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»Zehn Jahre bin ich nun verheiratet. So lange habe ich fürs Brot gesorgt und mich für die Familie abgerackert. Die nächsten zehn Jahre kann meine Frau das nun mal tun.« – Der das sagte, hieß Randt, man nannte ihn aber den »Usinger«, denn er war aus Schlesien. Er war gelernter Tischler, hatte aber seit Jahren keinen Hobel in der Hand gehabt. Wenn er nicht in der Schnapskneipe saß oder zu Hause schlief, lungerte er am Altonaer Fischmarkt umher, ob er da nicht für irgendeine Handreichung, die nicht viel Kraft und Zeit erforderte, sich ein Trinkgeld erlauern konnte.
Die beiden Leute, denen er das erzählte, lachten laut. Sie nickten aber auch zustimmend mit den Köpfen, denn sie hielten das nicht nur für einen guten Witz, sondern auch für einen guten Gedanken.
»Ick will mien Olsch datt ock mal vörslaan,« sagte der eine. Er hatte kein Handwerk gelernt, sondern war Gelegenheitsarbeiter; das heißt, er ging jeder Gelegenheit zur Arbeit vorsichtig aus dem Wege.
»Aolreit Ganz recht.!« stimmte der andere zu. Er hatte früher als Schiffsreiniger und Kesselklopfer im Hafen gearbeitet, da hatte er allerlei englische Brocken aufgeschnappt. Damals hatte er viele solcher Wörter zwischen seine Reden mischen können, nun hatte er aber manches davon wieder vergessen, denn er arbeitete schon lange nicht mehr in den Kesseln und im Doppelboden der Schiffe. Das war ihm zu ungesund. Er sagte, seine Lunge sei schwach, die müsse tagsüber frische Luft haben und abends gut unter Sprit gesetzt werden. Das verordneten die Doktors den Lungenkranken immer: gute Luft und kräftigen Sprit und ja keine schwere Arbeit! – So wolle er es auch halten.
Die Zustimmung der wackeren Gefährten bestärkte den Tischler in seiner Ansicht, er fuhr also fort: »Die nächsten zehn Jahre kann meine Frau denn nun mal die Familie ernähren und mich mit. Wenn die Zeit um ist, dann wollen wir mal sehen, wie's weiter werden soll. Denn können die Kinder ja auch schon für uns Alten sorgen. – Und vielleicht ist der Köhm dann nicht mehr so teuer.« Er reckte sich und gähnte. »Ich meine also, ich hätte mein Teil Arbeit getan. Ich laß mich panschonieren. Ich tu nix mehr!«
Nach diesen Worten griff er in die hintere Tasche seines langen, schwarzgrauen, schmierigen Rockes, zog eine halbgefüllte Flasche hervor, sagte »Prost!« und setzte sie an die Lippen: »Gluck, gluck gluck!« – – Dann reichte er sie seinem Nachbar.
»Ick seh di!« sagte der und tat einen kräftigen Zug. Der dritte hielt die Flasche gegen das Licht. »Ich lobe mir den Labetrank und labe mich am Lebenstrank,« sagte er und trank den Rest.
Dann lehnten sie sich alle drei an die Mauer, schauten stumpfsinnig vor sich hin in den Rinnstein und vergaßen – solange der Fuselgeist das Denken dämpfte –, daß sie drei elende Fischmarktlöwen Spottname für diese Art Leute. waren. – – – – –
Einige Straßen weiter, am Pinnasberg von Sankt Pauli, standen um die gleiche Zeit zwei kleine Jungen vor einem Schaufenster. Sie drückten die Nasen fest an die Scheiben und schauten hinein in das herrliche Reich, das im hellen Glanz des elektrischen Lichtes vor ihnen lag. Ja, es war ein Reich voller Wunder! – Sie sahen den Wald im Winterkleide. Zwischen den kahlen Zweigen und trockenen, rotbraunen Blättern von Buchenbüschen reckten sich beschneite Tannen empor. Hinter ihrem frischen Grün leuchteten die roten Beeren des Christusdorns, die staken in Büscheln zwischen den stachligen Blättern.
Rechts vom verschneiten Grün der Tannen sah man eine weite, blanke Eisfläche, an deren hinterem Rande stand ein Haus mit hohem, grauem Strohdach und hellerleuchteten Fenstern. Die waren so hell, weil im Zimmer die Lichter des Weihnachtsbaumes brannten. – Das Ganze war so einfach und doch so voller Weihnachtszauber.
Wortlos schauten die beiden kleinen Jungen hinein in diese glückverheißende Welt. Eine in Pelz gehüllte Dame trat hinzu, sie hatte ein kleines Mädchen an der Hand. »O, sieh doch Ida, wie herrlich schimmert der Christusdorn zwischen den Tannen hervor,« sagte sie.
»Christusdorn?« fragte die Kleine. »Bringt das Christkind den?«
»Nein, das bringt etwas Schöneres noch,« belehrte die Mutter. »Man nennt diesen Strauch mit den stachligen Blättern und den herrlich roten Beeren so, weil aus seinen zähen Zweigen einst die Dornenkrone geflochten sein soll, die man dem Weltenheiland bei seinem letzten Gange zum Spott aufsetzte. Blutstropfen netzten die Blätter, als ihm diese Krone aufs Dulderhaupt gedrückt wurde. Seit jener Zeit trägt die Stechpalme zum Geburtstage des Heilands, mitten im kalten Winter, in der grünen Blätterkrone die blutroten Beeren.« –
»Und für die kleinen hungrigen Waldvöglein, die sonst nichts haben, hat das Christkindlein die schönen Beeren bestimmt, nicht wahr, Mutter?« fragte die Kleine.
Die Mutter nickte, dann gingen beide weiter.
»Kiek mal, von hier kannst du die Beeren sehen,« sagte dann der eine der beiden Jungen und zeigte mit dem Finger nach dem Tannenwald. Er hatte einen schönen warmen Mantel an und eine Mütze auf, die man bis über die Ohren ziehen konnte.
Der andere hatte eine dünne, verschlissene, rotbraune Jacke an und einen kleinen runden Zeugdeckel auf dem Kopf, unter dem das blonde Haar lang und wirr herausquoll. Er stand etwas seitwärts, von wo man in den Hintergrund der Landschaft blicken konnte. »Komm hier mal her,« erwiderte er. »Von hier kannst du das Haus und den Weihnachtsbaum sehen.«
Sie standen dann dicht nebeneinander und starrten lange wortlos hinein in das Wunderland, das sich alljährlich Millionen von glücklichen Kindern erschließt, und in das viele Tausende, mit Sehnsucht im Blick und Bitterkeit im Herzen, nur von weitem hineinschauen dürfen.
»So'n schönen Baum kriegen wir auch,« sagte nach einer Weile der mit dem warmen Mantel. Der andere schwieg.
»Kriegst du nicht auch einen?« fragte er dann.
Der mit der verschlissenen Jacke fuhr auf. Er steckte die Hände in die Taschen, denn jetzt fühlte er wieder, daß es kalt war. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein!« sagte er leise.
»Warum kauft deine Mutter dir denn keinen?«
»Hat kein Geld.«
»Dein Vater muß ihr was geben.«
»Mein Vater? – Der hat erst recht nichts.«
Sie schwiegen wieder eine Zeitlang, dann fragte er weiter: »Was ist dein Vater denn?«
»Er hat keine Arbeit.«
»Ja, aber was macht er denn?«
»Er steht am Fischmarkt.« – Und dann kam es bitter von den Lippen des Kleinen: »Wenn er was verdient, dann versäuft er das, und wenn er denn nach Hause kommt, so haut er uns.«
Es zog bei diesen Worten anscheinend einen Augenblick Trübsal hinein in das Herz des kleinen Glücklichen. »Das muß er aber doch nicht tun,« sagte er und blickte den Gefährten mit großen, erschrockenen Augen an. Aber die Gedanken an das eigene Glück wurden bald wieder stärker in ihm als das Mitleid mit anderen. Der Glanz, der davon ausstrahlte, verjagte die düsteren Schatten, und nach Kinderart plauderte er gleich wieder von dem, was alles auf seinem Tannenbaum sein sollte. »Aber du sollst was davon abhaben,« versprach er.
Der andere sagte kein Wort mehr. – Andere Kinder kamen gelaufen und drängten sich an das Fenster, so ging er denn weiter zum nächsten Laden; der gehörte einem Krämer.
Hier betrachtete er mit noch heißerem Verlangen die Kasten voller Rosinen und Feigen, die bunten Zuckersachen und den gelblichen und roten Marzipan. – »Drei Mark« stand an so einem kleinen Ding. Drei Mark! – So viel verdiente seine Mutter nicht an einem ganzen Tage, wenn sie bei anderen Leuten wusch. Was für eine Kostbarkeit war also so ein Marzipan; wie köstlich mußte der schmecken! Aber das war nur etwas für die ganz reichen Leute. – Am nächsten Bäckerladen blieb er wieder stehen, griff in die Tasche seines dünnen Jäckchens und holte ein Fünfpfennigstück daraus hervor. Dafür kaufte er sich zwei Semmeln und verzehrte sie auf der Straße mit Behagen.
Als er damit fertig war – es dauerte nämlich nicht lange –, sah er sich die Leute genauer an, die an ihm vorübergingen. Bald kam ein junger Mann, der leise ein Weihnachtslied vor sich hinpfiff, und der vertrauenerweckend aussah; neben dem lief der Junge her, zog seine Mütze und fragte: »Können Sie mir nicht sagen, was die Uhr ist?«
Der junge Mann brummte etwas Unverständliches, knüpfte aber seinen Überzieher auf, zog seine Uhr und sagte: »Viertel nach fünf!«
Da bekam's der Junge eilig. Er lief in der Richtung nach dem Hafen zu.
* * *
Regelmäßig in jedem Jahr, sobald der eisige Nordwest des Winters anfängt über die See hinweg zu blasen, stellen sich die Möwen der Nordsee in dichten Scharen vor der Sankt Pauli-Landungsbrücke ein. Sie fischen dort nach Abfällen, die von der Kanalisation der großen Stadt ihnen zugeschwemmt werden, und haschen nach den Brocken, die milde Hände ihnen zuwerfen.
Ebenso regelmäßig, wie die Möwen, stellen sich in jedem Winter hier auf den Anlegepontons der Fährdampfer Kinder ein, die den von den Werften und Lagerhäusern Steinwärders kommenden Arbeitern und Angestellten mit kläglicher Stimme zurufen: »Mann, en Stück Brot! – Bitte, Mann, en Stück Brot!«
Der Junge mit der verschlissenen rotbraunen Jacke und dem runden Mützendeckel war auch da. »Bitte, Mann, en Stück Brot!« In kurzen regelmäßigen Zwischenräumen, fast geschäftsmäßig, sagte er das; dabei lugte er nach rechts und links, ob jemand hersah oder sich anschickte, die Reste seines Frühstücks aus der Tasche zu holen. Die anderen Jungen und Mädchen waren nicht minder eifrig und aufmerksam, aber jeder stand geduldig an der Stelle, die ihm zukam, und lief nicht hinüber in das Gebiet eines anderen. Das kümmerliche Aussehen dieses Jungen erweckte anscheinend Mitleid, denn ihm flossen die Gaben etwas reichlicher zu als denen, die vor ihm und hinter ihm standen. »Hier, du Sleef plattdeutsches Scheltwort (Holzlöffel)! – Pass' opp dien Geschäft!« rief ein breitschultriger Arbeiter mit geschwärztem Gesicht ihm zu. »Griep too!« Er warf ihm ein Päckchen Brot zu.
Ein Angestellter, der fast schon vorbei war, blieb stehen, griff in die kleine Tasche, wo das Geld für die Elektrische steckte, und reichte dem Jungen einen Groschen.
»Datt is gans verkehrt, so'n Rümmerdriewer Herumtreiber. ock noch Geld to gäwen!« sagte dicht hinter ihm eine harte Stimme, als die kleine schmutzige Hand schnell das Geldstück umschloß.
Da drehte sich der Breitschultrige um und rief: »Dor quäl du di man nich üm, du anner! – Freu di, datt dien Kinner datt nich nödig hemm!«
Da ging »de anner« brummend, aber schnell, weiter. Es dauerte dann gar nicht lange, da bückte sich der Junge, drängte und schob sich unter den Armen des dichten Arbeiterstromes hinweg, lief die Treppe hinauf und rannte den Pinnasberg hinan. Hinter ihm her klapperten ein paar kleinere seines Schlages, krochen durch die Lücken und zwischen den Beinen der Großen hindurch und polterten die Seitentreppe hinunter, die zum Kai führt. – –
Es war nämlich ein Hafenpolizist mit auf dem Fährdampfer gewesen, der war als letzter ausgestiegen und kam nun hinter den Arbeitern her. Als er an die Bettler herankam, machte er ein grimmiges Gesicht, drohte mit der Faust und rief mit fürchterlicher Stimme: »Töwt man, ji Takeltüg Wartet nur, ihr Gesellschaft.! – Nu krieg ick ju bi de Büx, un ji kammt allemann int Lock!«
Er tat nach bestem Ermessen seine Pflicht. – In seinem Herzen sah es allem Anschein nach ganz anders aus, denn er ging so langsam und bedächtig hinter dem Arbeitertroß her, daß die Eile der Flüchtenden eigentlich keinen Zweck hatte. – »Sonne Bande!« schimpfte er noch, als das Klappern ihrer Holzpantoffel auf der Treppe verklungen war. Ein Arbeiter sah sich nach ihm um und lachte. Da lachte er auch. –
Als die Kinder unten am Kai bei den Steinewern Große flache Kähne (Ewer), die Steine fahren. waren, sahen sie, daß der Mann in der Uniform oben bei Heitmann um die Ecke bog. Da fanden sie sich denn alle wieder zusammen; auch die Jungens, die nach dem Pinnasberg ausgerückt waren, kamen hierher, um Börse abzuhalten. Sie holten das Brot hervor, das sie unter den Jacken und in den Hosentaschen verstaut hatten, klappten es auseinander, besahen es, tauschten und handelten. Mancher biß auch kräftig in die Schwarzbrotschnitten hinein, oder holte ein Stückchen Wurst daraus hervor, das dem Geber nicht gut genug gewesen war. Einige stillten nur ihren Hunger; andere hatten Beutel mitgebracht, in denen sie alles, was sie kriegen konnten, nach Hause trugen. – Einer von ihnen verstaute alles vorn unter seine Jacke, denn er hatte kein anderes Gelaß für seine Schätze. Das war der Junge, der von seinem Vater gesagt hatte: »Wenn er was verdient, so versäuft er das, und wenn er denn nach Hause kommt, so verhaut er uns.« – Sein Vater war nämlich der Tischler Randt, der die nächsten zehn Jahre seine Frau für sich und die Familie arbeiten lassen wollte.
Als der kleine August Randt nach Hause kam, sah er aus, als wenn sein Brustkorb ganz verwachsen sei: so dick war die Jacke vollgestopft mit Brot. An der Ecke der Silbersackstraße sah er seinen Schulkameraden Hein Peters stehen, der hatte in jeder Hand einen Hampelmann, das waren ganz große; am Jackenknopf hingen außerdem noch ein Dutzend kleinere. Jeden Vorübergehenden rief er an: »Tein Penn Zehn Pfennige. kost man so'n Hampelmann – de Arm un Been bewegen kann.« – Als August Randt vorüberkam, lachte er und rief: »Minsch, watt hest du di verännert! – Du büst ja en Dickdoher Dicktuer, Prahler.«
Sie stellten sich dann zusammen. August Randt zeigte dem Kameraden seine Schätze und wollte ihm ein Stück Brot mit schönem Speck daraus hervorsuchen. Hein Peters aber wollte nichts abhaben, denn er sagte, sein Geschäft ernähre ihn gut. Übrigens habe sein Vater auch keine Arbeit, und er käme manchmal duhn betrunken. nach Hause.
»Haut er euch denn auch?« fragte August.
»Jonich!« versicherte Hein. Er setzte dann hinzu: »Das sollte er sich man bloß mal unterstehen zu versuchen, dann kriegte er selbst fix was aufs Fell.«
»Von dir doch wohl nicht?« – Hein sah seinen fast um einen Kopf größeren Kameraden halb fragend, halb bewundernd an.
»Aber von meiner Mutter,« erwiderte Hein Peters. »Die läßt sich nix gefallen. Die ist stark. Die ist Packerin in der Papierfabrik und schmeißt ihn in die Ecke, wie'n Sack voll Lumpen.«
»Da kannst du dich aber freuen,« meinte August Randt.
Sie sprachen dann noch allerlei über Heins Geschäft. Hein Peters sagte, es seien noch vierzehn Tage bis Weihnachten; bis dahin müßte er noch ein paar Taler verdienen. Als ihm dann August Randt seinen Groschen zeigte und sagte, er hätte zu Hause noch drei mehr, da meinte sein Freund, damit könne er auch schon so ein Geschäft im kleinen anfangen. Das klang sehr verlockend, denn August wollte doch lieber ein Geschäft betreiben als betteln. Es fiel ihm übrigens auch ein, daß er, wenn das Geschäft nicht genügend abwarf, beides betreiben könne.
»Du darfst dich dann aber nicht an diese Ecke stellen, das ist meine.« Die Bedingung stellte Hein Peters, und es wurde festgesetzt, daß er wenigstens zehn Häuser weiterhin stehen müßte. Im übrigen sagte Hein seine Mithilfe zu. Am anderen Tage, gleich nach der Schule, wollten sie sich an die Arbeit machen. – Als August Randt zu Hause ankam, versteckte er zunächst seinen Groschen. Er hatte nämlich eine Stelle ausgefunden, die sich vorzüglich als Schatzkammer eignete. Ein Stück Holz der Fensterbank in der Küche war morsch und steckte lose in der Mauer. Man konnte es nach der Seite herausziehen; dann entstand unter dem Stück ein Loch, von dem kein Mensch eine Ahnung hatte. Und wer sollte unter dem morschen Stück Holz etwas suchen! – Es war niemand in der Küche. August schob das Brettstück zurück: die Sparbüchse war offen. Es lagen einige blanke Knöpfe, einige Liebigbilder, ein paar Griffel- und Bleistiftenden und sechs Fünfpfennigstücke darin. Er legte den Groschen dazu. – Vorsichtig paßte er dann den Deckel wieder über das Loch und drückte die gebrochenen Stellen so fest zusammen, daß nichts Auffälliges zu sehen war, dann legte er seinen Brotvorrat daneben aufs Fensterbrett.
Seine Mutter, eine schmächtige, verkümmert aussehende Frau, kam bald darauf die Treppe herauf; sie hatte den ganzen Tag gewaschen, nun war sie müde und verdrießlich. Sie schalt mit den drei ganz Kleinen herum, als die sich hungrig über das Brot hermachten und einer dem anderen das beste aus der Hand riß.
Als sie satt waren, wurden sie ins Bett gepackt: zwei am Kopfende, zwei am Fußende. »Nun seid ihr ganz stille und schlaft, sonst gibt es was mit dem Stock,« hieß es. Das war der Gutenachtgruß. Die Frau wollte Ruhe haben. Die Kinder schliefen denn auch bald und hörten nicht das Grölen und Fluchen des Vaters, als er betrunken heimkam und Bratkartoffeln mit Fleisch zum Abendbrot verlangte. Die gab's nun nicht, und er schimpfte auf seine Frau, auf Gott und die ganze Welt, als er das von den Kindern nachgelassene Brot knacken mußte. August aber träumte, daß er am Nobistor stände mit einem ganzen Kasten voll Hampelmännern, und daß sich alles an ihn herandrängte, um recht große und feine zu kaufen; die kosteten aber auch eine Mark das Stück. – – –
Am anderen Nachmittag stellte er sich bei Hein Peters ein; dessen Mutter war in der Fabrik, der Vater »suchte Arbeit«, so waren die beiden denn ungestört. Sie kauften sich Bilderbogen mit den Hampelmanngliedern, schnitten diese heraus und klebten sie auf Pappe: die stammte von Kasten, die sie sich bei einer Putzmacherin gebettelt hatten. Auch der zur Herstellung notwendige Bindfaden war hier und da zusammengeschnurrt; so kam es denn, daß August Randt für seine 4 Groschen einen ganz netten Vorrat fertiger Ware bekam. Er hatte nämlich meistens kleine genommen, und den Kleister rechnete Hein Peters ihm nicht an.
Das Geschäft ging gut und erweiterte sich von Tag zu Tag. Bald war August schon im Besitz von einem ziemlichen Posten großer Hampelmänner, die 15 Pfennig kosteten, und für die feine Leute gut und gern 20 und 25 Pfennig bezahlten. Er nahm bald seinen jüngeren Bruder Fietje mit, der hatte einen kleinen Buckel: er war, als die Mutter aus dem Hause zum Waschen war, auf den Tisch geklettert und dann heruntergefallen. – Dieses Gebrechen war ihm aber bei dem Handel wahrlich kein Hindernis. Fietje wurde an der nächsten Hausecke aufgestellt, so daß August dessen Geschäftsführung mit überwachen konnte. Viel konnte er ja nicht machen, dazu war er zu klein und kümmerlich; er hielt nur in jeder Hand einen Hampelmann und sagte weiter nichts, als immer nur: »Tein Penn! – Tein Penn!« – Er nahm aber alles, was man ihm in die Hand steckte, hielt es fest und gab nicht gern einen Hampelmann dafür her. »Datt is mien! – Datt is mien!« schrie er dann, und lachend gingen die Käufer meist ohne Ware weiter. Auf diese Art machte er ein ganz gutes Geschäft. August gab während dieser Zeit seinen Standplatz auf dem Fährponton auf, denn er sah bald ein, daß sich beim Handeln mehr verdienen ließ als mit Betteln. Das Geschäft nahm auch seine ganze Zeit in Anspruch.
Etwas von dem verdienten Gelde gab er seiner Mutter; sie wollte, daß er alles abgab, er war aber schlau genug, immer einen Teil des Überschusses in seine Sparbüchse zu legen. Es waren immer die blanksten Groschen, die er dort verwahrte, und er freute sich sehr über den anwachsenden Schatz. Zwei Tage vor Weihnachten hatte er sich 16 Groschen zusammengespart, und immerzu ging ihm der Gedanke im Kopfe herum, was er sich alles dafür kaufen könnte.
Am nächsten Mittag, als er aus der Schule kam, hatte er es sich alles überlegt, und es stand fest, was er sich zunächst kaufen wollte. Es war Tauwetter eingetreten, das Schneewasser stand in allen Pfützen, seine Schuhe aber waren so undicht, daß das Wasser vorn hinein- und hinter wieder hinauslief. Er wollte sich bei Schmidt ein Paar alte Schuhe kaufen. Seiner Mutter konnte er dann ja sagen, daß er sie irgendwo geschenkt bekommen hatte. Dann würde sie nicht weiter fragen.
Er lief – patsch-patsch – nach Hause. Die kleinen Geschwister standen unten im Hausflur herum. Die Mutter war zum Reinmachen im Vorderhaus; der Vater war natürlich am Fischmarkt, so war August denn ungestört, und es konnte ihn niemand beobachten. Er ging also an seine Schatzkammer heran, schob vorsichtig das Brettstück zur Seite und schaute hinein in das Loch. – Mit weit geöffneten Augen starrte er hinein, dann stieß er einen Schrei aus: er sah nur die Knöpfe und die schmutzigen Bilder, von dem Gelde keinen Pfennig. – Er griff mit der Hand hinein in das Mauerloch, er tastete in den Ecken umher und wühlte den Kalkstaub aus der Tiefe. Nichts war zu finden. – Wo konnte das Geld geblieben sein? – Gefunden konnte es doch keiner haben, dazu war es zu gut versteckt! – Sollten die Mäuse es verschleppt haben?! – Er suchte Streichhölzer, leuchtete hinein in sein Versteck und suchte die untere Wand ab: kein Mauseloch und auch kein einziger Groschen war zu finden.
Eine Ahnung stieg in ihm auf. –
Er rannte die Treppen hinunter und lief ins Vorderhaus zu seiner Mutter. Keuchend brachte er es hervor: »Mutter, hast du mein Geld?«
»Ich dein Geld? – Was meinst du denn für Geld?«
»Das, was ich mir im Loch unter der Fensterbank aufbewahrt hatte.«
»Ich weiß nichts davon. Wieviel war es denn?«
»Fast 2 Mark.«
»Und nun ist es weg?«
»Ja!« Er fing zu weinen an. »Hast du es denn nicht, Mutter? Ja, Mutter, du hast es gewiß gefunden und verwahrt.«
Sie schüttelte den Kopf. Und er fuhr weinend fort: »Ich wollte mir doch ein Paar Schuhe dafür kaufen. – Sieh!« Er hob den einen Fuß hoch: die Sohle klappte herunter.
»Armer Junge!« Sie fuhr leise mit der Hand über sein wirres Haar, dann schrie sie: »Das hat der verfluchte Kerl getan. Mir hat er auch schon oft was gestohlen.«
»Wer, Mutter?« – »Dein Vater.« – –
An diesem Abend ging August Randt nicht auf den Handel. Was nützte denn alles Streben und Verdienen, wenn einem das Geld doch gestohlen wurde!
Spät erst, gegen Mitternacht, kam der Tischler Randt nach Hause. Er war schwer betrunken, hatte aber noch »Selbstgefühl« und Kraft genug, um sich der Vorwürfe seiner Frau zu erwehren. Zuletzt schlug er um sich. August aber, der noch wach lag und sich nicht ruhig verhielt, bekam auch noch derbe Prügel.
Am anderen Tage stand der Junge mit seinen zerrissenen Schuhen im Regen und Schneeschlamm wieder auf dem Fährponton: »Bitte, Mann, en Stück Brot!« – Er hat dort noch oft gestanden.
Als August Randt vierzehn Jahre alt geworden war, sollte er konfirmiert werden. Ein wohltätiger Verein rüstete ihn mit einem dunkeln Anzug aus; er bekam auch einen runden steifen Hut – einen »Kugelspint«, wie die Jungens sagten –, ein Paar derbe Stiefel und auch ein Gesangbuch. Etwas weiße Wäsche hatte seine Mutter von einer Herrschaft geschenkt erhalten, wo sie die Reinemacherei besorgte, so daß er von Kopf zu Fuß neu eingekleidet werden konnte. Am Konfirmationsmorgen war er denn auch sehr fein, so fein, daß seine kleinen Geschwister ihn ganz verwundert anstarrten. Seine Mutter holte ihr altes schwarzes Kleid aus der Lade, wischte, stichelte und bügelte so lange daran herum, bis es ganz anständig aussah, und ging mit ihrem Jungen zur Kirche. Der Vater erklärte das alles für Narrenkram; er hatte sich freilich von einem früheren Arbeitgeber einen alten schwarzen Rock erbettelt, unter der Angabe, daß er doch mit seinem Sohne, der konfirmiert würde, zur Kirche gehen müßte. Den Rock verkaufte er sogleich meistbietend in der Destille von Tetje Fett und versoff mit seinen Freunden den Betrag. – Es gehörte sich doch, daß er bei einer solchen feierlichen Gelegenheit einen ausgab! –
Als August zur Kirche ging, war er ganz stolz: gegen keinen seiner Kameraden stach er ab; auch über das verkümmerte Antlitz seiner Mutter flog ein Schimmer der Freude, als sie ihn so ordentlich und nett in der Reihe der Knaben sitzen sah. »Nun will ich auch was Ordentliches werden, Mutter,« sagte er, als sie zusammen nach Hause gingen. Sie nickte und grübelte – wie so oft schon, darüber nach, ob sie ihn nicht bei einem tüchtigen Handwerker in die Lehre geben könne. Dann strich sie ihm über die Jacke, die hinten eine Falte schlug, in die er erst noch hineinwachsen sollte. »Nimm den Anzug gut in acht!« mahnte sie.
Von dem Anzug hätte er lange gut haben können, denn er war überall auf Zuwachs gebaut und aus dauerhaftem Stoff. Aber er hatte ihn nur zweimal an, dann versetzte ihn sein Vater schon. Seiner Mutter war es aber nicht möglich, ihn wieder einzulösen, um so weniger, als der Vater den Pfandschein auch noch mit einem kleinen Vorteil verkauft hatte.
August Randt wäre nun gerne zur See gegangen, dann kam er doch weit fort von Hause, aber er konnte sich keine Schiffsjungen-Ausrüstung beschaffen, und ein Schiff fand er auch nicht, das ihn nahm. Dann wäre er gerne Maschinenbauer oder doch wenigstens Schlosser geworden, fand aber keine Stelle als Lehrling. Da traf er eines Tages seinen alten Freund Hein Peters, der war schon zwei Jahre drüben auf Steinwärder bei Blohm & Voß als Nietenjunge in Arbeit, der riet ihm, sich auf dem Arbeitsbüro der Eisenindustriellen einschreiben zu lassen, damit er ebenfalls bei den Nietenwärmern ankäme. Das tat denn nun auch August sogleich, und es dauerte nicht lange, da stand er ebenfalls an einer Feldschmiede, um »Niete zu kochen«.
Die Zeit, die nun kam, war gar nicht schlecht. Sein Schirrmeister, Fritz Knaul, war zwar ein »Ruffer«, einer, dessen Helfer nicht fett wurden, weil er mit ihnen fix was fertigschaffte. Er war aber sonst ein gutmütiger Kerl, und – was am Sonnabend abend ins Gewicht fiel – bei dem tüchtig was an Akkordgeld verdient wurde.
Die ersten Tage waren aber ein bißchen sehr sauer für August Randt. »Hitz Hitz bezeichnet Weißglut oder Schweißhitze., Jung! – Hitz!« rief Fritz Knaul. Und wenn dann nicht gleich ein weißglühender Niet im hohen Bogen durch die Luft sauste und dem Vorhalter so dicht vor die Füße fiel, daß er ihn bequem mit der Zange erreichen konnte, dann hieß es gleich: »Pass' opp, du Dösbattel, sünst krigst du en Bax to'n Pund!« – Es war aber nicht leicht, immer die Niete gut weißwarm zu haben, wenn sie gerade gebraucht wurden; es gehörte auch eine große Geschicklichkeit dazu, die Niete so sicher zu werfen, daß sie an der richtigen Stelle niederfielen.
Die kräftigen Ermahnungen erteilte Fritz Knaul im werftüblichen Platt, sonst sprach er lieber Hochdeutsch, denn er war »nich von hier«, sondern in Westpreußen geboren; er war ein Auswärtiger, oder wie man in Hamburg – ohne jede Bösartigkeit – sagt, ein Quiddje.
Ja, August mußte viel lernen in der ersten Zeit. Es kam häufiger vor, daß er keine Niete hinzuwerfen hatte, wenn es »Hitz!« hieß, weil sie alle erst braunwarm waren. Dann kam Fritz Knaul selbst, reinigte das Feuer, legte die Niete zurecht und zeigte ihm die Kunstgriffe, ohne die auch ein Nietenwärmer nicht auskommt. »So, nu tret en bißchen fix zu,« ermahnte er ihn dann. »Davon, daß du hier rumglupst und mal ins Feuer spuckst, werden die Niete nicht warm. Pedden! Immer pedden! – Und denn klar Feuer!«
Aber mit dem Nieten ging das auch nicht immer so glatt und gleichmäßig, und es kam auch vor, daß August zu viel »Hitz« hatte. Ging das Nieten dann wieder los, so flog zischend und mit einem Kometen-Feuerschweif ein ganz verschmorter Niet durch die Luft. Der Schirrmeister stieß den mit dem Fuß zurück und schrie: »Die angebrannten kannst du selbst auffressen.« Zuweilen kam auch eine etwas deutlichere Aufmunterung noch hinterdrein, in die – wie die Rosinen im Kuchenteig – einige kräftige Kernworte der Helfer hineinflogen. Dann flimmerte es August Randt vor den Augen, und daran war nicht nur der Rauch der Feldschmiede schuld. Wenn ihm dann die Tränen an den Backen herunterliefen, so fuhr er sich rasch mit der schwarzen Hand übers Gesicht, damit keiner sah, daß so'n großer Junge weinte.
