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Die Einquartierung im Pfarrhause

Eine Erzählung aus den Freiheitskriegen

Der Stab des .. Regiments war in dem Pfarrhofe zu M... als Einquartierung angesagt; drei Kompagnien, die Wagen und Reitpferde sollten im Dorfe verteilt werden. Die Quartiermacher, welche deutsch redeten, waren sogleich auf frischen Pferden weiter geritten, um auch für die andern Kompagnien des Regiments in dieser Art zu sorgen; denn die Hauptsorge, wie diese Menschenzahl zu verteilen, woher Lebensmittel und Pferdefutter nach so vielen Durchmärschen herbeizuschaffen, überließen sie den Einwohnern. Da gab's ein Beraten im Schulzengerichte und beim Pfarrer, ein Abdingen, wieviel jeder einnehmen sollte. Der aber am härtesten belastet war und in seinem kleinen Hause für dreizehn Offiziere Unterkommen schaffen sollte, war der Pfarrer, und doch sagte er kein verdrießliches Wort, sondern verließ sich auf die tätige Wirtschaftlichkeit seiner jungen Frau, die ihn schon manchmal aus ähnlicher Verlegenheit gezogen hatte. Als aber ein kleines Mädchen außer Atem mit einem Gruße von der kranken Mutter seiner Frau ankam, sie wünsche das heilige Abendmahl zu empfangen, weil sie sich sehr schlecht befinde, da sank ihm einen Augenblick der Mut, die Frau weinte und warf sich in einen Stuhl und klagte, daß die schönsten Wochen ihres Lebens, ihr Eintritt in den Ehestand durch so viel Sorge und Leiden verkümmert wären. Aber diese Erinnerung gab dem Prediger wieder Kraft, er dachte sich, wieviel trauriger er oft gewesen, als er noch einsam in diesen Mauern gehaust, er sprach der Frau Mut ein und trug selbst aus Wohlwollen die heiligen Geräte nach dem nahen Vorwerke, um den Küster nicht von der Sorge für sein Haus abzuhalten. Trommelschlag verkündete die Annäherung des Regiments, die Fahnenwache marschierte feierlich in den Pfarrhof, der Oberst des Regiments, ein ansehnlicher Herr, noch scheinbar jugendlich, doch fast haarlos auf seinem Haupte, stieg aus einer Kibitka aus und fragte in deutscher Sprache nach dem Hausherrn. Die Frau Predigerin trat in Verlegenheit mit niedergeschlagenen Augen ihm entgegen und versicherte ihm, es sei für alles gesorgt, ungeachtet ihr Mann abwesend sei in Amtsgeschäften. Der Oberst fragte in sichtbarem Verwundern, ob er das Vergnügen habe, mit der Frau Predigerin zu sprechen? Sie bejahte die Frage mit einem Lächeln, als ob sie ihr schon öfter gemacht worden wäre, und führte den Obersten in sein Zimmer, indem sie ihm versicherte, wie leicht es ihr jetzt ums Herz sei, da sie wenigstens mit ihm sprechen, und was er begehre und wie alles einzurichten, von ihm erfahren könne. Des Obersten Antlitz war schon ein wohlwollendes Himmelszeichen, mehr noch seine wohltönende, gewandte Sprache und seine ruhige Aufmerksamkeit, die jede Klage hörte und bis zum letzten Grunde zu heben suchte, am meisten wirkte sein Trost, daß das Regiment schon in der Abendkühlung weiter marschiere. Alles machte sich leicht mit ihm ab, und nicht ohne Grund suchten seine Offiziere die klageführenden Einwohner von ihm abzuhalten, denn gegen seine Soldaten war er strenge, während er rastlos für sie sorgte. Aber die Frau Predigerin hatte ihr Zutrauen zu ihm gefaßt, sie nahm den Schulzen und andre bei der Hand und führte sie zu ihm, der Oberst dankte ihrer Bemühung, schlichtete die Händel, die öfter aus Ungeduld und Mißverständnis, denn aus bösem Willen angefangen waren. Sie blieb gern auf seinem Zimmer, weil sie da geschützt war gegen alle gewagten Zudringlichkeiten der anderen Offiziere; er behandelte sie wie ein guter Vater ein gutes Kind. Endlich kam der Prediger, die Frau ihm entgegen mit der Frage, ob ihre