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Die Sage vom Löwen und der Maus schien sich wieder zu erneuern; das erste fremde Menschenbild, das Diethelm sah, war der Zeugmacher Kübler, und jetzt erinnerte er sich, daß dieser ja der Sohn des Amtsdiener sei. Mit welch hochmütiger Gönnerschaft hatte Diethelm immer diesen armen Teufel betrachtet, und jetzt überdachte er schnell, daß er ihm alles verdanken könnte und, wenn alle Mittel zu Schanden werden – die Flucht. Daran aber war noch lange nicht zu denken. Diethelm hob den Mantel von den Schultern in die Höhe und wartete ruhig, bis der dienstbeflissene junge Kübler ihm denselben ehrerbietig abnahm; er streckte nun dem Amtsdiener die Hand entgegen und sagte mit heller Stimme in herablassender Höflichkeit:
»Guten Morgen, lieber Amtsdiener. Wollt Ihr einen abgebrannten armen Verwandten nicht ein paar Tage bei Euch wohnen lassen? Habt Ihr kein Zimmer frei? Ich nehme mit einem kleinen vorlieb.«
Diethelm glaubte zu bemerken, daß diese Anrede den verkehrten Eindruck machte; alles, was mit dem Kriminalgericht zusammenhängt, schien keinen Spaß zu verstehen.
Wie ein gefangener Ritter empfahl nun Diethelm seine Rosse der sorgsamen Wartung. Waffen hatte er nicht abzuliefern, aber gewiß konnte Diethelm besser schreiben und lesen und war mindestens so verschlagen und ehrgeizig als je ein Mann, der im Harnisch rasselte; daß man aber in anderen Zeiten war, zeigte besonders der Ofen, der war so winzig und windig, und ein Ritter, wenn er von einem Raubzuge in eine Herberge kam, fand einen Baumstamm im breiten Ofen prasseln. Wäre nicht eine abgestumpfte Sandsteinkugel auf dem Ofen gelegen, Diethelm hätte sich nicht einmal die Hände wärmen können, und doch fühlte er von innen heraus eine unbezwingliche Kälte, als ob nicht Blut, sondern Eiswasser ihm durch die Adern rinne. Er bat nun mit einer gewissen Demut, in der Stube bleiben zu dürfen, bis seine Zelle geheizt war. Der alte Gefangenwärter ging weg und ließ Diethelm mit dem Landjäger und seinem Sohn allein. Diesem empfahl nun Diethelm nochmals seine Pferde und trug ihm auf, nach dem Waldhornwirt in Buchenberg zu schielen, damit er Roß und Schlitten abhole und gut imstand halte.
»Soll ich den Hund hier behalten?« fragte der junge Kühler den abgewendet Sprechenden.
Diethelm schüttelte den Kopf verneinend, dann wendete er sich um und sagte in heiterem Tone:
»Dein' Braut ist vor ein paar Tagen noch bei mir gewesen, ihr könnt euch drauf verlassen, daß ich euch auf den Tag hin, wie's versprochen ist, Hochzeit mache, und Gevatter bin ich auch; dann wollen wir lustig sein, daß die Stern' am Himmel zittern; der Vergeltstag bleibt nicht lang aus.«
Der Landjäger verbot eben Diethelm jedes weitere Reden, als der Gefangenwärter eintrat mit der Kunde, daß alles bereit sei. Diethelm erzitterte jetzt vor Wut, als man ihm alles aus den Taschen nahm, als man ihm das Halstuch abnahm und sogar die Hosenträger abnestelte; dieses letzte geschah aus dem doppelten Grunde, damit der Gefangene nichts habe, um sich dran zu erhängen, und bei einem etwaigen Fluchtversuch durch die Nötigung, die Hosen in der Hand aufzuhalten, gehindert sei. Eine Minute lächelte Diethelm über diese Vorkehrungen, bald aber ward er des grausamen Ernstes bewußt, und mühsam schleppte er sich die Treppe hinan nach seiner Zelle; der junge Kübler trug ihm noch mitleidig seinen Mantel nach. Erst als ihn der Landjäger verließ, sagte er:
»Ihr kennt mich wohl nicht. Ich bin von Grubenau bei Letzweiler gebürtig. Meinen Vater hat man den Schreinerhannesle geheißen, er ist ein guter Freund von Eurem Vater gewesen. Ich hab' viel von Euch und Euren Gutthaten gehört, wie ich noch klein gewesen bin. Nun b'hüt Gott. Ich wünsch' alles Gute.«
Diese Mitteilung des Landjägers machte einen eigenen Eindruck auf Diethelm; daß der Mensch sich gedrungen fühlte, sich ihm zu erkennen zu geben, und daß er von seinem Ruhme sprach, wie traf das jetzt das Herz des Gefangenen.