Als er die ersten vierzehn Tage hinter sich hatte, stand er mit seiner Feldschmiede und seinem Schirrmeister schon auf ganz gutem Fuß.
»Er 's en williger Junge,« sagte Fritz Knaul. »Wenn er nur erst mehr Murr in den Knochen hat, so wird es schon gehen.«
Eine neue Welt tat sich auf der Werft vor ihm auf, und viel Wunderbares gab's dort zu sehen. Die Lochmaschinen rasselten und nickten. Wenn ihr Kopf nach unten ging, dann knurrte es im Bauch der Maschine, knallend schoß unter dem Stempel ein Lochputzen aus der Platte: ein Nietloch war fertig, das nächste kam an die Reihe. Tausende, Millionen solcher Löcher wurden gestanzt; die Maschine frondete und brummte, die Arbeiter schoben die Platten vor, daß sie die rechte Stelle traf. So schufen die recht geleitete rohe Kraft und starke willige Arbeiterhände ihr rechtschaffenes Teil zum vielgestaltigen Riesenwerk.
Von der Lochmaschine kam die Platte unter die Schere. Die biß kräftiger noch hinein ins dicke Blech: der abgeschnittene Saum ringelte sich widerwillig zur Spirale, die Platte blieb sauber und gerade. – »Hart wie Eisen«, so hatte August es oft sagen hören; hier sah er, daß es noch Härteres gab: gehärteter Stahl schnitt das Eisen wie Butter. Und was war es, was den Stahl bezwang, ihm Form und Härte gab? – Das sah er in der Schmiede: Feuer und Wasser! – –
Achtlos dammelte er einmal über eine große schwarze Bretterdiele hinweg, die in der Schiffbauhalle, nicht weit von den Glühöfen, lag. Da kam aber auch schon einer, der ihm einen Rippenstoß gab, daß er zur Seite flog, dann packte ihn jemand am Ohr, beugte seinen Kopf nieder zur Diele, daß er die Menge der darauf eingeritzten, schwunghaft verlaufenden Linien sah, und fragte: »Meinst du Esel, daß die Spantenlinien darum auf die Bretter aufgerissen werden, damit ihr Bengel sie mit den Füßen abtretet?!« – Eine Antwort wartete der Betreffende nicht ab, er half aber, daß August schleunigst den geheiligten Boden verließ. – Etwas beschämt machte er, daß er weiter kam; doch der Anblick am Glühofen hemmte gleich wieder seinen Schritt. Da tat sich gerade das eiserne Tor des Ofens auf; die Arbeiter zogen aus dem langen, flammendurchlohten, weißglühenden Kanal ein schweres Winkeleisen. Eine Maschine half ihnen. Als die feurige Schlange draußen auf den eisernen Platten lag, kam einer mit einer kleinen Kanone angefahren. An der war außen nicht viel zu sehen, sie hatte es aber innerlich. Ohne Geknatter und Geballer zeigte sie ihre Kraft: sie bog das dicke Eisen zu einem Schiffsspant zurecht und brummte nicht mal dabei; nur zischte sie nach jedem Hub. So viel wußte August nun schon: es war Druckluft, die ihr diese Kraft gab, dieselbe Druckluft, die Niethämmer knattern und Handbohrmaschinen rasseln machte, und von der Fritz Knaul mit überlegener Miene sagte: »Sie kann wohl aus einem Kaffer einen Nieteneinklopfer machen, aber keinen zünftigen und zuverlässigen Nieter!«
Diese Luftkanone gewann ihm aber doch allerhand Achtung ab; er stand lange beim Spantenbiegen und sah zu, viel zu lange, denn als er wieder bei seiner Kolonne ankam, stand einer der Helfer schon am Feuer, und er bekam allerlei anzuhören, was ihm nicht sonderlich in den Ohren klang.
Zur Frühstücks- und Mittagszeit setzte er sich solchen Gefahren nicht aus, da konnte er mit Hein Peters das weite Reich der Werft durchstreifen und den älteren Kameraden um dieses und jenes fragen, was er nicht verstand. Und Hein Peters gab immer eine Antwort, sie war aber auch zuweilen danach. – – Sie konnten dann auch zwischen den Stapelblöcken umherjachtern und auf den Stellagen herumklettern; nur aufpassen mußten sie, daß die Werftpolizisten sie nicht am Kanthaken kriegten. – Immer aber, wenn es Arbeitszeit war, heulten die Dampfpfeifen; wenn sie dann ein bißchen zuliefen, konnten sie die Nietfeuer schon in Gang haben, wenn die Männer der Kolonne anrückten. Viel Spaß gab es in den Frühstücks- und Mittagspausen, das war wahr. Oft ging dieser auf Kosten der Neuen und Unerfahrenen. Auch August mußte herhalten.
So wurde ihm eines Mittags ein verlockendes Anerbieten gemacht. Ihm sollte ein Fünfgroschenstück auf die Nase gelegt werden, und das sollte ihm gehören, wenn er es – ohne die Hände zu gebrauchen – von der Nase so abrutschen lassen konnte, daß es in einen Trichter fiel, der ihm vor den Bauch, unter den Hosenriemen gesteckt wurde. August zweifelte keinen Augenblick daran, daß ihm dies Kunststück gelingen würde, denn eigentlich war das ja gar kein Kunststück, und Hein Peters redete ihm lebhaft zu: »De fief Groschen kannst du arme Deuwel woll bruken!« meinte er.
August stellte sich hin, legte den Kopf hintenüber und ließ sich ein Fünfgroschenstück auf die Nase legen. Daß es gut und echt war, davon hatte er sich vorher überzeugt. – Oh, er war schlau! – Dann wurde ihm ein alter schmieriger Trichter unter den Riemen, in die Hose hinein mündend, gesteckt. Während er nun übereifrig nach dem Geldstück schielte und die Nase hin und her drehte, ein anderer aber ihm hinten die Hände festhielt, goß der Geldgeber ihm blitzschnell ein Maß voll kaltes Wasser in den Trichter, daß es ihm unten bei den Stiefeln wieder herauslief. – August brüllte auf und schüttelte sich, die Umstehenden aber stimmten ein fürchterliches Gelächter an, und der »Geldgeber« beeilte sich, sein Fünfgroschenstück von der Erde aufzusammeln und es in Sicherheit zu bringen.
Abends war August rechtschaffen müde, und wenn er gegessen hatte, fielen ihm bald die Augen zu. Aber es war eine gute Zeit für ihn und die Seinen, denn der Vater war fort. Wo er war, das wußten sie nicht. Er kriegte das zuweilen so im Frühjahr: wenn der Himmel blau wurde und der Schlehdorn blühte, dann packte ihn der Wanderfimmel. »Raus aus dem Elend!« sagte er dann seinen Standesgenossen am Fischmarkt. »Wozu hat man sein Handwerk zünftig gelernt!« – Dann tippelte er als »dufter Kunde zünftiger Handwerksbursche (»Kunden«sprache).« durch die »Kaffs Dörfer.« Schleswig-Holsteins, sprach um Arbeit an, um seine Wegzehrung zu erhalten, focht sich zusammen, was ihm sonst noch fehlte, und redete abends in der Penne Herberge. große Töne. Das ging denn so lange gut, bis der Putz Polizist, Landjäger. ihn faßte, und man ihn auf den Schub brachte. – In diesem Jahre wußte er sich mehrere Monate so durchzudrücken. Das war für die daheim eine gute Zeit! – Eines Abends aber war er wieder da. – –
An Tagelohn bekam August 1 Mark und 60 Pfennig. Als er am Sonnabend nach der Rückkehr des Vaters mit seinem Wochenlohn in der Tasche nach der Landungsbrücke am Fischmarkt hinüberfuhr, sah er ihn schon vom Dampfer aus auf der Hafenstraße an der Kaimauer stehen und nach der Fähre hinüberlugen. Er versteckte sich hinter den breiten Rücken der Arbeiter, hielt sich auf der Brücke im dichtesten Schwarm und kam so unbemerkt an seinem Vater vorbei. – Kaum war er aber zu Hause angekommen, so polterte der Alte die Treppen hinauf und verlangte im barschen Ton von seinem Jungen Schlaf- und Kostgeld. – Die Mutter war nicht daheim.
»Das kriegt Mutter,« entgegnete August und suchte seiner Stimme einen tiefen männlichen Ton zu geben, wie es einem Menschen zukommt, der seinen Wochenlohn mit seiner Hände Arbeit sauer verdient hat. – Da traf ihn ein tückischer Blick aus den rot unterlaufenen Augen des Alten.
»Was sagst du?« rief er höhnisch und ging mit geballten Fäusten näher an ihn heran.
»Mutter soll doch das Geld haben; sie hat es immer gekriegt,« sagte August, und seine Stimme zitterte etwas.
»Nun bin ich aber hier wieder Herr im Hause, verstehst du?!« schrie ihn der Alte an. »Meinst du Schleef, du seist mir nichts schuldig? – Meinst du, du hättest all die Jahre hier umsonst gefressen und geschlafen und könntest jetzt deinen Lohn verballern und verbummeln, du Lump!«
»Ich wollte mir 'ne Arbeitsbluse kaufen; Mutter meinte auch …,« wandte August nun ein.
»Mutter hat nichts zu meinen; die kauf ich dir. Her mit dem Geld!« Langsam, die Linke offen haltend, die Rechte geballt, kam der Alte näher. – August starrte ihn an, wie das Vöglein die Schlange. Er wußte nicht, was er tun sollte. Einen Augenblick fuhr es ihm durch den Kopf, daß er die Kohlenschaufel nehmen müsse, die auf dem Herd lag, um den Alten niederzuschlagen. Und wenn er ihn totschlüge. – Der aber mochte solche Gedanken ahnen und ließ den Jungen nicht aus den Augen.
Als der Alte dicht vor ihm stand und die Faust hob, griff August in die Tasche und nahm einen Taler heraus. »Laß mir das übrige Geld, Vater,« bat er. »Wir brauchen es doch so nötig!«
»Wieviel Geld hast du denn eigentlich noch?« Mit raschem Griff fuhr seine Hand in die Tasche des Jungen, und nun entstand ein Drängen und Winden, ein Schieben und Schreien. – – Da fuhr der Alte mit der Linken ihm an die Gurgel. Im nächsten Augenblick war der Junge an die Wand gedrückt und gewürgt, daß er blutig am Halse und blau im Gesichte wurde. Krampfhaft zuckend und stöhnend brach er zusammen. – –
Eine halbe Stunde später kam die Mutter nach Hause. Sie fand August totenbleich und mit zerkratztem Gesicht auf der Diele liegen. Die kleineren Geschwister waren inzwischen von der Straße heraufgekommen, sie standen um ihren großen Bruder herum und weinten. Sie konnten auch der Mutter keine Auskunft geben über das, was geschehen. Als sie ihn geschüttelt, ihm mit einem nassen Lappen den Angstschweiß von der Stirne und den Schaum vorm Munde gewischt hatte, schaute er sie mit weit aufgerissenen Augen an: irre Angst lag in diesem Blick. – Dann fuhr er mit einem Schrei auf, schlug wild um sich und sank wieder nieder. Stoßweise und stöhnend kam der Atem aus der Brust. Die Finger krallten und krampften sich zusammen, die Glieder erstarrten, und von seinen Augen war nur das Weiße zu sehen. – – So lag er lange, dann brachte die Mutter den Willenlosen zu Bett.
Spät abends kam der Alte schwer betrunken heim. Als die Mutter in des Jungen Taschen kein Geld vorfand, als sie die blauen Flecke an seinem Körper und die Kratzwunden an seinem Halse sah, da wußte sie, was geschehen war, zumal die Kleinen den Vater hatten in die Wohnung gehen sehen. Als ihr Mann daher die Tür aufmachte, traf ihn krachend ein Schlag mit der Kohlenschaufel auf den Schädel, daß er auf der Schwelle zusammenknickte. Endlich hatten Mutterliebe und Zorn die Schranken niedergerissen, die Gewohnheit, Stumpfheit und Furcht aufgerichtet hatten. Am anderen Morgen drückte sich der Alte in der Frühe heimlich. Erst nach einigen Tagen kam er mit alter Frechheit wieder und leugnete alles.
August aber konnte sich am nächsten Morgen auf wenig mehr besinnen von dem, was sich am Abend ereignet hatte. Aber daß sein Vater von ihm Geld verlangt und ihn dann gewürgt hatte, das wußte er noch. – – Dann kam die große Leere in seinem Gedächtnis. Er hatte die Krämpfe bekommen, und die hatten alles da oben ausgelöscht. In allen Gliedern aber lag es ihm wie Blei. – –
Die Mutter gab ihm 2 Mark und einige Groschen. »Hier,« sagte sie, »hier hast du den Rest von deinem Geld, das andere hat er versoffen.«
»Hat er dir das gegeben?«
»Nein, ich habe es gestern abend aus seiner Tasche genommen.«
August sah sie ängstlich an und dann nach dem Lager des Vaters hinüber. »Wenn er's nun merkt?« flüsterte er. Da fuhr das Weib auf. »Er ist fort, der Halunke, der Räuber!« schrie sie. Und dann mit einer schrecklichen Verwünschung: sie wolle auf der Stelle verrecken, wenn sie noch einmal ihre Kinder von ihm anfassen und schlagen lasse. – Sollte es auch ihr Tod sein, dann erst er! – –
Als der Alte sich dann bei nächster Gelegenheit wiederum das Haus- und Faustrecht sichern wollte, kam er damit nicht zurecht. Er merkte, daß nicht nur sein Weib, sondern auch sein großer Junge nun mit dem Grimm und Mut der Verzweiflung zusammen ihm gegenüberstanden. Wie ein tückischer Hund drückte er sich hinaus. Er kam aber wieder, und seine Frau sorgte weiter für Brot und eine Schlafstelle für ihn.
Nach einigen Wochen versuchte er es auf andere Weise, von August Geld zu bekommen. Er wollte ihn allein an der Landungsbrücke treffen und dann sehen, ob er ihm nicht etwas abschwatzen oder sonstwie abnehmen könne. Als August ihn unten auf dem Ponton stehen sah, sagte er schnell zu Fritz Knaul, an dessen Fersen er sich geheftet hatte:
»Meister, nehmen Sie doch mein Geld an sich!«
»Was soll ich mit deinem Geld, Junge?« sagte der. »Bring' das doch deiner Mutter.«
Da erzählte August mit schnellen Worten, wie die Sache stand, denn alleine, ohne der Mutter Hilfe, konnte er dem Vater doch nicht gegenübertreten. Allein hatte er Angst. –
»Also daher deine Krankheit von neulich,« sagte Fritz Knaul. »Donnerwetter, so'n Lump! – Na, man keine Bange, das machen wir!« Er sagte sofort seinen beiden Helfern Bescheid. Denen war das ein gefundenes Fressen.
Die vier von der Nietkolonne Knaul gingen nun als die letzten vom Fährdampfer.
Der alte Randt trat mit heuchlerischem Lächeln an seinen Sohn heran. »Na, August, hat's fix Geld gegeben?« Und dann zu den drei anderen: »Tut der Junge auch ordentlich seine Arbeit?«
»Dor quäl du di man nich üm, du Löw!« sagte der eine Helfer, denn er war nicht sehr für Förmlichkeiten. Fritz Knaul aber sagte ganz höflich: »Danke für gütige Nachfrage, mein Herr. Ich freue mich, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Geld ist da, natürlich! – Kommen Sie man mit hinein in die Wartebude, da wollen wir uns auseinandersetzen. Das Geld hab' ich nämlich.«
Sie gingen alle fünf hinein in die Bude, die am Ende des Pontons steht. August Randt zuletzt. Drinnen legte Fritz Knaul seine schwere Faust recht unsanft auf des alten Randt Schulter und grölte ihn mit seinem Steinkohlenbaß an: »Glaubst du Bummler, daß dein Junge sich abrackert, damit du Geld zum Saufen hast?«
»Donnerwetter, was soll das? – Was wollen Sie von mir? – Lassen Sie mich gehen.« Der Alte versuchte aufzubegehren und drängte nach der Tür. Vor dieser hatten sich aber drohend die beiden Helfer aufgestellt.
»Das Donnerwetter kommt erst noch,« entgegnete Fritz Knaul. »Warte nur, es schlägt gleich ein. Frauen und Jungens hauen, das kannst du, was? – – Aber hier …« – Da schlug es bei dem alten Randt ein. –
Nun wurde der alte Feigling ganz klein und kläglich: so sei das nicht gemeint gewesen, und er hätte ja gar nichts getan und wolle das auch nicht wieder tun …
»Jammerlappen!« sagte Fritz Knaul und spuckte verächtlich aus.
»Smiet em in de Elw Elbe.!« riet gleichmütig einer seiner Helfer.
»Denn krepieren alle Fische,« sagte der andere.
Fritz Knaul aber schwor dem Alten bei Gott und allen Teufeln zu, daß er ihn beim nächsten Zusammentreffen braun und blau, krumm und dumm schlagen würde, wenn er seinem Nietenwärmer auch nur einen Groschen wegnehmen oder ihn nur einmal schlagen würde. Nicht einmal schief ansehen dürfe er ihn, auch das verbat sich Fritz Knaul.
»Deihst du datt, denn kiek hier!« Damit hielt ihm der eine Helfer seine recht ansehnliche Faust unter die Nase.
Das half. Der Schnaps tat ein weiteres, den Alten unter die Füße zu bringen; er wurde krank und schlapp und konnte nicht mehr so brutal auftreten zu Hause. So wurden für Frau und Kinder die Verhältnisse etwas besser als früher. August bekam einen neuen Anzug, den seine Mutter sorgsam wegschloß. Er bekam auch besseres Essen, so daß er seine Arbeit machen konnte und jedesmal vom Akkordüberschuß ein nettes Stück Geld abbekam, wenn »fertig geschrieben« wurde.
Ein Andenken an jenen bösen Abend aber behielt August, das waren die Krämpfe. Wochenlang merkte er von ihnen nichts, aber unsichtbar und unfaßbar umlauerten sie ihn; unerbittlich schlugen sie den Ahnungslosen dann nieder, knebelten sie seine Glieder und seine Sinne. – So ein Anfall kam, wenn er übermüdet war, wenn er Verdruß oder Streit gehabt hatte; meist kam er dann abends, wenn er eben nach Hause gekommen war. – Dann überflog ihn die Angst, dann würgten ihn unsichtbare Hände, dann lähmten ihn unheimliche Gewalten, und so stürzte er zusammen. – Keiner konnte ihm helfen. Am nächsten Morgen war er matt und zerschlagen, ging aber an seine Arbeit, denn sein Feuer und seine Nieter warteten auf ihn; er konnte auch den Tagelohn nicht entbehren. – –
* * *
Eines Tages im nächsten Frühjahr liefen die Nietenkocher der Werft durcheinander wie die Ameisen; aber so fleißig waren sie nicht, wie diese. Es ging ein Gerede von Mund zu Mund; woher es kam, wußten wenige, aber jeder gab es mit Eifer und Zusätzen weiter.
»Wir wollen mehr Lohn haben,« hieß es zuerst. »Wir wollen streiken!« hieß es dann.
Aufgetaucht war es zuerst bei Fietje Möller, der eine Schankwirtschaft an den Vorsetzen hatte. Früher war er bei einer Plattenkolonne als Locher gewesen, er hatte dann aber »en bißchen was geerbt« und hatte sich eine Köhminsel zugelegt. In der Wirtschaft rechts von ihm verkehrten die Kesselschmiede, links die Segelmacher. Fietje Möller beschloß, etwas für die Jugend zu tun. Er holte sich einige ältere Nietenjungens heran, die er von der Werft her kannte, traktierte sie mit saurem Schweinefleisch und Schnaps und spielte mit ihnen Sechsundsechzig. Diese Gäste brachten bald Kollegen mit, und es dauerte nicht lange, so hatten die Nietenwärmer hier ihren Sparklub »Halfstark« gegründet, dessen erster Paragraph lautete: »Jedes Mitglied hat sich am Sonnabend abend bei Fietje Möller einzufinden und sein Spargeld abzuladen, sonst verfällt es in eine Strafe von 50 Pfennig, die in die Kasse gehen.« Von den anderen Paragraphen und Strafen braucht man nicht zu reden, dieser erste sorgte dafür, daß es am Sonnabend bei Fietje Möller voll war, denn lieber vertrank man doch das Geld, als daß man es als Strafe zahlte. Und wenn man erst mal da war, und wenn man Geld in der Tasche hatte, dann fing man an, es dort gemütlich zu finden. Bald fanden sich dann auch zu anderen Zeiten hier die Nietenwärmer und ihre Freunde ein, denn bei Fietje Möller galten sie was und wurden für voll gezählt, was auf der Werft nicht der Fall war. Hein Peters, der mit im Aufsichtsrat des Sparklubs war, suchte auch August Randt zum Beitritt zu bewegen, hatte damit aber kein Glück. »Ach, du bist ja en arme Deuwel!« sagte da Hein Peters und ließ ihn stehen. –
Eines Tages nun hatte Fietje Möller zu seiner Frau gesagt: »Weiß der Deubel, wo meine Rietsticken immer bleiben! – Ich glaube, hier kommt einer, der frißt sie, denn immer und immer sind die Dosen und Dinger leer!«
»Wenn's der Deubel nicht weiß, denn weiß ich es,« sagte seine Frau.
»Na, wo bleiben sie denn? – Wer nimmt sie denn mit?«
»Die Nietendietjes Dietje, ein Hamburger Scheltwort.!«
»Das ist wahr: die Jungens rauchen immer Zigaretten, und dazu gebrauchen sie natürlich viel Streichhölzer. Da ist denn nichts dabei zu machen,« meinte Fietje Möller.
»Wenn das alles wäre, da kämen wir überhin,« rief die Frau. »Aber ich hab' gestern ein paar Jungens schnacken und lachen hören: Sie stecken da 's Morgens das Feuer auf ihren Feldschmieden mit an. – Wenn sie kein Kleinholz haben, so nehmen sie 'ne ganze Handvoll und die Schachtel dazu.«
»Die verfluchten Bengels, die will ich mir aber doch gleich mal kaufen,« drohte Fietje Möller. Er fing dies Kaufgeschäft aber recht vorsichtig an. Als er nämlich so von hintenherum den Jungens damit kam, lachten die ganz frech und meinten, das müßte bei 'ner Krugwirtschaft, wo sie so viel Geld versöffen, über sein.
»Laßt euch doch auf der Werft Streichhölzer liefern,« riet Fietje Möller. »Die haben mehr Streichhölzer und Geld als ich, und sie verdienen auch mehr an euch als ich.«
»Die geben uns keine!« hieß es.
»Denn laßt euch mehr Lohn geben, daß ihr euch welche kaufen könnt!« riet Fietje Möller.
»Das tun sie man nicht!«
»Wa–a–as, das tun sie nicht? – Das müssen sie tun!«
»Denn gah du man mal henn und segg ihnen datt!« rief einer, und sie lachten alle. Fietje Möller aber lachte nicht mit, er kriegte einen roten Kopf und grölte in den Lärm hinein: »Denn macht doch en Streiks ihr Schafsköppe!«
Da wurde es stille ringsumher. Fietje Möller fuhr fort: »Wenn ihr einig seid, und wenn ihr keine Nieten mehr kocht, so können auch keine Nieten mehr eingekloppt werden, dann wird kein Schiff mehr fertig, dann kommt kein Havarist mehr heil aus den Docks, dann kommt die ganze herrliche Bude zum Stillstand!«
Da horchten die Jungens und rissen die Mäuler auf. »Ihr müßt euch nur einig sein,« betonte Fietje Möller. »Dann kommt alles von selber und ohne daß ihr eine Hand rührt.«
»Einig? – Das werden wir leicht.«
»Das sind wir ja schon: wir wollen alle mehr Geld verdienen!«
»Ebensoviel wie die Helfer!«
»Mehr Akkordgeld! Mehr … Mehr …!« Sie schrien alle durcheinander. Fietje Möller betrachtete lächelnd die erregten Gesichter seiner Gäste. Als sich der Lärm etwas gelegt hatte, redete er weiter:
»Na, wenn es so steht, und wenn ihr so denkt, denn kann das Streiken bald losgehen. Wählt aber erst mal 'ne Deputatschon, die dem Nietenmeister die Sache vorträgt. So gehört sich das! Erst verhandeln! – Und vielleicht bewilligt er auch so, was ihr braucht.«
»Wir wollen lieber streiken,« bemerkte einer und guckte hinaus ins Wetter. Ein paar andere gaben ihm recht, denn auf der Elbe blinkte die Sonne, und sie dachten an ihre Schulferienzeit, wo sie drüben auf den Wiesen Steinwärders im Grünen gelegen, in den Gräben geketschert und am Elbdeich gebadet hatten. – Da war 'ne andere Luft gewesen, als im Schiffsbauch und am Nietenfeuer! –
Aber Fietje Möller blieb dabei: »Erst 'ne Deputatschon wählen! – Erst verhandeln!« denn er dachte daran, daß die Nietenwärmer, wenn sie nichts verdienten, auch nichts verzehren konnten. Aber er fügte hinzu: »Die Deputatschon muß fordern, sie muß auch auftrumpfen. Und wenn's denn nicht anders geht, dann – – – streiken!«
Das leuchtete schließlich allen ein, und die Sache kam in Gang. Es wurde zum nächsten Abend eine Versammlung einberufen, Reden wurden gehalten, und es wurde eine Deputatschon ganz richtig gewählt. Hein Peters war auch mit darin; er konnte zwar nicht viel reden, aber er war lang und stark und galt daher was unter seinen Kameraden. Und das mußte jeder Meister einsehen: solche großen Kerls, die mußten doch auch was Ordentliches verdienen! –
»Was ist das, ihr Jungens wollt streiken?« fragte am anderen Morgen nach der Frühstückspause Fritz Knaul seinen Nietenwärmer.
»Die anderen wollen alle,« sagte August Randt.
»Und du?« –
»Ich muß dann mitmachen!« meinte August etwas kleinlaut, denn er hatte das Gefühl, daß er seinem Vormann eine kaum zu ersetzende Kraft entzog.
»Das Streiken ist eine ernste Sache, das ist kein Jungenskram!« Fritz Knaul sah ihn mit seinen hellen grauen Augen scharf an, dann fuhr er fort: »Wenn einer streiken will, so muß er zuerst mit seinem Gewissen, dann mit seinen Arbeitsgenossen und mit seiner Frau einig sein. – Und dann muß er wissen: es geht vielleicht bis zum letzten Blutstropfen. – Dazu gehört Überlegung, Wille und ruhiges Blut! – Was ihr vorhabt, ist mit Hurra und Juchhe und mit Grog angerührt, das ist voller Bengelei und Slusohrigkeit Verschmitztheit., das pustet der Wind um, ehe es Morgen und wieder Abend wird.«
August Randt sah ihn mit großen Augen an. »Wenn die anderen alle streiken wollen, denn kann ich doch nicht alleine arbeiten. Das ist Verräterei, sagen sie, das ist gegen die Solidarität, sagen sie.«
»Solidarität?« Fritz Knaul griff das Wort auf. »Was wißt ihr von Solidarität? – Davon wird geredet, wenn man sein gutes Recht verficht und wenn man Äpfel stiehlt. Sie ist eine gute Sache, wenn die Sache selbst solide ist. Steckt aber der Wurm drin, stecken faule Köppe und üble Vögel dahinter, soll das Wort dazu dienen, daß die Ehrlichen und Starken für solche Leute die Kastanien aus dem Feuer holen, dann prost Mahlzeit! – Dann danke ich dafür!«
»Mutt doch sien!« sagte der eine Helfer.
»Ganz recht! – Mutt sien!« bestätigte Fritz Knaul. »Aber es heißt dabei: Kiek ut! – Das hab' ich damals auch gesagt, als sie auf der Versammlung davon redeten, den Akkord Arbeit in Stücklohn. abzuschaffen. ›Akkord is Mord!‹ haben sie da gesagt. Da bin ich ans Rednerpult gegangen. Denn sagt doch lieber: ›Lohnarbeit ist Sklavenarbeit,‹ hab' ich gesagt. ›Is et ock!‹ – hat einer gerufen. Na ja, hab' ich gesagt, denn also: ›lieber tot als Sklave‹. – Da hab' ich die Lacher auf meiner Seite gehabt, und ich hab' denn weiter gesagt: Wenn ich in Lohn arbeite, verkauf' ich mich auf Zeit dem Übernehmer, wenn ich aber eine Arbeit in Akkord übernommen habe, dann bin ich selbst Übernehmer. Dann kann ich arbeiten, wie ich will. Kein Meister braucht mich schief anzusehen, wenn ich mal die Hände in die Taschen steck'. Dann freu' ich mich, wenn die Arbeit fluscht. Das ist dann mein Verdienst, und meine Helfer haben dann auch was. Und die freuen sich denn, daß sie bei einem fixen Kerl arbeiten, der ein Werk anzufassen und Akkordgeld herauszuholen versteht. Und für'n ordentlichen Kerl ist es Ehrensache, daß er über die Akkordarbeit nicht hinwegschlumpst. – Ich bin für Selbständigkeit bei der Arbeit! so hab' ich schließlich in die Versammlung hineingerufen, ich will Interesse an meiner Arbeit haben, und ich will was verdienen, wenn ich ein Stück Arbeit übernehme. Ich will, daß mein Schaffen und Können bezahlt wird und nicht die Zeit, die anständigerweise dabei verdruckst werden darf. So, meine ich, sollte jeder denken und fordern, der was kann. Und jeder fixe Kerl sollte sich mit mir darin solidarisch erklären! – So rief ich zum Schluß.«
»Datt sloog dörch,« sagte sein Helfer. Fritz Knaul nickte. »Und nun mach', was du willst,« sagte er zu August. »Aber ich glaube, dies geht aus wie'n Zischzappen, den wir uns als Jungens anrührten aus Pulver, Feilspäne und Spucke. Wenn man ihn ansteckte, war er wie'n kleiner feuerspeiender Berg: die Funken flogen wie Sterne umher, und wir riefen Ach! und Oh! und Hurra! Nach ein paar Augenblicken war aber nichts mehr davon da, als Rauch und Gestank. – Aber Jungens sind Jungens!«
Der Vorhalter meinte, es wäre aber auch keine Sache, den »Heidelberger Streikbrecher.« zu spielen. Er selbst war aus dem Stande der Nietenwärmer hervorgegangen, daher fühlte er mit ihnen.
Um 10 Uhr ging die Deputatschon zum Nietenmeister. Der kam bald mit ihnen wieder aus seiner Bude heraus und ließ alle Nietenjungens zusammenrufen.
»Was wollt ihr denn nun eigentlich?«
»Mehr Lohn!« rief einer.
»Se schöllt uns mehr von't Atkordsgeld affgäben!«
»Un Rietsticken Streichhölzer. to'm Füeransteeken!« rief ein dicker Bengel.
»Det Zigaretten?« fragte darauf der Meister.
»Dorvon hebbt wi nix seggt,« rief der Dicke.
»Die können wir uns selbst kaufen, wenn wir mehr Geld verdienen,« grölte jemand von hinten und steckte den Kopf weg, daß der Meister ihn nicht sehen sollte.
»Bist du auch wieder hier, Korl Thies?« fragte ihn der Meister. »Wo bist du denn damals hingegangen, als du hier in'n Sack gehaut hattest Die Arbeit niederlegen (Kundensprache).?«
Der brandrote Kopf von Korl Thies tauchte wieder zwischen den anderen auf; er stellte sich auf die Zehen, um größer zu erscheinen. »Nach'm Reiherstieg,« sagte er mit möglichst tiefer Stimme.
»Warum bist du denn da weggegangen?«
»Der Meister kam mir so dumm. – So was laß ich mir nicht gefallen.«
»Donnerwetter, denn muß man sich ja in acht nehmen. Du bist ja'n hellischer Bengel, Korl Thies.« Der lange Nietenmeister lachte. »Pass' man auf, daß deine Mutter dir nicht was hinten auf die Büx gibt wenn du nun bummeln gehst!«
»Dor bin ick to groot tot« erwiderte der Kleine mit stolzem Selbstbewußtsein, und er war doch nicht viel größer als seine Feldschmiede.
