeitungen, Lorle machte sich aber, trotz aller Ermahnungen, noch immer etwas in der Stube zu schaffen; endlich kam sie zaghaft zum Vater ins Stüble und sagte:
»Ätti, ich hab ein Bitt. Machet das Licht aus und bleibet da.«
»Nur stet, warum denn?«
»Ich bitt, ich hab Euch was zu sagen, und ich kanns nicht so.«
»Närrisches Kind, meinetwegen. Nun jetzt ist das Licht aus, nun jetzt red.«
Lorle legte die Hand auf die Schulter des Vaters und sagte ihm mit zitternder Stimme ins Ohr: »Der Herr Reinhard hat mich gern und ich ihn auch, und er will mich, und ich will ihn und keinen andern auf der ganzen Welt.«
»So? Und das habt ihr unter euch ausgemacht?«
»Ja.«
»Nur stet, gang jetzt schlafen, morgen ist auch ein Tag; wir reden ein andermal davon.«
Kein Bitten und kein Betteln Lorles half, sie erhielt keinen andern Bescheid.
Als der Wadeleswirt nun noch gewohntermaßen das ganze Haus durchmusterte, fand er die Türe Reinhards halb offen, er drehte von außen den Schlüssel um; Reinhard war eingeschlossen.
Am Morgen ward Lorle vom Vater »zeitlich« geweckt. Als sie herabgekommen war, sagte er: »Du gehst gleich auf die Hohlmühle und bleibst da, bis ich komm.«
Lorle mußte gehorchen, sie wußte wohl, da half keine Widerrede; sie durfte nicht mehr die Treppe hinauf, sondern mußte sich schnurstracks aufmachen.
Der Wadeleswirt ging umher und zankte mit Stephan und mit allen, weil sie eben keine so schlaflose Nacht gehabt hatten wie er; endlich saß er im Stüble und las die Fruchtpreise auf den verschiedenen Schrannen, aber trotz der hohen Sätze hatte er die Lippen zusammengekniffen und trommelte unwillig mit dem Fuße auf dem Boden. Von oben vernahm man jetzt mächtiges Pochen an eine Türe, da erinnerte sich der Wirt, daß er Reinhard eingeschlossen habe, und befahl der Bärbel, ihm aufzuschließen; dadurch ersparte er sich's auch, dem Maler alsbald frischweg die Meinung zu sagen. Reinhard kam zum Wirt und streckte ihm beide Arme entgegen, dieser aber saß ruhig, hielt mit beiden Händen die Blätter und so, darüber wegschauend, sagte er: »Auch wieder hiesig?«
»Und ich hoffe zu Hause«, sagte Reinhard.
»Nur stet. Ich sag's Euch grad heraus, packet Eure Sachen zusammen und b'hüt Euch Gott.«
»Und das Lorle?« fragte Reinhard zitternd.
»Das will ich schon wieder zurechtbringen, das ist mein Sach, da hat niemand nichts drein zu reden.«
»Und ich geh nicht aus dem Haus, bis mir das Lorle selbst gesagt hat, daß ich gehen soll.«
»So? Ist das der Brauch bei Euch Herren aus der Stadt? Ich kann auch anders ausgeschirren. Verstanden?« sagte der Wadeleswirt aufstehend.
»Ich hätte den Bauernstolz nicht bei Euch vermutet«, sagte Reinhard.
Der Wadeleswirt schnaubte grimmig und ballte beide Fäuste; er schaute Reinhard von oben bis unten stumm an, wie wenn er sagen wollte: Was glaubst? bin ich der Mann, mit dem man so redet?
Reinhard schüttelte den Kopf und sagte endlich: »Ihr seid doch sonst ein gescheiter Mann, warum seid Ihr jetzt so wild. Was hab ich Euch leids tan?«
Diese sanft gesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, und der Wadeleswirt sagte mit stockender Stimme: »So? Und mein Kind, mein einzige Tochter wegstehlen?«
»Lorle soll reden. Wo ist sie?« fragte Reinhard.
»In der Haut bis über die Ohren, wenn sie nicht da ist, ist sie verloren. Das Lorle ist nicht da, so lang Ihr da seid.«
Nach einer Weile, in der er das schmerzdurchwühlte Antlitz Reinhards betrachtet hatte, fuhr der Wirt fort:
»Ich kann's Euch schon sagen, wo das Mädle ist: auf der Hohlmühle.«
»Ich verspreche Euch«, sagte Reinhard schnell, »kein Wort ohne Euer Wissen mit ihr zu reden.«
»Glaub's, Ihr seid sonst allfort ein rechtschaffener Mensch gewesen, und jetzt muß ich auf's Feld«, sagte der Wadeleswirt ruhiger.
