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10.

Das traurige Schicksal des Baron Stein hatte in Carlsbad überall die regste Theilnahme erweckt. Wenn auch die Bedeutung seines Wesens der Menge entging; wenn ihn auch viele für einen Schwärmer, für einen Sonderling hielten, für einen Melancholiker, der mitten in dem Leben und Treiben der großen Welt für seine Gedanken sich ein eigenes Reich erschuf, so wurde er doch in allen Salons gern gesehen; denn er galt für eine interessante Erscheinung, und hatte die feinen Manieren und den edeln Anstand eines Gentleman. Baron Stein war von seiner Familie für die diplomatische Carriere bestimmt worden; doch sein Herz blieb der kalten Taktik dieses Feder-Despotismus fremd, und hing mit treuer Begeisterung an den burschenschaftlichen Idealen seiner Jugend. So war sein Inneres in einen unlösbaren Zwiespalt zwischen Neigung und Beruf, zwischen den Ansprüchen des Herzens und den Forderungen der Welt hineingerathen. Dieser innere Kampf, der ihn nach außen hin kalt und abgeschlossen machte und auch jedes versöhnende Element fernhielt, mit dem vielleicht ein edles, weibliches Herz in treuem, innigem Verständniß, sein Leben beglückt hätte, spricht sich, in seiner ganzen Bedeutung, in dem Tagebuch des Barons aus. Einzelne Blätter daraus wollen wir unsern Lesern nicht vorenthalten, da gewiß die kurze Episode aus dem Leben des Barons, die wir mitgetheilt, bei ihnen das Interesse für sein inneres Leben erweckt.

Tagebuch-Blätter

Die Feuer der Wartburg sind ausgebrannt, und die officielle Geschichte trägt eine jugendliche Verirrung in ihre Bücher ein, während die Inquisition mit ihren Ketten und Torturen, wiederum durch die deutschen Lande rasselt. Eine jugendliche Verirrung! Doch diese Jugend kam ja nicht von den Schulbänken her, träumte ja nicht von der Republik eines Cato und Brutus, mit der Inbrunst eines schwärmerischen Lateiners, der die todten Lettern seiner Klassiker zum Leben erwecken will in der Gegenwart. Diese Jugend hatte mitgestritten in den Schlachten von Leipzig und Belle-Alliance, nährte sich mit dem Marke großer Thaten, hörte die Würfel eines bedeutsamen Weltgeschicks auf den blutigen Schlachtfeldern fallen, sah dem Tod in das Auge, und lernte die Geschichte, indem sie dieselbe schaffen half! Das eiserne Kreuz schmückte ihre Brust! So hatten sie das Vaterland erlöst aus langer Knechtschaft, auf daß es, von innen heraus, nach eigenem Gesetz, sich emporringe zur Freiheit, und sie nicht empfange als die Gabe eines fremden Volkes, als die Nachlese einer fremden Revolution! Wohlan, ihr diplomatischen Kläger, ihr habt Recht! Ihr macht diese Begeisterung, die eure Schlachten schlug, die an die Freiheit glaubte, sie nach außen errang, sie nach innen erringen wollte – ihr macht sie zu einer jugendlichen Verirrung.«

Fast wird es mir schwer, zu glauben an den Fortschritt der Menschheit, an eine innere, heilige Nothwendigkeit, an des Geistes siegreiche Macht, der in immer neuen Formen zu immer höhern Entwicklungen reift? Aber ich muß daran glauben – soll mir die Geschichte nicht zu einem großen Leichenfeld werden, auf dem eine maßlose Willkühr triumphirt; auf dem des Lebens Gestalten zu gespenstischen Schatten werden. Und doch – Griechenland und wir, das Volk der göttlichen Schönheit und Jugend und Freiheit – und wir! der Areopag – und der Bundestag! Oder die Zeiten des vorigen Jahrhunderts, das römische Reich, mit seinen Reichstagen, seiner Reichsarmee, seinem Reichskammergericht, seinen lächerlichen Reichsmittelbarkeiten, mit den Fürsten, die das Mark und Herzblut vergeudeten, mit ihren Maitressen und Juristen und Pfaffen, mit ihren Kriegen um ein Titelchen des Rechts oder der Etikette, um einen Fetzen Landes; mit ihren Ministern und Juden, die sich in die Beute theilten! O, auch der Glaube an den Fortschritt der Menschheit muß stark sein in der innersten Seele, so stark, daß er Berge versetzen kann! Denn die Geschichte selbst scheint an ihm zu verzweifeln; ihre Blätter stehen voll kühner Skepsis; und die Gegenwart bietet keinen Trost und keinen Halt.