Der Nietenmeister wandte sich nun an die Wortführer der Versammelten; es wurde eine Weile hin und her geredet, zu einer Einigung kam es aber nicht. »Geht erst mal wieder an eure Arbeit, dann wollen wir sehen, was sich machen läßt,« so lautete schließlich die Forderung des Meisters.
»Erst mehr Lohn bewilligen!« das war die Forderung der Deputatschon; sie erscholl von verschiedenen Seiten aus dem Hausen. Dabei blieb es. –
Vom blauen Himmel lachte die Sonne, aus der Werftplanke am Wasser saßen die Stare, pfiffen um die Wette und putzten sich den gesprenkelten Rock. Oben an den Laternenmasten bauten die Spatzen ihre Nester und flogen mit Twistfäden und Holzwolle und anderen Werftabfällen ab und zu; sie hatten nicht mehr die schmutzig-grauen Winterröcke an, sie hatten sich fleißig im Schanzengraben und dann im Baggersand gebadet. So waren denn die Männchen herrlich rostbraun und die Weibchen schön hellgrau geworden. Der Frühling machte alles neu und schön. – Das sahen auch die Nietenwärmer, und die Frühlingssehnsucht stahl sich durch ihre schwarzen Kittel hinein ins Jungenherz. –
»Frei sein!« so klang es da drinnen.
Gegen Mittag zogen sie alle aus dem Fabriktor hinaus: sie hatten den Streik beschlossen. Einer, der voranmarschierte, stimmte beim Auszug die Arbeitermarseillaise an; einige fangen mit: »Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet …« – Viel weiter kannten sie aber das Lied nicht. Als dann von hinten zu ihnen herübertönte: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus …« da sangen sie alle aus voller Kehle das liebe alte Frühlingslied. So schritten sie hinaus in Freiheit und Sonne, lagerten sich im Sand und am Strand und strömerten umher; von irgendwelchen üblen Folgen wollte keiner was hören. Und doch hatte manch einer, der ein mutiges und vergnügtes Gesicht heraussteckte, ein unruhiges Gewissen: Was würde Vater oder Mutter dazu sagen? – Die wußten nämlich durchweg von nichts.
August Randt dachte auch an den Lohnausfall, der seiner Mutter Anlaß zur Unzufriedenheit geben würde. Er nahm sich vor, einen Ausgleich dadurch herbeizuführen, daß er unter die »Altertumsforscher« ging; das heißt, er beschloß, im Schlackenberg am Schanzengraben zu wühlen, um im Fabrikschutt herausgebrachte Niete und Schrauben und anderen Eisenabfall zu suchen. Konnten sich in dem Gewerbe alte Leute ihren Lebensunterhalt zusammenkratzen, so würde es ihn wohl über die Not der Streikzeit hindurchbringen. Nur heute noch nicht! – Heute war Feiertag! Und überhaupt, heute nachmittag sollte eine Versammlung stattfinden.
Hinter der Werft, auf der weiten Fläche, wo der Baggersand zuletzt aufgebracht war, wurde diese abgehalten. Es wurde dabei viel geredet; da aber meist viele gleichzeitig redeten, konnte man nicht alles verstehen, und mancher, der Wichtiges zu sagen hatte, mußte seinen Senf für sich behalten, weil andere »Quaddelbüdel« lauter schreien konnten oder mehr Anhang und Aufmerksamkeit hatten. Im großen und ganzen war man sich aber ganz einig: Mehr Lohn! – Mindestlohn 2 Mark! – Mehr Akkordgeld und so weiter …! Streikbrecher aber und Arbeitswillige – sogenannte Heidelberger – sollten nach Kräften vertrimmt werden.
Ein paar Tage später war alles zu Ende. – – Der Himmel war grau und schwer. Von den Dächern der Werkstätten tropfte schwarz das Regenwasser; auf dem Werftplatz standen hier und da Wasserpfützen. Die Spatzen saßen aufgeplustert in den Mauernischen, waren mißmutig und zankten sich. Vor dem Zimmer des Nietenmeisters aber stand das Heer der Nietenjungen. Sie ließen die Ohren hängen und schlichen sich dann an ihre Arbeit. – Der Streik hatte August Randt nicht mehr eingebracht, als Ausschelte von seiner Mutter, denn er hatte es in dem ihm neuen Gewerbe zu nichts Rechtem gebracht.
»Hab' ich's nicht gesagt!« knurrte Fritz Knaul, als er auf den ersten Niet wartete. »So etwas muß von innen heraus kommen, und dann mit Ernst angepackt werden. Das war ja alles Hangelbangelei!« – Er brummte dann noch etwas in den Bart, das August nicht verstand. Gleich aber hieß es: »Fix, Jung! – Nun röhr di mal! – Hitz!« – – Dann flogen wieder die glühenden Nieten in der Luft, die Hämmer klapperten und klirrten, und den Männern troff der Schweiß in schwärzlichen Tropfen von den Stirnen.
Die Zeit, die nun folgte, war die beste, die August Randt je erlebt hatte. Sein Vater wurde verdächtigt, an Diebstählen beteiligt gewesen zu sein, die auf den am Altonaer Fischmarkt liegenden Ewern ausgeführt waren; er wurde verhaftet, saß lange in Untersuchungshaft und erhielt dann sechs Monate Gefängnis. Da lebte die Familie Randt ordentlich auf.
Die Mutter hatte ihre bestimmten Stellen, wo sie tagsüber rein machte; abends trug sie Zeitungen aus, und die Kinder halfen ihr dabei. Da gab's denn auch gelegentlich etwas geschenkt: ein paar Groschen, abgelegtes Zeug, etwas Essen. August brachte regelmäßig seinen Wochenlohn nach Hause, manchmal auch einen netten Akkordüberschuß. So konnten sie sich ordentlich satt essen, regelmäßig ihre Miete bezahlen, sich aus dem Pfandhause holen, was noch nicht verfallen war, und auch das Nötigste anschaffen. Nun konnten sie abends gemütlich zusammen sitzen, Sonntags irgendwo hingehen, wo es nichts kostete: nach dem Spielbudenplatz zur Kasperbude, nach der Exerzierweide oder den Bahrenfelder Tannen, kurz, da spürten die Kinder etwas von einem Familienleben. Jeden Abend aber konnten die Kinder ruhig zu Bett gehen, ohne Angst zu haben, daß der heimkehrende Vater mit Gebrüll sie wecke und mißhandle. Sie schliefen fest und sorglos, nur die Mutter lag dennoch oft mit schweren Gedanken wach: im Herzen wollten die Sorgen nicht zur Ruhe kommen, in der Brust aber fühlte sie Schmerzen, und die quälten sie immer mehr. – Sie sagte nichts davon; sie wollte nicht das Glück der Kinder stören.
»Wenn sie ihm doch gleich ein paar Jahre aufgebrummt hätten!« sagte eines Abends aus längerem Sinnen heraus August. Die jüngeren Geschwister waren schon zu Bett; er saß mit der Mutter allein am Tisch.
Sie sah von ihrer Flickarbeit auf, blickte ihn an, sah dann vor sich nieder und sprach kein Wort.
»Meinst du das nicht auch, Mutter?« fragte er. »Nun kommt er bald wieder heraus, dann geht das alte Leiden wieder los. Er tut nichts, versetzt wieder, was wir zurückgeholt und gekauft haben, und versäuft alles.« Und dann fuhr aus ihm heraus, was im stillen lange und oft in ihm gearbeitet hatte: »Mutter, wie konntest du bloß zu so'n Kerl kommen? – Wie konnten wir bloß so'n Vater kriegen?! – –«
Sie fuhr auf und starrte in sein Gesicht. Dann ging ein schmerzliches Zucken über ihre hageren Züge, und aus ihrer kranken Brust kam ein schwerer Seufzer. Sie legte die Hände vors Gesicht; zwischen ihren Fingern hindurch perlten Tränen und rannen hinab auf den Tisch.
»Was hast du, Mutter? – Wein' doch nicht, Mutter!« – Er ging um den Tisch herum, legte den Arm um ihren Nacken und versuchte, ihre Wangen zu streicheln. »Ich wollte dir doch nichts Schlechtes sagen, Mutter. Es kam nur so heraus. Und es ist doch so, Mutter.«
Da zog die durch Leid und Roheit hart und bitter gewordene Frau ihren Sohn an sich und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Dann sprach sie leise: »Er war nicht immer so, August. Als ich ihn kennen lernte, war er wohl ein bißchen flott, galt er unter seinen Kameraden wohl als ein »Hans vor allen Högen Einer, der Freude an Spaß und Vergnügungen hat.«, aber er arbeitete auch fix. Er konnte was schaffen, und er verdiente gutes Geld. Er war auch gut zu mir, und ich hielt viel von ihm. – Das mit der Flottheit, das würde sich wohl geben, dachte ich, wenn wir nur erst verheiratet wären, wenn er ein gemütliches Heim hätte. – Ja …« Sie schwieg und lächelte: die Erinnerung an diese ihre Glückszeit lebte in ihr auf.
Dann fuhr sie leise fort: »Es ging zuerst auch ganz gut. Aber die guten Freunde und die Kneipwirte, bei denen er Leben in die Bude brachte, brachten den Leichtsinn, der in ihm steckte, doch wieder nach oben. – Als du geboren warst, August, da war er so voller Freude! Natürlich mußte er einen ausgeben und wieder einen ausgeben. Da kam er am Abend so schwer betrunken nach Hause, daß ich angst und bange und krank wurde und mein Kind nicht nähren konnte. Kurze Zeit darauf ging er in sich. Er wollte Guttempler Die Guttempler verpflichten sich zur Enthaltsamkeit von alkoholischen Getränken. werden, sagte er. Er wurde es auch, aber nur ein Vierteljahr hielt er sich. Ein Fünfmarkstück hatten ihm die Kameraden mal auf den Tisch gelegt, wenn er ein einziges Glas Bier trinken wollte. Er lachte sie aus und sagte: »Wenn ich das täte, dann müßte ich ja dümmer sein als ihr alle zusammen. Denn wenn ich jetzt das Glas Bier söffe, dann wäre der Riegel von dem Schott aufgezogen, das mich jetzt trocken hält und sicherstellt. Dann käme es so: ich wäre heute abend voll Bier und Schnaps und hätte von dem Fünfmarkstück keinen Groschen mehr.« – Dann lachte er sie aus und ging nach Hause. – O August, was war das für eine schöne Zeit damals!–« Die Frau schwieg.
Nach einer Weile fragte August: »Wenn er das wußte, Mutter, wie kam das und wie konnte das kommen, daß er doch wieder zu trinken anfing?« –
»Der Hohn, der Spott, August. Er konnte nicht vertragen, daß die Leute ihn zum Narren hatten und über ihn lachten. Und was haben sie alles mit ihm angestellt! – Und so ist es denn gekommen, einmal in einem schwachen Augenblick, wo er vergritzt und verärgert war, wo sie sagten, daß seine Frau die Hosen anhätte und er vor ihr kuschen müßte wie ein Hund. Da wurde mit dem Ärger der alte Leichtsinn Herr über ihn: Er trank einen Bittern, weil ihm – wie er meinte oder sagte – im Magen nicht so recht war. Und dann kam es so, wie er ja selbst gesagt hatte: der Riegel war weg; er trank wieder, schämte sich aber, den Guttemplern wieder vor Augen zu treten. Er schimpfte über sie, die ihm geholfen hatten, und trank, weil er sein Unrecht nicht sehen wollte. Und so kam es, wie es gekommen ist.«
Sonst hatte die Mutter über all so etwas geschwiegen. Was nützte es, darüber zu reden, und was wußten die Kinder davon! – »Und wenn er nun wieder herauskommt und solange nichts getrunken hat, könnte er dann nicht …« August hielt inne, als er sah, wie sie den Kopf schüttelte.
»Er hat keinen Halt und keinen Freund und keinen Gott mehr: er kann nicht!« rief sie. »Alles hin!« Die Aufregung trieb eine krankhafte Röte in ihre Wangen, als sie fortfuhr: »Die Lumpen, die ihn verhöhnten, die mit ihm tranken und die ihm das Gift gaben, sie hätten nur mal in dies Elend hineinsehen sollen, das sie anrichteten. Solche Leute, die einen Menschen in den Dreck stoßen, sind schlimmer, als der darin umkommt. Sie haben auch seine Familie auf dem Gewissen, sie sind schuld daran, daß die Kinder Prügel kriegen und hungern, daß du die Krämpfe hast, daß ich ein unglückliches, kümmerliches und krankes Weib bin.« Und dann schrie sie auf in ihrer Rot und ihrem Zorn: »Wenn ich von euch weg muß, wenn ich euch hier in diesem Schmutz und Elend zurücklassen muß, dann will ich da oben mich beklagen, und ich will fragen, ob es noch eine Gerechtigkeit gibt auf Erden. – Die einen können es nicht leiden, daß die andern nicht mit ihnen trinken. – Das ist unsinnig, das wäre lächerlich, wenn es nicht verflucht wäre. Darum, ich will sie verklagen vor Gott, die mir mein Glück stahlen, meine Kinder verderben, die aus einem gutmütigen Menschen einen bösartigen Lumpen machten …!« – Sie ballte die Faust und schrie: »Gott soll sie …«
August hatte sie still und starr angeblickt. So hatte er die in sich gekehrte, wortkarge Frau noch nicht gesehen. Ihm wurde bange. Er trat an sie heran, faßte ihre Hände und bat: »Sei ruhig, Mutter! Sei gut, Mutter! – Es wird alles besser werden, Mutter, wenn ich erst älter bin.«
Da preßte sie ihn an sich. »Der Schnaps, August, der verfluchte Schnaps.« Sie tastete nach seiner Hand und bat: »Nimm dich davor in acht, August! Trink keinen Schnaps!«
»Fällt mir gar nicht ein, Mutter,« beruhigte er sie. »Ich mag das Zeug ja gar nicht. Wenn die Buddel mal rumgeht, dann puste ich da hinein, daß es kluckert und dann spuck' ich aus. Ich mag das Deuwelszeug nicht!«
»Gott sei Dank!« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und sah still vor sich nieder. Ihr Atem ging rasch und klang zuweilen wie Röcheln, doch erholte sie sich allmählich wieder.
August beobachtete sie unauffällig. Er sah jetzt, daß sie mager und hinfällig war, daß ihre Augen tief in den Höhlen lagen, daß ihre Haare dünn und grau geworden waren. Noch nie hatte er so darauf geachtet. Und er fing wieder an, sie zu trösten:
»Wir haben es doch jetzt ganz gut, Mutter.«
Sie nickte. »Gut! Ach, so gut!« Sie sagte das ein paarmal. Sie strich mit der Hand über sein Haar, und in ihre Augen kam für einen Augenblick ein ungewohnter Glanz. Dann verlöschte die Sorge um die Zukunft wieder alles. »Ich kann nicht mehr lange bei euch sein, August.«
Er wehrte ab. Er versuchte sogar zu scherzen. Und dann sann er auf Mittel und Wege und kramte Pläne aus, um der kommenden Gefahr aus dem Wege zu gehen: »Wir ziehen aus. Wir suchen 'ne andere Wohnung, meinetwegen in Hamburg, daß Vater uns nicht findet. Und dann bin ich auch noch da!« – Er richtete sich auf und reckte die Arme. »Sieh hier!« Er zeigte die arbeitsharten Hände. »Ich laß mir nun nichts mehr gefallen. Und dir und den Kleinen soll er auch nichts mehr tun! – Sonst ist Fritz Knaul auch noch da. – – Und wenn ich erst Nieter bin, dann können wir ganz wegziehen, nach Kiel oder Stettin, meinetwegen auch ganz hinten nach Elbing. Da wird auch Brot gebacken. Und tüchtige Nieter finden überall ihr Brot. Das wird fein, Mutter!«
Sie schüttelte den Kopf. »Mich werdet ihr wohl hier in Altona lassen müssen. Aber für die Kleineren mußt du dann sorgen, wenn ich draußen auf dem Kirchhof liege. Und Sonntags kommt ihr mal zu mir heraus und legt mir ein paar Blumen aufs Grab.«
Wortlos starrte er sie an. Das wollte ihm nicht in den Sinn, damit hatte er nie gerechnet. Sie aber legte die Hand auf die Brust: »Hier habe ich so viel Schmerzen. Es wird immer schlimmer. Du weißt doch, der Knoten, den ich da habe. Ich habe schon früher darüber geklagt. Aber nun … nun …«
»Da ist er auch daran schuld!« warf August dazwischen.
»Laß das! – Das darfst du nicht sagen. – Die Doktorsfrau, bei der ich Donnerstags rein mache, meinte, es sei Krebs.«
»Tut es denn jetzt viel weh?«
Sie nickte. »Der Doktor hat mich untersucht. Er sagt, es muß geschnitten werden. – Ich muß ins Krankenhaus, sagt er. – Und ich kann doch nicht von euch fort!«
Da wurde August ganz stille. Das war ein harter Schlag, und der traf ihn unvermutet. Er hatte meist nur seine eigenen Sorgen gehabt, seine Mutter hatte ihre Not stille getragen. Nun mußte er auch das mittragen.
»Es muß doch gehen! Wir werden das schon kriegen! – Darum sorg' dich nun nicht mehr, Mutter! Und du wirst auch wieder gesund, Mutter.« August suchte sich und ihr das einzureden und wurde immer zuversichtlicher; auch sie richtete sich dann etwas auf an seinen Versprechungen und Hoffnungen.
Er hatte recht: es mußte gehen! – Es dauerte nicht lange, da mußte Frau Randt ins Krankenhaus. Eine Nachbarin sah mit nach den Kindern, sie hatte aber nur wenig Zeit; fürs meiste waren sie auf sich selbst angewiesen. Nicht selten standen sie abends an den Landungsbrücken der Fährdampfer: »Bitte, Mann, en Stück Brot!« – Einen kleinen Zuschuß brachte ihnen auch durch Vermittelung der Frau Doktor der Armenpfleger.
Über vierzehn Tage vergingen, bis die Kinder ihre Mutter wiedersahen. An einem Sonntagnachmittag gingen sie alle vier nach dem Krankenhaus. Die Mutter lag in einem großen Saal in ihrem Bett, die Augen nach der Tür. Als ihre Kinder eintraten, flog ein helles Rot über ihr blasses Gesicht, und in ihre müden Augen kam ein Leuchten. – Sie richtete sich mühsam auf, strich den Kleinen über die Köpfe, streichelte ihre Wangen und musterte ihr Zeug. – Sie fragte Emma, ob das Haus auch rein sei, ob sie auch ordentlich gekämmt in die Schule käme, und was sie gegessen hätten in den letzten Tagen. August lobte dann das Essen und die Haushaltung über die Maßen; er erzählte, daß er gut verdient hätte, und daß sie nichts ausständen. Er habe noch Geld übrig; zum Beweis dafür holte er eine Tüte mit Trauben aus der Tasche und legte sie der Mutter auf die Bettdecke. Sie wollte den Kleinsten etwas davon abgeben, sie hielten aber die Hände fest gefaltet auf dem Rücken, damit sie nicht in Versuchung kämen, zuzulangen. So hatte August das mit ihnen verabredet.
Am nächsten Sonntag kamen sie wieder. Da hatte sich die Mutter schon so weit erholt, daß sie ihre Kinder aufmerksamer mustern konnte. Und da bemerkte sie, daß Emma einen schlecht genähten Riß im Kleide hatte, und daß der kleinste Junge eifrig, aber vergebens sich bemühte, der Mutter nur seine Vorderseite zu zeigen, weil sein Hosenboden beim verbotenen Herabrutschen auf der Pinnastreppe zu sehr gelitten hatte. – Als sie das sah, seufzte sie und sagte: »Es wird Zeit, daß ich wieder nach Hause komme. – Es geht nicht, daß ich länger hier liege.«
»Du mußt erst ganz gesund werden, Mutter!« mahnte August und versicherte immer wieder, daß es sehr gut so gehe.
»Ich will mit dem Doktor sprechen,« sagte sie.
Am letzten Tag der nächsten Woche kam sie wieder zu Hause an. Die Krankheit und die Operation hatten sie sehr mitgenommen; als sie die enge, steile Treppe zu ihrer Wohnung aufstieg, mußte sie mehrmals anhalten. Sie konnte zunächst wenig tun, aber sie hielt doch das Hauswesen und die Kinder in Ordnung.
So gingen wieder ein paar Wochen hin; dann trat eines Tages ihr Mann in die Tür. – Als er seine Frau so blaß und kümmerlich vor sich sah, blieb er bestürzt stehen. Keiner sprach zunächst ein Wort. Ihm aber schlug das Gewissen. Er hatte im Gefängnis Zeit und Gelegenheit gehabt, aus dem Banne des Fusels herauszukommen; so war er denn mit anderen Gedanken aus dem Gefängnistor herausgeschritten, als er hineingegangen war. Aber dennoch war die Versuchung zu groß für ihn gewesen. – Er hatte die ungewohnte Freiheit und das während der Gefangenschaft verdiente Geld dazu benutzt, sich einen langentbehrten Genuß zu verschaffen: er roch nach Branntwein. Noch hatte er sich aber aus dem Bann losreißen können; es hatten ihm auch die trinkenden und schwatzenden Kumpane gefehlt, so war er denn weiter gegangen, um sich eine Arbeiterhose und Bluse zu kaufen. Beides hatte er gleich angezogen und sah ganz sauber aus. So hatte ihn seine Frau lange nicht gesehen.
Als sie zuerst ihn erblickt hatte, war ein Erschrecken durch ihre Glieder gegangen; starr, die Augen voller Entsetzen, sah sie da. Ein Eindringling war er, der die Hand nach dem Besten und Teuersten ausstreckte, nach der Ruhe und dem Frieden der Familie. – Dann aber sah sie in den Zügen, in die Leidenschaften und Laster ihre unauslöschlichen Runen hineingegraben hatten, einen Schimmer auftauchen aus jener Zeit, wo sie ihn lieb gehabt hatte und glücklich gewesen war. – – Ein Fünkchen von Mitleid und Hoffnung glimmte auf in ihrem Herzen: sie streckte die Hand aus. – –
Er trat heran, faßte die Hand und stotterte etwas hervor von einem neuen Leben. – – Da flog mit seinen Worten ein Hauch von Branntwein zu ihr herüber. »Du hast schon wieder getrunken,« sagte sie vorwurfsvoll. Tränen traten ihr in die Augen. Der Funken aber von Hoffnung verlosch in ihrem Herzen.
Er redete noch einiges und suchte sich zu entschuldigen. Er sprach von Aussichten, und daß er wieder arbeiten wolle. – Sie hörte zu und beantwortete müde und einsilbig seine Fragen nach ihrer Krankheit. – Aus seinen Worten schien ihr jetzt hervorzuklingen: »Was soll ich mit einer kranken Frau!« – – Er machte denn auch bald daraus kein Hehl. – –
Gegen Abend ging er fort, kam aber doch nach einer Stunde wieder. Er brachte Wurst und Bücklinge mit, außerdem auch eine Flasche Rum. Er sagte, sie sollten alle einen guten und gemütlichen Abend haben; in der Destille wolle er natürlich nicht sitzen, sondern »nett zu Hause bei Frau und Kindern«. Als er aber wenig Verständnis für eine solche »Feier« fand, als August ihm die Hand nicht gab und die Jüngeren sich scheu vor ihm in die Küche flüchteten, da wurde er ungemütlich. Augenscheinlich war er beim Besorgen der Sachen schon hier und da eingekehrt, denn sein Gesicht war rot und die Sprache fahrig und laut.
»Ihr braucht euch eures Vaters nicht zu schämen!« rief er. »Was ich tat, das tat ich für euch: damit ihr zu essen hattet.«
»Das ist nicht wahr!« August war es, der das mit lauter Stimme rief.
Der Alte wollte in alter Weise auffahren, aber August sah ihm stramm in die flackernden Augen. Er stand auch so eigentümlich lauernd und trotzig da, so wie auf dem Sprunge, daß der Alte nur noch etwas Unverständliches in den Bart brummte und dann in die Küche ging, sich »ein Glas Grog« zu machen.
An diesem Abend nahm er sich noch ziemlich zusammen. Er hatte nach der langen Nüchternheit auch noch etwas Widerstandsfähigkeit in sich. Am nächsten Tage schon brach diese zusammen.
Was sollte ihm auch eine Frau, die todkrank war. – Am anderen Abend verbrachte er den Rest seines Geldes mit Dirnen. Nachher saß er mit stierem Blick am Tisch und verlangte ein »anständiges Abendessen«. – Dann warf er sich ins Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf. – –
»Wenn er nur wieder was anstellen wollte, daß sie ihn einsteckten,« sagte August zu seiner Mutter. Sie hatte darauf keine Antwort; Schmerz und Not machten sie ratlos und willenlos, müde und stumpf. »Aber wehe ihm, wenn er uns anfaßt!« rief August dann und faßte in die Tasche. Sie gab auch darauf keine Antwort.
Es kamen traurige Wochen und Monate. – Die Frau konnte nur mühsam das Nötigste im Hausstand machen, meist war sie bettlägerig. Die Kinder konnten mit dem Zeitungsaustragen auf die Dauer allein nicht zurechtkommen, es kamen Unregelmäßigkeiten und Klagen vor, und ihnen wurden keine Zeitungen mehr anvertraut. Der einzige, der was verdiente, war August. Er brachte allen Lohn nach Hause, aber allein konnte er auch nicht mehr dagegen an, obwohl er Überstundenarbeit machte, soviel er nur konnte. Er suchte trotzdem die Mutter zu ermutigen; er brachte ihr auch ab und zu was Gutes mit, um ihr eine Freude zu machen. – Alles Tropfen auf einen heißen Stein! – –
Der Alte wagte es nicht mehr, August gewaltsam Geld abzunehmen, aber durch List und Lügen wußte er ihm doch öfter etwas abzuzwicken: bald mußte er einen Krankenschein haben, um Arbeit zu bekommen, bald mußte er bei einem Wirt etwas verzehren, der Mauersteinträger einstellte, bald hatte er dies, bald das in Aussicht. – Es wurde aber nie etwas daraus.
An einem Sonnabendabend war August nicht so vorsichtig wie gewöhnlich. Als er nämlich eine halbe Stunde fortging aus der Wohnung, ließ er sein Geld in der Arbeitshose stecken. Er dachte unterwegs daran und lief zurück, es in Sicherheit zu bringen. – Auf der Treppe kam ihm sein Vater entgegen, der ging mit gleichgültiger Miene an ihm vorbei und rief ihm dann nach: »Wer ist dir denn auf den Hacken? – Du hast es ja bannig eilig!«
Ihm ahnte nichts Gutes, mit ein paar Sprüngen war er oben. – Nur etwas Kleingeld war noch in der Tasche, ein Zehnmarkstück fehlte. Sogleich stürzte er die Treppen wieder hinunter und lief seinem Vater nach. An der Steintreppe, die nach dem Fischmarkt führt, traf er ihn.
»Du hast mein Geld genommen. – Gib mir mein Geld wieder!«
»Dein Geld? –« Aus den rot unterlaufenen Augen des Alten flackerte tückische Wut. Er schrie nun ganz laut, daß die Leute stehen blieben: »Was weiß ich, wo du dein Geld gelassen hast. Mir hast du doch nichts gegeben, und deiner Mutter auch nicht. Das hast du natürlich verbummelt. Und nun sagst du, daß es dir gestohlen ist.«
»Das ist nicht wahr! – Du hast es mir aus meiner Hosentasche genommen.«
»Ich? – Wie komme ich an deine Hosentasche! – Das werden die Frauenzimmer wohl getan haben.« –
»Du hast es getan und kein anderer, du Spitzbube!« Und dann schrie August: »Ich hole die Polizei!«
»Gegen deinen eigenen Vater? – Warte, du Lümmel, ich will dir zeigen, wie man sich gegen seinen Vater zu betragen hat.« Er hob die Faust. – August reckte sich auf und hielt den Arm zur Abwehr hoch.
»Schlag zu!«
Einen Augenblick war der Alte unschlüssig. Dann zog ein höhnisches Lächeln um seine Mundwinkel: ein besseres Kampfmittel fiel ihm ein. Gleich zog er sein Gesicht in jämmerliche Falten und wandte sich im weinerlichen Ton an die Umstehenden: »So etwas muß man sich nun als Vater von seinem Sohn sagen lassen, den man mit Mühe und Arbeit großgezogen hat, und aus dem man einen ordentlichen Menschen machen wollte.«
»Was ist denn los?« fragte einer der Umstehenden.
»Der Junge sagt, sein Vater habe ihm Geld gestohlen,« sagte ein anderer.
»Das wird der Junge wohl verloren haben,« sagte ein wohlwollender Zuschauer.
»Oder verbummelt,« meinte ein anderer. Man rief das durcheinander und nahm fast allgemein für den Alten Partei, obwohl August wiederholt versicherte, es könne kein anderer ihm das Geld genommen haben, als sein Vater.
Ein Polizist sah den Auflauf und kam hinzu. Er fragte und erfuhr das Nötigste. Der Alte kehrte nun mit wehleidigem Gesicht seine Hosentaschen um, dann auch die Westentaschen; er wußte ganz genau, daß daraus kein Geld zum Vorschein kommen könne. »Soll ich auch noch die Stiefel ausziehen und den Mund aufsperren?« fragte er und spielte den Entrüsteten.
»Du wirst es doch wohl verloren haben,« sagte ein Arbeiter zu August. »So was kann angehen.«
»Gehen Sie weiter!« rief der Polizist den Umstehenden zu. »Du siehst doch, daß dein Vater das Geld nicht hat,« sagte er zu August. »Was willst du denn nun noch? – Geh' nach Hause!«
August Randt schlich betrübt fort. Sein Vater ging hocherhobenen Hauptes weiter; er machte einen großen Bogen um den Fischmarkt herum, kaufte sich in einem kleinen Laden Priemtabak, wobei er ein Zehnmarkstück wechselte, und verschwand in einer Kellerkneipe. Er kam dann in der nächsten Zeit nicht wieder nach Hause, er wußte ja, dort war doch nichts mehr zu holen. – –
Nun kam eine traurige Woche, und dann folgten weitere sehr traurige Wochen für die Familie Randt. Die Not hatte ja oft genug an ihre Tür gepocht, sie hatte auch mit zu Tische gesessen, aber so hart hatte sie noch nie gedrückt wie jetzt. Zwar gingen nun die beiden kleinsten Jungen wieder regelmäßig abends an die Landungsbrücken, um Brot zu betteln, es war aber eine arbeitsflaue Zeit für die Hafenarbeiter, da waren es ihrer viele geworden, die den Ruf anstimmten: »Mann, en Stück Brot!« – Auch die Polizei war wachsamer geworden, denn es hieß, daß betriebsame Kinder das Brot als Schweinefutter an die Finkenwärder Milchleute verkauften. Die Polizei schrieb daher die Zudringlichen auf. Wer sich aber nicht herandrängte, der bekam nichts. So kamen denn die Kleinen meist mit schmalen Bissen heim.
An einem Dienstagmorgen war es, als Emma leise ihren großen Bruder fragte: »Hast du nicht noch ein paar Groschen, August? Ich muß was zu brennen holen, und borgen tut uns der Kohlenmann nichts mehr. Wir haben aber keinen Pfennig mehr im Hause.« August holte das Letzte aus seiner Tasche heraus, dann lief er eiligst fort, denn es war schon spät.
Es war grau und trübe. Der Westwind trieb dichte Nebelmassen über die Elbe hin; die feuchte Kälte des Vorfrühlings drang August durch den dünnen Arbeitskittel bis in die Knochen. Auf dem Fährdampfer versuchte er, bei einem Arbeitskameraden etwas zu borgen; der hatte aber selber nichts. Bei einem anderen ging es ihm nicht besser, sie hatten nichts oder wollten nichts geben. Nun hätte er sich ja an seinen Schirrmeister wenden können; der hätte es getan, aber dem war August noch ein paar Mark schuldig, nun scheute er sich, ihm wieder mit einer solchen Bitte zu kommen. Als er an der Kaffeehalle von Blohm & Voß vorbeiging, dachte er daran, wie herrlich es jetzt sein würde, wenn er eine heiße Tasse Kaffee dort trinken und ein paar trockene Semmeln oder ein tüchtiges Stück Brot dazu essen könnte; er glaubte, daß ihm der gutmütige Inspektor das wohl geben oder borgen würde, aber es war schon zu spät. Gleich heulte auch die große Dampfpfeife. Die Arbeit fing an.