Er ging fort und Reinhard auf sein Zimmer. Wie glücklich war dieser jetzt, daß er nach der Gliederpuppe die Gewänder malen konnte; er war unausgesetzt fleißig und ließ sich sogar das Mittagessen auf sein Zimmer bringen.
Die Bärbel, die alles wußte, tröstete Reinhard und sagte, er solle nur die Hoffnung nicht fahren lassen, der Alte sei zäh, er müsse ein gut Weilchen am Feuer stehen, bis er weich werde. Auch die Mutter kam leise herauf geschlichen, sie redete nichts von der Hauptsache, aber an der Sorglichkeit, die sie für alle Bedürfnisse Reinhards hatte, konnte er wohl merken, daß sie auf seiner Seite war.
Am Abend erzählte Reinhard dem Vater, wie er bloß Lorle zulieb sich eine Anstellung geholt habe und wie er sie ewig glücklich machen wolle. Der Wadeleswirt war still und schaute über das Glas weg, das er eben zum Munde führen wollte, Reinhard bedeutsam an.
Als die Bärbel am andern Morgen Reinhard den Kaffee brachte, sagte sie:
»Glück und Segen!«
»Wozu?«
»Ihr seid ja Professor geworden, der Alte hat gestern nacht seiner Frau noch viel davon vorgeschwatzt, es gefallt ihm doch wohl, das Wasser fangt schon zu sieden an.«
Der Alte ging immer brummig im Hause umher und hatte sogar, was sonst nie geschah, kleine Häkeleien mit seiner Frau; er hätte gar zu gern gehabt, sie möchte ihm weidlich mit Reden und Bitten zusetzen, daß er die Sache doch ins reine bringen möge; sie aber tat, wie man sagt, »kein Schnauferle«, sie wollte die Verantwortung für spätere Tage nicht haben. Und dann war's ihr doch auch wind und wehe, ihr Kind so weit weg unter ganz fremde Verhältnisse zu geben; sie war von dem Sorgen und Nachdenken so müde, daß sie bald da, bald dort, wo nur ein Plätzchen war, sich niedersetzte und ausruhte.
Am dritten Tage kam der Wadeleswirt zu Reinhard auf sein Zimmer, setzte sich und redete lange nichts; endlich begann er:
»Ich hab mich resolviert. Es geht mir ein Stück aus dem Herzen, wenn ich das Kind so weit weg geb; aber was ist da zu machen? Ich tu Euch also den Vorschlag, ich will mein Lorle noch auf ein Jahr zu den Klosterfräulein tun, da soll's lernen, was man in der Stadt braucht, und seid ihr beide dann noch so gewillt wie jetzt, nun, so in Gottes Namen.«
Reinhard widersprach und beteuerte, daß Lorle nichts zu lernen habe, gerade so, wie sie jetzt sei, mache sie ihn glücklich; der Alte lächelte und ging davon.
Drei Tage und drei Nächte hatte Lorle in schweren Gedanken auf der Mühle zugebracht; kein Bote kam, Stephan wußte nichts, und oft war's in Wahrheit, als ob sie in eine andere Welt versetzt wäre. Am vierten Morgen kam der Wadeleswirt und holte seine Tochter, er hatte ein unwirsches Ansehen, und Lorle folgte ihm still wie ein Opferlamm. Der Vater zürnte nicht auf das Kind, er zürnte nur mit sich selber, weil er nun doch nachgeben müsse.
»Hast du den Reinhard noch gern?« fragte er einmal, als sie schon eine gute Strecke miteinander gegangen waren.
»Ja, so lang ich leb«, erwiderte Lorle. Und nun gingen sie wieder still dahin, keines redete ein Wort. Der Wadeleswirt war durchaus der Mann nicht, der sorgfältig Überraschungen zu bereiten strebte; das Kind mußte nur schweigen, so lang er nicht zu reden begann, und er wollte nicht reden, weil's ihm nicht darum war; auch war's ihm zu viel, das, was er zu sagen hatte, zweimal vorzubringen.