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Ein blasirtes Geschlecht hält es für Thorheit, an Ideen zu glauben und nach ihrer Verwirklichung zu ringen. Die feine Welt verachtet die Ideologen, die Schwärmer, deren Compaß nicht von dem Wind der faden Mode umgetrieben wird; die in dem flüchtigen Genuß des Augenblicks nicht aufzugehn vermögen! Da schlürfen sie, die Diplomaten, die Aristokraten, die ganze Seligkeit eines komfortablen Lebens, spielen, wie Mückenschwärme in der Abendsonne, während es in den Völkern rollt und grollt, wie Donner ferner Revolutionen, und ihre Blitze aufzucken am Horizont der Geschichte! Ein gewandter Styl, eine glückliche Wendung, ein Federstrich, eine Laune hat über das Schicksal ganzer Nationen entschieden, deren blutige Heldenthaten nichts waren, als Tagelöhnerdienst im Sold der Diplomatie, welche Siege und Niederlagen, das credit und debet der Geschichte, in ihre offiziellen Contobücher eintrug! Doch die Zeit wird und muß anders werden; es sind nicht blos Gespenster, die in meinem Kopf herumpoltern; es ist ein Geist, der draußen in den Völkern groß wird, eine neue Geschichte nervig und markig, die nicht mehr in den Salons der bevorzugten Stände die diplomatischen Polonaisen aufführt, um deren Gunst man nicht freit mit Glacé-Handschuhen und eleganten Phrasen; nein, eine ungezogene, demokratische Geschichte mit der wilden Musik der Ça ira's, dem stürmischen Aufjauchzen einer lang unterdrückten Volkskraft. Die Kirche und Pfaffen der Restauration haben das Volk lange genug mit ihren Hungersuppen gespeist! Panis et circenses – Brodt will das Volk; die blutigen Spiele giebt es aus eigenen Mitteln dazu!

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Das nennen sie: leben! Aus einem Boudoir in das andere, aus einem Salon in den andern, tanzend über das Parquet mit gefirnißten Stiefeln, oder den Estricht fegend mit den Schleppen ihrer Kleider! Eine Minute jagt athemlos der andern nach; und so hetzen sie sich selbst durch das Leben! Und mit wilder Gier häufen sie Amüsement auf Amüsement, nur die Stunden auszufüllen, und dennoch fühlen sie immer wieder, trostlos und geängstigt, die ewige, fürchterliche Leere.

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Und was ist aus den Frauen geworden? Wir Burschenschafter glaubten an das Ideal der Jungfräulichkeit. Es war eine Reminiscens aus Tacitus oder aus dem katholischen Glauben des Mittelalters. Doch die Zeit der alten, germanischen Frauen ist vorübergegangen, wie die Zeit der Madonnen. Jede Zeit hat ihr eigenes Recht. Nicht in der Entsagung, sondern in der liebenden Hingabe finden wir die edle Weiblichkeit. Eine reflektirende Zeit, die in den Gedanken, in das Bewußtsein die Göttlichkeit setzt, kann keinen Respekt mehr haben vor paradiesischer Unschuld und Bewußtlosigkeit, die nur einem naiven Zeitalter eigen ist. Darum wäre es thöricht, von den Frauen solche utopische Gedankenarmuth zu fordern, oder wohl gar das weibliche Ideal in diesen schuldlosen Zustand zu setzen, der bei unseren Verhältnissen nur gemacht sein kann, eine affectirte Prüderie. Eine andere Schranke aber muß die Weiblichkeit wahren, und wenn sie die Scylla der Prüderie vermeidet, nicht in die Charybdis der Prostitution gerathen, Prostitution aber ist die Hingabe der Liebe, in oder außer der Ehe, ist das Wegwerfen der eigenen Persönlichkeit! Diese hoch zu halten, diese nur gegen den Preis der Liebe hinzugeben, dies schöne Maß zu bewahren – das ist in unserer Zeit des Weibes einzige Unschuld und Sittlichkeit.