»Was fehlt dir denn heute?« fragte Fritz Knaul, als er seinen Nietenwärmer mit müden, lässigen Bewegungen am Feuer hantieren sah. »Bist du krank? – Hast du wieder die Krämpfe gehabt?« –
Als August das verneinte, rief Fritz Knaul: »Na, denn halt' dich man en bißchen rann, Bengel!« Das klang hart, war aber Fritz Knaul seine Art und nicht schlimm gemeint.
August antwortete nicht, trat aber seine Feldschmiede, so gut er es konnte; Niet auf Niet flog dem Helfer zu.
»So ist's recht!« Fritz Knaul nickte ihm zu und zog eine kleine flache Flasche aus der Tasche, die seinen Frühstücksschnaps enthielt. Er wollte den Anschnauzer von vorhin wieder gutmachen und August zeigen, daß er doch ein Herz für ihn habe.
»Prost, August! – Rein Gott's Word!« Er reichte ihm die Flasche; dem verwundert dreinschauenden Helfer sagte er: »Der Junge sieht ja hundselend verfroren aus, er muß was Warmes in den Leib haben.« – August zögerte einen Augenblick. Das kümmerliche Gesicht seiner Mutter tauchte vor ihm auf, und das verschwommene seines Vaters. – Aber hier gab's kein Ablehnen; Fritz Knaul meinte es gut, er bot ihm die eigene Flasche. – Im nächsten Augenblick hatte August die Flasche am Munde und nahm einen Scheinschluck.
»Ho – ho!« lachte Fritz Knaul. »Das gilt nicht. Zwei Daumen breit nimmst du ein von der Medizin! – Fix, sonst brichst du uns noch an der Feldschmiede zusammen.« Er machte eine nachdrückliche und vielsagende Handbewegung.
Da setzte August die Flasche noch einmal an den Mund und tat ein paar lange Züge. Wie Feuer lief es ihm durch die Kehle, aber er spürte auch eine starke Wärme im Magen. – Er rang nach Luft, hustete ein paarmal und gab dankend die Flasche zurück. Die Helfer lachten über den »Köhmhusten«; Fritz Knaul erklärte nachdrücklich, daß er zwar nicht dafür sei, daß Jungens Köhm tränken, aber zuzeiten sei er doch eine gute Medizin, namentlich bei solcher naßkalten Zeit und überhaupt … »Hitz!« rief er dann.
Es wurde fix weiter gearbeitet. Zunächst trat August toll darauf los, und die glühenden Nieten sausten munter durch die Luft. Das Gefühl der Wärme verbreitete sich vom Magen durch die Adern; der leere Magen ließ sich auch betrügen: im Augenblick spürte er den Hunger nicht mehr, wie vorher.
Nach einer Stunde aber wurde er schlapp, auch der Magen verlangte sein Recht. Es war gut für ihn, daß etwas vor Frühstückszeit die Nietkolonne unerwartet von der Arbeit ausscheiden mußte; es wurde angeordnet, daß sie gleich nach Frühstück ins Dock sollte, um einen Havaristen fertig nieten zu helfen. Die Männer gingen hin, ihre Kaffeeflaschen aus der Wärmkiste zu holen, August ging nach dem Glühofen, um sich dort ein trockenes und warmes Plätzchen zu suchen.
Als er hinter den Glühöfen entlang ging, kam ihm der Gedanke, daß es ihm nun eigentlich noch schlechter gehe als vor Jahren, wo er an den Landungsbrücken gestanden und um Brot gebettelt hatte. Damals hatte er doch was zu essen gehabt, nun aber hatte er Hunger. Und wen sollte er nun anbetteln? – Hein Peters, den hätte er wohl ansprechen können, aber der arbeitete jetzt nicht mehr da, der war bei Stülcken angekommen. Die anderen aber würden ihm nichts geben oder gar auslachen. – Er nahm sich vor, heute mittag mit Fritz Knaul zu reden; jetzt traf er ihn nämlich nicht allein an. – Zunächst hieß es also, sich durchhungern. Dann aber schoß ihm plötzlich ein anderer Gedanke durch den Kopf. – Überhaupt jagten sich in seinem Gehirn die Gedanken und schlugen Kappheister. –
Er sah neben sich im Halbdunkel an der Mauer des Glühofens eine Menge Röcke hängen; er wußte, in deren Taschen steckten Flaschen und Brotpacken. – Brot genug war da, mit Wurst und Speck und Käse draus! – Was machte es denn, wenn er ein Stück davon nahm oder zwei? – Davon würde keiner verhungern. Ihn aber plagte der Hunger. – Fährmarken hatte er auch nicht genug für die Woche. Vielleicht … Ja, solche Gedanken kamen ihm mit einem Male, er wußte nicht, woher. In diesem Augenblick aber hörte er Schritte hinter sich, scheu sah er sich um. – Der Mann ging vorbei. So trieb er denn die Gedanken, die ihm eben aus dem erhitzten Blut ins umnebelte Gehirn gestiegen waren, ins Dunkle zurück, aus dem sie stammten. – Nein! Nicht stehlen! – Nicht weiter daran denken! –
Der Mann ging jetzt an den Reihen der Röcke entlang, blieb stehen, faßte in die Taschen des einen, nahm eine kleine Flasche heraus und trank. Dann ging er weiter. August konnte das im Halbdunkel nur undeutlich sehen, eine der unruhigen Stimmen, die ihn hin und her zerrten, aber raunte ihm jetzt zu: »Wer weiß, ob das sein eigener Rock war?« – Und dann lockte eine andere: »So kannst du es ja auch machen. – Und wenn jemand kommt und das sieht, dann rufst du: »Ach nä, das ist ja gar nicht mein Rock. – Donnerwetter, wer hat denn meinen Rock genommen und anderswo hingehängt?« – Ja, das konnte er sagen und fluchend weitergehen. Wer wollte ihm dann was? – – – So zogen ihn die Stimmen hierhin und dorthin, purzelten übereinander, duckten sich, kamen aber immer wieder nach oben und wurden seiner Herr. Es war ja nicht mehr er selbst, der so dachte, sondern die kleinen Geister aus Fritz Knauls Flasche waren es, die Rat und Mut zur Tat gaben.
Ohne noch weiter dagegen aufzubegehren, folgte er ihnen. Und sie gaben ihm auch Keckheit. Er warf den Kopf zurück und ging mit starken Schritten, ohne nach rechts und links zu schauen, auf den Glühofen zu. Im nächsten Augenblick hatte er einen Packen Brot in der Hand. – Er ging dann mit gemachter Lässigkeit zur Tür hinaus, die nach dem Kohlenlager führt.
Hinter dem Alteisenlager, in eine Ecke gedrückt, riß er das Papier ab, nahm eine Brotschnitte heraus und biß gierig hinein. Nach dem Geschmack zu urteilen, mußte der Verlust keinen Armen getroffen haben: so guten Speck hatte er überhaupt noch nicht gegessen. Er aß, was er konnte; den Rest stopfte er in die Taschen.
Die Dampfpfeife heulte; es war Frühstückszeit. Auf den Helgen verhallte das klingende und klirrende Getön der Hammer, in der Schiffbauhalle wurde das Rasseln der Lochmaschinenräder leiser; ein Schwarm von Menschen quoll aus den Türen der Werkstätten hervor und verschwand dann in der großen Speisehalle. Dort gab es Bratkartoffeln, dort stand jetzt der Inspektor mit weißer Jacke, die Frauen und Mädchen mit weißen Schürzen, hinter dem langen Tisch, um jedem herüberzureichen, was er an nahrhaften und wohlschmeckenden Sachen wünschte. August dachte daran, aber jetzt nicht mit Neid; er war schön satt, so schön satt, wie seit lange nicht.
Ein Teil der Arbeiter blieb in der Schiffbauhalle; sie zogen sich zwischen den Glühöfen zusammen, holten ihr Mitgebrachtes aus den Röcken und Wärmöfen und setzten sich neben den Glühöfen, um zu essen.
Eine eigenartige Neugier, ein wahnwitziger Wagemut zog August Randt nach dem Ort hin, wo er eben seine Tat ausgeübt hatte. Als er in die Nähe kam, hörte er eine laute, rauhe Stimme Verwünschungen ausstoßen. Er schrak zusammen, ging aber doch näher heran. Ein Richtplattenarbeiter schimpfte über den »verfluchten Spitzbuben«, der ihm sein Brot gestohlen hatte. Einige schimpften mit, andere lachten.
August Randt sagte gar nichts, er dachte aber: der Kerl sollte bloß mal wissen, daß ich noch was davon in der Tasche habe; und weil der andere so furchtbar über ihn schimpfte, kam ihm, im Gefühl der Sicherheit, noch eine gewisse Schadenfreude.
Am nächsten Morgen hing neben dem Glühofenschornstein ein dicker Knüppel, daneben war ein Brett festgebunden, darauf stand, hell bestrahlt von der nahen Bogenlampe: »Für Brotdiebe.« – Es war nämlich nicht das erstemal, daß dort gestohlen worden war.
August sah das, und er nahm sich vor, nicht wieder an die Röcke heranzugehen. Aber der Fuß findet gar zu leicht den Weg wieder, den er einmal machte, und Hunger tut weh. – –
Am Freitagmorgen war es, eben vor der Frühstückspause, da entstand auf den Richtplatten vor den Glühöfen eine Rennerei und ein großes Hallo. – In das Heulen der Dampfpfeife hinein tönte dann ein wüstes Geschimpfe, klatschende Hiebe und gellendes Geschrei. – Fritz Knaul wollte gerade nach der Speisehalle gehen, er kam dicht an dem Auflauf vorbei. Als er näher herantrat, sah er, wie ein langer Schiffbauer einen schmächtigen, bereits blutenden Jungen festhielt, ihn dann niederwarf und mit Füßen stieß; gleich kam ein anderer, der mit einem Knüppel auf ihn einhieb. Von allen Seiten kamen dann die Leute, schlugen den Jungen mit Fäusten und schrien: »Verfluchter Brotdieb!« Halunke!« »Spitzbube!« – –
Anfangs wehrte sich der Junge, dann schrie er nur, dann wurde er still und schlaff. Als der lange Schiffbauer ihn endlich losließ, wand er sich in Krämpfen.
»Wer ist das?« fragte Fritz Knaul. »Was ist das für'n Junge?« –
»De Brotdeef is datt, de verfluchte Spitzboof!« riefen ein paar Leute.
Fritz Knaul blickte dem Liegenden ins blaffe, blutige Gesicht: – »Das ist ja mein Nietenwärmer!« schrie er. »Der hat das gewiß nicht getan. Das ist ein ordentlicher Junge.« Er ballte die riesigen Fäuste und stellte sich neben den Jungen hin. Da kam der lange Schiffbauer wieder heran, zeigte ihm ein rotbuntes Taschentuch, in dem noch ein Stück Brot war: das hätte man dem Jungen abgenommen, und das sei sein's, dafür habe er Zeugen, sagte er. Andere kamen hinzu, die sagten, sie hätten Wachen aufgestellt; ein solcher Wachtmann bestätigte das und bezeugte, er hätte es selbst gesehen, wie sich der Junge herangeschlichen und wie er das Brottuch aus dem Rock genommen hätte. Des langen Schiffbauers Rock sei es gewesen, und sein Brottuch sei es auch. Übrigens sei die Sache ganz klar, denn alle Mann hätten gesehen, daß man dem Jungen das Tuch aus der Tasche gezogen habe; er habe es sogar gestanden und gesagt, zu Hause kriegte er nichts zu essen.
»Ja, denn hat er es in der größten Not und aus Hunger getan,« suchte Fritz Knaul zu seiner Entschuldigung zu sagen.
»Not oder nicht Not!« schrie einer dagegen. »Dafür hängt da der Knüppel.«
»Ich muß auch mein Brot sauer genug verdienen,« rief ein anderer. »Mir sind Fährmarken geklaut, das wird der Bengel auch wohl getan haben.«
»Er soll sich noch freuen, daß er so davonkommt,« meinte ein dritter. »Wenn die Polizei das wüßte, käme er ins Loch.«
So redeten sie und gingen dann an ihre Frühstücksplätze. Nur ein paar Jungens standen noch um den Liegenden herum.
»Geht nur zu!« fuhr Fritz Knaul sie an. Sie gingen ein paar Schritte weiter und blieben dann wieder stehen, um zu sehen, wie das enden würde.
Nach einer Weile schlug August Randt die Augen auf und blickte angstvoll um sich. Als sein Schirrmeister neben ihm niederkniete, klammerte er sich an ihn und stöhnte: »Help mi!« Der faßte ihn unter die Arme und half ihm, sich aufzurichten.
»Warum hast du das getan, August?«
Er antwortete nicht.
»Hast du Brot gestohlen, August?«
»Ja!« Ganz leise kam das hervor.
»Dann bist du ja ein Spitzbube! Schäm' dich!« Fritz Knaul war ein grundehrlicher Mann, daher sagte er das hart und verächtlich.
Da kam der Werftaufseher. Die Jungens hatten ihn geholt. Sie hatten gesagt, mit einem solchen elenden Dieb, der Brot stahl und sie mit in Verdacht brachte, wollten sie nicht mehr zusammen arbeiten. Dagegen konnte Fritz Knaul nichts machen. Trotz seines Mitleids war ja das gleiche Gefühl in ihm hochgestiegen. Er ließ den Aufseher mit August abziehen, und da es für die Kaffeehalle doch zu spät war, ging auch er zum Glühofen, um dort noch schnell seinen Happen Brot zu essen.
August Randt erhielt sogleich seinen Rest an Lohn ausbezahlt und wurde mit Schimpf und Schande von der Werft gejagt; hinter ihm her johlten und schimpften die Jungens, die für Ehrlichkeit waren. Alle Glieder taten ihm weh, wenn er ging und als er sich in der hintersten, dunkelsten Ecke der Fährbootkajüte niedersetzte. Und nun kam die niederdrückende Sorge hinzu, daß er keine Arbeit habe, was er seiner Mutter sagen solle, wenn er mit zerschundenem Gesicht und zerschlagenen Gliedern zu Hause ankäme. – Er konnte sich keine Ausrede zurechtdenken; er schämte sich zu sehr, seiner Mutter so vor Augen zu kommen. Er wusch sich dann auf dem Fährponton mit Elbwasser, saß in der Wartebude und starrte ins Wasser und auf den Strom, über den die Möwen kreisten, und aus dem sie ihr Futter mit sicherem Stoß holten. Ja, die hatten es gut! – Und wenn Eis war, erbarmten sich ihrer die Menschen. – Bittere Gedanken stiegen in ihm auf, dann ging ein Schütteln durch seinen Körper, ein krampfhaftes Schluchzen folgte, und heiße Tränen der Reue rannen an seinen mageren, schmutzigen Wangen herab.
August drückte sich nun den Tag über in den Häuschen der Straßenbahn und auf dem Heiligengeistfelde umher. Jedem Polizisten ging er im großen Bogen aus dem Wege. Als es dunkel wurde, schlich er nach Hause. Seine Mutter erschrak, als sie ihn sah. »Hast du wieder Krämpfe gehabt?« fragte sie. »Oder hat der Alte dich …«
Er war froh, daß sie ihm mit einer Ausrede entgegenkam. »Mir wurde schlecht, als wir im Zwischendeck nieteten. Ich bin in den Raum gefallen. Es ist nicht so schlimm. Und – und – – ich krieg' ja Krankengeld.«
Sie jammerte über seinen und über ihren eigenen Zustand. Er saß still an ihrem Bett. Ein paar Tage später starb sie. August hatte immer noch gehofft, daß sie sich doch wieder erholen würde. – Es war dann aber am Abend, die Kleinen schliefen schon, da kam ein eigentümlicher Glanz in ihre Augen. In ihrer hageren Rechten hielt sie des Jungen Hand. »Mache dir keine Sorge um mich,« sagte sie leise. »Wenn ich gestorben bin, so sorgt man besser für euch, als wenn ich lebe.«
»Du bleibst doch bei uns, Mutter!« bat August. »Wenn du von uns gehst, so haben wir keinen einzigen Menschen mehr auf der Erde, der gut zu uns ist. Und wenn ich erst größer bin und Schirrmeister werde, dann …« Er stockte.
»Dann sorgst du für die Kleinen, August,« sagte sie. Mit Mühe hob sie die Hand, legte sie auf seinen Kopf und flüsterte leise Worte. – »Bleib' immer gut und ehrlich!« kam es noch deutlich von ihren Lippen. Er zuckte zusammen und mußte sich abwenden. Als er wieder an ihr Lager trat, war sie ganz stille. Er rief sie leise, denn er wollte ihr ein Versprechen geben. – Er horchte. – Er legte das Ohr an ihren Mund. – Nichts hörte er. Wie oft er auch sagte: »Mutter! Mutter, hör' dies eine noch! Mutter!« Sie blieb ganz still. In ihren halb geschlossenen Augen fand er keinen Schein des Erkennens mehr. Da wußte er, daß sie fortgegangen war aus einem Leben voller Leid, und daß er nun mit den kleinen Geschwistern allein war in der harten Welt.
Am anderen Morgen stand er mit den Kleinen am Lager der Mutter; sie blickten ängstlich auf das fahle, hagere Gesicht der Toten, das sich immer gleich blieb, soviel sie auch redeten und riefen. Dann ging August zu den Nachbarn, um bei denen Hilfe und Rat zu holen.
Die Nachbarn kamen. Sie konnten auch nicht helfen, sie gingen aber zum Armenpfleger. So wurde denn die Frau begraben. Für die Kinder mußte die Stadt sorgen, denn der Vater war nicht aufzufinden: sie sollten ins Waisenhaus.
Als man August fragte, was er denn nun machen wollte, sagte er kurz: »Arbeiten will ich!« – Ob er denn Arbeit habe, fragte man weiter und sagte, daß sonst wohl für ihn ein Dienst auf dem Lande gefunden werden könnte; das sei besser für ihn, als hier in der Stadt umherzulungern. – »Ich habe Arbeit!« dabei blieb er.
»Wo denn?«
»Ich kann als Nieter auf dem Reiherstieg anfangen.« Das war nicht wahr, aber er wollte sich nicht irgendwohin, nicht in irgendeinen Dienst, fern von den Geschwistern, verschicken lassen. So gab ihm denn der wohlmeinende Annenpfleger, der gehört hatte, daß er zuletzt der Ernährer der Familie gewesen sei, etwas Geld, damit er sich eine Schlafstelle mieten könnte. Die drei Kleineren wurden fortgebracht; sie weinten bitterlich, als sie von August fort mußten, und sie freuten sich ein paar Stunden später, als sie in nette neue Kleider gesteckt wurden.
Als es an diesem Abend dämmerte, stand August Randt wieder am Landungsstege auf dem Ponton. Der ächzte in seinen Führungen, und das aufflutende Wasser brodelte zwischen den Dückdalben. Er blickte nach Norden, wo drüben auf Steinwärder die Stellagen und Schiffskörper, die langarmigen Krane und mächtigen Werkstättengebäude aufragten, hinter deren Fenstern jetzt die Bogenlampen aufflammten. Dort war das Reich der Arbeit, das ihn ausgestoßen hatte. – Die Krämpfe, die ihn heimtückisch packten und niederwarfen, waren schlimm. Der Fabrikarzt hatte mal gesagt, die steckten ihm wohl vom Vater her im Blut, aber sie könnten sich geben. Er sei schlecht genährt, sei jetzt im Wachsen; später, wenn er kräftiger werde, könne er Herr über sie werden. Das fiel ihm jetzt wieder ein, dazu aber kam der Gedanke: Die Schuld und die Schande, die bleiben. Dagegen gibt es nichts.
Hart am Rande des Pontons stand August Randt. Ihm war so weh ums Herz. Die Mutter da draußen auf dem großen Totenfelde, die Kleinen, die an ihm hingen, im Waisenhause. Er so ganz allein. Was sollte er jetzt um eine Stellung, um Lohn und Brot betteln gehen, was sollte er sich verächtlich ansehen lassen, wenn er frühere Arbeitsgenossen traf! – Was sollte er sich lange mit seiner Krankheit herumschleppen; die kam doch immer wieder. Er fühlte sich so matt und elend. Und dann kam mit hinziehender Gewalt die Sehnsucht nach der Mutter. – Er streckte den Fuß aus übers Wasser. »Soll ich zu dir kommen, Mutter?«
Da kam aber gleich der innere Ankläger wieder, der sprach: »Du bist ein Dieb!«
»Meine Mutter wird für mich bitten,« wandte er ein. Aber die Stimme in seinem Innern ließ nicht nach: »So, wie du jetzt bist, darfst du ihr nicht vor die Augen treten,« rief sie ihm zu.
Da wandte August Randt der Elbe den Rücken und ging heim. Am anderen Tage war er in einer der engsten Straßen Altonas untergebracht; bei armen Leuten hatte er eine ärmliche Schlafstelle gefunden.
Einen Vormund bekam August Randt auch; es ist Pflicht der Behörde, dafür zu sorgen. Ob er nähere Verwandte oder Bekannte hätte, die dieses Amt übernehmen würden, fragte man ihn. Er dachte einen Augenblick an Fritz Knaul, verwarf den Gedanken aber gleich wieder: dem konnte er nicht wieder vor Augen treten. – »Nein,« sagte er. So bekam er denn einen Pflicht-Vormund. Es war dies ein unbescholtener Mann – das verlangt das Gesetz. Im übrigen hatte man sich nicht viel darum gekümmert, ob der Mann das Amt als Ehrenpflicht oder als eine Last auffaßte, oder ob er schon genug mit seiner eigenen Familie zu tun hatte. Der Mann übernahm das Amt, weil ihm die gesetzlichen Gründe fehlten, es abzulehnen. Aber er tat seine Pflicht. Es machte ihm einige Mühe, sein Mündel aufzufinden: als er es gefunden hatte, war er froh, zu hören, daß es von ihm nichts verlangte, sondern für sich selbst sorgen wollte und konnte.
* * *
Die Werft von Blohm & Voß sollte wieder einmal erweitert werden; schon im Frühjahr war das den Leuten gesagt worden, die auf dem angrenzenden Gelände ihre Erbsen legen und Kartoffeln pflanzen wollten. Es war das nämlich Grund und Boden, der dem Staat gehörte, und der so lange brach lag, bis man ihn stückweise der Werft einverleibte. Der Boden bestand aus Sand und Schlick, den man aus der Elbe ausgebaggert und hier aufgeschlämmt hatte. Die Arbeiter hatten es bald heraus gehabt, daß hier Kartoffeln und Gemüse gut gedeihen würden. Wer da nun zuerst kam, der mahlte zuerst. »Datt is nu mien Land,« sagte der, schlug an den vier Ecken einen Pfahl in den Boden und zog einen Draht um sein Gartenland. Wer später kam, mußte weiter gehen. Am Hauptwege war bald alles stückweise erobert; im Hinterlande gab's freilich noch große freie Strecken, die waren aber sandiger und nicht so leicht zu erreichen.
Dort, wo die Werft erweitert werden sollte, waren nur wenige Ansiedlungen; sie lagen wie Oasen in der Sandwüste. Wo stellenweise etwas mehr Kleie aufgespült war, dort hatten die Ansiedler den Spaten angesetzt und blühende Gärten aus nacktem Ödland geschaffen; sie hatten dies aber ganz auf eigene Rechnung und Gefahr getan. Und sie waren auch, als sie beim Pflanzen und Säen waren, gewarnt worden, daß sie wahrscheinlich im Laufe des Sommers vertrieben, und daß Fundamente für Werkstättengebäude aus dem Grunde emporwachsen würden, wo sie Kartoffeln und Bohnen legen wollten. Aber der Hunger nach Land, der – von ihren, der Geest und der Heide entstammenden Vorfahren – in ihnen lag, hatte sie die Warnung in den Wind schlagen lassen: sie hatten ein Gärtlein haben wollen, wie ihre Eltern, oder sie selbst als Kind es gehabt hatten. – –
Nun war es so gekommen, wie gesagt war: nun ging der bauleitende Ingenieur mit dem Platzmeister auf dem Gelände umher. Hinter ihnen her kam ein Mann mit dem Meßinstrument und ein anderer mit der Meßkette: die Grenzen der Werfterweiterung sollten abgesteckt werden. Rüstig schritt der Ingenieur über das Ödland hinweg, kopfschüttelnd blieb er vor einem der Gärten stehen.
»Es tut mir herzlich leid, Riemer, daß hier nun alles verwüstet werden muß,« sagte er. Er war nämlich selbst einer, der als Junge in seiner Mutter Garten Erbsen gelegt und Bohnen gestatt hatte.
»Ich hab's dem Bengel damals noch selbst gesagt, daß hier gebaut werden solle,« erwiderte achselzuckend der Meister.
»Wem? – Gehört das einem Jungen?«
Der Meister nickte. »Es ist einer, der so'n bißchen tumpig wunderlich. ist.« Er sah sich um. »Wahrscheinlich ist er nicht weit. – Aha, da kommt er ja.« Drüben auf dem Steig kam einer herangegangen. – Nun blieb er zögernd stehen. – Der Meister winkte.
Langsam kam er heran; der Ingenieur hatte Zeit genug, sich den Garten genauer anzusehen. Er war durch Steige in verschiedene Beete geteilt; Erbsen und Bohnen, gelbe Wurzeln und Rüben, Radieschen und Salat waren dort gesät und gelegt, wie auch aus den beigesteckten Zetteln ersichtlich war. Kein unnützes Kräutlein reckte dazwischen sein Haupt auf. Dahinter lag ein Stück Kartoffelland; die Kartoffeln waren kräftig und geradlinig aufgegangen. Rund um das Land war ein Staket aus Bambusstäben gemacht, die mit einem alten Drahtseil verbunden waren.
In der Ecke stand eine Holzbude, sie war mit vieler Sorgfalt aus angetriebenen Bretterstücken zusammengenagelt und hatte ein Dach aus altem Linoleum. Nach Süden zu hatte sie ein Fenster; auf der Fensterbank standen in alten Blumentöpfen und Scherben einige Geranien und aufrankende Gewächse. Ein paar bunte Bilder aus Familienblättern zierten die Endwände. Über dem Eingang war eine Art von Verzierung aus langen, geringelten Drehspänen angebracht.
»Ein Idyll,« sagte der Ingenieur, denn es war von seiner Jugend her in ihm die Liebe haften geblieben für ein solches Fleckchen Land, das ein Stück der Seele des Eigners widerspiegelt.
»Aber es muß doch weg!« sagte der Meister. »Ich will's ihm sagen, daß er den Kram an einen anderen Gartenmann verhandeln soll, denn kommt wenigstens nicht alles um.«
Der Ingenieur nickte. »Tut mir leid,« sagte er, »aber was ist dabei zu machen! – Weg muß es.«
»Du, komm mal her!« rief jetzt der Meister dem Burschen zu, der abseits am Wege stehen geblieben war und scheu nach den beiden hinschielte. Er kam.
»Das hier muß alles weg!« sagte der Meister.
»Kannst es verkaufen.«
Der Junge zuckte zusammen. »Wann denn?« fragte er.
»Gleich! – Ich hab' es dir doch gesagt, daß hier bald gebaut werden sollte. Warum hast du nicht dort drüben hinterm Wege deinen Garten angelegt?«
»Da waren schon die Kesselschmiede. – Und denn hat einer die Pfähle, die ich eingesteckt hatte, herausgerissen. Jungens hätten da kein Recht, sagten sie.«
»Denn hättest du am Quergraben Land kriegen können,« sagte der Meister. »Ich wollte dir damals was anweisen, aber du wolltest da nicht hin.«
»Da sind die Schiffbauer,« erwiderte der Junge. »Da konnte ich nicht sein.«
»Warum nicht?«
Der Junge schwieg. –
»Wo arbeitest du?« fragte nun der Ingenieur.
»Nirgends.«
»Was sind deine Eltern denn?«
»Hab' keine.«
»So–o. Und wie heißt du?«
»August Randt.«
»Aber, Mensch, du mußt doch arbeiten, um zu leben.«
Der Junge sah den Ingenieur von der Seite an, sagte aber nichts.
»Er ist mal Nietenwärmer bei uns auf der Werft gewesen,« sagte da der Meister halblaut. Dann wandte er sich an den Jungen: »Was machst du denn aber eigentlich jetzt?«
»Mehrmals in der Woche setz' ich abends Kegel auf.«
»Dann kannst du dich mit wenig Arbeit behelfen,« meinte der Meister.
»Ich hab' die Krämpfe,« sagte da der Junge leise, als müßte er sich entschuldigen.
»Kannst du denn von dem bißchen Verdienst leben?« fragte nun wieder der Ingenieur.
»Ein bißchen verdien' ich mir zuweilen noch zu, und ein bißchen verkauf' ich auch aus meinem Garten. Viel brauch' ich nicht.« – Dann setzte er laut und zuversichtlich hinzu: »Was soll ich mit mehr?! –«
»Der Mensch muß doch arbeiten, was er kann; dazu ist er da!« fuhr ihn darauf der Ingenieur an. Das kam aus innerster Überzeugung, denn ihm war von klein auf an das Evangelium der Arbeit gepredigt, und das saß nun bei ihm fest.
»Zu leben hab' ich. Mehr will ich nicht. Wozu soll ich denn mehr arbeiten?« entgegnete im gleichen Ton der Junge.
»Gelungene Lebensanschauung! Diogenes in der Westentaschenausgabe.« Der Ingenieur lachte.
»Was soll ich mit mehr?« fragte ihn da der Junge, und als er nicht gleich eine Antwort erhielt, fuhr es aus ihm heraus: »Wenn ich früher was hatte, hat mein Vater es mir gestohlen, und ich hab' noch Prügel zugekriegt.«
»Hast du nicht auch mal gestohlen und hier Prügel gekriegt?« fragte da der Meister und zeigte mit dem Daumen über die Schulter und nach der Werft hin.
Da fuhr der Junge zusammen, als hätte er einen Schlag gekriegt, wurde glühendrot und sah vor sich nieder. »Darum arbeite ich auch jetzt nicht mehr. Darum kann ich jetzt nicht mehr arbeiten,« rief er. »Die Jungens wissen das alle. Sie wollen nicht mehr mit mir zusammen arbeiten. Und ich will auch nicht, denn wenn was gestohlen wird, so hab' ich das getan. Ich krieg' dann immer die Schuld, und sie prügeln mich und schmeißen mich raus!«
»Na, na,« warf der Meister ein. »So schlimm wird es nicht sein.«
»Ja, so schlimm ist es! – Ich will gar nicht wieder Arbeit suchen. Ich will nicht arbeiten!« Er steckte patzig beide Hände in die Taschen und sah vor sich hin.
Keiner wußte darauf ein Wort der Gegenrede.
»Muß wirklich alles weg?« fragte dann der Junge. »Ja! – Leider! – Morgen schon.« – Sie gingen an ihre Arbeit, schauten durch die Röhre ihres Instruments, setzten Stangen aus und schlugen die Grenzpfähle ein. August Randt ging hinein in die Laube, stützte den Kopf in beide Hände und verfolgte ihr Tun mit den Augen. Als sie fort waren, starrte er dumpf vor sich hin; die Tränen liefen ihm an den Fingern nieder. –
Als am nächsten Tage der Ingenieur mit seinem Gehilfen an den Garten herankam, sahen sie, daß das ganze Kartoffelland umgewühlt war; ein Haufen Pflänzchen lag auf der Bank der Laube. Hinter der Laube lag ein Mensch, das Gesicht an der Erde, starr und regungslos. Man schüttelte ihn und hob ihn auf.
»Der ist tot,« sagte der Ingenieur.