Mutter noch lebe? Der Prediger bejahte das, hoffte auch noch ein paar Tage, schien nachdenkend oder zerstreut, ließ sich dem Obersten vorstellen und entschuldigte seine Frau mit der Eile, wenn er nicht alles zu seiner Zufriedenheit gefunden habe. Der Oberst rühmte alle Einrichtungen, erkundigte sich, wo der Prediger studiert habe, und freute sich J... nennen zu hören, weil er früher als der Prediger auch dort studierte und über allerlei Männer, Häuser und Gegenden, die er gern besucht, Auskunft von ihm erhalten konnte. Dann kamen beide auf Studentengeschichten. Der Oberst gestand, daß er wegen eines Aufstandes festgesetzt und als Führer ohne Gnade relegiert worden sei, worüber er mit seinen Eltern zerfallen und aus Notwendigkeit, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, das Kriegshandwerk ergriffen habe. Der Tisch war gedeckt, die Offiziere versammelten sich, der Pope betete, der Prediger mußte neben dem Obersten sitzen, wurde von diesem mit gutem Wein, der lange nicht in dies Pfarrhaus gekommen, bewirtet, und beide wurden endlich so vertraulich, als ob sie miteinander gleiche Jugend in J. verlebt hätten. – »Alles gefällt mir bei Ihnen ganz und ohne Einschränkung,« sagte der Oberst nach Tische, als er mit dem Pfarrer allein im Garten Kaffee trank, »eins nur verwundert mich und setzt mich in Verlegenheit, Ihre schöne junge Frau, die so gesittet und gescheut spricht und sich beträgt, hat mich beim Eintritte ins Haus durch ihre Kleidung zu dem Irrtume verleitet, als ob sie die Magd des Hauses wäre, auch beim Mittagessen wollte sie keinen Platz annehmen, sondern zog es vor, uns zu bedienen, was mir bei jedem Teller eine Verbeugung kostete. Ist dies vielleicht Grundsatz bei Ihnen, soll dadurch vielleicht die Frau dem Umgange der Dorfbewohner näher gebracht, vor Überdruß und Langeweile bewahrt werden?« – »Keinesweges«, antwortete der Prediger, »mein Wille ist dies nicht, vielmehr glaube ich, daß die Frau des evangelischen Predigers, den kein falsches Geheimnis heiligt, auch im Äußern vor den Frauen des Dorfs sich auszeichnen muß, sie lieber zu sich hinaufziehen als sich ihnen gleichstellen darf. So folgsam sie in allem übrigen ist, so unerschütterlich ist sie in diesen Gewohnheiten und Grundsätzen, die ihr von der Mutter eingeprägt sind.« »Seltene Grundsätze in unsrer Zeit,« sprach der Oberst, »in welcher jeder nur über sich, nicht unter sich zu sehen gewohnt ist, die Geschichte der Mutter mag etwas Ausgezeichnetes in sich tragen.« – »Freilich«, sagte der Prediger, »ich habe sie erst heute, wo sie sich dem Tode nahe glaubte, ganz vernommen, gern teilte ich sie Ihnen mit, denn sie machte kein Geheimnis davon, nur war es ihr immer traurig davon zu sprechen, und auch mich betrübt die Ansicht eines verkümmerten Lebens. Lieber erzähle ich Ihnen, wie seltsam meine Frau an mich und ich zu meiner Frau gekommen, das ist heitrer anzuhören.« – »Hat das so viele Umwege gemacht?« fragte der Oberst, »gegenwärtig, wo keine strengen Väter, keine tückischen Vormünder, keine Menschenräuber mehr ihr Wesen treiben, geht es sonst wie auf der Chaussee.« – »Es gibt doch noch höhere Geschicke,« fuhr der Prediger fort, »die alles für uns tun, wenn wir am wenigsten es ahnen. Ich habe in dem ersten Jahre meines Amts meine Frau, als Tochter einer armen Witwe auf dem nahen Vorwerke, unterrichtet und eingesegnet. Ihr Anblick war mir etwas wert, ein andres Zeichen von Liebe habe ich nicht in mir wahrgenommen, und ich möchte den Dichtern ins Angesicht behaupten, die Liebe sei nie oder selten so schnell und überraschend, wie sie aus Bequemlichkeit sie gern darstellen. Ich kannte die Gemeinde nur noch wenig und verlor daher die