Diethelm war nun allein. Er hatte sich vor niemand mehr zu verstellen. Auf dem Stuhl vor dem Ofen saß er, und es war ihm, als müßte sein Körper in Stücke zerfallen. In dem Ofen brummte das Feuer, manchmal knallte ein Fichtenast und zischte langsam ein grünes Scheit. Diethelm fühlte, wie ihm alles Blut im Herzen zusammen gerann, aber Wärme verspürte er nicht, kalt, unendlich kalt war es ihm; er hüllte sich in seinen Mantel und wickelte sich in die wollene Decke, die auf der Pritsche lag, immer war es ihm, als ob er in der so wohl verschlossenen Zelle mitten in einem Luftzuge stehe, und plötzlich fuhr er wie emporgeschnellt auf, die Wände dröhnten und schmetterten, zitternder Drommetenklang umrauschte ihn von allen Seiten. Erst nach geraumer Weile besann er sich, daß die Stadtzinkenisten den Abendchoral bliesen, die Trompeten und Posaunen schienen gerade nach seiner Zelle gerichtet, so unmittelbar, so gradaus strömten die Töne in dieselbe, und vor allem stand jener Tag wieder vor Diethelm, an dem er sich zum unmäßigen Einkauf verleiten ließ.
Was war seitdem aus ihm geworden! Ein Mordbrenner! Diethelm hielt sich die zitternde Hand vor den schnell atmenden Mund, daß er das Wort nicht laut ausrufe. Er warf sich auf die Kniee, und ein heftiger Thränenstrom entlud sich aus seinen Augen, er fühlte seine Wangen glühen, und plötzlich wurde es ihm warm. Mit dem Antlitz auf dem Boden liegend, sprach es in ihm, daß er alles bekennen müsse, und er streckte sich weit aus, bereit, den Todesstreich zu empfangen, zu sterben . . . Er weinte aufs neue um sein verlorenes Leben; über ihm tönte der wehklagende Grabgesang, ein schriller Drommetenton verwandelte sich in die Klagestimme seiner Martha und ein andrer in die seiner Fränz . . . Und die sind verloren auf ewig, und du wirst nicht gleich getötet, du mußt wochen- und monatelang, ja vielleicht deine ganze Lebenszeit auf deinen schandvollen Tod warten. Mußt du das ertragen in Gefangenschaft und Elend, warum kannst du es nicht auch in Freiheit und Ehre? . . . Diethelm richtete sich auf, und als jetzt von einer andern Turmseite der Choral erscholl, sang er die Töne laut mit, und seine Stimme tönte so voll, fast wie Posaunenschall. Er sang so laut am Fenster, daß er nicht hörte, wie das Schloß hinter ihm knarrte, die Thüre sich öffnete und der Gefangenwärter eintrat, ihn zum Verhör abzuholen.
Um dieselbe Zeit war Martha in der Stadt angekommen; sie ging mit fest zusammengepreßtem Munde und thränenlosem Auge umher, das Schicksal ihres Mannes, der Tod ihrer Tochter, der sie nun nicht einmal eine eisige Scholle auf die Bahre werfen konnte, der gräßliche Tod des treuen Knechtes, das Verbrennen des Hauses, in dem sie so viele Jahre Freud und Leid verlebt, alles das bestürmte ihr Herz und machte sie dumpf und verwirrt. Ihrer Bitte, auch eingesperrt zu werden, hatte man nicht willfahrt, und sie lief wie ein verirrtes verstoßenes Bettelkind in den Straßen umher, als müßte sie jemand finden, der ihr den Weg aus dem Wirrwarr heimwärts zeigte. Es dämmerte, in den Häusern wurden da und dort Lichter entzündet. Ach! Da wohnen überall Menschen, die daheim sind und wissen, wen sie haben. Martha fuhr vor Schreck zusammen, denn es sprang etwas an ihr herauf, sie erkannte bald den vor Freude bellenden Paßauf.
»Ach, du bist's,« sagte sie, den Hund streichelnd, »gelt, armes Tierle, es geht dir auch wie mir, du weißt auch nimmer, wo du hin gehörst. Bleib nur bei mir, komm mit, wir gehen zum Meister.«
Eben als Martha an der Post vorüberging, kam der Eilwagen unter hellen Posthorntönen angefahren. Was hat nur der Hund, daß er eine ansteigende verhüllte Gestalt anspringt und dann mit Freudenbellen zwischen der Gestalt und Martha hin und wider rennt? Wäre dort vielleicht der tot geglaubte Medard, der von seiner Flucht zurückkehrt? Martha fühlte, wie ihr die Haare sich emporsträubten, und wie ihr die Kniee fast brechen wollten. Mit wankenden Schritten ging sie auf den Posthof zu, sie hörte den Schaffner sagen: »Ich will Ihnen gleich ein Fuhrwerk nach Buchenberg verschaffen.« Sie näherte sich der verhüllten Gestalt.