»Der Junge hat wieder die Krämpfe gehabt,« meinte der Gehilfe. »Er ist ganz zusammengekrampft. Aber Leben ist doch drin in dem kümmerlichen Körper.«
Es dauerte lange, bis August Randt wieder zum Bewußtsein kam. Der Ingenieur winkte dann ein paar Arbeiter herbei. Man legte den Willenlosen auf einen Fabrikwagen und fuhr ihn vor das Doktorzimmer der Werft.
Neugierig schauten ihm auf diesem Wege die Nietenjungen ins Gesicht, steckten die Köpfe zusammen und redeten eifrig miteinander. Auch Fritz Knaul erfuhr, daß sein ehemaliger Nietenwärmer wieder auf die Werft gekommen sei, und in welchem Zustande! – Da schlug ihm sein Gewissen. Er ging nach dem Doktorzimmer, sprach mit dem Heildiener, der den Jungen auf eine Polsterbank gelegt hatte, und versuchte mit August Randt zu reden. Der aber lag teilnahmslos da, er konnte oder wollte sich auf nichts besinnen.
»Ob der Junge da noch mal über wegkommt?« fragte er den Heildiener.
Der zuckte die Achseln. »Der Wurm sitzt drin,« sagte er dann. »Er hat ja auch rein gar nichts dagegenzusetzen. Es ist ja nichts als Haut und Knochen an ihm.«
»Behalten Sie den Jungen bis heute abend hier; man kann ihn jetzt ja doch nicht allein gehen lassen,« bat Fritz Knaul. »Ich hole ihn dann ab und bringe ihn nach Hause. Er war früher mein Nietenwärmer, und ich will mal ein vernünftiges Wort mit ihm reden. Ich will – ich will auch was für ihn tun. Ja, das will ich.«
Am Abend holte Fritz Knaul ihn ab und brachte ihn nach seiner armseligen Schlafstelle hin. August war wieder klarer im Kopfe geworden. Anfangs tat er zwar verstockt; Fritz Knaul hatte aber seine besondere Art, mit Jungens zu reden: etwas ballerig und derbe; dazwischen hindurch kamen dann aber wieder warme Töne alter Herzlichkeit, daß August auftaute.
»Du mußt wieder deine regelmäßige Arbeit haben, August,« sagte er. »Das Bummelleben bringt die Menschen vor die Hunde. Wer morgens nicht weiß, was er tun will, und abends nicht spürt, daß er was getan hat, der ist das Leben nicht wert, ob er nun Herr oder Knecht ist. – Was hat denn deinen Alten auf den schlechten Weg gebracht? – Zuerst doch die Faulheit. Und wie hat deine brave Mutter gearbeitet ihr elendiges Leben lang! – Wem willst du nun folgen, dem Alten oder deiner Mutter?«
»Sie lassen mich ja doch nicht drüben auf der Werft arbeiten,« entgegnete August.
»Mensch! – Junge, so wie du jetzt bist, schlapp wie'n nasser Sack, kannst du ja gar nicht auf der Werft arbeiten. Kannst' das nicht einsehen, du Schafskopf?! – Du mußt erst mal zu Fleisch kommen. Du mußt leichte Arbeit haben und was Ordentliches zu essen. Dann kommst du auch wieder zu Kräften und kriegst die Krämpfe unter die Füße. Und nachher ist das andere vergeben und vergessen, und es ist auch wieder Platz für dich auf einer der Werften. Es braucht ja nicht gerade bei Blohm & Voß zu sein.«
»So was wird nicht vergeben und vergessen,« wandte August ein.
»Dummer Schnack!« brauste Fritz Knaul auf. »Es ist freilich wahr: die kleinen Diebe hängt man. Und wer fein satt ist, der hat es am leichtesten, das Maul aufzureißen über die, die ein Stück Brot stehlen. Ich sage dir, August, wenn mal 'ne Hungersnot über die Welt käme, dann würde es mit der Ehrlichkeit eklig in die Brüche gehen. Und die jetzt die Sattesten sind, würden dann vielleicht die Happigsten. Da würde mancher auf Recht und Gesetz pfeifen, und er würde nehmen, was er kriegen könnte.«
»Ja, wenn man nichts zu essen hat und die Kleinen zu Hause hungern sieht, dann …,« stimmte ihm August eifrig zu. Doch da besann sich Fritz Knaul und suchte schnell einen Pfahl vor das Tor zu rammen, das er in seinem Eifer etwas weit geöffnet hatte, denn er war ja ein grundehrlicher Mann.
»Aber Unrecht bleibt darum doch Unrecht!« rief er. »Man bloß, daß die Leute nicht gleich einen Stein auf die Armen schmeißen sollen, wenn sie selbst schön im Fett sitzen! Denn wer satt ist, kann leicht gerecht sein, meine ich. Du aber sollst dir sagen: das ist nun mal geschehen; ich will aber den Leuten zeigen, daß doch ein tüchtiger Kerl aus mir wird. Nun erst recht! – Wenn man das aber will, August, dann darf man nicht den Kopf ins Mauseloch stecken, dann darf man sich nicht klein machen. Nein, dann muß man fest zufassen!« Er legte August die schwere Hand auf die Schulter, daß er fast zusammensackte. »Nun erst recht!« sagte er noch ein paarmal. »Und du kannst es!«
Nachher redete Fritz Knaul mit den Wirtsleuten; er gab ihnen auch Geld, damit August etwas Ordentliches zu essen bekäme. »Morgen ist Sonnabend. Morgen abend komme ich wieder. Um 8 Uhr bist du zu Hause, August!« sagte er. Dagegen gab es keine Widerrede.
Die Schiffbauer, die zwischen den Glühöfen ihr Frühstück verzehrten, hatten am anderen Morgen wieder mal was zu schnacken.
»So'n Schleef!« sagte Jochen Briest. »Fährmarken hat er damals nämlich auch gestohlen; das ist so gut wie bares Geld. Der Bengel kommt noch mal ins Zuchthaus.«
»Verdient hätte er das ja,« meinte Hans Dreebusch. »Seit er hier rausgeschmissen ist, ist er natürlich ganz ins Bummeln und Lumpen gekommen. Aber alt wird er nicht. Die Krämpfe stoßen ihm vorher das Herz ab. Es sieht ja schon aus, als wenn er von Ohlsdorf Dort ist der Hamburger Friedhof. käme.«
»Je eher, desto bester!« brummte Jochen Briest. »Unkrut mutt ut de Welt.«
»Schade um den Jungen!« rief da eine tiefe Stimme und eine breitschultrige Gestalt reckte sich auf. Es war Fritz Knaul. »Wenn du so'n Vater gehabt hättest, wie der, und so 'ne Jugend, wer weiß, was für'n Unkraut aus dir geworden wäre.«
»En Spitzboof wenigstens nich!« knurrte Jochen. Ein paar Neulinge fragten: »Watt is denn mit em los?«
»Ein netter und williger Junge war er,« rief Fritz Knaul. »Er ist lange bei mir Nietenwärmer gewesen. Sein Alter ist ein ganz versoffener, niederträchtiger Kerl. Dem habe ich mal die Faust unter die Nase gehalten, weil er dem Jungen sein sauer verdientes Geld abnehmen wollte. Die Mutter war brav und ehrlich. Es ging ihr aber kümmerlich, und der Junge hat damals für seine jüngeren Geschwister mit sorgen müssen.« Fritz Knaul sah Jochen Briest scharf an: »So was hast du wohl nicht nötig gehabt, Jochen? – Du bist ja aus der Gegend zu Hause, wo man den Speck in Butter brät und dann mit Löffeln ißt. Und du bist ja auch wohl schon mal dein eigener Agrarier gewesen?«
Einige lachten, denn sie wußten, daß Jochen Briest eine kleine nette Katenstelle gehabt hatte, die er nicht hatte halten können, weil er zu naß gefuttert hatte. Er war dann fortgezogen aus dem Lande der Knicks und untergetaucht in der großen grauen Steinwüste; er war eine »Hand« geworden im Werftgetriebe. –
»Aber stehlen hätte der Bengel darum doch nicht müssen,« rief er, und ärgerlich setzte er hinzu: »Was ich früher war und hatte, darum braucht sich keiner hier zu quälen, das geht keinen was an!«
»Da hast du recht,« erwiderte Fritz Knaul ruhig. »Aber denn mußt du auch nicht solche armen Kerle, die im Dreck geboren und im Elend groß geworden sind, noch tiefer hineintreten. Und auch darin hast du recht, Jochen, stehlen hätte er nicht dürfen. Aber …« und nun reckte sich Fritz Knaul wieder auf – »aber ich hätte mich damals auch mehr um ihn kümmern sollen. Na, ich will das nachholen.«
Man sah ihn an; einige nickten ihm zu. »Weggeschmissene Arbeit!« brummte Jochen Briest. Dann sprachen sie von anderem.
Am Sonntag ging Fritz Knaul mit August zu dessen Vormund. Der zog das Gesicht sauer, als er die beiden erblickte; ihm hatte nämlich sein Gewissen schon ein paarmal gesagt, daß er sich um sein Mündel kümmern müsse. Aber er hatte es dann damit beruhigt, daß er sagte: »Wenn einem von der Behörde etwas so mir nichts, dir nichts aufgehalst wird, und wenn dann der Bengel auch noch verstockt ist, was kann ein anständiger, vielbeschäftigter Bürger, den sonst die Sache nichts angeht, dann noch dabei tun?« – Nun aber, da man zu ihm kam und seine Hilfe in Anspruch nahm, war er willig.
Man wurde sich bald darüber einig, daß der Junge regelmäßige Arbeit haben müsse: leichte Arbeit, möglichst in frischer Luft. Er mußte auch ordentlich eingekleidet und besser genährt werden. Um für Kost und Kleidung etwas tun zu können, nahm der Vormund die Armenbehörde in Anspruch. Er erließ wegen Arbeit eine Anzeige in der Zeitung, auf die sich aber niemand meldete, denn es war kein Mangel an derartigen Arbeitskräften. So mußte nun August jeden Abend auf den Gänsemarkt sich begeben, um sogleich nach Ausgabe der Zeitungen die Stellenangebote durchzusehen. Er lief dann im Galopp dorthin, wo sich eine Gelegenheit bot. Es war jetzt ein starker Wille über ihm, der ihn trieb; und nun er in anständiger Kleidung steckte und jeden Tag satt wurde, war auch ein Wille in ihm. Ein schwacher Wille zwar noch, aber er reckte sich aufwärts.
Nach einigen Tagen erhielt August Randt eine Stelle als Laufjunge bei einem Apotheker. Er war einer der ersten, die dort anlangten, aber bald stand ein dichter Haufe hinter ihm und drängte sich heran an die Tür. Meist waren es eben konfirmierte Jungen, über die August mit Haupteslänge hinwegragte. Als er das bemerkte, schämte er sich, hier als eigentlicher Werftarbeiter unter den Kleinen zu stehen, die ihr Geld nur mit den Beinen verdienen konnten. Und doch wurde gerade er genommen. Der Apotheker sagte zu seinem Provisor: »Er macht einen ordentlichen und gesetzten Eindruck. Und er hat auch ein gutes Gesicht. Auf den ist am meisten Verlaß.«
Er täuschte sich nicht. Am nächsten Tage schon war August mit einem Korb unterwegs; er brachte Pillen und Pulver, Flaschen und Gläser aus. Treppauf und treppab ging's nun vom Morgen bis zum Abend. Er verdiente recht gut dabei, denn außer seinem Lohn bekam er hier und dort einen Groschen. Außerdem hatte er in der Apotheke sein schönes Essen, so schön, wie er es in seinem Leben noch nicht gehabt hatte. So schlug er sich gut durch und konnte seinen Geschwistern eine Kleinigkeit mitbringen, als er sie im Waisenhause besuchte. Auch einen Kranz auf das Grab seiner Mutter konnte er legen und ein paar bescheidene Blümchen darauf pflanzen.
So gingen ein paar Wochen hin, dann kam wieder das alte Leiden. Er hatte eines Tages viel zu besorgen gehabt, hatte in der Eile und Aufregung nicht ordentlich zu Mittag gegessen, der Korb war schwer gewesen, eine Frau hatte gescholten, weil sie so lange hatte warten müssen – und das Kind sei doch so krank –, das alles hatte ihn müde und mutlos gemacht. So kam es denn: die Beine zitterten ihm, es wurde ihm schwarz vor den Augen, dann war die Besinnung weg. – Mitleidige Leute hoben den in Krämpfen zuckenden Jungen auf, legten ihn in eine Droschke, und die brachte ihn in die Apotheke, deren Name auf dem Korb stand. Hier erholte er sich wieder.
Als er wieder zum Bewußtsein kam, stand der Apotheker vor ihm. »Geht's wieder besser?« fragte er. Und dann: »Hast du solche Anfälle schon früher gehabt?« August nickte. »Das hättest du mir aber doch sagen müssen!« August blickte ihn verstört an. »Wenn du unterwegs bist und dann die Krämpfe bekommst, dann müssen ja die Leute viel zu lange auf die Medizin warten, die der Arzt ihnen verschrieben hat, und die sie eiligst gebrauchen müssen. Leben und Tod hängt oft davon ab! – Nein, das geht nicht! So leid es mir tut, das geht nicht!«
August antwortete gar nichts; in ihm war das dumpfe Gefühl, daß nun alle Herrlichkeit ein Ende habe. Er fühlte sich so zerschlagen wie damals unter den Fäusten seines Vaters. Da fragte der Apotheker wieder: »Hast du die Flaschen und Pakete verloren oder hast du sie ausgebracht? Die Frau Stehle hat dreimal durchs Telephon gerufen und sich beschwert, daß die Medizin nicht käme. Hat sie denn endlich ihre Sachen bekommen?«
August stierte eine Welle stumm vor sich hin, dann dämmerte die scheltende Frau in seiner Erinnerung auf: »Heute, gleich nach Mittag schon. Ich habe mich gar nicht mal satt essen können. Es war heute so viel.«
Der Apotheker brummte noch etwas vor sich hin, dann fragte er, wer sein Vormund sei, und wo der wohne. Und dann hieß es in ganz freundlichem Tone: »So, August, nun geh' nach Hause. Morgen sprechen wir weiter darüber.« Und als er Tränen in den Augen des Jungen sah, setzte er hinzu: »Kopf hoch! Es wird schon zurechtkommen.«
Mit schwerem Herzen ging August am anderen Morgen in die Apotheke, er fürchtete, seine Stellung zu verlieren, und es kam auch so. Es kam aber doch ganz anders, als er es sich gedacht hatte. Er wurde nämlich zunächst mit einem Briefe zu seinem Vormund geschickt und für den Abend wieder herbestellt.
Zum Abend hatte nun der Apotheker den Vormund zu sich gebeten, und der hatte Fritz Knaul mitgebracht. Unter diesen dreien wurde Rat gehalten, was man mit dem Jungen machen solle. August mußte zunächst draußen warten, denn Fritz Knaul erzählte dem Apotheker die Lebens- und Leidensgeschichte seines ehemaligen Nietenwärmers. Dann wurde ein Arzt herbeigerufen, der August untersuchte. Und dann kamen die vier Männer darin überein, daß August aufs Land müsse.
Es war gut, daß Fritz Knaul da war, dessen Wille noch vom Nietenfeuer her bei August als unumstößlich galt, denn aufs Land zu gehen schien ihm wie eine Art von Verbannung. »Da wird gar nicht weiter darüber geredet,« erklärte Fritz Knaul. »Wir wollen einen gesunden und tüchtigen Menschen aus dir machen. Das wirst du nur dort. Und wenn du das geworden bist, so kannst du wieder hierher kommen.« August sah bald ein, daß dagegen nichts zu machen sei, und er wußte, daß sein alter Schirrmeister es gut mit ihm meinte, also fügte er sich.
In guter Sonntagskleidung, in der Hand eine Reisetasche mit blankem Messingbügel, die aus der Rumpelkammer des Apothekers stammte, stand August Randt dann eines Morgens auf dem Bahnhof der Kleinbahn. Er war eigentlich nie so recht hinausgekommen aus der Stadt, nur mal an die Elbe und in die Gegend hinterm Diebsteich, wo überall, sobald es nett und frisch und grün wird, eine Tafel angebracht ist: »Zutritt verboten!« oder: »Warnung! Hier sind bissige Hunde.« – Verwundert blickte er daher über die Gärten und Felder hin, an denen er vorbeifuhr. Als er in Kahlbecken ausgestiegen war, fragte er nach dem Wege nach Uhlmoor und erfuhr, daß das Dorf noch weit weg liege und weit verstreut in der Heide. Er machte sich auf den Weg, zunächst durch Ackerfelder und Wiesen, dann über die weite freie Heide. Da ging vor ihm eine ganz neue und wunderbare Welt auf.
Keine Menschenseele weit in der Runde. Kein Hämmern und Hasten, kein Rasseln und Klingeln von Straßenbahnen, kein Laufen und Lärmen von Kindern. Nur drüben vom Moor her hörte er das Rufen eines Kiebitz; um ihn herum nur das Summen der Bienen und dazwischen der tiefe Ton der Hummeln, die vom Habichtskraut Blütenstaub und vom Weibklee Honig holten. Er blieb stehen und holte tief Atem. Dann, setzte er seine Reisetasche neben sich ins Heidekraut und sah zu seiner Verwunderung, daß in dem spärlichen Grün, zwischen verdorrenden Halmen, unter grauen Flechten und im öden Sand des Heideweges viele wunderbare und wunderliche Gesellen ihr Wesen trieben.
Langbeinige Laufkäfer mit braunen und grüngoldenen Flügeldecken, kräftige und gewandte Kerle, liefen über den Weg. Drüben auf der kahlen Sandfläche sonnte sich ein kleinerer von dieser Sippe; er hatte mächtig lange Beine und einen braunen Rock mit weißen Punkten und Schnörkeln. August wollte sich ihn ganz in der Nähe ansehen, husch, flog er auf und glitzerte goldig in der Sonne.
Schwerfällig, im stahlblauen Panzerkleide, kroch ein Mistkäfer in der Wagenspur entlang. Er schien gewappnet gegen alle Angriffe größerer und kleinerer Feinde. Und doch konnte der Gepanzerte sich der kleinen, flinken Ameisen nicht erwehren, die ihn verfolgten, sich an ihn klammerten und mit ihren scharfen Zangen ihm zu Leibe gingen. Er bemühte sich, am steilen Rande der Wagenspur emporzuklettern, doch der lose Sand gab nach, und er rollte wieder hinab zwischen die Menge der Feinde. Da lag er nun auf dem Rücken und fuchtelte mit den Beinen umher; nirgends aber fand er einen Halt, um sich aufrichten zu können. Die Ameisen fielen über ihn her und suchten zwischen den Panzerringen die schwachen Stellen zu finden, um ihn zu lähmen.
»Viele über einen, das ist Mord!« sagte August, nahm den überfallenen aus der Wagenspur und setzte ihn auf den Weg.
Eigentümliche Trichter bemerkte er dann im Sande. In einem von diesen schien Leben zu sein. Er sah eine von den frechen Ameisen am Rande eines solchen Trichters entlang laufen; sie verlor im losen Sande den Halt und glitt abwärts. Es gelang ihr aber doch wieder, festen Fuß zu fassen; da wurde unten im Trichtergrunde ein dunkler Punkt sichtbar, und es wurde von dort aus ein Sandstrahl nach der Ameise geschleudert, so daß sie bestürzt und haltlos in den Schlund hinabglitt. Sogleich wurde sie von zwei Zangen gepackt und in die Tiefe gezogen. Der Sand deckte die Stelle, wo sie verschwunden war. –
Andere Ameisen liefen, eine hinter der anderen, auf einem schmalen Steig entlang, den sie sich durch den hohen Urwald von Gras und Kraut gebahnt hatten; sie schleppten Stücklein Holz und tote Fliegen, die bedeutend größer waren als sie selbst. Wenn die eine mit ihrer Last auf ein Hindernis stieß und nicht weiter konnte, so packte die nächstfolgende mit an; sie schoben und hoben und zerrten dann so lange, bis sie ihren Zweck erreichten. –
Was gab es doch für merkwürdige Tiere draußen auf der Heide: wie kämpften und arbeiteten sie hier, wo niemand sie störte, gegeneinander und miteinander! –
August saß lange und schaute mit verwunderten Augen hinein in Moos und Kraut, er vergaß ganz, daß er heute noch seine neue Arbeitsstelle erreichen sollte. Der schwerfällige Ritter im Panzerrock brachte ihn erst wieder darauf. Der war wieder vom festen geraden Weg ab und in die Wagenspur gekommen, und wieder waren die Ameisen über ihn hergefallen. Schon lag er, wie vorher, auf dem Rücken, und wieder waren die vielen über den einen. – –
Da fiel August ein, daß er kürzlich in einer ähnlichen Lage gewesen war: auch viele über einen. Er stand auf, sprang hinzu, hob mit raschem Griff den Käfer aus der Grube, blies ihm die unbarmherzigen Feinde vom Leibe und warf ihn weit weg in die Heide. Dann nahm er seine Reisetasche auf und ging mit langen Schritten weiter seines Weges.
Weit drüben am Horizont, dort, wo sich von der Heidefläche die moosgrünen Strohdächer abhoben, war sein Wanderziel. Gegen Mittag war es, als er in Uhlmoor eintraf. Als er bei seinem zukünftigen Dienstherrn Henning Schömann in die Stube trat, saß man gerade beim Mittagstisch. Mit kargen Worten, aber mit einer ruhigen Freundlichkeit begrüßte man ihn.
Ein Stuhl wurde an den Mittagstisch geschoben und auf das Wachstuch des Tisches ein Teller für ihn gestellt. »Sett di!« hieß es dann. Die Hausfrau ermunterte ihn: »Nu lang düchdig to! – So'n Reis' gifft Hunger.« Ein flachsblondes Mädchen von vielleicht 15 Jahren schob die noch wohlgefüllte Schüssel näher an seinen Platz heran.
»Si so gut!« sagte sie mit heller Stimme. Der Bauer, ein breitschulteriger Mann, dessen dunkles Haar an den Schläfen etwas ergraut war, nickte ihm zu: »Hier mutt jedereen för sick sorgen; nödigt ward nich.« So waren sie alle freundlich zu ihm, nur der zehnjährige Junge, der zwischen Vater und Mutter sah, guckte ihn scheu an und wandte die Augen weg, wenn August zu ihm hinüberblickte. Er sah blaß aus und schien kränklich; schon bald merkte August, daß man ihm in vielen Dingen zu Willen war.
August war zu einer guten Zeit gekommen: die Felder waren bestellt, es gab jetzt nicht viel Arbeit und vor allem keine schwere Arbeit, er konnte also erst Kräfte sammeln für den Herbst. Zunächst gab's auf dem Moor zu tun. Er mußte Torf kanten und ringeln; dabei half oft Anna Schömann, und dann ging's lustig her bei der Arbeit. Sie erzählte und lachte und sang; da taute denn auch August auf, er erzählte von seiner Welt: von den Leuten und der Arbeit dort, von den großen Schiffen und den noch größeren Schwimmdocks, die auch das schwerste Schiff spielend aus dem Wasser hoben; auch von lustigen Streichen und von dem Streik der Nietenjungens erzählte er, aber nichts von seinen Leiden und seiner Schande. – Wenn das vor ihm aufstieg, dann klang ihm ihr hellstes Lachen wie Hohn, dann wurde er still und wie hintersinnig. – –
Annas Bruder kam auch zuweilen mit aufs Moor, Niklaas tat aber nicht viel. Es dauerte nie lange, dann lag er hinter einem Weidenbusch und starrte ins Blaue. Oder er hatte an verborgener Stelle ein Feuerlein angemacht, versorgte es mit trockenem Gras und Holz und schürte in den Kohlen; wenn dann die rote Lohe aufflackerte, wenn es in der Glut knisterte und Funken aufsprühten, dann kam auch in seine sonst toten Augen ein Flackern und Leuchten, und über seine meist verdrossenen Züge kam ein glückliches Lächeln. – –
Noch einen gab's, der auf dem Moor nicht gern was tat, das war Jan Steen, dem ein ziemlich wüstes Stück Moor gehörte, das neben dem Schömannschen lag. Ihn lernte August Randt bald kennen. Er schnackte gern und erzählte gern; es kam ihm nicht darauf an, August und Anna beim Torfkanten zu helfen, wenn dabei gesprochen und Spaß gemacht wurde. Wenn dann auch die drei nicht sehr fleißig waren, weil sie mal stillstehen mußten, um zu gucken, weil sie sich mal aufrecken mußten, um frei aufzulachen, so schafften sie doch für zwei genug. – »Und was ich tu,« sagte Jan Steen, »und wo ich arbeite – bei mir oder bei anderen – das geht keinen was an!«
Jan Steen war ein kleiner Mann mit einem Buckel. Er hatte dunkle Augen, die beweglich unter den buschigen Brauen hervorblitzten; er hatte flinke und geschickte Hände, aber ein lahmes Bein. Das hinderte ihn nicht, wie ein Wiesel in Heide und Moor umherzustreifen und auf alles zu achten, was in Heidekraut und Gras sein Wesen trieb, im Moos und in den Moortümpeln hauste, im Sande und unter Steinen auf Fang lauerte oder gefangen wurde. Er war ein Naturforscher auf seine eigene Art. Über diese Liebhaberei war er nicht zum Heiraten gekommen; das hatte vielleicht auch andere Gründe. Erstmals der Buckel und weil er auch sonst etwas verwildert aussah, dann auch, weil er, weit abseits von den Menschen, am Kluvenmoor in einem Häuschen wohnte, das eigentlich nur Raum für zwei hatte: für ihn und seine alte Mutter. Endlich sagten von ihm die Leute, daß er sich mit sehr wenig Arbeit behelfen könne. Das war richtig, denn er brauchte sehr wenig zum Leben und sah nicht ein, daß es zum Glück des Lebens gehöre, mehr zu erarbeiten, als er und seine Mutter brauchten. Und sie war der gleichen Ansicht, was die Leute veranlaßte zu sagen, sie hätte ihn zur Faulheit erzogen. Das also war Jan Steen.
Den Kindern der ganzen Umgegend war Jan Steens Heim, trotz aller Armseligkeit, ein Paradies. Das Anziehendste darin war seine Klüterkammer. Da gab es allerlei künstliches Werkzeug, das sonst niemand hatte, da gab es sogar ein kleines Schmiedefeuer mit Blasebalg, da konnte man schmelzen und gießen, weich und hart löten. Auf einer Drechselbank einfachster Art konnten die wunderschönsten Sachen aus Holz und Knochen hergestellt werden; kurz, was man sonst nur in Hamburg oder allenfalls in Bramstedt gemacht oder geflickt kriegen konnte, das machte Jan Steen, das heißt, wenn er gerade Lust hatte. Wenn aber gutes Wetter war, wenn die Birken im ersten Grün prangten, wenn im Moor das Wollgras silbern glänzte, wenn im Sommer der Bienenstand zu beschaulicher Ruhe und reizvollen Beobachtungen einlud, wenn sich im Herbst die Heide purpurn färbte, dann war er für die Arbeit nicht zu haben. –
»Er wird wohl im Moor sein und Torf streichen,« sagte seine Mutter dann den Fragenden und Mahnenden. Sie lächelte dabei, denn an das Torfstreichen glaubte sie doch nicht so recht. Aber sie wußte, daß ihr Sohn schließlich doch immer so viel Torf und Brot herbeischaffte, daß sie beide im Winter ein warmes Stübchen und satt zu essen hatten.
Von Jan Steen erfuhr denn nun auch August Randt, wie es mit Niklaas Schömann eigentlich stand. »Pass' auf, der Junge macht noch mal großes Malheur,« hatte Jan einmal gesagt, als sie im Ellernkratt, der an das Moor stieß, eine dünne Rauchfahne aufsteigen sahen. Als August dann zu fragen anfing, wurde Jan Steen zunächst einsilbig, dann aber sagte er: »Du hast also noch weiter nichts über ihn gehört und weißt nicht, was damit zusammenhängt, dann ist es doch wohl besser, wenn ich dir das mal vernünftig erzähle, als wenn die alten Weiber mit ihrem Tünkram dazwischenkommen und alles verheddern.« Und Jan Steen erzählte.
»Die Schümanns stammen nicht von hier. Der Vater von Henning Schümann hat im Schleswigschen einen schönen großen Besitz gehabt. Da haben sie Weizen und Rapssaat gebaut, und man sagt, er habe mit vieren gefahren und manchmal in der Stadt mit Speziestalern um sich geschmissen.
Er fuhr gern zur Stadt, der alte Herr Schömann, und war dort in den besten Wirtschaften und Weinstuben ein angesehener Gast. Er sorgte aber auch dafür, daß es in seinem und den Nachbardörfern was Besseres zu trinken gab, als das saure Bier und den kratzigen Rum, den man damals in den Dorfkrügen ausschenkte. Er führte das Bayerische Bier ein und ließ auch 'ne andere Rumquelle in die Dörfer laufen. Das merkten die Leute bald, und wer dann ein besseres Glas Grog haben wollte, der forderte einfach: »Een Schömann!« So hieß das in der ganzen Gegend. – –
Kurz und gut und wie's denn so geht: der Alte kam ins Trinken, und der Junge lernte es von ihm. Es soll das übrigens in der Familie gelegen haben. So was gibt es. – Genug, Henning Schömann kam früh ans Stadtfahren, ans gute Leben, ans Trinken und ans Regieren, denn der Alte starb früh. – Es heißt zwar,« Jan Steen lachte, »wer lange trinkt, wird alt. Wenn mir einer das sagt, denn sag' ich: Es gibt auch alte Soldaten, aber daran haben die Gewehrkugeln und Granaten keine Schuld!«
Jan Steen schwieg eine Weile, als wenn er es sich überlege, wie er das nun Kommende dem Jungen beibringen solle, ohne daß eine üble Nachrede auf dessen Brotherrn falle, dann fuhr er fort: »Ich will Henning Schömann nichts Schlechtes nachsagen, August, denn er ist ein guter Kerl. Aber das Wort des alten Sirach gilt noch heute: »Was einer für ein Mann gewesen sei, das findet sich an seinen Nachkommen.« So findet sich bei den Söhnen manches von den Vätern her, und bei den Enkeln wird es zuweilen noch deutlicher. – Merkst du was, August?«
Der Junge blickte den Alten an, dann sah er vor sich nieder; er dachte an das, was der Doktor mal gesagt hatte von ihm und seinem Vater. Und er erinnerte sich, daß er in der Schule einmal fassungslos hingestarrt hatte auf ein Bibelwort, das vor ihm aufgeschlagen lag, und das der Lehrer eben gelesen hatte: »Ich will die Sünde der Väter rächen an ihren Kindern bis ins dritte oder vierte Glied.« – Und er hatte gefragt: »Was kann ich für meines Vaters Schuld?!« – – Den Lehrer wagte er damals nicht darum zu fragen; so fragte er denn heute Jan Steen. Der aber gab ihm auch keine Antwort. – –
»Ich merke aber, du verstehst mich,« fuhr Jan Steen fort. »Dann ist das andere bald erzählt. Der Alte hatte zu doll gewirtschaftet; so was geht 'ne Weile gut, wenn's aber erst mal anfängt zu hapern und wenn dann noch schlechte Jahre dazukommen, so bricht der Kram zusammen. Ganz so weit ließ es Henning Schömann freilich nicht kommen; er hat den Hof noch rechtzeitig verkauft. In der Gegend, wo seine Vorfahren und er die großen Herren gewesen waren, wollte er natürlich als kleiner Mann nicht bleiben, so hat er sich denn mit dem Rest seines Geldes hier in der Heide angekauft, wo niemand ihn kannte. Er hat tüchtig zugelangt bei der Arbeit, hat 'ne fixe und fleißige Frau aus unserer Gegend geheiratet, und aus dem Geestbauern ist ein Heidebauer geworden. Alles ging gut, nur ist in den ersten Jahren zuweilen doch noch ab und an die alle Ader zum Durchbruch gekommen. Die Winterabende waren lang, da ging er denn mal zu Krug; wenn er zur Stadt kam, winkten die Wirtshäuser, und es lockte der gute Grog, so kam denn doch zuweilen Henning Schömann wieder in Suus. Er hielt aber doch an sich, und die Frau half. Dann meinte er, er müsse im Winter mehr zu tun haben, daher fing er einen Handel an, er fuhr zur Stadt mit allerlei und nahm allerlei wieder mit. Das aber wurde sein Verderb; er kam wieder ans Trinken, machte dann auch dumme Händel und verrückte Fahrten. – – Eben nachdem der Junge geboren war, da war's aber mit einem Male damit vorbei. In Bramstedt war er wohl mal mit guten Freunden zu einer Guttemplerversammlung gegangen, um mit über die Wassertrinker zu ulken; da hatten die ihn aber wohl an der richtigen Stelle zu packen gewußt. Kurz und gut: bald darauf kam er nach Hause und sagte jedem, der es hören wollte, er hätte nun lange genug anderer Leute Narr gespielt für sein eigenes Geld; jetzt sei er klug geworden. Es hat seit jener Zeit keinen besseren Bauern und Menschen hier gegeben.« – Damit schloß Jan Steen seine Erzählung. Gleich darauf sagte er dann: »Aber, was ich eigentlich sagen wollte: nun kommt auch die Antwort auf die große Frage: Die Anna stammt noch aus der ersten Zeit, die ist gesund, aber der Junge, der hat seinen Knacks mitgekriegt.«
August Randt wollte nun mancherlei fragen, aber Jan Steen hatte keine Lust mehr, darauf zu antworten. Er fragte selbst: »Hast du mal was von Theodor Storm gehört oder gelesen?« Und dann sprach er leise vor sich hin die Worte:
»Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blüh'n; der Heideduft
Steigt in die warme Sommerluft. – –«
»Kennst du das?« fragte Jan Steen. August schüttelte den Kopf, und Jan Steen fragte weiter: »Hast du denn mal was von Storm seinem John Riew' gehört?« Als August auch das verneinte, brummte er unwillig: »Was lernt ihr denn eigentlich in der Stadtschule?« Dann setzte er hinzu: »Ich will dir das Buch mal leihen; die Geschichte von John Riew' und seines Freundes Tochter mußt du mal lesen, denn brauchst du mich nicht weiter über Niklaas Schümann zu fragen, denn mehr weiß ich auch nicht, als da zu lesen steht.« Jan Steen sah nach der Sonne, dann kriegte er es eilig. »Ich muß nach Hause und nach meinen Immen sehen,« rief er.