Bewohner des Vorwerks leichter aus meinem Gedächtnis. Das Mädchen war mir wieder ganz neu, erschien mir aber viel schöner, als sie zum Erntefeste unter der Zahl von sechs Mädchen erschien, die jährlich von unserer Gräfin reichlich ausgestattet werden. Es war ein schöner Tag und ein sehr freudiges Fest! Der Erntekranz war mit heiligem Liede der Gräfin überbracht, die Verlobten sollten sich paarweis vor den Altar stellen, um alle bei einer Rede getraut zu werden, da bemerkte sie, daß der Dorothee – – »Dorothee«, sprach der Oberst nach, »so heißt Ihre Frau?« – »Ja, so heißt sie und ist mir eine Gabe Gottes,« fuhr der Prediger fort, »dort aber stand sie allein, ohne Bräutigam, doch ruhig, unverlegen, bis die Gräfin sie fragte, wo ihr Schatz bliebe?« – »Meine Mutter hat mir gesagt,« antwortete Dorothee, »ich würde alles reichlich von Ihro Gnaden bekommen, sie hätte mit Ihnen gesprochen.« – »Liebes Kind,« sagte die Gräfin verlegen, »ich habe dir manches zu schenken, aber ein Mann läßt sich nicht verschenken.« – »Ich verlasse mich auf Ew. Gnaden,« antwortete Dorothee, »und bin mit allem zufrieden.« – Mit Mühe beschwichtigte ich den Mutwillen, den dieser Auftritt bei der Jugend erweckt hatte; die Gräfin nahm das Mädchen an ihre Hand, um ihre Beschämung zu mindern, und schenkte ihr einige hübsche Tücher. Nachdem die Unruhe vorüber, hielt ich meine Rede, doch gestehe ich, nicht ohne Sehnsucht, daß ich an der Seite der verlassenen Dorothee hätte stehen mögen. Am andern Tage kam die Mutter zu mir, entschuldigte sich, daß sie ihr Mädchen so in den April geschickt habe, doch da sie fremd in dieser Gegend sei, wäre sie wohl zu entschuldigen, daß sie diese Verheiratungen nicht gewußt, sondern das Ganze für ein Rosenfest gehalten habe, wie es in ihrer Gegend gebräuchlich, an welchem die sittsamsten Mädchen öffentlich beschenkt würden. Es hätte aber nun einmal so sein müssen; es habe jetzt eines reichen Bauers Sohn, der die Tochter gestern gesehen, um sie angehalten, sie habe eingewilligt, und die Hochzeit solle sich bald feiern. Ich fragte, ob denn die Tochter mit dieser Heirat zufrieden sei? Sie antwortete, daß ihre Tochter durch Ungehorsam sie nie bekümmerte, auch sei es hübschen jungen Mädchen nützlich, wenn sie früh heirateten. – Sie wurden aufgeboten, der Tag der Hochzeit kam auch herbei, ich stand am Altare, die kleine Orgel tönte, Dorothee wurde reizender als je von den Mädchen zum Altare geführt. Mein Herz bebte, das Lied ging zu Ende, aber der Bräutigam kam nicht, die Mädchen wurden ungeduldig, ich fürchtete, nein, ich hoffte ein neues Hindernis. Ein Bote erschien, der Handel klärte sich auf. Des Bräutigams Vater, der eigentliche Besitzer des Hofes, ein rüstiger, wunderlicher Alter, hatte gleiche Gefühle mit seinem Sohne am Tage des Erntefestes geteilt, aber erst in dieser entscheidenden Stunde war es in ihm Entschluß geworden, der Heirat seines Sohnes zu widersprechen und ihm den Hof nicht übergeben zu wollen, wenn er ihm nicht die Braut überlasse. Die arme Dorothee wurde bleich bei der Nachricht, alle beweinten sie aufrichtig; ich suchte ihr Mut einzusprechen. Die Mutter war inzwischen zur Vermittelung in das Haus des Bräutigams gegangen, sie hatte dort behauptet, wer ihre Tochter lieb hätte, der müsse sie dem andern überlassen; der Sohn entschloß sich, sie dem Vater abzutreten, und dieser ging nun mit den Hochzeitgästen zur Kirche. Er kam aber zu spät! Denn wie der Augenblick das Leben und den Tod gibt, so schließt er auch Ehen. Ich hatte – der Himmel weiß, in lauter Liebe und Wohlwollen – das arme Mädchen zu trösten, mich in der Kirche entschlossen, um ihre Hand sie anzusprechen; ich wollte ihr zeigen, daß sie