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Was weinst du denn so sehr, Ter?«
»O, o, Iwan Iwanowitsch«, erwiderte der junge Perser, indem er sich schnell über die Augen fuhr und weiter eifrig die Einfahrt kehrte. »Allah erbarme sich, mein Herz muß weinen, meine Augen nicht.«
»So lüge doch nicht so dumm, Ter. Ich sehe es ja ganz deutlich. Nicht nur dein Herz, auch deine Augen weinen«, erwiderte der dicke Kutscher, der gemächlich in der Sonne stand und Lederzeug putzte.
»Allah erbarme sich meiner«, wiederholte der Perser, und wieder liefen ihm dicke Tränen über die schmalen, dunklen Backen. »Ibrahim war da, er kam aus Kalassar, meiner Heimat, von meiner Mutter.«
»Da hast du Heimweh bekommen?«
»Heimweh?« Ter sah den andern ganz erstaunt an, als begreife er ihn gar nicht. »Ich? Hier? Heimweh? Nach Kalassar? Er schüttelte sich unwillkürlich. »Hier, wo ich es so gut habe?«
»So ist deine Mutter krank?« fragte der Kutscher teilnehmend, neugierig.
Ter schwieg. Iwan Iwanowitsch nahm das für eine Bejahung seiner Frage.
Er seufzte, hörte einen Augenblick auf, das Lederzeug zu reinigen, sah auf den jungen Burschen und fragte; »Wie alt ist sie?«
»O, sehr alt, ganz weiß«, erwiderte Ter.
»Bist du ihr einziger Sohn?«
»Zwei töteten die Kurden, den ältesten nahmen die Soldaten mit, weiß nicht, ob er noch lebt. Eine Schwester war Wäscherin im Harem des Sarparas. Allah erhalte ihn. Sie starb. Eine andere stahl eine Karawane und schleppte sie mit zu den Gottlosen, den Verfluchten, die Hussan, den Propheten, erschlugen, zu den Türken.«
»Da bist du allein übriggeblieben?« fragte teilnehmend der Kutscher.
Ter nickte. »Ich und die Mutter.«
»Und dein Vater.«
»Eine Schlange biß ihn, er starb, Allah bestimmte es so, gepriesen sei sein Name.«
»Und wie alt bist du eigentlich?«
»Zehn Jahre und drei.«
»Was?« Der Kutscher ließ erstaunt das Lederzeug fallen. »Erst dreizehn Jahre? Das schwindelst du, Ter. Ich halte dich für gut und gern achtzehnjährig.«
Der junge Perser lächelte wehmütig. »Jung werden wir alt, Iwan Iwanowitsch, die Männer, die Frauen, die Pferde.«
»Auch die Pferde?« fiel der Kutscher interessiert ein.
Ter nickte. »Wenn sie so alt sind wie deine, sterben sie.«
»Lüge nicht!« rief der Kutscher. »Mein Ältester ist achtjährig.«
»Bei uns sterben sie mit acht Jahren oder sind so alt und häßlich, daß es besser ist, sie wären tot.«
»Was du nicht sagst, Ter. Das ist ja ein schlechtes Land, das Persien.«
»Heiße Sonne, trocknes Land, kein Wasser, viel Feinde, viel Armut«, meinte Ter altklug. »Da stirbt sich's jung.«
»Aber deine Mutter? Sie hat weißes Haar, sagtest du.«
»Vor Sorge und Elend, wie alle Armen bei uns zu Hause«, erwiderte Ter.
Der Kutscher hob das Lederzeug wieder auf und sprach: »Wenn dein Herz noch so jung ist und deine Mutter krank, dann begreife ich wohl, daß du weinst. Aber es hilft nichts, Ter, es hilft gar nichts. Wie Gott und die Heilige Mutter es bestimmt haben, so geschieht es. Da kann man nichts machen.«
»Allah il Allah,« murmelte Ter, »sein Wille ist unabänderlich. Aber um meine Mutter weine ich nicht. Für sie ist besser sterben als leben.«
»Ja, weshalb weinst du denn?« fragte Iwan Iwanowitsch erstaunt.
»Ibrahim sagte, ich müsse nach Kalassar kommen, ließe meine Mutter sagen. Ina warte, es sei alles bereit.«
»Wer ist denn nun das wieder?«
»Meine Verlobte.«
Der Kutscher schlug eine laute Lache an. »O, du Schalk! Mich so zum besten zu haben! Das ist nicht schön von dir, Ter.«
Der junge Perser sah ihn verwundert an.
»Wie alt ist denn Ina, das Täubchen?« fragte der Kutscher scherzend.
»Ein Jahr und ein halbes Jahr jünger denn ich«, sagte Ter.
»Sieh da, sieh einer an.«
»Aber ich will nicht heiraten, ich will nicht!« rief Ter, und wieder rollten ihm die Tränen übers Gesicht.