* * *
Das Korn reifte früh im Heidesonnenbrand. Der Roggen kam zuerst an die Reihe. Er war nur dünn, aber Henning Schümanns Roggen stand doch viel besser als der auf den benachbarten Koppeln, das kam daher, weil er künstlichen Dünger aufs Land gebracht hatte. So hieß es denn eines Tages: »Sieh, August, das ist recht en Stück Arbeit für'n Stadtmenschen: dabei kannst du das Mähen lernen.«
»Das wird für mich en gemütlicher Tag,« meinte Anna lachend. »Ich soll nämlich hinter dir her aufnehmen.«
»Warte nur, ich will dir genug zu tun geben.« August ging ganz zuversichtlich ans Werk, aber es machte doch viel Schwierigkeiten: die Sense ging bald zu hoch, daß der halbe Halm des Roggens stehen blieb, bald ging sie in die Tiefe, in Erde und Stein. Anna war immer dicht hinter ihm her als Aufbinderin. »Die beiden Junghasen können nicht mitkommen,« neckte Henning Schümann das Paar, wenn er, mit langen gleichmäßigen Zügen die Senfe schwingend, vorwärts strebte.
»Er gibt mir ja nichts zu tun. Er haut Steine,« rief Anna, stemmte beide Arme in die Seite und lachte. August biß die Zähne zusammen, wie damals beim Nietfeuer, wenn Fritz Knaul schrie: »Tret' doch en bißchen fix zu, daß es Wind gibt, du Dösbattel!«, und er arbeitete sich in seiner eigenen Ungeschicklichkeit bald übermüde.
»Holla! – Das geht nicht!« rief Henning Schömann. »Immer Ruhe! Alles will gelernt sein. Verpust dich man erst mal!« Es war aber schon zu spät, August sackte zusammen.
Diesmal war der Anfall nicht schlimm. August erholte sich bald wieder. Abends war der Bauer zuerst recht still, dann sagte er: »So was dürfen wir nicht wieder machen. Ich vergaß, was mir dein Vormund geschrieben hat, und dachte nicht daran, daß der Anfänger lahm wird, wo der Meister lacht. – Du hast dir ja auch noch nichts Ordentliches auf die Rippen gegessen. Mußt dich ordentlich an Milch und Buchweizengrütze und Eierpfannkuchen halten!« Und als er sah, daß August beschämt und niedergeschlagen war, lachte er: »Wart' nur, übers Jahr, dann geht's besser, dann komm' ich mit dir nicht mit.«
Als August nachher vor dem Hecktor auf dem großen Stein saß, der von der Riesengrabkammer beim Kluvenmoor stammte, kam Anna vom Hause her. Ganz langsam ging sie. Sie setzte sich neben ihn und sagte mit niedergeschlagenen Augen und stockender Stimme: »Sei mir nicht mehr böse, August!«
»Warum denn? Du hast mir doch nichts getan.« Er hätte gerne ihre braune Hand gestreichelt, die neben ihm auf dem Stein lag, aber er wagte es nicht.
»Ich bin daran schuld, weil ich dich geneckt habe. Aber ich will es nicht wieder tun!« Nun streckte sie ihm die Hand hin. Hastig griff er zu und drückte und streichelte sie.
»Du hast keine Schuld, Anna! – Gar keine.« Und dann flog, wie ein erfrischender Luftzug, die Hoffnung durch seine Seele. Er richtete sich auf und sagte: »Ich will Herr darüber werden. Da, nun will ich es!«
»Helf Gott!« Sie hatte ihren Frohmut und ihr helles Kinderlachen bald wiedergefunden. August aber ging mit gutem Mut zur Ruhe; der andere Tag sah ihn mit neuer Kraft an der Arbeit.
Sonntags ging August oft über die Heide, meist allein; wenn er aber zum alten Jan Steen ging, dann begleitete ihn Anna zuweilen. Das war dann eine lustige Fahrt; sie plauderten und scherzten, und August meinte, er habe noch niemals einen so guten Kameraden gehabt.
Als sie an einem sonnigen Augusttage dorthin kamen, stand Jan Steen gerade inmitten eines Bienenschwarmes. Vor ihm, am Zweige eines kleinen Apfelbaumes, hing eine schwarze Traube: lauter Bienen. Um ihn herum aber schwärmten und summten die noch nicht zur Ruhe gekommenen.
»Kommt nur näher heran,« rief er den beiden zu. »Man nicht bange!«
Nur zögernd näherten sich Anna und August. Als dann ein paar Bienen ihnen nahe kamen, wollte August sie mit der Hand abwehren. »Nicht danach schlagen!« rief Jan Steen.
Den beiden wurde es aber in dieser Umgebung doch bald ungemütlich, sie zogen sich zurück und warteten, bis Jan Steen den Schwarm vom Zweig in einen Strohkorb gestreift und diesen neben den Baum gestellt hatte, damit die letzten der noch umhersuchenden Bienen zu ihrer Königin kommen konnten. Dann begrüßte er seinen Besuch und erzählte:
»Die Immen sind doch ganz auf uns Menschen angewiesen. Wir sorgen für sie. Sie ziehen mit ihrer Königin aus ihrem Mutterkorb und wollen in einem neuen Haus eine neue Familie heranziehen, aber sie können sich kein Haus bauen, die armen Stackels, und sie können auch kein passendes finden hierzulande. Das wissen sie wohl, so setzen sie sich denn hilflos an einen Baum und warten, bis ihr Bienenvater kommt und für sie sorgt.«
»Was würden sie denn aber tun, wenn du sie nicht in einen Korb bringst?« fragte Anna.
»Sie würden erst mal sitzen bleiben wo sie sitzen, so dumm es auch ist: die Königin in der Mitte der Traube und die anderen rundherum. Und wenn man sie denn sitzen ließe, so würden sie merken, daß das nichts nützt, und sie würden weiterfliegen und suchen, wo sie bleiben könnten. Aber es ist nicht mehr wie in alten Zeiten, als sie noch wild waren, und als der Urwald – der nun unterm Moor liegt – ihnen viele hohlen Bäume zum Hausen bot. Sie würden also nichts Passendes finden; sie würden sich verfliegen und verkrümeln, verkommen und verhungern. Sie sind eben Haustiere geworden, auf die der Mensch achten muß. Dann erst können sie leben und gedeihen. Dann tun sie auch ihre Arbeit und bringen Honig und Wachs ein.«
»Wieviel Honig kann der neue Schwarm denn noch in diesem Jahre liefern?« fragte August
»Der kleine Haufen?« Jan Steen lachte. »Nichts kann er bringen. Das ist eben auch so eine Dummheit, und da sieht man es wieder: die Bienen verlassen sich darauf, daß die Menschen ihnen helfen. Es ist ja viel zu spät zum Schwärmen! Das Volk kann gar nicht mehr den Korb mit Waben ausbauen und so viel Honig einbringen, daß es über Winter davon leben kann. Wenn ich ihm nicht helfe, muß es verhungern.«
»Was tust du denn damit?«
»Das will ich euch sagen. Ich nehme ihnen die Königin, den Weisel, sagen wir, es ist die Mutter, die Eier legt, und um die sich alles schart, die nehme ich ihnen fort. Dann lasse ich ihr Volk wieder in den Korb einlaufen, aus dem es gekommen ist.«
Das alles war für August wieder etwas Neues und Wunderbares. Noch mehr aber staunte er, als er bei Jan Steen in die Stube trat. Da fand er in einem Glaskasten das Leben und Treiben in einem Bienenstock dargestellt: Arbeitsbienen, Drohnen und die Königin, unbedeckelte, bedeckelte und bestiftete Waben, Arbeiter-, Drohnen- und Königinzellen. Alles hatte Jan Steen künstlich und lebensähnlich zusammen gestellt; dazu auch die Bienenfeinde: Wachsmotten und den schwerfälligen Ölkäfer, dessen Larve sich der Biene anhaftet, um in den Korb getragen zu werden, wo sie sich dann am Bienenbrot gütlich tut. Davon konnte Jan Steen so fein erzählen, wie es ein Schulmeister nicht besser kann; Jan Steen hatte nämlich seine Kenntnisse nicht erlernt, sondern erlebt.
Eine ganze Schublade voller Schneckenhäuser hatte er auch, alle in kleinen Fächern geordnet. Und er zeigte seinen Besuchern, was für ein Wunderbau das Haus so einer Bänderschnecke ist, wie geschickt die Bewohnerin es zu vergrößern versteht, und wie sie zur Zeit der Dürre es zu verschließen weiß, weil sie sonst vertrocknen würde. Da waren dunkle Häuser, die von dem schwarzen Boden des Ellernkratt herkamen, und da waren weißliche und gelbe vom Feld und von der Heide; die Schnecken hatten sie der Umgebung angepaßt, damit sie den Feinden nicht auffielen. »Schutzfärbung«, nannte das Jan Steen.
Bei dieser Gelegenheit erfuhr August Randt dann auch, daß es ein Ameisenlöwe gewesen sei, der damals am Heidewege im Grunde des Sandtrichters auf Beute gelauert hatte, und daß aus diesem häßlichen unterirdischen Räuber eine zierliche Ameisenjungfer wird, flink und hübsch wie eine Libelle.
Als August nachher gegen Abend allein neben den Bienenkörben stand und zuschaute, wie die fleißigen Arbeiterinnen in Scharen heimkehrten, hörte er von der Klüterkammer her Anna Schömanns Stimme. Sie trieb Jan Steen an, die Milchkanne zu löten, die sie vor vierzehn Tagen gebracht hatte. Es half nichts, er mußte an die Arbeit. –
Nun rächte er sich: er neckte Anna mit »ihrem Liebsten aus der Stadt«. Sie wehrte seine Scherze mit kecken Worten ab. »Er ist ja 'n Schiffbauer, was soll er hier auf der Heide machen!« sagte sie dann.
»Du kannst ja mit nach Hamburg gehen und Frau Schiffbauern werden,« schlug er vor.
»Man jonich Nur ja nicht. in die Stadt!« Sie wehrte mit beiden Händen ab.
»Denn kann er sich hier bei euch einfreien.« Jan Steen wußte Rat.
August hörte, wie sie laut auflachte. Dann drehte sie den Spieß um: »Du hättest nur selbst aufpassen sollen, daß du 'ne Frau kriegtest. Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen, ich will schon einen kriegen.« Und dann ganz abweisend und kurz: »Mach' zu, daß du fertig wirst, ich muß nach Hause.«
Bald gingen die beiden heimwärts, sie harmlos plaudernd, er ernst und einsilbig. »Er ist ja 'n Schiffbauer!« Das klang ihm noch in den Ohren und dazu das: »Man jonich!« – – Er war und blieb also den Heideleuten, die auf eigener Scholle saßen, ein Fremder, ein Stadtjunge, den man nur darum aufs Land geschickt hatte, damit er gesund werden könne. – Beinahe hatte er das vergessen gehabt, denn man ließ es ihn nicht fühlen. Aber nun war er wieder daran erinnert worden, unabsichtlich freilich, doch es blieb haften in ihm.
Das Mähen lernte August in diesem Sommer noch, er wurde auch gesunder und kräftiger. Das Wetter war gut, das Korn kam frühzeitig in die Scheunen. Zum Erntedankfest ging alles in die Kirche, auch August; er war seit seiner Konfirmation nicht dort gewesen. – –
Während der greise Pastor sprach von »Gottes reicher Güte, die uns das Feld bestellt«, mußte er an seinen Garten auf Steinwärder denken, und daß er alles hatte ausreißen müssen, was dort gewachsen war. – Seine Leidenszeit ging ihm dann durch den Sinn. Als er aber mit dieser Gemeinde das »Unsern Ausgang segne Gott« gesungen hatte und mit all den festen, andächtigen Männern aus der Kirche schritt, da kam ihm das Gefühl des Geborgenseins. Und als Anna ihn draußen freundlich anblickte und ihm zunickte, fiel ein Stück Sonnenschein auf den Acker, der so lange Ödland gewesen war. Das rechte Vertrauen aber konnte zwischen den Dornen und Disteln doch noch nicht aufkommen. –
Feiertage gab's nun aber nach der Ernte doch nicht; der Pflug ging über die Stoppelfeldes, und August ging manchen Tag hinter ihm her. Dann ging's ans Heidehauen. Einen großen Haufen brachten sie zusammen, der sollte im Winter als Streu dienen. Es kam aber anders. Zwei Tage später, gegen Abend war es, da stand er in hellen Flammen.
Da der Haufen nicht weit von Henning Schömanns Haus stand, war er einer der ersten beim Feuer. Der erste war wohl sein Junge gewesen; er traf ihn im Weidengebüsch, neben einem Moorgraben liegend, als er nahe an die Brandstelle herankam.
»Wie kommst du hierher?« fragte der Vater. Der Junge antwortete nicht, er starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Flammen; seine Wangen glühten, seine Glieder zitterten vor Erregung.
Henning Schömann sprang über den Graben und lief weiter. Von der anderen Seite des Dorfes sah man auf der Landstraße den Staub aufwirbeln: die Spritze kam. Der Haufen brannte nieder wie eine Riesenfackel; die Spritze hatte genug zu tun, in der Windrichtung die trockene Heidefläche naß zu halten. Der Moorgraben lieferte dazu das Wasser, und es war ein Glück, daß er in der Nähe war, denn sonst hätte durch Heide- und Moorbrand ein Unglück daraus entstehen können.
Als Henning Schömann nachher im Weidengebüsch nach seinem Jungen suchte, um ihn mit nach Hause zu nehmen, traf er ihn nicht mehr an. Aber eine leere Streichholzschachtel fand er in der Nähe. Als er die sah, kriegte er einen gewaltigen Schreck, dann aber sagte er sich: die kann auch jeder andere dorthin geworfen haben. Ich will Niklaas mal fragen, ob er jemand gesehen hat. – Das alles kann dem Jungen in die Glieder gefahren sein. – –
Als er nach Hause kam, war Niklaas noch nicht da. Er traf seine Frau im Garten, nach der Rauchsäule ausschauend, die noch von der Brandstelle aufstieg. »Wie ist das gekommen?« fragte sie.
»Von einem Streichholz,« antwortete er ziemlich erregt. Dann sagte er, daß er in der Nähe der Feuerstelle eine leere Streichholzschachtel gefunden, und daß er auch Niklaas dort gesehen habe. Er erzählte zögernd und stockend, wann, wie und wo das gewesen sei.
»Du meinst doch nicht …?« fragte sie mit Angst in der Stimme. Sie war blaß geworden und sah ihn starr an. Da raffte er sich zusammen. »Bewahre, Mutter, woran denkst du? – Die Schachtel kann doch auch ein anderer dahin geworfen haben, und vielleicht hat Niklaas einen Verdächtigen dort gesehen. – Es waren doch gestern zwei Handwerksburschen hier, die können …«
»Die sahen ganz nett und ordentlich aus,« unterbrach sie ihn.
»Es kann doch aus Unvorsichtigkeit geschehen sein,« erwiderte er sogleich. »Mein Gott, ich will doch keinen beschuldigen.« Dann atmete er auf und sagte ganz ruhig: »Als ich von Niklaas sprach, meinte ich auch nur, er könnte da mit Streichhölzern herumgespielt und dann …« Er brach ab. – »Wir wollen uns nicht beunruhigen, Meta!«
Nun faßte sich auch die Frau. Als Niklaas eine Stunde später nach Hause kam, fragte man ihn mit Vorsicht, ob er etwas davon wüßte, wie das Feuer ausgekommen sei, ob er jemanden dort in der Nähe gesehen habe, ob etwa die Handwerksburschen … Da merkte er, daß man ihn nicht verdächtigte. Er trat aus seiner Verstocktheit heraus und redete lebhaft, es habe schon hell gebrannt, als er übers Moor gegangen sei. Seine Augen leuchteten wieder, als er sagte, wie schön das Feuer ausgesehen habe. – Allmählich beruhigten sich die Eltern. Der Schaden war übrigens gering; bald sprach man nicht mehr davon.
Der Winter kam und ging. Der Frühling und der Sommer brachten neue Arbeit. August faßte sie wacker an und wurde ihrer Herr, denn er war gesund und viel kräftiger geworden. Der Herbst färbte die Heide purpurn und wieder grau, und dann deckte der Winter wieder meilenweit seine glatte Decke über die endlose Fläche. So kam ein Jahr und ging, ohne daß sich viel ereignete im Leben August Randts. Er hatte sich an das Leben und die Art der Heidebauern gewöhnt, er hatte in der Stille unter treuen Leuten den Weg zur Denk- und Sprechweise dieses Volksschlages gefunden, und auch zu ihrem Herrgott. Er war gut Freund mit der Familie Schömann, mit Jan Steen und noch manchem anderen, trotz alledem gehörte er nicht ganz zu ihnen. Und auch zwischen Anna Schömann und ihm war seit jenem Tage, wo sie ihn bei Jan Steen »verleugnete« – wie er sich im stillen zuweilen mit Bitterkeit sagte –, etwas Trennendes geblieben. Dazu kam, daß er sich nicht darüber klar war, ob die Schümanns etwas über seine Vergangenheit wußten, namentlich aber über den dunkeln Punkt, der darin war. Sein Vormund könnte darüber geschrieben haben, zu jener Zeit schon, als man ihn zu Schümanns schicken wollte. Der stammte nämlich aus dieser Gegend und hatte sich damals mit Henning Schümann in Verbindung gesetzt. – Nachfragen konnte und mochte August aber nicht, schon um sich nicht zu verraten. Man hatte auch niemals im Gespräch darauf angespielt; aber warum sollte man ihn auch kränken und demütigen?! So lag denn immer noch ein Gefühl der Unsicherheit, ein Druck auf August. Es war, als wenn die Seele noch litt an der Krankheit, die der Körper überwunden hatte. –
Als im nächsten Frühjahr einmal an einem Sonntag Fritz Knaul hinauskam und ihn besuchte, war er sehr froh, obwohl er zuerst unter der geheimen Angst litt, dieser könnte aus Unbedachtsamkeit über diesen »dunkeln Punkt« ein Wort verlieren. Als sie dann allein waren, sagte August ihm das, da sah Fritz Knaul ihm in die Augen, faßte ihn an den Schultern und schüttelte ihn: »Du bist en Narr, August, daß du an so was noch denkst. Laß das! – Das liegt weit hinter dir. Hier weiß übrigens keiner was davon.« Der Mann aus der Stadt sah sich um und freute sich der bunten Frühlingspracht, die am schönsten schien, wo sie von der armen, düsteren Heide umrahmt war; aber auch dort, wo diese bodenständig war, streute sie silbernes Wollgras und goldenen Ginster in Moor und Feld hinein. Und es war Fritz Knaul, als ob er so viel Schönheit noch nie gesehen hätte, er, der sein Tagewerk auf der lauten und betriebsamen Elbinsel verrichtete, der nur zweimal oder dreimal im Jahre eine Ausfahrt machte: eine Schinkenfahrt nach Poppenbüttel, eine Dampferfahrt ins Kirschenland, einen Ausflug mit den Kegelbrüdern nach Wedel … Alles mit Hallo und Gesang, mit Staub und Bier und Lärm. – Und hier die ruhigen Menschen, die Stille ringsumher, der weite Blick und die wundervollen Bilder, die überall die unberührte Natur bot. – Aus dieser Stimmung heraus sagte nun Fritz Knaul: »Mensch, August, du denkst doch nicht etwa daran, nachher wieder in die Stadt und auf die Werft zu gehen?!« –
Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, erwiderte August: »Sobald meine Zeit hier um ist, sobald ich mein eigener Herr bin, gehe ich nach Hamburg, will ich auf die Werft.«
Fritz Knaul blieb stehen und schüttelte den Kopf: »Ich glaube, daß du gar nicht weißt, wie gut du es hier hast.«
»Doch, das weiß ich. Aber ich gehöre hier nicht zu den Leuten. Ich bleib' ihnen, so gut sie zu mir sind, immer ein Fremder, ein hergelaufener Stadtmensch, einer der nichts hat und nichts ist, und von dem man nicht weiß, wo er herstammt.« Er blickte Fritz Knaul an. »Und wenn sie's wüßten, was mit mir war und ist, dann – – dann wär's noch schlimmer.«
Fritz Knaul gab sich Mühe, ihm das auszureden. Es nützte gar nichts. Alles, was er erreichte, war, daß August schwieg. – Als er ihm dann aber sagte, auch der Vormund wolle es, daß er noch zwei Jahre, das heißt ungefähr bis zu seiner Mündigkeit, hier bleiben solle, legte August sich aufs Bitten. – Alles, was er erreichte, war, daß Fritz Knaul sagte: »Mal sehen.«
Das aber gab August doch wieder einigen Mut. So gingen sie denn in anscheinender Einigkeit weiter, und zwar zu Jan Steen.
So etwas von Sonderbarem und Wunderbarem, wie Jan Steen sich in Heide und Moor zusammengesammelt hatte, war Fritz Knaul noch nicht vorgekommen. Er war zwar schon im Hamburger Museum gewesen, aber dort war ihm das große Walfischskelett mehr in die Augen gefallen als der Laufkäfer, die Straußeneier waren ansehnlicher gewesen als die Eier des Kohlweißlings, und die Termitenhügel auffälliger als die Waben und Bauten der Bienen und Wespen. Als ihm nun hier Jan Steen seine Sammlungen zeigte und erklärte, war er voller Verwunderung; er schlug August derb auf die Schulter und sagte lachend: »Und aus so 'ner Gegend, wo es so was Feines gibt, will so'n Bengel nun weg!« – Jan Steen konnte das natürlich auch nicht fassen.
Fritz Knaul konnte es nun doch nicht lassen, auch Henning Schömann zu sagen, daß er nicht begreife, warum August wieder in die Fabrik und an die Nieterei zurück wolle; er für sein Teil wolle, wenn er alt werde und sich ein bißchen erspart habe, aufs Land ziehen. Henning Schömann war verwundert, als er so etwas hörte; gesprochen hatte er mit August über die Zukunft freilich nicht; aber er war mit ihm zufrieden und glaubte, daß August sich auf dem Lande wohl fühle. »Sagen Sie ihm aber nichts,« bat Fritz Knaul. »Wahrscheinlich kommt ihm jetzt nur dies Gefühl, weil ich hier bin. Er hat es hier so gut. Das sagt er ja auch selbst. Die Werftgedanken werden ihm schon verfliegen.«
Am nächsten Nachmittag brachte August seinen früheren Schirrmeister mit dem Wagen an die Bahn. Er hätte auch gehen können, denn sein Gepäck trug er in der Rocktasche, aber es traf sich so, daß der Wagen Niklaas Schömann mit nach Hause nehmen sollte. Der war nämlich bald nach dem Brande des Heidediemens nach Rahnstedt in das Haus eines Lehrers gekommen, eines Verwandten. Weil er geistig zurückgeblieben und sonderbar war, hatte er dort besonderen Unterricht erhalten und sollte auch besser unter Aufsicht sein. Nun fuhr er mit August wieder nach Uhlmoor; er kam – wie August bald bemerkte – nicht viel anders wieder, als wie er gewesen war.
Ein paar Monate später war es, an einem Sonntage. Vater und Mutter Schömann waren zur Kirche gegangen, Anna ebenfalls. Es war ein heißer Tag, die Ernte stand bevor. August lag im Garten hinter der Fliederhecke; er träumte mit offenen Augen, dann fielen sie ihm zu, er hörte noch das Summen der Bienen am Knick, das Gackern der Hühner vom Stall her, dann und wann einen Vogelruf und das Zirpen einer Grille, aber feine Gedanken gingen einen ganz anderen Weg, die waren bei Anna in der Kirche. – – Er wäre gern mitgegangen, aber einer mußte doch zu Hause bleiben und Haus und Hof bewachen. – Auch auf Niklaas sollte er ein Auge haben. – Der aber war wohl aufgehoben: er war fortgegangen, nach dem Moor, zu Jan Steen, wie er gesagt hatte.
Die letzten Tage hatten anstrengende Arbeit gebracht, August freute sich seines Sonntags, er war müde. Lange dauerte es denn auch nicht, da war er eingeschlafen. Ihm träumte, er sei in der Kirche. In der hintersten Ecke unter dem Orgelboden saß er. Tiefe, andächtige Stille über dem Ganzen, nur leiser Orgelton ging durch den weiten Raum; ganz zart und leise klang der, ganz tief, wie wenn im Heidekraut die Hummel summte. – Dazwischen leise die Flöten, wie Vogellaut. – Er horchte, und mit den Augen suchte er die Bankreihen auf und ab: wo war Anna. – – Da hörte er plötzlich einen harten Schlag, dann dumpfes Poltern. – Was war das? – Wer wagte es, hier die Andacht zu stören?! Nun helles, angstvolles Wiehern von Pferden und Schnauben und Poltern. – Er fuhr auf aus dem Schlaf. – –
Nun wußte er wieder, wo er war. – Jetzt hörte er deutlich den Lärm; er kam aus der Scheune. Und was war das?! – Oben aus dem Eulenloch quoll gelber Rauch, gemischt mit glimmendem Stroh. – Mit einem Schrei sprang August auf und rannte nach der offenen Scheunentür, da sah er schon, daß oben auf dem Boden das Stroh in hellem Feuer stand. Er hörte das Knistern in der Glut, das Brausen der vom Zug geschürten Flammen und das Poltern im Pferdestall. Gleich neben der Scheunentür war seine Kammer; er riß die angelehnte Tür auf, raffte seine wenigen Sachen zusammen und stopfte sie in die alte Reisetasche; es war ja sein ganzes Eigentum, er mußte es retten.
Das dauerte nur wenige Augenblicke, dann war er im Pferdestall und machte die Pferde los. Das eine lief sofort ins Freie, das andere, ein altes Tier, blieb zitternd stehen, August konnte es nur mit Mühe aus dem Stall treiben und zerren. Ein Haufen Stroh war durch die Luke gefallen, das brannte dicht vor der Stalltür lichterloh. August mußte es erst zur Seite werfen, denn das Pferd scheute davor und drängte zurück. Die Flamme schlug ihm dabei ins Gesicht, und der Rauch nahm ihm den Atem, dennoch gelang es ihm, den Weg frei zu machen. Nun hieb er auf den Gaul ein und brachte ihn nach der Außentür. Dort sah er seine Tasche stehen. Er raffte sie auf, zog das Pferd heran, schwang sich auf dessen Rücken und brachte es mit Zuruf und Hackenstößen in Bewegung. – Da prasselte hinter ihm der brennende Lattenboden auf die Scheunendiele nieder. Es war August, als wenn er einen Schrei hörte; ob von einem Menschen oder von einem Tier, darüber wurde er sich im Augenblick gar nicht klar, im nächsten dachte er schon nicht mehr daran, denn der Gaul scheute und bäumte und rannte dann im steifen, kurzen Galopp über den Hofplatz auf die Straße und weiter den Weg entlang. – August brauchte nun das Pferd nicht mehr anzutreiben, er konnte es aber auch nicht mehr halten.
Von der nächsten Bauernstelle eilten Leute herbei. Als sie den zügellosen und sonderbaren Reiter auf sich zukommen sahen, stellten sie sich dem Pferde entgegen und hielten es an. Zitternd blieb es stehen; August sprang herab. Er war ganz verstört und außer Atem, so daß er den Fragenden kaum eine Antwort geben konnte. Sie ließen ihn stehen und liefen weiter. Gleich kamen andere Männer; sie trieben das Pferd auf die nächste Weide und nahmen August mit sich.
Als sie auf Schömanns Hof ankamen, brannte die Scheune lichterloh, und über das Strohdach des Hauses liefen die Flammen hin. Bald darauf schoß das Dachstroh der Scheune herunter und bildete einen gewaltigen Flammenwall, der jede Rettung unmöglich machte. Überall loderte das Hausdach. Klirrend zersprangen die Fensterscheiben. Bevor die Spritze kam, hatte das Feuer schon seinen Weg ins Innere gefunden, und als schweißtriefend und keuchend die Schömanns von der Kirche kamen, sahen sie ihren Hausrat in hellen Flammen stehen. Nichts mehr war zu bergen und zu retten. Nur einige wenige Möbel, die man gleich anfangs herausgebracht hatte, standen auf dem Hofplatz. Auf einer alten Kiste lag August Randts Reisetasche. – –
Als man sah, daß man des Feuers doch nicht Herr werden könnte, zumal auch der Teich wenig Wasser hatte und die Pumpe schon leer war, hörte man auf, an der Spritze zu arbeiten. Nun hatte man Zeit, sich darüber zu unterhalten, wie das Feuer entstanden war. »Wo ist Niklaas?« hatte Henning Schömann gleich August gefragt. »Auf'm Moor. Er wollte dorthin und zu Jan Steen; ich habe ihn auch gehen sehen,« erwiderte August. Damit hatte sich der Vater zufrieden gegeben, eine große Sorge, eine Angst, die ihm die Brust zuschnürte, war bei ihm zurückgedrängt. »Niklaas ist auf'm Moor,« hatte er sogleich seiner Frau zugeflüstert. – »Gott sei Dank!« hatte sie leise erwidert. »Denn kann ich den Leuten wieder in die Augen sehen. Dies hier kann ersetzt werden.« Nach dem Grunde des Feuers fragten die beiden jetzt nicht. Aber andere fragten danach.
»Woher mag das Feuer wohl gekommen sein?« fragte der Lehrer, der spät erst ankam, den Gendarmen. Dieser war bald zur Stelle gewesen, denn er war beritten. »Ob wohl das Heu sich entzündet hat? – Das kann angehen, wenn es feucht einkommt und festgetreten und gepackt liegt.«
Der Gendarm schüttelte den Kopf. »Daran glaub' ich nicht!« erwiderte er. »Damit redet man sich immer gern heraus.«
»Aber angehen kann das,« wiederholte der Lehrer. »Das ist festgestellt. Und das scheint mir hier auch das Nächstliegende zu sein. Woher sollte das Feuer auch sonst kommen?«
»Von 'n Rietstick!« sagte ein nahestehender Knecht und lachte höhnisch auf.