nicht verlassen, nicht beschimpft sei, weil sie zweimal ohne Bräutigam vor dem Altar gestanden habe. Sie antwortete nicht, aber ihre Blässe schwand in Tränen, und als der Alte sich als Bräutigam ihr keck gegenüber stellte, erklärte sie laut, daß keine Gewalt sie zwingen würde, ihn zu ehelichen: mir habe sie ihr Herz geschenkt, seitdem ich sie eingesegnet, und sie habe sich nur dadurch zweimal bewegen lassen, als Braut vor den Altar zu treten, um mich recht lange mit sich beschäftigt zu sehen. Daß der Alte und sein Sohn nach dieser Erklärung uns beiden zürnte, daß die Mutter mir bald versöhnt war, als sie meine ernstlichen Absichten erkannte, daß ich nicht länger als zum Aufgebote nötig säumte, mich von dem benachbarten Pfarrer trauen zu lassen, das erraten Sie, Herr Oberst – und noch keinen Augenblick hat mich der Entschluß gereut.« – »Sie eilen über Ihre glücklichen Tage zu rasch hinweg«, sprach der Oberst. – »Verzeihen Sie,« fuhr der Prediger fort, »ein Name auf Ihrem Tabaksbeutel hat mich während der letzten Hälfte meines Berichts gekränkt und zerstreut; kennen Sie in Ihrem Vaterlande einen Mann des Namens, der zu J.. ebenfalls studierte?« – Der Oberst lächelte: »Ein solcher Mann studierte mit mir, aß und schlief mit mir, es war kurz gesagt mein Name, ehe ich den eines mütterlichen Verwandten annahm; wie konnte er Sie kränken, während ich Ihnen und Ihrer Frau von Herzen dienen möchte.« – »Heiliger Gott,« rief der Prediger, »reißt der Krieg viele auseinander, so führt er doch manche zusammen, wäre es nur zur Freude! Herr Oberst, haben Sie bei J... an der Gebirgsstraße eine Dorothee gekannt, die noch lange unter dem Beinamen ›der klugen Tochter‹ im Gespräche der Leute war?« – Der Oberst wandte sich bei diesen Worten heftig um und sprach in sich: »Wer hat danach zu fragen?« – »Sie haben diese Unglückliche gekannt,« rief der Pfarrer, »und wollen sie verleugnen!« – »Unglücklich? warum unglücklich?« fragte der Oberst besänftigt, »sie war jedes Glücks würdig, und auch mein Glück ist mit ihrer lieben Nähe von mir gewichen. Wissen Sie etwas von ihr? meine Nachfragen waren vergebens, ein Studententumult verbannte mich, mein Vater sandte mich unter ein Regiment, ich hörte nichts von ihr seit dem seltsamen Abende, wo sie mir voraussagte, ich würde sie verlassen.« – »Glauben Sie, daß ich etwas von ihr weiß,« fuhr der Pfarrer fort, »wenn ich Ihnen erzähle, wie Sie dieselbe zum erstenmal gesehen, als sie Ihnen Erdbeeren und Milch nach der Bank vor dem Hause brachte?« – »Ich brauche Ihnen nichts zu erzählen,« sprach der Oberst verlegen, »ach! damals sagte ich ihr in seltsamer Heftigkeit: So lieb dir dein Leben, bring keinem Durstigen wieder Früchte, laß ihn verschmachten; es wäre auch mir besser gewesen. Ich hatte so viel von dem Mädchen gehört, ich wollte mich über sie lustig machen, weil sie in allem Wissenskram herumfaselte, aber sie war zu schön. Das arme Mädchen hatte so viel Jahre wie ein verehrtes Wallfahrtbild auf der Meeresklippe gestanden und dachte nicht, daß nach so vielen noch eine Welle kommen könnte, die sie umstieß. O die armen Mädchen, welche in der Völkerwanderung einer Universität aufwachsen! Ihre Mutter hatte sich gefreut, daß jedermann ihr Mädchen klug nannte, daß ihr die jungen Leute Bücher brachten, von denen sie selbst ergriffen waren. Sie rangen damals mit ihrer Bildung und dachten nichts Bessres tun zu können, als ihre hübsche Wirtstochter in alles das vertrakte Zeug mit einzuweihen, denn sie horchte nie auf Artigkeiten so geduldig, als wenn sie mit den Idealen und Eitelkeiten der Zeit versetzt waren. Auch mich riß ihre Schönheit hin, und ich meinte, es sei ihr Geist. Wir hörten sie geistig