Reinhard hatte indes von der Bärbel die Mitteilung erhalten, daß Lorle mit dem Vater käme; er eilte den beiden entgegen, und als sie sich jetzt zum ersten Male wieder sahen, flammte ihre ganze Liebe auf und Reinhard rief: »Vater, gebt mir das Lorle jetzt, hier.«
»Nur stet, das ist nichts so wie Bettelleut hinter der Heck; wartet, bis wir heim kommen.«
In diesem Schlußsatz lagen vielverheißende Worte. Hand in Hand schritten die Liebenden dahin, sie bedurften keines Austausches der Worte. Als man gegen das Dorf kam, machte sich Lorle etwas an ihrem Schurzbändel zu schaffen, sie ließ dadurch die Hand Reinhards los und faßte sie nicht wieder.
Im Stüble war endlich die ganze Familie beisammen; alles stand, nur der Vater saß, und nach einer sattsamen Pause begann er:
»Alte, was meinst? sollen wir sie einander geben?«
»Wie du's machst, ist's recht«, sagte die Frau.
»Guck, Lorle, so muß eine Frau sein, merk dir das, bis du einmal eine bist«, sagte der Vater und Lorle ward glühendrot, da sie ihre Zukunft sich vorhalten hörte. Der Vater sagte nun aufstehend: »Ich mein, wir machen jetzt die Handreichung, und wenn die Ernt vorbei ist, halten wir Verspruch, und über's Jahr könnet ihr in Gottes Namen heiraten. Hat mein Bauernstolz recht?« fragte er, Reinhard derb auf die Schulter klopfend.
»Guter Vater!« war alles, was dieser hervorstottern konnte.
»Nun, Ihr seid auch ein guter Mensch, ich will das nicht leugnen. Jetzt fertig.«
Alles reichte sich nun die Hand, und Reinhard küßte noch die Mutter innig, den Vater konnte er nicht küssen, dieser schüttelte ihm nur starr die Hand.
Als die halb unterdrückte Rührungsszene noch nicht vorüber war, stellte sich der Wadeleswirt wieder breitspurig vor Reinhard und sagte:
»Jetzt hab ich noch ein Wörtle mit Ihm zu reden, du Lump, du liedricher! Und was ich dem Mädle geb, darnach fragt Er gar nicht und tut, wie wenn Er ein Bettelmädle bekäm? Und unser gut Sach, was wir erhauset haben, das ist Ihm ein Pfifferling, das ist Ihm gar nichts wert? Potz Heidekuckuck, das ist ein Lumpenwirtschaft. Ja, es ist mir ernst, es ist da nichts zum Lachen, Himmelheide–«
»Um Gottes willen sei doch still«, rief die Mutter, »wenn's ja eins hört, so meint es, du tätest zanken, und wir hätten Händel.«
»Lorle«, erwiderte der Vater, »merk dir das jetzt auch, das mußt du nicht tun; wenn der Mann red't, muß das Weib still sein. Jetzt genug, jetzt ganget ans Geschäft.«
Alles entfernte sich, Lorle wollte mit Reinhard Hand in Hand weggehen, der Vater aber winkte ihr und sagte: »Bleib du noch ein bißle da.« Lorle war allein mit dem Vater im Stüble, und dieser sagte: »Jetzt bist doch zufrieden? Brauchst nicht heulen, darfst lustig sein; jetzt paß auf... Ja, was ich doch sagen will, ja... mach, daß du dein Kränzle am Hochzeitstag mit Ehr und Gewissen tragen kannst.«
Lorle fiel dem Vater nicht um den Hals, sie verbarg ihr Antlitz nicht, frei und stolz schaute sie drein und sagte fest: »Ätti, Ihr wisset gar nicht, wie brav er ist.«
»Glaub's, ist mir schon recht, wenn er brav ist, verlaß dich aber auf kein andere Bravheit als auf die deinige; jetzt gang.«
Das waren nun glückselige Tage, die den Verlobten aufgingen. In Reinhard hatte das Offenkundige ihres Verhältnisses gar nichts geändert, Lorle dagegen fühlte sich jetzt viel freier; sie war stets voll Entzücken, wenn eines nach dem andern aus dem Dorf kam und ihr Glück wünschte. Fast jedes hatte etwas Besonderes an Reinhard zu loben, und man bedauerte nur, daß Lorle so weit weg käme; sie nahm aber jedem das Versprechen ab, daß es sie besuchen, bei ihr wohnen und essen müsse, wenn es nach der Hauptstadt käme.