Da wurde der Gendarm hellhörig, er war ja hier als Amts- und Gerichtsperson. »Wem könnte das Streichhölzchen denn gehört haben?« fragte er.
»Das geht mich nichts an,« erwiderte der Knecht. »Von den Nachbarn ist keiner hier gewesen,« setzte er hinzu, als die Umstehenden ihn scharf anblickten. »Ich glaub' überhaupt nicht, daß einer, der von hier ist, so was tut.« Dann zeigte er mit dem Daumen über die Schulter dorthin, wo August Randts Tasche lag. »Man gut, daß der da, der andere aus der Stadt, sein bißchen Plünnenkram gerettet hat. Mehr hat er nämlich nicht.« Er lachte wieder kurz auf.
Der Knecht war ein Kätnersohn aus der Gegend von Elmshorn. Er diente bei Hans Tramm am Uhlholz; man sagte, daß er hinter Anna Schömann her sei, und daß sie nichts von ihm wissen wollte.
Der Gendarm fragte zunächst nicht weiter; er ging unauffällig zwischen den Redenden hindurch, horchte aber genau überallhin. Er hörte dann einen der Bauern, mit dem der Knecht halblaut sprach, aufgeregt reden: »Ja, in Süllstadt war das so: da hatte der Dienstjunge das angesteckt. Das war so 'n Verwahrloster aus der Stadt, so einer, der im Dreck groß geworden war, und die sie uns dann aufs Land schicken. Das ist für sie billiger als die Besserungsanstalt. – Und der Bengel, der wollte in die Stadt zurück, und das wollten die in der Stadt nicht. Und da steckte er seinem Bauern den Hof an, bloß weil er frei kommen und zurück in die Stadt wollte.«
»Da haben wir's,« sagte da der Knecht laut. »Da haben wir's ja. Dem Bengel ist es auch hier auf der Heide nicht gut genug, der will ja auch in die Stadt zurück.«
»Wer?« fragte ihn der Gendarm.
»Ich will nichts gesagt haben.« Der Knecht zuckte die Achseln.
»Kommen Sie mal mit mir!« Der Gendarm tippte ihm mit dem Finger auf die Brust, setzte die Amtsmiene auf und sah ihm scharf in die Augen. »Wer so was sagt, der muß das auch vertreten können. Und er muß Hals geben, wenn er ein Mann ist, der Mut hat; das ist er der Behörde gegenüber, das ist er seinen Nachbarn schuldig.« Damit winkte er und nahm den Knecht auf die Seite.
Es dauerte nicht lange, da schritt der Gendarm wieder unauffällig durch die gaffende und plaudernde Menge; er blieb vor August Randt stehen und sagte leise: »Kommen Sie mal mit mir, Randt!«
August schrak zusammen. Er hatte eben an Niklaas gedacht, und ihm war das Wort wieder in den Sinn gekommen, das Jan Steen damals auf dem Moor zu ihm gesagt hatte: »Pass' auf, der Junge macht noch mal großes Malheur!« – Und an den Schrei dachte er wieder, den er gehört hatte. Sollte Niklaas gar nicht fortgegangen sein, sollte Niklaas … Da hörte er die Stimme des Gendarmen neben sich: »Kommen Sie mit mir, Randt!«
August ging mit. Man wich ihnen aus, man war schon aufmerksam geworden. Am großen Stein des Hoftores blieben sie stehen. August sah, daß immer mehr Augen sich ihnen zuwendeten, er sah auch die Blicke von Vater und Mutter Schömann auf sich gerichtet, und dicht neben ihnen bemerkte er jetzt Annas totenbleiches Gesicht, die Augen starr und voller Angst. Da zwang er sich zur Ruhe: von ihm sollte man nichts herauskriegen und koste es sein Leben! – – So dachte er. Und der Gendarm fragte:
»Waren Sie allein hier auf dem Hofe, als das Feuer ausbrach?«
»Ja!«
»Wo war Schömanns Junge?«
»Nach'm Moor gegangen.«
»Haben Sie ihn gehen sehen?«
»Ja!«
»Also waren Sie ganz allein hier?«
»Ja!«
»Dann müssen Sie doch auch wissen, wo und wann das Feuer entstanden ist. – – Und wie! – – Was machten Sie damals?«
»Ich lag am Gartenknick im Schatten und war eingeschlafen. – – Ich habe keinen Menschen gesehen.«
»Sehen Sie mich mal an!« gebot der Gendarm. August tat das und wiederholte: »Ich habe keinen Menschen gesehen, das ist wahr, das kann ich beschwören.«
Da beschloß der Mann des Gesetzes einen Überfall zu machen: »Ich glaube es Ihnen ja, daß kein Mensch sonst hier war,« sagte er mit wohlwollend scheinendem Lächeln. Plötzlich legte er ihm hart die Hand auf die Schulter. »Sie waren also, wie Sie zu geben, allein anwesend. Kein anderer kann also in Frage kommen. Sie haben es getan. Gestehen Sie!«
»Was? – Was ist das? – Was soll ich …« Jetzt erst fühlte August die Schlinge. Er fuhr zusammen, das Blut stockte ihm. Alle Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, aber er blieb fest und aufrecht. Trotzig rief er jetzt: »Was? – Ich? – Ich weiß von nichts! Ich bin kein Brandstifter!« –
»Ruhe!« befahl der Gendarm. »Wie kamen Sie denn dazu, so schnell Ihre Sachen zu retten?«
»Ich mußte ja an meiner Kammertür vorbei, als ich die Pferde herausholen wollte.« August fühlte, wie sich die Schlinge zuzog. Wieder kam ihm der Schrei in den Sinn. Er verwarf aber im gleichen Augenblick den Rettungsgedanken, faßte sich und sagte ruhig: »Da fiel mir mein bißchen Kram ein, und daß es alles ist, was ich habe. Ich schmiß es schnell in die Tasche. Und die Pferde habe ich ja doch auch heil herausgekriegt.«
»Und dann hast du dich schnell aufs Pferd gesetzt und wolltest dich aus dem Staub machen, nicht wahr, mein Junge?« Er versuchte nun im väterlichen Tone zu sprechen: »Gesteh' mein Junge, das ist das beste, was du tun kannst!«
»Ich habe nichts zu gestehen. Ich habe gesagt, was ich weiß, und was wahr ist.« Das Gefühl der Unschuld gab August jetzt nach all der Unruhe und Aufregung etwas Festes und Überlegenes.
Einen Augenblick besann sich der Gendarm. August blickte jetzt dorthin, wo Anna stand. Er bemerkte, daß sie eifrig auf ihren Vater einsprach, daß sie sich dann durch die Menge drängte, und daß auch der Lehrer herankam.
»Es kann auch durch Selbstentzündung des Heues entstanden sein, Herr Wachtmeister,« rief er. »Soviel ich ihn kenne, ist dem jungen Menschen das nicht zuzutrauen.«
Nun war auch Anna heran. »Und ich leg' meine Hand ins Feuer dafür, daß er das nicht getan hat,« rief sie. Aus ihrem bleichen Gesicht blitzten den Ankläger ein Paar entschlossene Augen an. Dann flog ihr Blick zu August hinüber; sie trat an seine Seite. »Laß dir das nicht gefallen, August!«
Ein Kreis hatte sich jetzt um sie gebildet. Man flüsterte und sprach leise. Die Meinungen waren geteilt.
»Er muß sich gefallen lassen, was ich für richtig befinde, und ich gehe nach meiner Instruktion. Und mit der Hand ins Feuer, damit kann ich nichts anfangen,« sagte darauf der Gendarm im Amtstone. Dann zum Lehrer gewendet: »Wenn es niemand getan haben will, so heißt es in der Stadt: »Kurzschluß der elektrischen Leitungen«, und auf dem Lande heißt es: »Selbstentzündung«. – Bei mir aber heißt es: Wer ist verdächtig? An den habe ich mich zu halten.« Und dann zu August gewendet: »Wenn Sie unschuldig sind, so wird sich das alles herausstellen. Ich muß meine Pflicht tun. Sie sind verhaftet! – Nehmen Sie Ihre Sachen mit. Wir gehen.«
Nun waren auch Vater und Mutter Schömann da: »Er hat es nicht angesteckt. Er ist ein netter und ordentlicher Mensch. Das Heu …«
»Da kann ich all nichts mit machen,« erwiderte der Gendarm. »Ich muß meine Pflicht tun.« Dabei blieb es. Ein dankbarer Blick traf die beiden, dann gab August Anna die Hand und drückte sie. Er sprach kein Wort, nahm ruhig seine Tasche und ging, ohne sich weiter umzuschauen, mit dem Gendarmen fort.
Die Zurückbleibenden redeten noch eifrig weiter. Nach und nach verliefen sie sich dann. Die Familie Schömann fand zunächst bei Nachbarn Unterkunft.
Für Henning Schömann, darüber war man sich einig, war der Schaden nicht groß: er war ausreichend versichert, das Haus war alt und die Scheune war, da sich die Ernteerträge von Jahr zu Jahr gesteigert und der Viehstapel sich vergrößert hatte, auch schon zu klein gewesen. »Das hat der Bengel ja ganz genau gewußt,« hatte Hans Tramms Knecht auf dem Heimwege seinen Begleitern gesagt. »Er hat seinem Nährvater einen großen Gefallen getan.«
»Wenn du di dor man nich bös wunnern warst!« hatte darauf Jan Steen gerufen. Auf weitere Fragen hatte er aber keine Antwort gegeben, sondern nur gesagt: »He hett datt nich dahn!« Dann war er quer über die Heide seinen Weg allein gegangen.
Die Schömanns taten in der nächsten Nacht kein Auge zu: Niklaas fehlte. Die gutmütigen Nachbarn meinten, er sei wohl aus Angst vor dem Feuer weggelaufen und habe sich vielleicht in Heide und Moor verbistert. Die Schömanns nickten oder schüttelten den Kopf und schwiegen.
Am anderen Tage wurde gleich mit den Aufräumungsarbeiten an der Brandstelle begonnen. Schömanns zogen, um in der Nähe zu sein, in ihr kleines Abnahmehaus ein, das etwas abseits im Garten lag und wenig gelitten hatte. Henning Schömann räumte im Schutt und mit dem unverbrannten, durchnäßten Heu der Scheune auf; er sprach kein Wort, arbeitete aber fieberhaft. Gegen Mittag schon stieß er auf die Leiche seines Sohnes. Er fand sie unter dem Heu, wenig verbrannt. In einem Winkel des Kälberstalles hatte er sich wohl verkrochen gehabt, vielleicht aus Angst über das, was er angerichtet hatte, vielleicht auch, daß die rätselhafte Macht, die das lodernde Feuer auf sein krankes Gemüt ausübte, ihn so lange festgehalten hatte, bis kein Auskommen mehr war: bis der Rauch ihm den Atem nahm und das herabstürzende Heu ihn erstickte.
Der Vater nahm die Leiche auf seine Arme und brachte sie hinüber ins kleine Abnahmehaus. »Meine Schuld, Mutter!« sagte er leise. Da wurde die Sorge um ihren Mann und die Liebe zu ihm in ihr stärker als die hingebende Liebe der Mutter zu einem kranken und unglücklichen Kinde. Sie schlang den Arm um seinen Nacken und tröstete ihn, weniger mit Worten, als mit den Augen und dann mit der Hand, die ihm die heiß rinnenden Tränen trocknete. Die harte Tochter der Heide verstand sich nicht recht auf eine andere Sprache, aber Henning Schömann verstand diese so gut, und sie gab ihm Trost und Kraft.
Anna kam. Stumm standen dann die drei vor dem armen Jungen. Sie brauchten auch nicht zu reden, sie hatten die gleichen Gedanken. Und dann kam der Pastor.
Er war gekommen, die Brandstelle zu sehen, zu fragen und zu hören. Das erste, was er erfuhr, war, daß man den Jungen gefunden hatte, und wie und wo; da mußte er seine Pflicht tun: da mußte er zu den Schwergeprüften reden.
Er war ein alter Mann, zuerst Hütejunge gewesen, bis die Bauern zusammengeschossen hatten, damit er Schulmeister werden könne. Ein fester Wille und freundliche Gönner aber hatten ihn weiter geführt; er hatte studieren können. Und als er damit fertig war und die Ferne ihm offen stand, da hatte er die laute Welt und die günstigen Aussichten fahren lassen und war zurückgekehrt in die stille Heimatsheide mit ihren stillen Menschen. – Er fand auch hier die rechten Worte; viele waren es nicht. – Aber Henning Schömann konnte ihm alles sagen, was er solange auf dem Herzen hatte, was ihm so oft ein Vorwurf gewesen, was so oft und hart ihn bedrückt hatte; so wurde die Last ihm leichter.
»Der dort oben mißt mit anderem Maße als wir,« sagte der Alte, als er ging. »Sie wußten damals nicht, was Sie taten, und als Sie es erkannten, da handelten Sie: darum wird die Schuld von Ihnen genommen werden.« – Als er in der Tür stand, fügte er leise hinzu: »Denen aber, die es wissen und nicht danach handeln, denen wird die Schuld behalten!« – –
Henning Schömann nickte. »Ich habe, nun ich dies weiß, noch eine andere Schuld zu zahlen, damit werde ich morgen anfangen.«
Am nächsten Tage fuhr er zur Stadt und verlangte den Gerichtsbeamten zu sprechen, der mit der Uhlheider Brandsache zu tun hatte. Am Abend fuhr er wieder heim, neben ihm saß August Randt. Sie sprachen nicht viel zusammen; jeder hatte mit seinen eigenen Gedanken zu tun.
Als Niklaas Schömann begraben wurde, folgten sie alle, die Nachbarn und die Leute aus der Umgegend, und als sie wieder aus der Kirchhofspforte hinausschritten, da drückte mancher August Randt die Hand. – Still fuhren die Schömanns heim. Dann zog man die Trauerkleider aus und ging an die Arbeit. Und es gab viel Arbeit in diesem Sommer und Herbst. Die Bauleute kamen, die Nachbarn fuhren Steine und Holz heran; viele Hände mußten sich regen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, damit vor Winter noch Scheune und Haus unter Dach kamen und eingerichtet werden konnten. Und es gelang ihnen.
Äußerlich war das Verhältnis zwischen August und den Schömanns das gleiche geblieben, doch zeigte sich bei mancher Gelegenheit, daß sie sich bemühten, das Unrecht gutzumachen, das ihm angetan war. Nicht mit Worten freilich. – Man sprach nicht gern von dem Brand und den dazugehörigen Vorgängen, und wenn von Niklaas mal die Rede war, dann hieß es: »De arme Jung!« Und man schwieg wieder. – Aber das Verhalten wurde mehr und mehr ein fürsorgliches. Frau Schömann sorgte für seine Kleidung, man gab ihm Sachen, die Niklaas gehört hatten, man richtete ihm eine nette Kammer ein und gab ihm mehr Lohn. Kurz, August Randt konnte wohl zufrieden sein.
August war es aber nicht gegeben, den Alten gegenüber freier und offener aufzutreten: dazu hatte er in seinem Leben zu wenig Liebe erfahren. Er blieb Dienstbote, sie blieben für ihn die Herrschaft, die zu sagen hatte. Mit Anna war das freilich etwas anderes.
Als er aus dem Gefängnis kam und heimwärts fuhr, da hatte er sich auf den Augenblick gefreut, wo er sie wiedersehen würde: an den Blick dachte er, der ihn getroffen hatte, als sie an seine Seite getreten war, als sie vor aller Welt für ihn zeugte. Auf den hoffte er, nach dem sehnte er sich. –
Und es hatte aufgeflammt in ihren klaren blauen Augen, als er vom Wagen gesprungen war, als er ihr die Hand gereicht hatte. Sie aber hatte die Hand gedrückt und gar nicht wieder loslassen wollen. – Ganz verlegen war er da geworden, denn ihre Eltern hatten dabeigestanden. Das war ihr denn wohl auch eingefallen: sie hatte ihn rasch losgelassen, sie war rot geworden und hatte die Augen abgewandt und war zurückgetreten. Und als er sie am nächsten Tage allein getroffen hatte, da war sie verlegen und still gewesen, und auch er hatte die Worte nicht finden können für das, was tief ihm im Herzen lag.
So sagte er sich denn nachher: es war nur das Gefühl der Wahrhaftigkeit, das sie an der Brandstelle für ihn Partei nehmen ließ, und weil ihm Unrecht geschehen sei, wo ihren Bruder die Schuld traf, habe sie ihn nachher so herzlich begrüßt. – Die beiden gingen dann freundlich nebeneinander her, aber diese Freundlichkeit war doch einen Ton wärmer und auch einen Ton zarter als früher. Es war, als wenn der Märzwind an einem der sieben Sommertage über die Knospen der Felder und durch die braunspitzigen Zweige der Waldbäume streicht: die Sonne lockt, der Wind wehrt, aber beide sind Boten des Frühlings, die bewirken, daß die verborgenen Kräfte zur rechten Zeit die Hüllen sprengen, Liebe und Leben bringen. – Nur daß sich dies Treiben und Werden auf der Heide anders abspielt als in den Gärten der Großstadt und den Parkanlagen und Teppichbeeten der Schlösser. –
Der Druck, der auf der Familie Schömann gelegen hatte, wich, als die geschwärzten Trümmer verschwanden und die neuen Mauern aufstiegen; das Vergangene wurde zuruckgedrängt durch die Arbeiten für die Zukunft. Wohnlich und stattlich hoben sich nun die roten Ziegeldächer ab vom dunkeln Grün der Tannen und dem Weiß der Obstbäume, als diese im nächsten Frühjahr wieder blühten. Die standen nämlich hinter dem Gemüsegarten und hatten vom Feuer wenig gelitten. – Da wirtschaftete denn Anna mit alter Frische und Fröhlichkeit in Haus und Garten und sang auch zuweilen wieder.
Auch August war mit lustigem Pfeifen hinter dem Pflug hergegangen, aber es war nicht so sehr die Freude an der Landarbeit und an dem Werden in der Natur, die in diesem Frühling aus ihm herausklang; es mischte sich damit das Gefühl der herankommenden Freiheit. Er sagte sich: dies ist das letztemal, daß du in schweren Pflugstiefeln über das Heidefeld schreitest, dies ist die letzte Aussaat, die du ins Land streust! – Nun wirst du bald wieder dein eigener Herr; du bist gewachsen, stark und gesund geworden, nun gehst du wieder dorthin, wo du hingehörst: in die Stadt, auf die Werft zu den Schiffbauern. Und bei diesen Gedanken klang ihm der stramme Takt der Niethämmer, das Surren der Riemen und der dumpfe Schlag der Lochmaschinen in den Ohren: das vielstimmige, kräftige Lied der Arbeit auf Steinwärder. – Ein gleicher wollte er sein mit jenen Männern, die in emsiger Zusammenarbeit Gewaltiges leisteten; emporarbeiten wollte er sich, daß er etwas war und galt unter ihnen.
Das hatte er denn auch kürzlich an Fritz Knaul geschrieben; der sollte mit seinem Vormund reden. Fritz Knaul riet zwar ab und suchte die Sache hinzuziehen, aber August wurde dringender, bis jener schrieb: »Tu, was du nicht lassen kannst!« –
Mit diesem Brief in der Hand trat August vor Henning Schömann. Der schüttelte den Kopf und suchte ihm sein Vorhaben auszureden. Als August dann aber sagte, es sei leicht, einen anderen und besseren als ihn, den »Stadtjungen«, als Knecht zu bekommen, da schwieg Henning Schömann: er wußte, daß das nicht so war, und er meinte, auch August müßte das wissen. So wollte er sich nicht den Anschein geben, als ob er um seines eigenen Vorteiles willen August auf der Heide zurückhalten wolle. Darum sagte er denn: »Ich will dich nicht halten. Aber wenn du es dort nicht so finden solltest, wie du dir es ausmalst, dann magst du daran denken, daß hier noch Platz für dich ist.«
Am Abend des Tages, wo Anna es erfuhr, daß August fort wollte, wußte sie es so einzurichten, daß sie beide zusammen vom Felde heimgingen. Sie sprachen von diesem und jenem, aber keiner war bei der Sache. Dann fing Anna plötzlich davon an: »Du willst fort von uns?« – Er fuhr auf. Dann nickte er.
»Das ist doch nicht dein Ernst!« Sie war stehengeblieben und sah mit großen, unruhigen Augen ihn an. »Magst du denn nicht mehr bei uns sein?«
»Ich habe es bei euch so gut, wie ich es noch nie in meinem Leben gehabt habe,« erwiderte er rasch.
»Warum willst du denn fort? – Denn bleib' doch hier bei uns.«
»Ich kam hierher, damit ich gesund werden sollte. Das bin ich bei euch, das bin ich auf der Heide geworden.« Er sah über das graubraune Land und die freundliche Stätte hinweg, die ihm ein Heim gegeben hatten. Dann raffte er sich auf: »Nun muß ich wieder in die Stadt, ins Leben hinein. Ich will doch Schiffbauer werden, ein richtiger Schiffbauer, wie mein alter Schirrmeister Fritz Knaul. Da, wo sie auf den Richtplatten die glühenden Spanten biegen, wo sie Platten lochen, wo die Bohrmaschinen rasseln und die Niethämmer trommeln, da ist mein Platz.« Er redete laut und hastig, damit er selbst hart und fest bliebe.
»Da wirst du wieder krank, August. Bleib' bei uns! – Ich will auch Vater es sagen …« Ihre Stimme zitterte. Sie tastete nach seiner Hand und sah zu ihm auf. Da mußte auch er ihr ins Gesicht schauen. Einen Augenblick nur, aber er sah, daß an ihren Wimpern Tränen perlten.
»Es ist nun doch mal mein Beruf, Anna.« Er suchte seiner Stimme Festigkeit zu geben. Und fast rauh klang es: »Ich bin nun doch mal nicht zum Heidebauern geboren. – Was sag' ich: zum Heidebauern? – Zum Knecht, oder zum Schäfer, oder zum Torfstreicher meine ich, oder zum …«
»Das ist dir zu wenig,« unterbrach sie ihn. »Auch ein Heidebauer ist dir zu wenig. Du willst hoch hinaus.«
Er hatte vorhin wieder an ihr »Man jonich« gedacht, und ihr Lachen hatte ihm in den Ohren geklungen. Das hatte ihn so oft schon abgehalten, im herzlichen Vertrauen zu ihr zu reden. – Heute klangen ihre Worte anders als jene Abwehr, und aus ihren Augen las er mehr noch, als ihre Lippen verrieten. – Damals, beim Feuer, als sie von den Eltern abgerückt und an seine Seite getreten war, da hatte sie ihn auch so angeschaut.
»Das ist es nicht, Anna! – Das ist es wirklich nicht. Aber hör' mal zu …« Er faßte ihre Hand mit seinen beiden, sah sie lächelnd an und dann über ihre Schulter hinweg, sinnend ins Weite. »Sieh mal, Anna, wir Menschen sind doch so verschieden,« sagte er dann. »Und nun denk' dir mal, Jan Steen, der über die einsame Heide läuft und sich mit seinen Bienen was erzählt, der den Schnecken und Käfern ihre Geheimnisse ablauscht, und der die Kräuter im Moor besser kennt als der Apotheker von Bramstedt –, denk' dir mal, der sollte in Hamburg vier Treppen hoch wohnen, der sollte in den Hamburger Straßen Tag für Tag mit der Karre umherziehen und Fische oder Apfelsinen verhökern, oder er sollte oben auf einem Schiff stehen im Lärm und Rauch – – –, was würdest du dazu sagen?«
»Das kann Jan Steen nicht,« rief Anna. Und nun lächelte sie auch, denn der Gedanke war zu komisch. »Der ist ja hier auf'm Moor groß geworden, und er hat nichts anderes gesehen und getrieben und gelernt, als den Himphamp, den er um sich hat; wie kann der in die Stadt?«
»So geht's mir auch, nur umgekehrt.« August wagte es jetzt, sie etwas näher an sich zu ziehen, und er legte die Linke leise auf ihre Schulter. Dann fuhr er fort: »Wenn in Heide und Moor, um Jan Steen herum, die Bienen summen, so hört er sie sagen: »Pass' gut auf, dann sind wir fleißig und holen Honig für dich.« Ja, so sagen die Bienen zu Jan Steen. Wenn aber im Sommer um mich herum die Bienen summen, so hör' ich sie sagen: Was willst du hier in unserer stillen Heide, August Randt? – Du gehörst doch dorthin, wo die Lochmaschinen dröhnen und die Hämmer klirren! – – Nein, Anna, ich will nicht hoch hinaus, aber dort will ich stehen, wo ich hingehöre.« – Er holte tief Atem. – »Und in Ehren will ich da stehen!«
Beide schwiegen dann eine ganze Weile. Er hielt noch immer ihre Hand fest, und er fühlte, daß sie zitterte. Er drückte sie und sagte dann leise und stockend: »Wenn ich auf der Werft was Ordentliches geworden bin, dann … dann komme ich wieder, Anna.«
»Wie lange dauert das, August?« Er schwieg. Sie wartete auch eine Antwort nicht ab. »Ach, das dauert furchtbar lange. Aber du kannst doch leicht Sonntags mal zu uns herauskommen. Nicht wahr, du kommst oftmals heraus zu uns am Sonnabend abend und bleibst bis Sonntag. An der Bahn hole ich dich dann ab.« Diese Aussicht stimmte sie wieder ganz froh.
»Ich komme gern, Anna, wenn ich darf.«
»Warum sollst du nicht dürfen? – Du bist doch dort in der Stadt dein freier Herr.«
»Ich wohl. Aber du? –« Er zögerte, und sie sah ihn verwundert an, dann stieß er, zuerst hastig, dann stockend und stotternd hervor: »Ich weiß ja nicht, ob dein Vater und deine Mutter was dagegen haben. – Ihr seid Bauersleute, sitzt auf eigenem Grund und Boden, habt Haus und Geld … Ich aber bin – nun erst mal noch – ein armer Kerl. Ich habe nichts, als was ich an mir und in meiner Lade habe, und ein paar Mark verdientes Geld. Gar nichts sonst. – – Und dann ist noch was im Wege. – – – Ich bin … ich habe …« Er kam nicht weiter, denn Anna fiel ihm in die Rede: »Vater und Mutter haben gewiß nichts dagegen, daß du – daß du – –, na, daß du kommst. Du bist hier doch wie zu Hause. Und du bist tüchtig und klug, hat Vater neulich gesagt. Aus dir würde noch was werden, denn wenn du was wolltest, so gingest du fest darauf los. – Ja, das hat er gesagt.« Sie sah ihn vertrauensvoll und stolz an; dann lächelte sie. »Und ich sei zuweilen unbedacht und flusig flüchtig., hat er auch gesagt.«
Nun lächelte er auch. Aber aus seinen letzten Gedanken heraus sagte er noch: »Ich will ja auch alles wieder gutmachen. Ich will tüchtig arbeiten …«
»Bei uns hast du nichts gutzumachen. Hier hast du mehr getan, als du nötig hattest,« warf sie schnell ein. Und sie hätte noch mehr gesagt, wenn er sie nicht geküßt hätte; ganz scheu und schüchtern nur. Er blickte dann rasch auf und um sich; da sah er in der Ferne, auf der Landstraße, eine Gestalt auftauchen.
»Der kann nichts gesehen haben,« sagte er beruhigend.
»Ach, ich bin nicht so bange,« rief sie übermütig, rückte aber doch schnell drei Schritte von ihm ab, und so gingen sie heimwärts. – –
Ein paar Wochen gingen hin. Die Lerchen sangen in der lauen Frühlingsluft. Die immer durstige Heide hatte in diesem Jahre ihr reichlich Teil Regen bekommen; Garten und Feld erwiesen sich dafür dankbar: es war ein Blühen und Sprießen, über das sich Auge und Herz freuten. Es war, als ob August der Abschied aus der hier gewonnenen Heimat schwer gemacht werden sollte.
* * *
Es wurde ihm auch nicht leicht, zu gehen, nun es wirklich bevorstand, und er zögerte es hin. Ein Blick von Anna, ein rascher Händedruck, ein scheues Aneinanderschmiegen, wenn sie im Schummern auf der Gartenbank saßen, das alles waren Anker, die sein Schifflein nicht aus dem Hafen ließen. – Und Anna hoffte schon, er bliebe.
Da erhielt er eines Tages unerwartet einen Brief von Fritz Knaul, daß auf der Reiherstieg-Schiffswerft gerade viel Arbeit sei: zwei Neubauten, die beplattet werden sollten; im Schwimmdock ein schwerer Havarist, der 23 neue Bodenplatten erhalten sollte, und sonst noch allerlei. »Wenn du also durchaus her willst, dann jetzt!« so lautete der Schluß. Das war entscheidend.
So kam denn die Trennungsstunde. Am letzten Abend hatte August noch Gelegenheit, sich mit Anna auszusprechen. Mit den Eltern darüber zu reden, wie es zwischen ihm und Anna stand, das wagte er nicht. Dazu steckte ihm das Gefühl seiner Herkunft zu tief im Blut. Was war er denn? – Er mußte erst was werden. Und vor ihm stand immer und immer die Mahnung: du hast noch etwas gutzumachen; du mußt erst als Gleichwertiger unter deinesgleichen stehen! – Dieser Gedanke hatte sich in den Tagen des Leides und der Krankheit so tief in seiner Seele eingefressen, daß er sich nicht verwischen ließ. Tausende hätten sich darüber hinweggesetzt; er konnte das nicht. Getilgt mußte das sein, bevor er sich so hoch reckte, daß er die einzige Tochter von Henning Schümann begehrte. – Waren sie auch nicht gerade reich, die Schümanns, so waren sie doch Bauersleute, die ihren eigenen, der Heide abgerungenen Boden unter den Füßen, und die in ihrem Kopf Bauernstolz hatten; vielleicht hatten sie auch schon mit Anna anderes im Sinne. – Zeit mußte also jedenfalls gewonnen werden. Und so ein stilles Sichgehören war ja auch viel schöner. –
Ganz früh war es, die Sonne blinzelte eben über den fernen Heiderand hinweg, als August sich auf den Weg machte. Von den Alten nahm er herzlich Abschied. »Laat di bald wedder hier seh'n!« sagte man. Anna schlafe noch, hieß es; August wußte Bescheid. – Die Alten vielleicht auch. – – Als er dann auf dem schmalen Heideweg eine Strecke gewandert war und sich umschaute nach der Stätte, wo er ein friedliches Heim und ein heimliches Glück gefunden hatte, da sah er, wie sich das Fenster von Annas Kammer öffnete, und wie davor ein weißes Tüchlein flatterte. Sie winkte und winkte, bis vor seinen Blicken das Dach hinabtauchte ins dunkle Heideland.
Am nächsten Tage stand August vor dem Schalter des Arbeitsnachweisamtes der Werften. Am folgenden schon erhielt er seinen Arbeitszettel: auf der Reiherstieg-Schiffswerft sollte er sich melden. Also das war geglückt: er hatte Arbeit, und er kam zudem zum Reiherstieg, wo man ihn nicht kannte. Aber er mußte doch damit rechnen, daß er auch dort alte Bekannte traf, denn es fand ein fortwährender Wechsel statt, und es gab Bummler und Blaumacher, die bald hier, bald dort auftauchten.
Fritz Knaul hatte ihm Mut gemacht: »Über drei Jahre sind seitdem vergangen. Da ist Gras darüber gewachsen. Und sie kennen dich ja gar nicht wieder: du bist lang und breitschulterig und braun geworden. Ich hab' auch damals und später allen gesagt, die was hören wollten, wie das damals gekommen war. Ein Lump, der dir da noch was von vorwerfen wollte. Ein Lump, den du niederschlägst!«
Die Worte rief August sich wieder ins Gedächtnis, als er auf dem Fährdampfer stand, um sich zur Arbeit zu melden.