wachsen, denn was sie kaum erlernt, wußte sie deutlicher als wir selbst auszusprechen; wir sahen bald mit einer Ehrfurcht wie zu einem höheren Wesen empor und bemerkten nicht, daß eine heimliche Krankheit den innern Blick erhöhte, daß eine heimliche Neigung an ihrem tiefsten Innern zehrte. Ich Unglückseliger war ihr Verderber und ahnete es nicht, bis sie mir in seltsamen Visionen ihren Zustand deutlich machte, sie nannte mich ihren Verführer, als ich noch unschuldig mit den Blumen zu ihren Füßen spielte. Ich verlachte ihr Traumgesicht, und doch traf alles ein, und die Mutter duldete unsere Vertraulichkeit, weil die Tochter wieder blühend wurde, als ich mich ihr ergab. Ist sie unglücklich geworden, so möchte ich ihre Voraussagungen wie Macbeth die Hexen verfluchen, die ihm hohe Ehre verkündeten. Es war ein trüber, wehmütiger Abend, als sie mir voraussagte, ich würde sie verlassen, doch würde sie mich vor ihrem Ende sehen; am andern Tage begann der Tumult, ich ward relegiert, schrieb ihr unzählige Briefe, erhielt aber keine Antwort. Der Krieg beschäftigte bald meine ganze Seele; nach mehreren Jahren wollte ich sie mit meiner Erinnerung nicht stören, wenn sie mich für tot gehalten und andere Verbindung eingegangen wäre. Was wissen Sie von ihr? Ich habe Ihnen gebeichtet, um mir Ihr Zutrauen zu gewinnen, ich gäbe viel darum, von dem lieben Kinde wieder etwas zu hören.« – »Sie sollen hören von ihr,« sagte der Pfarrer, »und können Sie nichts mehr von ihr hören, so müssen Sie die arme Dorothee sehen, aber rüsten Sie sich, als ginge es in die Schrecken der Schlacht, wir gehen zu einer Sterbenden.« – »Die Sterbende ist Dorothee?« fragte der Oberst mit Entsetzen. – »Die Sterbende ist Dorothee,« antwortete der Pfarrer, »ist die Mutter meiner Frau, Sie sind der Vater meiner Dorothee; erst heute hat mir die Sterbende Ihren früheren Namen anvertraut.« – »Segen und Fluch trifft mich wie Hagelschlag im Sonnenschein«, rief der Oberst und führte den Pfarrer mit sich fort, ohne selbst den Weg zu wissen; eine Ordonnanz folgte ihnen aus Gewohnheit, ohne vom Obersten den Befehl zu erhalten. – Die Pfarrerin saß vor dem Bette der Mutter, die ihr mit schwacher Stimme zuflüsterte, sie sterbe gewiß noch nicht, sie werde noch eine fröhliche Botschaft erhalten; da trat der Oberst, dem Pfarrer vorauseilend, in das kleine, reinliche Zimmer. Die Sonne leuchtete mit rotem Abendstrahle auf die Sterbende; der Oberst erkannte sie, denn der letzte Kampf durchglühte ihre bleichen Wangen, er sank an ihrem Bette nieder, blickte zu ihr; auch sie erkannte ihn, drückte ihm die Hand, wollte ihn küssen, da sank sie auf ihr Lager nieder und verschied. Der Oberst wollte sie mit allen jammervollen Beschwörungen seiner Liebe erwecken, aber er hatte kein Recht mehr über sie, sie gehörte schon dem Himmel. »Liebes Kind,« sagte der Oberst zur Pfarrerin, »hasse nicht deinen Vater, daß er so lange nicht für dich sorgte, er wußte nichts von deinem Dasein! Was ich erwarb, sei dein, aber was ist das gegen die Jahre, die ich unwissend dem Leben deiner Mutter raubte.« Die Tochter verstand nicht, warum er sie als Tochter begrüßte, aber sie folgte dem Wink ihres Mannes und dem Gefühle ihres Herzens, sie küßte seine Hand; aus dem Todeshauche der Mutter war ihr der Vater entstanden, das erklärte ihr der Pfarrer mit flüchtigen Worten, die ihr kindliches Herz mit steigender Liebe schwellten. Und wie sie so im Arme des Obersten lag, da trat eine uralte Frau in Reisekleidern ein und fragte weinend nach ihrer Tochter Dorothee, die ihr geschrieben, die sie an ihr Sterbebette gerufen hätte. »Wer seid Ihr, gute Frau?