Iwan Iwanowitsch sah ihn eine Weile forschend an. War das Bürschchen ein so guter Schauspieler, daß es ihm immer noch etwas vormachte? Aber nein, der Schmerz des Jungen war echt, das sah man. Der Kutscher schüttelte den Kopf immer wieder und ließ keinen Blick von Ter, als sähe er ihn zum erstenmal und wolle sich alles möglichst genau und für immer einprägen. Er kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Mußte das ein Land sein, dies Persien! Er bekreuzigte sich. Ja, ja, ein Heidenland, das merkte man nun, ein arges Heidenland. Das Bürschlein tat ihm leid, wie es so vor ihm stand, auf den Besen gestützt und von Schluchzen geschüttelt. Und warum? Weil es heiraten sollte. Wieder mußte Iwan Iwanowitsch laut lachen. So etwas war ihm denn doch noch nicht vorgekommen. Ein Bräutigam, der weinte, weil er Hochzeit machen sollte. Aber Ter konnte gar nicht wieder zu sich kommen. Da schoß dem Kutscher ein Gedanke durch den Kopf. Ein Gedanke, wie ihn besser auch der Pope nicht haben konnte. Er richtete sich stolz auf, zupfte Ter am Arm, neigte sich zu ihm und flüsterte: »Laß dich taufen, Ter, dann bist du gerettet.«
Der junge Bursche schaute den Kutscher fragend an. Iwan Iwanowitsch suchte ihm die Sache noch deutlicher zu machen, indem er seine dicken, großen Hände nahe aneinander legte, die Bewegung des Wasserschöpfens machte und dann schnell den fingierten Inhalt über Ter ausgoß. »Taufen!«
Ter sprang weit fort und rief: »Nie, nie!« Es lag soviel Widerwille und Abscheu in dem jungen Gesicht, daß Iwan Iwanowitsch ärgerlich nach seinem Lederzeug griff und langsam fortging, indem er zornig vor sich hinbrummte: »O, diese Heiden, diese Kinder des Bösen, da sieht man es wieder, sie sind verloren und sie bleiben verloren.«
Ter lehnte sich an das Gitter der Einfahrt und grübelte weiter über sein Unglück. Aber nein, er würde nicht heiraten, er würde nicht nach Kalassar jetzt schon zurückkehren. Ina sollte warten, und die Mutter konnte auch noch eine Weile allein fertig werden. War er erst verheiratet, lasteten alle Mühen auf ihm. Er sah es greifbar deutlich vor sich. Die Mutter würde den ganzen Tag seufzen und wehklagen über die Armut. Ina würde dasselbe tun, und er würde arbeiten müssen. Ohne Dienstboten ginge es nicht lange. Dann kamen Mägde ins Haus, die man viel zarter behandeln mußte als Frau und Mutter, weil sie fortgingen, wenn es ihnen nicht paßte. Und eines Tages würde es heißen, er solle noch eine heiraten, weil mit den Mägden kein Auskommen sei, weil es billiger und praktischer wäre, noch eine Frau zu nehmen, die nicht ohne weiteres fortlaufen konnte, sondern erst vor den Molla mußte und sich scheiden lassen. Dann gab es Zank und Streit im Haus und nichts wie Unannehmlichkeiten. Ter seufzte beweglich. Da hatten es die Ungläubigen besser, die sich mit einer Frau begnügen konnten. Bei ihm zu Hause vermochten das nur die ganz reichen Leute. Die Armen mußten mehrere Frauen nehmen. Eine war zu teuer. Bei mehreren ersparte man die unzuverlässigeren, verwöhnten Dienstboten, die sich auf die Dauer nur wohlhabende Perser leisten konnten ... Nein, mochte geschehen, was wollte, noch kehrte er nicht nach Hause zurück, noch heiratete er nicht, unter keinen Umständen, noch wollte er eine Weile sein eigener Herr sein. Er zitterte vor den Sorgen, die so ein persischer Haushalt mit sich brachte, und gerade der eines armen Mannes. Und selbst faulenzen, die Weiber für sich alle Arbeit tun lassen und im Schatten liegen, die Galian rauchen, ruhig ein Liedchen singen und zusehen, wie die Weiber in der glühenden Sonne den hölzernen Pflug durch den harten Boden ziehen, nein, das konnte er nicht. Seitdem er in Moskau war, hätte er das nicht mehr ruhig mitansehen können. Mochten diese Ungläubigen alle, Iwan Iwanowitsch an der Spitze, nie ins Paradies kommen, weil sie nicht Schiiten waren, die Frauen behandelten sie viel besser als die Rechtgläubigen, das war gewiß. Seitdem er das gesehen, täglich gesehen seit zwei langen Jahren, hätte er nicht mehr auf persische Art leben können. Wenigstens in der Beziehung nicht. Gewiß, wenn Iwan Iwanowitsch einmal betrunken war, was an jedem Feiertag geschah, also sehr oft, prügelte er seine Frau. Aber sonst hatte sie ein gutes Leben, ein sehr gutes Leben und wenig Arbeit.