Er kam zu einer Plattenkolonne. Über die Nietjungenzeit war er ja hinweg; nun kam er dahin, wo man kräftiger anfassen mußte. Das konnte er, und das tat er auch. Er achtete genau auf den Wink seines Vormannes, wenn sie Platten lochten, damit der Stempel der Maschine genau an die Stelle hinkam, wo der Kreidekreis vorgezeichnet war. Er war willig und tüchtig.
So gingen Wochen und Monate hin, und alles ging gut. Er hatte nach Uhlmoor geschrieben, daß es ihm gut gehe, daß er ein schönes Stück Geld verdiene, und daß er bald mal an einem Sonntag zum Besuch hinauskäme. Das geschah auch, und es war ein herrlicher Tag, den er dort draußen verlebte. Voll froher Hoffnung ging er wieder an seine Arbeit.
Nach einiger Zeit wurde sein Vormann krank, und der Meister, der August als anstellig und zuverlässig kennen gelernt hatte, übertrug ihm die Vertretung. Das ging eine Weile sehr gut. Seine Kolonne bekam dann die schweren Außenhautplatten für den großen Südamerikaner zu lochen, dafür wurden ihr noch zwei Mann zugeteilt, die eben eingestellt waren. Der eine von ihnen sah August scharf an, zog die Augenbrauen hoch, kniff dann das linke Auge zu, lachte und sagte: »Lange nicht gesehen und doch noch gekannt!«
»Ich glaube nicht,« erwiderte August kurz.
»Du warst doch mal bei Blohm & Voß,« fuhr der andere fort
»Das ist schon lange her,« sagte August Randt. Und dann: »Faat an, alle Mann! – Hoch opp!«
Langsam bückte sich der Neue zur Platte nieder, halblaut knurrte er: »Schon lange her, aber doch noch nicht vergessen.« Die anderen Leute achteten nicht darauf, aber August gingen die Worte im Kopfe herum, lauter als das Rasseln und Rummeln der Lochmaschine. Er hatte den Neuen auch wiedererkannt, er war Vorhalter gewesen bei einer anderen Nietkolonne, aber keiner von den guten.
In der Mittagstunde traf er August allein, er nickte ihm zu, da brachte August es übers Herz, ihn anzureden; er wollte doch mal auf den Busch klopfen. Er brauchte nicht lange zu fragen und zu forschen.
»Du hattest wohl mächtigen Kohldampf Hunger (Kundensprache). damals, als du das Brot klautest?« Der Helfer grinste ihn vertraulich an.
»Ja.« Das Blut stieg August ins Gesicht, aber er bezwang sich. »Mein Vater war ein Säufer, der mir mein Geld stahl, meine Mutter war krank, ich hatte für meine kleinen Geschwister zu sorgen, und ich hatte großen Hunger, aber ich hätte es doch nicht getan, wenn ich klar bei Sinnen …«
»Laß gut sein!« unterbrach ihn der andere. »Was der Mensch braucht, muß er haben, auch Fährmarken und Geld.« August wollte Einspruch erheben, der andere ließ ihn nicht zu Worte kommen, er lachte laut und sagte: »Was ist dabei los? – Ich habe auch schon mal was mitgehen heißen, was mir nicht gehörte, aber ich habe mich nicht dabei kriegen lassen. Laß jeden doch auf seinen Kram aufpassen! – Ich sage nichts nach.«
Andere kamen hinzu. Die Dampfpfeife rief. Sie mußten wieder an die Arbeit. August Randt packte kräftig an, mit Zuruf und Wink lenkte er die Helfer; es geschah das aber nicht mit der überlegenen Ruhe und Umsicht wie sonst. Seine Stimme klang rauh, seine Bewegungen waren hastig. Der Nachmittag wurde ihm furchtbar lang. Abends ging er mit schweren Gedanken heim. – Nun war es doch so gekommen, wie er es heimlich befürchtet hatte, und nun würden es bald alle wissen, wie es mit ihm stand. In der Nacht fuhr er aus unruhigem Schlafe auf. »Ich hab' auch schon mal was mitgehen heißen,« hatte ihm jemand ins Ohr geflüstert.
Er starrte ins Grau des dämmernden Morgens hinein und seufzte tief auf unter der Last, die er wieder zu tragen hatte: so einer war nun seinesgleichen! – –
Mit quälenden Gedanken ging er an seine Arbeit. Bleich, mit finsterem Gesicht erwartete er an der Maschine seine Arbeitsgenossen. Sie traten alle an, nur einer fehlte: der eine, der sein Schicksal in seinen schmutzigen Händen hielt.
Der kam um die Frühstückszeit. Er hatte sich verschlafen, weil er spät nach Hause gekommen war. »Wi harrn uns fix een ankrögert angetrunken.,« sagte er. »Morgen gibt's ja Geld, da muß erst lenz alles leer. gesoffen werden.«
Also auch das noch, dachte August Randt. Der Mann tat seine Arbeit lässig, so daß die anderen murrten und schalten. Endlich mußte August, als Vormann, ihn antreiben.
»Nur nicht so großartig!« gab der Helfer zur Antwort. »Du weißt, daß du noch einen Schinken bei mir im Salz hast.«
Die Mitarbeiter horchten auf. August Randt bezwang sich und sagte möglichst ruhig: »Wenn du mit mir was abzumachen hast, kannst du nachher kommen. Mit unserer Arbeit hat das nichts zu tun.«
»Das kann ich machen wie ich will!« rief der.
»Das kannst du nicht!« August wurde etwas lauter als vorhin. »Wenn einer sich hier drückt und nicht aufpaßt, dann geht die Arbeit nicht, dann können wir alle nichts verdienen.«
Die anderen Helfer stimmten ihm zu. »Wenn du keen Lust hest, denn gah to Hus un slaap dien Brand ut,« sagte einer.
»Drückeberger könnt wi bi uns Kolonn nich bruken!« riefen ein paar andere.
Da spuckte der Halbtrunkene verächtlich vor August Randt aus. »Bi so'n Vörmann arbeit ick nich!« schrie er. »Datt is ja en Spitzboof! – De hett op de Warft von Blohm & Voß stahlen un is dor vertrimmt un rutsmeeten worrn!« verhauen und herausgeschmissen worden. Er schrie das so laut, daß die Arbeiter ringsum es hörten.
August Randt war leichenblaß geworden. Plötzlich sprang er vor und schlug den Mann mit der geballten Rechten vor die Stirn, daß er zurücktaumelte und hinstürzte.
Ein Auflauf entstand. »Sklavendriwer!« riefen einige. »He hett recht,« erwiderten die Leute von seiner Kolonne und bauten sich vor ihrem Genossen auf. »Un de anner, de Lump, de hett datt ehrlich verdeent.« August Randt aber ging fort, wusch sich, zog seinen Rock an, wehrte die Frager und Bedaurer ab, ging zum Meister und bat um seine Entlassung.
Der hatte schon von dem Vorfall Kenntnis. »Das tut mir leid, Randt,« sagte er, »Sie hätten sich nicht hinreißen lassen müssen. Und wenn er Sie auch noch so schwer beleidigte, so durften Sie ihn doch nicht so einfach niederschlagen. – – Ja, Sie müssen nun leider gehen, das tut mir leid.«
»Das hätte ich sowieso müssen,« erwiderte August.
»Warum denn? – Wenn Sie zu mir gekommen wären, so hätte ich den Kerl sofort entlassen.«
»Ich hätte doch nicht mehr hierbleiben können, Meister.« Er sah finster vor sich nieder. Eine tiefe Röte war über sein Gesicht gezogen.
»So–o–o? – Ist es denn wahr?« Der Meister sah ihn an. August schwieg. »Das tut mir sehr leid, lieber Randt. Ich hätte Sie gerne behalten und aus Ihnen was gemacht.« Seine Stimme klang herzlich. Er wartete, daß August sich verteidige. Der aber sagte kein Wort.
»Sie sollen gleich Ihr Geld haben,« sagte da der Meister. Dann reichte er ihm die Hand. »Vielleicht sehen wir uns später, nach ein paar Jahren, doch noch mal wieder, Randt. So etwas … so etwas verjährt – –«
»Das tut es leider nicht, Meister. Aber ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung!« Er reichte ihm die Hand. – –
Gesenkten Hauptes, gebeugt unter der alten Last, stand er dann wieder auf dem Fährdampfer. Teilnahmslos schaute er über den Elbstrom hinweg, auf dem flinke Barkassen und schwerfällige Ewer, breitbauchige Oberländer und mächtige Schlepper auf- und abwärts strebten. Ein Seedampfer, der die englische Flagge trug, mahlte in langsamer Fahrt gegen die Flut an, der See zu. Ein anderer folgte. –
»Den Engländern wird wohl schon der Boden hier zu heiß, sie bringen sich beizeiten in Sicherheit.« Ein älterer Herr, der nicht weit von August Randt stand, sagte das einem jüngeren. Er zeigte auf die beiden englischen Schiffe.
»Wir brauchen uns nicht zu beunruhigen,« erwiderte der. »Zum Kriege kommt es nicht. Am wenigsten mit England.«
Es war Ende Juli 1914, als dies geschah. –
August Randt hörte kaum, was neben ihm gesprochen wurde, erst nach Tagen fiel es ihm wieder ein. Als der Fährdampfer angelegt hatte und wieder abgefahren war, stand er noch immer auf dem Ponton. Es war an der gleichen Stelle, wo er an dem Tage gestanden hatte, als seine Mutter zum Kirchhofe hinausgebracht war. Wieder starrte er hinab in die gurgelnde Flut. Was nun? – –
Wieder hatte er alles verloren! – Alles? – Nein, da draußen auf der Heide, da war noch etwas, was ihm gehörte. Da besaß er ein kostbares Gut. Da waren noch liebe Menschen, die ihm vertrauten und etwas von ihm erhofften. – Konnte er das jemals erreichen? – Er hob den Kopf und schaute hinaus in die sonnige, lebensvolle Welt. Aber Sonne und Leben taten ihm weh: er war ja wieder ein Ausgestoßener, der nicht mitschaffen durfte auf diesem Felde der Arbeit. Sollte er nun wieder hinausgehen auf die Heide? – Nein, das konnte er nicht. Jetzt erst recht nicht, wo er von neuem gebrandmarkt dastand. Was sollte er denn sagen?! – Er wußte ja, wie sehr man gerade dort auf Rechtlichkeit und Ehrlichkeit hielt. – Er ging an diesem Tage planlos umher und vergaß, zu essen und zu trinken.
Am nächsten Tage suchte er als Hafenarbeiter anzukommen, hatte aber kein Glück. Dann sprach er bei den ganz kleinen Werften um Arbeit an, wurde aber an das Arbeitsnachweis-Amt verwiesen.
Die Welt mit ihrer Unruhe und Hast rauschte an ihm vorüber, und sie wurde aufgeregter mit jedem Tage: Kriegsgerüchte gingen von Mund zu Mund. Im Hexenkessel des Balkans hatte es ja lange schon gebrodelt. Nun war Österreich mit dabei. Daher werde sich auch Rußland einmischen, so sagte man. August kümmerte sich nicht viel darum, er hatte zu viel mit eigenen Sorgen zu tun, aber er hörte doch mancherlei davon, als er wieder unter den arbeitsuchenden Hafenarbeitern stand.
Einer sagte: »Wir Sozialdemokraten machen nicht mit, dann wird aus der Sache nichts.«
»Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will,« rief ein zweiter. »Was sollen wir uns für die Kapitalisten die Köpfe entzweischlagen lassen.«
»Du willst wohl gern, daß die Russen ins Land kommen und uns die Freiheit mit der Knute bringen?« fragte spöttisch ein langer sehniger Mensch, schob die Mütze in den Nacken und drehte sich lächelnd den buschigen blonden Schnurrbart. Nach seiner Haltung zu urteilen, hatte er noch nicht lange den Soldatenrock ausgezogen, und wahrscheinlich kam er vom Lande, um in der Hafenstadt, wo das Handelsleben flutet, ein besseres Einkommen zu suchen, als das Land es Arbeitern bietet.
»Sie werden dich nicht lange fragen, ob du willst oder nicht,« rief ein dritter dazwischen. »Wenn die Russen in unser Land einbrechen, dann will ich aber mit dabeisein. Ich bin in Memel zu Hause. Da sind die Kosaken bald. Ich will meines Vaters Haus und meine Schwester und ihre Kinder schützen helfen.«
»Ein kümmerlicher Kerl, wer anders denkt,« rief der lange Blonde.
»Uns ohl August Bebel hett ock seggt, wenn de Fiend int Land wull, denn wull he selwst, so ohld he ock wär, de Flint op'n Puckel nehmen,« rief ein Alter. Die meisten stimmten ihm bei. Einige murrten.
»Soweit wird es nicht kommen,« sagte man dann. Bald kam Bewegung in die Menge: Die Tür zum Nachweisamt ging auf. Das Nächstliegende nahm nun wieder die Gedanken in Anspruch, das war: gibt es Arbeit oder nicht für uns.
Es war dies gegen Ende der Woche. Am Sonntag ging August früh morgens nach Niendorf hinaus, auf die Heide. Es ist nur ein bescheidenes Stück, das dort noch in seiner herben Ursprünglichkeit dem Fleiß und dem Erwerbssinn der Menschen Trotz geboten hat. August hatte Sehnsucht nach ihrem Frieden. Abends kam er zurück. Da hörte er auf der Straßenbahn, daß der Krieg erklärt sei. Er ging am Bahnhof entlang. Viele Leute kehrten heim von ihrem Sonntagsausflug: Arbeiterfamilien mit zahlreichen Kindern, Beamte und Geschäftsleute im Sonntagsrock, junge Männer mit Schillerkragen, Mädel mit Wanderhüten, sonnenverbrannt, jeder den Rucksack auf dem Rücken. Ein langer bunter Zug flutete vom Bahnhof ab und teilte sich an den Straßenkreuzungen. Aber nicht mit lautem Zuruf wie sonst begrüßte und trennte man sich. Überall Ruhe, Gemessenheit, Würde: es ziemte sich nicht, die gewohnte lärmende Fröhlichkeit in den Ernst des Tages zu mischen.
»Jetzt geht es um Deutschlands Sein oder Nichtsein,« hörte August Randt einen alten, gebeugt gehenden Herrn sagen.
»Morgen melde ich mich freiwillig,« sagte ein lang aufgeschossener Jüngling im Wanderanzug.
August ging nach Hause, um zu essen. Nachher sah er eine Weile und grübelte, aber nicht über sein eigenes Geschick, das trat zurück vor der Wucht der Ereignisse, die diese Stunden gebracht hatten. Ihm kamen nun wieder die Gespräche der Arbeitssuchenden in den Sinn. Er konnte im eigenen Heim nicht bleiben, dort, wo der Pulsschlag des arbeitenden Volkes deutlich fühlbar ist, in den Hafenstraße St. Paulis wanderte er hin und her.
An einer Sraßenkreuzung am Silbersack blieb er stehen. Dumpf tönte zu ihm herüber »Die Wacht am Rhein«. Rauhe Männerstimmen sangen das Lied und es war ihm, als ob die Klänge aus einer nahegelegenen viel von Hafenarbeitern besuchten Wirtschaft kämen.
Aber er sagte sich: das kann nicht sein; wenn man dort jetzt singt, so singt man die Arbeitermarseillaise oder etwas Ähnliches. – Er horchte. – Da ging drüben die Tür auf, und er sah den weiten Raum gefüllt von den wohlbekannten Gestalten der Schauerleute und sonstiger Hafen- und Werftarbeiter. Gewaltig aber drang es durch die offene Tür und hallte die Straßen entlang: »Lieb' Vaterland, magst ruhig sein. Lieb' Vaterland, magst ruhig sein! Fest steht und treu die Wacht am Rhein! …«
Vom Hafen her kam ein Trupp junger Leute, kraftvolle Männer in strammer Haltung und im Schritt und Tritt der Soldaten. – Sie zogen an August vorüber und stimmten ein in das Lied. August folgte ihnen und summte die Melodie mit. Und als er so hinter ihnen herschritt, kam ihm der Gedanke: die ziehen morgen ins Feld, um die Heimat zu schützen, und du mußt hier müßig umhergehen. Das Wort des Wandervogels klang ihm in den Ohren nach: »Morgen melde ich mich freiwillig.« Und aus der Bitterkeit der letzten Tage kam ihm dann der Gedanke: Wenn sie mich hier in den Reihen der ehrlichen Leute nicht arbeiten lassen wollen, so will ich da draußen im Felde zwischen diesen Freiwilligen meinen Mann stehen. Die werden mich als einen der Ihrigen, als einen Gleichwertigen ansehen. Dort draußen will ich meine Schuld abtragen und meine Last abschütteln. – –
Die anfängliche Bitterkeit wurde zurückgedrängt durch die Stimmung dieses Abends, und aus vollem Herzen konnte er dann mit einstimmen in das Lied:
»Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!«
Einige Tage später war August Randt Soldat. In einem der jungen Regimenter, die in Flandern zu blutigen Stürmen vorbrachen, kämpfte er. Mit ruhiger Entschlossenheit tat er seine Pflicht. Wenn sich Freiwillige zu gefahrvollen Erkundungsgängen melden sollten, so trat er mit vor. – »Dazu sind wir ja da,« war ein Wort, das er dann gerne gebrauchte. Und den Kameraden sagte er: »Ich bin vor dem Tode nicht bange, darum tut er mir nichts.« Das sagte er ruhig und schlicht, ohne jede Prahlerei, denn er glaubte daran. In seinem Herzen lebte die feste Hoffnung, daß er nach der schweren Zeit des Kampfes daheim sein stilles Glück finden müsse, denn nun wurde ausgetilgt, was an Schuld und Schande hinter ihm auf seinem Lebens- und Leidenswege lag. Mit dem Eisernen Kreuze auf der Brust wollte er heimkehren. Das zeigte, wer er war, und was er getan hatte. Und wer wollte ihm dann noch was nachtragen! –
Mancher Brief flog vom Felde heim in die Heide. Er schrieb an Anna, und sie antwortete ihm wieder, denn Vater Schümanns schwere Hand wußte besser mit Pflug und Sense umzugehen als mit der Schreibfeder. Anna las voller Stolz die Briefe ihren Eltern und den Nachbarn vor; die kleinen Zettel aber, die darin lagen, behielt sie für sich. Es waren keine glühenden Liebesversicherungen, die darauf geschrieben waren; nur wenige einfache Worte waren es: »Behalte mich lieb!« oder »Ich denke viel an dich, liebe Anna!« und ähnliches. Was sollte er mehr sagen. – – Manches Feldpostpäcklein flog auch von der Heide an die Front.
August Randt erhielt richtig das Eiserne Kreuz, gleichzeitig wurde er Gefreiter. Der Zeit des Draufgehens folgten dann aber die ewig langen Tage und Nächte des Festhaltens und Aushaltens. In dunkeln Unterständen und engen Schützengräben lagen sie, Wochen, Monate; der Frühling schmückte die blutgetränkten, zerschossenen und zerwühlten Felder, er ließ zwischen den Toten neues Leben aufsprießen; der Tod aber ging weiter seinen Weg. – – Er wütete zwischen den Fronten und dicht hinter ihnen; wo aber die Geschosse nicht mehr hinreichten, da brach der Dampfpflug die zerstampfte Erde auf, damit Brotkorn daraus wachsen könne. Der Sommer ließ es reifen; bei der Ernte mußte im Herbst auch August Randt helfen. Viel lieber hätte er auf der Heide geholfen, den Roggen zu mähen und die Kartoffeln aus der Erde zu bringen, aber er war ein Mann ohne Ar und Halm: er erhielt zu dem Zweck keinen Urlaub. Es war einmal gefragt worden, wer früher auf Werften gearbeitet hätte. Solche könnten sich melden und dann vielleicht nach Hamburg kommen, um dort im Kriegsschiffbau angestellt zu werden.
»Mensch, das ist was für dich,« hatte ihm ein Kamerad gesagt. Und lachend hatte er hinzugefügt: »Das ist besser, als wenn sie dir eine Kugel verpassen, die gerade für Heimatsurlaub reicht. Auf der Werft bist du in Sicherheit und kannst jetzt schönes Geld verdienen.«
»Denn laß die Familienväter dorthin kommen,« hatte August erwidert. »Wir jungen Kerls – – –. Na, dazu sind wir ja da.« Und er hatte sich nicht gemeldet. Nicht nach der Werft, aber nach der Heide hatte er zuweilen Sehnsucht. Die war wach geworden in der Öde und der Verwüstung. Das stille und ernste Gesicht jenes Landes, das ihm zur Heimat geworden war, erschien ihm als Traumbild, wenn er nachts auf dem harten Lager sich nach dem Licht des Morgens sehnte, wenn er zwischen Trümmern oder zerschossenen Bäumen auf einsamem Posten stand. Und dann waren sie um ihn herum und erzählten und fragten: Jan Steen, Vater und Mutter Schömann und Anna, ja, vor allen Anna. – Und dann hatte er so viel mit ihnen zu reden. Viel besser als früher konnte er sagen, was ihn freute und bedrückte, viel ruhiger und freier. So sagte er ihnen denn alles, was er erlebt und erlitten hatte in seinem Leben; nichts hatte er ihnen zu verbergen, alles sollten sie wissen. – Und sie hörten geduldig zu, die fernen Lieben, die jetzt in seinen Gedanken um ihn herum waren; ihnen berichtete und beichtete er die ganzen langen Stunden lang, wenn er auf Wache war oder das Ende der langen Nacht abwartete.
Schließlich aber kam ihm der Gedanke und der Mut, das mal aufzuschreiben, was ihn in vielen einsamen Stunden beschäftigt hatte, woran er all die Jahre so schwer getragen hatte, was ihm so hart und schimpflich schien, daß er mit keinem lebenden Menschen darüber hatte reden können. Er wollte es aufschreiben und in seinem Tornister aufbewahren. Wenn er vielleicht doch draußen fallen und fern von den Lieben und der Heide begraben werden sollte, so würde ein Kamerad ihnen dies Schreiben schicken. Er hatte dann mit seinem Leben alles gesühnt, er konnte dann seiner Mutter dort oben frei vor die Augen treten; aber auch die in der Heide hatten dann ein klares Bild von ihm, das keine üble Nachrede entstellen konnte. Und auch seine jüngeren Geschwister sollten das lesen; es als Warnung und als Mahnung nehmen. – –
So hatte sich August das ausgedacht. Aus solchen Anschauungen und Absichten heraus schrieb er. Schon während des Schreibens aber kam ihm der Gedanke: du könntest es auch gleich nach Uhlheide schicken. Am besten vielleicht an Henning Schömann selbst, dann wissen sie alles, was sie doch mal zu wissen kriegen müssen, und dann zeigt es sich, wie sie darüber denken.
Das geschah. Mit Unruhe erwartete August Randt eine Antwort. Sie ließ ziemlich lange auf sich warten, denn in Henning Schömanns harte Hand fügte sich nur widerwillig die Feder hinein. Als sie aber kam, war es August, als wenn ihm die Kette mit dem Bleigewicht abgenommen würde, die er solange mit sich herumgeschleppt hatte, die ihm ein Hindernis gewesen war, daß er mit seinen Mitmenschen und Altersgenossen nicht gleichen Schritt halten konnte. – Nun konnte er frei ausschreiten! –
Vor ein paar Jahren wäre Henning Schömann auf ein solches Bekenntnis hin mit seinem Urteil rasch fertig gewesen. – Die Erinnerung aber an seinen Sohn hatte seine Selbstgerechtigkeit gedämpft und seinen Bauernstolz auf das richtige Maß herabgedrückt. Und wie es mit August und Anna stand, das war der Mutter nicht verborgen geblieben. Als sie dann den Brief gelesen hatte, da sagte sie: »Er hat es schwer gehabt! Es muß viel Gutes in ihm sein, daß er so geworden ist, wie er ist.« Und dann sah sie ihren Mann an. »Das ist ein Mensch, auf den man sich verlassen kann. Dem kann man sein Kind anvertrauen.« Henning Schümann nickte.
Dann las Anna den Brief. Abends sagte sie ruhig und fest zu ihren Eltern: »Ihr wißt ja doch, daß August und ich uns liebhaben. Ich habe alles gelesen, und nun ist mir manches klar geworden, was mir an ihm dunkel und fremd war.« Und dann nach einer kleinen Pause: »Nun nehme ich ihn erst recht!«
»Wenn wir nichts dagegen haben,« schaltete der Vater ein. Er lächelte dabei. »Sonst geh' ich mit ihm nach Hamburg!« rief Anna. Da verschwand das Lächeln von Henning Schömanns Gesicht, denn ihm kam der Gedanke, wie einsam es dann hier auf dem Heidehof sein würde. Anna sah das, und schnell fuhr sie fort: »Aber ich weiß es, ihr habt nichts dagegen. Und er kommt hierher. Wir bleiben Uhlheider Leute.« Sie wußte es, und seine letzten Briefe hatten es ihr schon gesagt, daß die Werften ihn nicht mehr lockten. Zudem wußte er, daß die Edelheide nicht in der Großstadtluft gedeiht. – Im fremden Lande, inmitten der Trümmer und Verwüstung war ihm die Erkenntnis geworden, daß Uhlheide ihm die rechte Heimat sei.
Dann kam aber auch ihm der Tag – wie vielen, so vielen! –, wo er ausscheiden mußte aus den Reihen der Kämpfer. Es war ein »Heimatschuß«, aber einer, der ihn der ewigen Heimat näher brachte als der Heideheimat. – Schwer verwundet und fast verblutet trug man ihn an den Verbandplatz: ein Granatsplitter hatte ihm den linken Oberarm zerrissen. Dann kam er ins Feldlazarett, und nach Wochen von dort in ein Lazarett am Schwarzwald.
Stille und bange Wochen waren es, die jetzt ins Heidehaus einkehrten. Tag für Tag schaute Anna sehnsüchtig nach dem Briefträger aus. Er winkte immer schon von weitem, wenn er hinter dem Kratt am Moorweg auftauchte, und dann lief Anna ihm entgegen; aber in dieser Zeit hatte er meist nur die Zeitung und selten einen Brief, und auch der lautete nicht immer tröstlich.
»Ich werde wohl ein Krüppel bleiben und zum Pflugsmann nicht mehr taugen,« stand eines Tages in dem Briefe.
»Dann gehe ich hinterm Pfluge her; das müssen jetzt viele Frauen,« erwiderte darauf Anna. Der Alte aber legte dem Briefe einen Zettel bei, auf dem stand: »Nur den Kopf nicht hängen lassen! Ich kann noch pflügen für zwei, und ich lasse mich fürs erste noch nicht aus der Arbeit herausdrängen, auch wenn ich auf'm Altenteil sitze, nicht, übrigens hat Hein Stoffers Sohn mit einem Arm und einem Armstummel ganz gut pflügen gelernt. Warte ruhig ab, sorge dich nicht, es wird schon alles zurechtkommen.«
Um diesen Mahnungen mehr Nachdruck zu geben, und um von Anna etwas von der Sorge und Unruhe zu nehmen, machte sich dann Henning Schömann auf die Reise nach dem Schwarzwald. Er fand August besser, als er erwartet hatte; die gerade und zuversichtliche Art des Alten gab August neuen Mut. »Das mit dem Krüppel schlag' dir nur aus dem Sinn,« sagte er. »Ein Kerl wie du schafft mit einem Arm mehr, als mancher andere mit zweien. Und für anderthalb Arme sagt der Doktor gut.« Dann lächelte er verschmitzt. »Kein Unglück ist so groß, daß nicht auch en Glück dabei ist, denn daß Anna von der Heide weg und in der Stadtwüste, vier Treppen hoch, als Frau Schiffbaumeistern hausen muß, damit ist es denn nun doch wohl vorbei. Wir beiden Alten brauchen nun später nicht die Feldarbeit alleine zu machen. Und wenn unsere Enkel mal da sind, die wachsen als frische und gesunde Heidejungens und -deerns in der Freiheit auf.« – Darauf wußte August Randt nichts zu sagen, er wurde schier verlegen; als er aber dem Alten in die lustig zwinkernden Augen blickte, mußte auch er fröhlich lachen.
Lange konnte Henning Schömann nicht dort bleiben. Er hatte ja auch gesehen und gesagt, was nötig war. Man wollte ihn nun überreden, den Schwarzwald zu durchreisen und vom andern Ende aus die Heimfahrt anzutreten; er wollte aber nicht, er hatte genug gesehen. Schön war es, sehr schön, dies Land mit den unzähligen Bergen und Schluchten; unten die schäumenden Wasser, oben – trotz des kommenden Frühlings – noch der Schnee zwischen den dunkeln Tannenriesen. Auf der Heimreise ließ er diese fremdartigen Bilder an sich vorüberziehen, solange es Tag war, dann schlief er fest und ruhig auf hartem Sitz. Als der Morgen graute, fuhr er durch die Hannoversche Heide, da stand er am Fenster und atmete hoch auf: dort hinten hatte sich immer ein Berg vor den anderen geschoben und den Blick ihm beengt, hier konnte er frei ausschauen, weit und immer weiter, bis dahin, wo sich der in Grau zerfließende Heiderand am Horizont in den Wolken verlor. Der Anblick machte ihm wieder das Herz leicht und weit.
Ähnlich ging es August Randt, als er ein paar Monate später den gleichen Weg machte, nur daß ihn dann die Heide noch freundlicher grüßte und noch lieblicher erschien, denn nun hatte der Frühling ihr ein buntes und doch zartes Kleid angelegt. Sein Zug donnerte hinter Harburg über die Elbbrücke, links von ihm tauchten die Türme von Hamburg auf und die hohen Helgenkrangerüste der Werften, die Wahrzeichen der betriebsamen Elbinsel Steinwärder. Er sah sie aufsteigen und verschwinden, und als gleichzeitig alte trübe Erinnerungen in ihm wach wurden, fuhr er mit der Hand über die Stirn; dann machte er unwillkürlich mit der Rechten eine Bewegung, als wolle er die Finger zusammenlegen zum Gebet; er fand aber die linken fünf nicht. – – Seine Gedanken aber flogen in die Weite und in die Höhe. Sie suchten dann auch ein einsames Grab hinter Altona und stellten die Geschwister vor ihn hin. Und aus diesem Sinnen heraus sagte er: »Nun kann ich auch was für euch tun. – Und ich will was für euch tun.«
Am Altonaer Bahnhof erwarteten ihn Vater Schömann und Anna. Inmitten all der Menschen, die sich drängten und hasteten, war es nur eine kurze Begrüßung mit ihnen. Mehr Ruhe kriegten sie erst, als sie im Wagen der Kleinbahn saßen, der gemächlich die Landstraßen entlang und durch die Dörfer trottelte. Und doch redeten Anna und August wenig miteinander, aber sie saßen dicht zusammengedrängt und hatten sich an den Händen gefaßt. Und auch das war ihnen ungewohnt, aber sie waren stolz, daß sie das durften, und daß sie sich um die Blicke anderer nicht zu kümmern brauchten.
Als sie ausstiegen, stand Mutter Schömann schon auf dem Bahnsteig und wartete. »Mien Swigersöhn kömmt,« hatte sie jedem gesagt, der es hören wollte. Sie war mit dem Wagen dort, und selbst hatte sie kutschiert. Das war eine fröhliche Heimfahrt! – Sie mußte aber den letzten Teil des Weges mit ihrem Mann allein machen, und fügte sich dem auch gutwillig. »Haltet euch nur nicht zu lange unterwegs mit Schnack auf,« rief sie August und Anna zu, als diese vom Wagen stiegen. »Das Essen steht in einer halben Stunde auf dem Tisch.« Sie lachte und winkte den Zurückbleibenden: »Von der Liebe allein kann man auf der Heide nicht leben!«
Wo August damals, als er diesen Weg zum ersten Male machte, die Reisetasche, die all seine Habe enthielt, in den Sand gestellt hatte, da hatte ihn die Erinnerung gepackt, und er hatte Anna und die Alten gebeten, den Rest des Weges mit Anna gehen zu dürfen.
Dort standen nun die beiden und gedachten der vergangenen Jahre. Trübe und heitere Bilder lebten vor ihnen in der Erinnerung auf. Dann legte August die starke Rechte um seine Gefährtin, sie legte die Linke um seinen Nacken, und beide schritten frohen Mutes der Heideheimat entgegen.