« fragte der Pfarrer, aber die Alte hörte nicht, sie war schon lange taub. Der Oberst winkte dem Pfarrer und sprach leise: »Es ist die alte Wirtin vom Gebürge, die Mutter meiner Dorothee, die Großmutter Ihrer Frau, könnten wir ihr den Schmerz ersparen, die Tochter tot zu finden!« – Die Alte hatte sich unterdessen schon der Pfarrerin genähert, schrie auf vor Freude, daß sie so gesund sei, wie sie jemals gewesen, jetzt müsse sie schelten, daß sie ihr den Schreck gemacht, sich totkrank auszugeben, um sich mit ihr zu versöhnen. Die Pfarrerin wollte sie belehren, aber die Alte hörte nichts in ihrer Taubheit, sie freute sich, mit ihren blöden Augen die Tochter gleich erkannt zu haben, und als sie den Obersten auch erkannte, sagte sie ihm, er sei älter geworden, aber er scheine ihre Tochter noch wie sonst zu lieben, und so solle alles vergeben und vergessen sein, daß er sie einst für so viel Liebe habe sitzen lassen. Die gesprächige Alte war so ganz mit den Lebenden beschäftigt, so von Freude überfüllt, daß sie der Toten nicht achtete, sie küßte tausendmal die Enkelin als ihre Tochter und warf ihr vor, daß sie so lange geschwiegen, da sie ihr doch längst den Fehler verziehen gehabt. »Ich hätte es nicht überlebt,« sagte sie, »wenn ich dich tot gefunden, nein, alles in der Ordnung, die Alten bestellen den Kindern ihren Platz im Himmel, wie sie schon auf Erden eine Wiege ihnen bereiten.« Dem Obersten schauderte bei den Worten, und er führte beide Frauen der Türe zu, die Stube schien ihm ein Grab, worin er, lebend begraben, die Gespräche der Verweseten höre, ihm war wie einem Sterblichen, der unbewußt in die Gesellschaft von Geistern geraten ist und nicht weiß, ob es Täuschung sei, ob er die Täuschung stören könne und dürfe, und doch fürchtet, wahnsinnig in diesem Umgange zu werden. – Da durchdrang ihn draußen der freie Himmel und seine Regimentsmusik wie der Stundenschlag, der die Geisterstunde endet; schon waren alle zum Abmarsch gesammelt, alle harrten auf ihn, auf den geliebten Führer, ihn rief die ernste Pflicht, der er sein Leben verschworen hatte. Kaum waren die beiden Frauen entfernt, kaum hatte er seinen Befehl zum Abmarsch der Ordonnanz gegeben, so kehrte er zur Toten und zum Pfarrer in das dunkle Zimmer zurück, warf sich noch einmal bei der Verblichenen nieder, küßte sie noch einmal, drückte dem Pfarrer seine Brieftasche in die Hand mit einem Schwure, es sei alles was er habe, es sei die Mitgabe seiner Tochter. Der Pfarrer flehte ihn an, daß er unter ihnen weile, daß er sich unter ihnen ausruhe bei seinem einzigen Kinde. »Draußen warten meiner tausend liebe Söhne«, antwortete der Oberst; »der Himmel hat mich nicht umsonst dem feierlichen Leben entrissen, denn vergessen hatte er's mir nicht, was ich als Jüngling mir als Glück träumte, er führte mich zum Troste in dessen Nichtigkeit, hier sah ich Tod und Täuschung als Grenze aller Bestrebungen fürs häusliche Glück, will sehen, ob etwas anderes, etwas Daurendes die Bahn des Kriegers schließt; versuch's auch auf deiner frommen Bahn, breite Gottes Reich als frommer Streiter auf Erden aus und bete für mich, denn dazu fehlt mir die Zeit und das Wort. Der Oberst mochte wohl noch einmal die Tochter geküßt haben, bald hörte aber der Pfarrer den Hufschlag seines Pferdes, er hörte den Aufbruch des Regiments und dachte einsam bei der lieben Toten:

Der Mensch ist bald vergessen,
Der Mensch vergißt so bald,
Der Mensch hat nichts besessen,
Er sterb' jung oder alt.

Der Mensch ist bald vergessen,
Nur Gott vergißt uns nicht,
Hat unser Herz ermessen,
Wenn es in Schmerzen bricht.

Wir steigen im Gebete
Zu ihm, wie aus dem Tod,
Sein Hauch, der uns durchwehte,
Tat unserm Herzen not.


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