»Mutter!« rief es ihr entgegen.
»Du bist's, Fränz?«
Und mit wehklagendem und doch freudigem Schmerzensausruf lagen Mutter und Tochter sich in den Armen. Jetzt erst konnte Martha weinen. Fränz erholte sich rasch wieder, und wenn auch schmerzvollen Klanges, sagte sie doch mit fester Stimme:
»Mutter! Gottlob, gottlob und Dank, daß ich Euch hab'. Mutter, ich möcht' Euch Abbitte thun für alles; ich hab' erfahren, was fremde Menschen sind, und da schwör' ich's unter freiem Himmel, nie, nie, so lang Euch ein Aug' offen steht, verlass' ich Euch. Jetzt lasset mich nur Eure Hand küssen. Ich kann alles wieder gut machen an Euch und am Vater. Ach Gott, wie geht's ihm denn?«
Martha schwieg.
»Ist er verbrannt?« schrie Fränz so grell, daß selbst ein losgespanntes Pferd, das an ihr vorbeiwollte, rückwärts wich.
Martha schüttelte den Kopf, und erst mit schwerem Atem konnte sie die Worte hervorbringen:
»Er sitzt im Kriminal.«
Die Postmeisterin, die Fränz noch vom Markte her kannte, zog dieselbe in das Haus, und hier erfuhr sie nun alles. Fränz küßte aber- und abermals die Hände der Mutter, dann legte sie ihre heiße Wange an die eingefallene kalte Wange der Mutter und sagte:
»Ach Gott, wenn ich nur mein warmes, junges Blut da in Euch hinübergießen könnt'. Kommet nur jetzt gleich, wir müssen sehen, daß wir den Vater sprechen können.«
Martha erklärte, daß sie nicht mehr gehen könne, ihr seien die Beine wie abgehackt, vom Totenbette des Kindes weg in solch ein Elend hinein, das sei zu viel. Fränz befahl schnell einen warmen Wein für die Mutter, sie lief in raschen Schritten im Zimmer hin und her, das dauerte ihr viel zu lang, bis das Befohlene kam; sie wollte selber hinab und das Angeordnete bereiten, sie verstünden das hier nicht; aber die Mutter bat, sie nicht zu verlassen, sie könne nicht mehr allein sein. Plötzlich kniete Fränz vor der Mutter nieder und sah nach, ob sie warme Füße habe; sie sprang rasch auf, als sie fühlte, wie dieselben eisstarr waren, sie klingelte nach Branntwein, »aber rasch, rasch!« befahl sie, und es war ihr eine innige Buße, als sie nun der Mutter die Füße wusch und rieb. Die Mutter ließ alles mit sich geschehen wie ein Kind; sie schlürfte dann den warmen Wein, den ihr Fränz an den Mund hielt, und mit schmerzlichem Lächeln sagte sie nach jedem Schluck: »Ah, das thut gut. Versuch's nur auch, Fränz.« Fränz nippte, und die Mutter sagte wie halb träumend:
»Du bist so schön geworden, Fränz, und siehst mich so getreu an, so . . . so . . . so hab' ich dich lieb. Wenn nur der Vater auch so was Gutes hätt', und wenn er dich nur auch sehen könnt'. Sein Herz hängt an dir, ach, und du bist jetzt auch mein einzig Kind. Komm, leg deinen Backen wieder an meinen Backen. So. Jetzt sag, wie kommst denn du daher? Wie ist dir's denn 'gangen?«
Fränz schluckte die Thränen hinab, da sie die Mutter so beruhigt sah und dieselbe nicht wieder neu aufregen wollte. Sie erzählte mit möglichster Umgehung alles Erschütternden, wie sie das Brandunglück erfahren, und sagte zuletzt:
»Den heutigen Tag, Mutter, den werde ich nie vergessen. Was ich da alles gedenkt und erfahren hab'. O Mutter! und die Menschen sind so gut, wenn sie einen im Unglück sehen; alle, wo mitgefahren sind, und in allen Wirtshäusern haben sie mir beigestanden und haben mich getröstet und hätten mir gern in allem geholfen. Kommet, legt Euch ein bißle aufs Bett, ich will Euch erzählen.«
Fränz trug in starken Armen die Mutter auf das Bett, dann setzte sie sich daneben, und ihre Hand haltend, begann sie zu erzählen; aber bald merkte sie, daß die Mutter schlief. Sie hielt noch lange still die Hand der Schlafenden und wagte es nicht, sich zu bewegen; endlich legte sie die Hand auf das Kissen, und leise auf den Zehen schleichend, hatte sie sich der Thüre genähert, als die Mutter rief:
»Kind, wohin willst?«
»Zum Vater.«
»Da muß ich auch mit, ich bin ganz wohlauf.«
Es half kein Abwehren, und nachdem Fränz die Mutter wohl eingemummt, verließ sie mit ihr die Post.