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Nichts geht doch über eine harmonische Erscheinung; der Triumph, den die Natur in ihren Schöpfungen feiert! Wenn der Körper zum lebendigen Ausdruck der Seele geworden, jede seiner Bewegungen ihre Grazie athmet, und das Ebenmaß seiner Formen ein Abbild ist ihrer innern, maßvollen Schönheit: dann ist schon der Anblick eines solchen Wesens Göttergenuß, ein trunkenes Schwelgen in den ewigen Rhythmen der Welt! Ich habe ein solches Weib gesehn, und ich bin andächtig geworden! O es giebt einen schönen Katholicismus des Herzens, der mich zum Proselyten machen könnte! Eine solche gnadenreiche Madonna in ihrer Glorie, eine fleischgewordene Offenbarung der ewigen Schönheit kann Wunder thun an mir! Und sie befreit den Geist und knechtet ihn nicht, denn Schönheit ist Freiheit.

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Leidenschaftlich, rücksichtslos folgt er ihrem Schritt, hängt sich an ihre Fersen! Denn die Herren der Welt machen ihre Rechte geltend, und fordern die Schönheit als ihr Regal! Mit dem unwiderstehlichen Zauber ihrer Macht, der die fluchwürdig erniedrigte Sclavenwelt mit den Schauern der Unterthänigkeit schüttelt, sprengen sie alle Riegel, die man vorsichtig dem Gewissen des Volkes vorschiebt, und sanktioniren das Verbrechen, indem sie es selber begehn! Es liegt etwas Großes in der ungebundenen Schrankenlosigkeit eines nur sich selbst gehorchenden Lebens! Doch wenn diese Größe ein Recht der Menschheit ist, so darf sie nicht ein Vorrecht Einzelner sein. So kann sie nur zerrütten, zerstören; und ich werde ankämpfen gegen dies Monopol des Verbrechens bis zum letzten Athemzug!

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Ein schöner Nachmittag! Dies Weib ist Poesie; ihr ganzes Wesen ein Gedicht! Mir war's, als umschwebten sie all' die herrlichen Geister der Vergangenheit, von den lieblichen Idyllen Griechenlands, über denen ein ewig heiterer Himmel ruht, wie das klare Auge eines Gottes, bis zu Petrarkas träumender Romantik, die an Vaucklüsens rauschendem Quell der Liebe unsterbliche Lieder singt! Und dann wetterleuchtet's wieder auf in ihr von modernen Gedankenblitzen, aus dem Schoß einer zerrissenen, gährenden Zeit geboren, prophetisch die dunklen Tiefen der Zukunft erleuchtend! Der Besitz eines solchen Weibes wäre der Schlüssel zu allen Mysterien des Lebens, zu allen Offenbarungen der Poesie.

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Ich habe nie geliebt! Auch das ist nicht Liebe! Liebe ist unruhig und voller Wünsche; stets unzufrieden mit dem Nächsten, stets hinauslangend in die Ferne! Von einer Stufe der Seligkeit strebt sie nach der höhern hinan; und ihre Himmelsleiter ist unendlich! Ich bin ruhig und zufrieden, glücklich, wenn ich vor roher Hand ein vollendetes Werk beschützen kann, das die Natur in ihrem Allerheiligsten aufgestellt. Das beseligt mich; das genügt mir! Ich bin ein treuer Wächter, und werde es nicht dulden, daß der Vandalismus der rohen Begierde dies harmonisch gestimmte Saitenspiel zertrümmert.

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Das Gewitter hat sich entladen! So folge Schlag auf Schlag – und sei er auch tödtlich! Er wagt sein prinzliches Blut gegen das meine – er nimmt es auf mit dem Tod, dem uralten Demokraten! Ich seh' ihm dreist in das Auge! Ich falle, wie der Soldat auf seinem Posten! Oder ist meine Kugel dreist genug, ihm in's Herz zu dringen, und ihm unwiderleglich das Evangelium der Gleichheit zu predigen – so bezieh' ich wieder meine Wacht, stumm und treu, ohne Dank zu verlangen! Doch ich werde fallen – ich weiß es! Solcher Tod ist schön – und das Leben könnte noch schmerzlich werden! Es könnte anders kommen! Eine Leidenschaft, so tief sie verborgen, so schwer sie gefesselt, könnte aufsteigen, maßlos, alles verlangend, alles durchbrechend, und den treuen Hüter zum frevelnden Räuber machen! Dagegen giebt es nur ein Radikalmittel – der Tod! Die Pistolen sind geladen! Glück auf!


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