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Eine halbe Stunde lang herrschte in dem kleinen Zimmer eine Todtenstille.
Abermals war eine halbe Stunde verflossen, Alice saß, noch halb betäubt, in ihrem Wagen. Die Fahrt ging zum Sonnenstein. Sie verlangte den Arzt der Irrenanstalt zu sprechen, welcher Lydia in der Kur hatte. Nach einem langen Gespräch, während dessen der Irrenarzt, ein noch junger, sehr bleicher Mann, mit raschen Schritten das Zimmer auf- und abgeschritten war, trat eine Minutenlange Pause ein.
»Sie können vielleicht Recht haben« – sagte endlich der Arzt, auf dessen Gesicht sich ein tiefer, innerer Kampf abzuspiegeln schien, zu Alicen.
»Vielleicht! – Aber wer giebt uns die Gewißheit?«
Jetzt erhob sich auch Alice. Außer der Marmorweiße auf ihrer Stirn und Wange deutete keine Spur auf die vergangene furchtbare Scene, die sie kurz zuvor erlebt. Ihr Auge glänzte mit demselben Feuer wie vorher, und ihre Stimme hatte ihren gewöhnlichen melodischen sonoren Klang.
»Und glauben Sie denn« – wandte sie sich zu dem Unentschlossenen – »daß dies Wagestück, wie Sie es nennen, wirklich so bedenkliche Folgen haben kann? Ich glaube es nicht. Gewiß wird der Anblick auf sie gar keinen oder einen wohlthätigen Eindruck hervorbringen.«
»Wohlthätig? – Was kann wohlthätiger für die Arme sein, als der Mangel des Bewußtseins, und vollends jetzt? Indeß ist es möglich, daß, da sie den Lebenden nicht kannte, der Todte sie noch weniger erschüttern wird. Verweilen Sie hier einen Augenblick, ich werde sogleich zum Direktor der Anstalt gehen, um persönlich die Erlaubniß auszuwirken.«
Als Alice allein war, ließ sie sich wieder auf den Sessel nieder und stützte das Haupt leidenschwer auf die Hand. Gedanken der widersprechendsten und vielfältigsten Art mußten sie durchkreuzen, denn bald rollte eine einzelne Thräne von den gesenkten Wimpern herab, bald strahlte ihr schönes Auge von tieferem, fast unheimlichem Feuer. Jetzt fuhr sie mit der Hand zum Herzen, als fühlte sie den großen Schmerz von Neuem, jetzt hob sich ihre Brust wie von kühnen Plänen geschwellt, um dann wieder von Verzweiflung niedergedrückt zu werden. Sobald sie jedoch die Schritte des Arztes vernahm, glätteten sich ihre Züge und die frühere Ruhe breitete sich wieder auf ihnen aus.
Der Direktor hatte die Bitte gewährt.
Rasch eilten sie Beide dem Flügel zu, in welchem Lydiens Gemach lag, wie alle Behausungen dieser Art halb Kerker, halb Krankenstube. Bei ihrem Eintreten fanden sie die Unglückliche auf dem Boden sitzend, den Schooß mit einer Menge von Blumen angefüllt, aus denen sie Kränze zu flechten versuchte.
Eine beklemmende Empfindung bemeisterte sich Alicens, als sie auf Lydia zutrat und einen forschenden Blick auf ihre Züge warf. Es war keine sehr bemerkbare Veränderung darauf zu sehen. Nur als ihr glanzloser und scheuer Blick dem Auge Alicens begegnete, las diese darin die Vernichtung dessen, was den Menschen über das Thier erhebt – des Bewußtseins.
Ein irres, halb verwundertes Lächeln glitt über ihre bleichen Lippen, als sie das fremde Gesicht erblickte, aber sie sagte Nichts. Fast wie ein Schwindel ergriff es Alicen, als sie dies Lächeln sah, unwillkührlich streckte sie die Hand nach dem Arzte aus, der sie sanft nach der Thüre führte, indem er ihr leise zuflüsterte: »Erwarten Sie mich unten. Ihre Bewegung könnte uns stören.«
Nachdem Alice einige Minuten im Wagen zugebracht, erschien Lydia am Arme ihres Arztes, in der Ferne von einem Wärter gefolgt. Sie stiegen ein und rollten, nachdem der Wagen fest verschlossen war, auf der Straße nach Dresden hin. Während der ganzen Fahrt sprach Niemand von den Dreien ein Wort, aber als sie vor der Gitterpforte des Gartens hielten, ergriff Alice des Arztes Hand und sagte mit bebender Stimme:
»Muth, Muth!«
Langsam gingen sie den Fußsteg hinauf, den noch wenige Stunden zuvor Landsfeld betreten hatte und standen zitternd nach wenigen Schritten vor der Thüre, die die Lösung dieses furchtbaren Räthsels verschloß.
Jetzt war durch eine merkwürdige Verwandlung, die plötzlich in Alicens Seele vorgegangen war, ihre ganze geistige Kraft zurückgekehrt. Mit sicherer Hand drückte sie die Feder, während sie mit der andern Lydiens Arm ergriff, um sie halb mit Gewalt in's Zimmer zu drängen. Eine geraume Zeit herrschte eine lautlose Stille. Alice und der Arzt standen bewegungslos auf der Schwelle, Lydia mitten im Zimmer dicht vor der Leiche Landsfelds, dessen Fuß fast den ihrigen berührte.
Sein bleiches Gesicht, aus dem der Tod jede Falte des Grams verwischt hatte, war ihrem Blicke offen zugekehrt.
In sprachloser Angst starrten die Beiden auf jede ihrer Bewegungen, und es schien Anfangs nicht, als ob die Befürchtungen des Arztes und die Hoffnungen Alicens sich verwirklichen wollten. In einem gegenüberhängenden Spiegel konnten sie genau den irren Blicken der Wahnsinnigen folgen, die zuerst wild im Zimmer umherschweiften und sich endlich auf den Todten senkten.
Da fuhr es wie ein eisiger Schauer durch ihren Körper, aber kein Schrei, kein Laut drang aus ihrem Munde und wie gefesselt wurzelten ihre Füße auf dem Boden, doch in demselben Augenblicke erhielten auch ihre Blicke ihre bestimmte Richtung wieder, während sie immer fest und starr auf die Züge des Todten geheftet blieben.
»Sehen Sie diesen Blick?« – sagte der Arzt zu Alicen. »Noch zwei Minuten und sie ist entweder todt oder bei Bewußtsein.«
In der That konnte man fast von Sekunde zu Sekunde wahrnehmen, wie das erwachende Bewußtsein in das immer größer und klarer werdende Auge zurückkehrte. Ihr Mund öffnete sich allmählig, Ihr Kopf beugte sich immer weiter und weiter vor, als wollte sie die geschlossenen Augenlider mit dem Strahl ihres Blicks durchdringen – – dann plötzlich wurde ihr ganzer Körper wie durch eine unsichtbare Macht in die Höhe geschnellt – sie fuhr sich, wie aus einem grausigen Traume erwachend, über Stirn und Augen und stürzte mit einem furchtbaren herzzerreißenden Schrei »Richard« auf ihren Gatten nieder. – – – – –
Einen Monat später fuhr ein schwer bepackter Reisewagen durch das Kärnthner Thor in Wien ein.
Zwei Frauen in tiefe Trauer gekleidet sahen theilnahmlos aus demselben auf das fröhliche Treiben der Kaiserstadt. – Es waren Alice und Lydia auf dem Wege nach Italien.