Einige Besonderheiten Lorles zeigten sich schon jetzt. Fast nie ließ sie sich von Reinhard am Arme durch das Dorf führen, draußen aber faßte sie ihn von selbst, hüpfte und sang voll Freude. Nie war sie zu bewegen, an einem Werktage mittags mit Reinhard spazieren zu gehen, wenn aber der Feierabend kam, dann war sie bereit; das war der Dorfsitte gemäß, unter deren Herrschaft sie stand.
Ein Umstand veranlaßte viele Erörterungen zwischen dem Schwiegervater und Reinhard. Dieser wollte nämlich schon zum Frühherbst heiraten, er konnte nicht lange Bräutigam sein, sich nicht Monate und Jahre mit der Sehnsucht nähren; der Schwiegervater wollte aber durchaus nicht, daß man die Sache so übers Knie abbreche. Das Weibervolk im Hause wußte indes, daß er schon nachgeben werde, und die Mutter ließ bei allen Webern in der Umgegend tuchen und bei allen Näherinnen schneidern, während die Schwester des Kollaborators nach einem genauen Maß die Stadtkleider für Lorle fertigte.
Lorle wollte durch ihre Brautschaft keinerlei Arbeit und Verbindlichkeit im Hause entledigt sein, ja sie war emsiger als je; sie wollte noch alles instand bringen und in Ordnung verlassen, es war ihr wie einem ehrenhaften Dienstboten, der, bevor er den Dienst verläßt, freiwillig das ganze Haus von oben bis unten scheuert und säubert. Reinhard mußte sie gewähren lassen, dafür war sie aber auch auf den Abendspaziergängen voll frischen Lebens.
»Mir ist allfort«, sagte sie einmal, »wie wenn heut Samstag wär und morgen ist Sonntag, und da kommt wieder ein Tag, und da kommt mir's wieder wie Samstag vor und so fort. Ich bin so froh, so froh, ich möcht nur, ich weiß gar nicht, was ich möcht.«
Ein andermal, als sie durch den Wald gingen, flogen Lorle gar viele Nachtfalter ins Gesicht, sie ärgerte sich darüber, und Reinhard bemerkte: »Dein Gesicht ist so lauter Licht, daß sich die Nachtfalter drin verbrennen wollen; ich bin auch so.«
Lorle faßte einen Baumzweig, schüttelte Reinhard den Nachttau ins Gesicht und sagte: »So, da ist gelöscht.«
Über Zittergras und blaue Glockenblumen weinte Lorle die ersten Brauttränen.
Die Verlobten gingen miteinander über die Wiese; da raufte Reinhard jene Pflanzen aus und zeigte Lorle den wundersam zierlichen Bau des Zittergrases und die feinen Verhältnisse der Glockenblume; »das gehört zu dem Schönsten was man sehen kann«, schloß er seine lange Erklärung.
»Das ist eben Gras«, erwiderte Lorle, und Reinhard schrie sie an. »Wie du nur so was Dummes sagen kannst, nachdem ich schon eine Viertelstund in dich hineinrede.«
Große Tränen quollen aus den Augen Lorles hervor, Reinhard suchte sie zu beruhigen, aber innerlich war er doch voll Ärger, denn er vergaß, daß nur, wer die Seltenheit und Pracht der Zierpflanzen lange erschaut hat, wieder an den einfach schönen Formen des Grases sich ergötzen mag.
Dieser Abend bebte wehmütig in der Seele Lorles nach, sie gab Reinhard keine Schuld, sondern ward nur fast irr an sich; sie kam sich nun wirklich grausam dumm vor und oft, wenn er sie um etwas fragte, schreckte sie zusammen, aber lügen konnte sie nicht, keine Teilnahme und kein Verständnis heucheln. Die Liebe aber überwindet alles. Lorle nahm sich vor, recht aufzumerken, wenn Reinhard etwas sagte, denn er war ja viel gescheiter. So verlor sich nach und nach ihre Zaghaftigkeit wieder, und sie war das harmlose Kind von ehedem.
Auch ein Schreckbild ward Reinhard einmal für Lorle. Einst saß er abends mit dem Vater überaus lustig beim Glase, Lorle schnitt Brot ein zur Suppe und war ganz glückselig, daß die beiden sich so lieb hatten, sie sah immer von einem auf den andern und legte zuletzt die Hände fest zusammen, als wären es die Hände der beiden treuen Menschen, die so traut beieinander saßen. Reinhard war wieder zu allerlei Schalkhaftigkeiten aufgelegt, er taumelte nun in der Stube umher, sprach mit lallender Zunge unverständliche Worte, ganz wie ein Betrunkener. Lorle wußte doch, daß er nur scherze, aber sie rang die Hände über dem Kopf und rief aus allen Kräften: »Um Gottes willen, Reinhard, Reinhard! Laß das bleiben! So darfst du nicht aussehen.«
Reinhard hörte sogleich auf, aber Lorle zitterte noch lange über diesen Scherz; sie war keineswegs so empfindsam, sie kannte das Leben und seine Verunstaltungen und hatte schon manchem Bruder Saufaus tüchtig den Marsch gemacht, aber Reinhard kam ihr durch solche Nachahmung ganz verzerrt und entwürdigt vor; sein hohes Wesen, zu dem sie so demütig aufschaute, durfte auch nicht im Scherze so erniedrigt werden. Fast die ganze Nacht konnte sie das häßliche Bild nicht vergessen, und erst, als Reinhard ihr am andern Morgen versprach, nie mehr solchen Scherz zu treiben, verschwand es aus ihrer Seele.
Diese beiden Zwischenfälle waren die einzigen Störungen in dem Liebesleben; sonst ging stets Freude vor ihnen her, und Entzücken grüßte sie von jedem Baumblatt und aus jedem Gräschen.
Wer kann erfassen, wie eine Seele in sich jauchzt und jubelt, wenn sie stumm aufgeht in ihr Jenseits? Warum klingt uns allüberall in tausendfältigen Klängen die Kunde von den Schmerzen und Zwiespältigkeiten des Lebens entgegen? Ist's der Schmerz allein, der zum Bewußtsein ruft und drin haftet? Die Freude und das Entzücken sind das wahre Dasein, da ist das Einzelbewußtsein untergesunken, in Liebe aufgelöst, in ihr gestorben und lebt doch das wahre, das selig ewige Leben...
Die Madonna war vollendet und zur Ausstellung nach der Stadt geschickt. Zu seiner Betrübnis erhielt Reinhard die Nachricht, daß der Kollaborator unvorsichtigerweise verraten hatte, wer zur Madonna Modell gesessen. Ein in Rom katholisch gewordener Engländer, der sich eben in der Residenz aufhielt, bot eine namhafte Summe für das Bild; Reinhard gab es hin, sowohl weil er seine Frau nicht nach der Stadt bringen wollte, wo das Bild war, als auch aus einem andern Grunde. Die materielle Kehrseite fehlt keinem Verhältnisse. Reinhard bedurfte Geld zu seiner häuslichen Einrichtung und sah er auch mit Wehmut das, was er aus tiefster Seele geschaffen, in eine verlassene Kapelle nach England wandern, um es nie wieder zu schauen; er ließ es ziehen.
Der Kollaborator mietete für Reinhard eine Wohnung, und seine Schwester richtete sie ein. Mit dieser Nachricht wurde nun der Wadeleswirt bestürmt, die baldige Hochzeit zu gestatten.
So voll Selbstgefühl und freigesinnt auch der Wadeleswirt war, so tat es ihm doch besonders wohl, wenn er bei den Leuten im Dorfe »mein Tochtermann, der Professor«, sagen konnte; auch hatte er Reinhard in der Tat von Herzen liebgewonnen. Als nun die Frauen sich mit den Bitten Reinhards vereinten, sagte er:
»Ich seh schon, Ihr habt die Sach miteinander gebastelt, ich weiß wohl, ich gelt nichts im Hause; nun meinetwegen.«
Reinhard lief sogleich zum Pfarrer und bat ihn, Sonntag das erste Aufgebot zu halten. An dem versprochenen Kirchenbilde arbeitete er nun mit erstaunlichem Fleiß, er warf es in derben Zügen für die Ferne hin und nur einzelnen Köpfen widmete er eine sorgfältige Ausführung. Auf den Sonntag vor der Einweihung der neuen Kirche war der Hochzeitstag bestimmt. Lorle bat, daß sie doch noch über die Festlichkeit bleiben möchten, aber Reinhard hatte keine Lust mehr, diesen Jubel mit zu feiern: er sehnte sich fort aus dem Dorf.