Plötzlich hob Ter den Kopf und lauschte. Er vernahm Pferdegetrappel vom nahegelegenen Walde her. Er öffnete die Einfahrt und spähte hinaus. In gemächlichem Trab näherten sich seine Herrin und der Besuch, der seit drei Tagen hier war, der Villa. Viktor sprang vom Pferd und half Olga aus dem Sattel, die mit einem freundlichen Kopfnicken an ihm vorbei zu Ter trat, der sie mit seinen großen, schwarzen Augen und glühenden Wangen, die Arme über der Brust zum Gruß gekreuzt, erwartete. Er schwärmte für seine junge Herrin und war ihr wie ein Hund ergeben. Sie legte dem jungen Perser freundlich die Hand auf die Schulter: »Nun, Ter, hast du dich geängstigt?« fragte sie lächelnd. »O, o, nein, nein Herrin!« Er sah auf Viktor.
Olga wandte sich zu Viktor: »Darauf können Sie stolz sein, Vetter, daß Ter Sie für einen guten und ausreichenden Schutz für mich hält, sehr stolz.« Ter sah aufmerksam auf die beiden, die er nicht verstand, da Olga zu schnell gesprochen. Liebte seine Herrin am Ende diesen Mann? Ach was, seine Herrin und der! Sie war viel zu stolz, viel zu hoch und erhaben in seinen Augen, als daß er ihr im Ernst so etwas zugetraut hätte. Sie zu schützen, dazu reichte der große, blonde Besuch aus. Er hatte so kühne blaue Augen. Sie war gut bei ihm aufgehoben. Ter griff beruhigt nach dem Zügel der Stute, die Olga geritten, und führte sie vorsichtig zum Stall. Äußerst vorsichtig und liebevoll. Iwan Iwanowitsch amüsierte sich immer wieder über das Getue Ters mit dieser Stute, denn er kannte natürlich wie jeder in der Villa die hingebende Schwärmerei des jungen Persers für die Tochter des Hauses. Jeden Tag, wenn Ter mit dem Pferd ankam, ärgerte er ihn. »Was sie wieder so dumm daherkommt, die Mähre!« schrie er schon von weitem. Wütend ballte Ter die Fäuste und wurde dunkelrot im Gesicht vor Zorn über solche Verleumdung, denn es war ein sehr schönes Tier mit zarten, schmalen, aber festen Gliedern, großen, schwermütigen Augen und langem, schmalem, stark geädertem Kopf, einem »trockenen« Kopf, wie der Perser einen solchen nennt, weil kein Fleisch an ihm sein darf. »Gib her«, rief der Kutscher und griff nach dem Zügel. Aber Ter fauchte ihn mit einem kräftigen persischen Fluch an und gab den Zügel nicht aus der Hand. Dies Pferd besorgte er selbst. Iwan Iwanowitsch war so oft betrunken, da vertraute er es ihm nicht an. Er konnte ihm einen Schaden zufügen. Überhaupt verstand dieser Ungläubige so wenig wie die andern mit Pferden umzugehen, diesen edelsten Tieren, die Allah absichtlich so klug geschaffen zum Heil der dummen Menschen. Er klopfte dem Tier liebkosend die Mähne, während er es in den Stall führte. »Ja, ja, du rettest die Seele aus jeder Gefahr, ja, ja, mein schwarzes Lieb, mein teures Tier.« Die Stute strich liebkosend die Stirn an seiner Schulter, während Ter sie vorsichtig abrieb. »Du bist gut, du bist klug, du trägst die Herrin sicher, dir kann ich trauen.« Die Stute wieherte leise und scharrte mit dem Huf, als wenn sie ihn verstände. »Ter«, sagte der dicke Kutscher, »gib dir keine Mühe, sie versteht kein Persisch, es ist ein russisches Pferd.« – »Versteht doch Persisch, ist klug, sehr klug.« Wieder wieherte das Tier. »Hör', wie gut es mich versteht.«
Iwan Iwanowitsch lachte und nahm Viktors Pferd in Empfang, der es selbst bis zum Stall geleitete, nachdem er sich von seiner Cousine verabschiedet, die ins Haus geeilt war, um vor dem Frühstück noch ein wenig Toilette zu machen. Dann zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte gemächlich über den Kies tiefer in den Garten. Er lächelte leise vor sich hin, während er bedächtig seine Zigarette genoß. Wenn doch sein Vater hier wäre, wenn der doch Rußland sähe und seinen Bruder, den Lederhändler! Würde er Augen machen! Viktor lachte laut auf, weil ihm das Gesicht seines alten Herrn plötzlich so deutlich vor den Augen stand. Würde der sich wundern. Schon diese Zigarette! Er betrachtete sie wohlgefällig. So was gab's einfach in Deutschland nicht. Und dann der Kaviar! Und überhaupt die Sakuska, die Vorspeisen, und die Fische, die Diners. Von so etwas hatte man bei Ganderns daheim keine Ahnung, nicht die Spur von einer Ahnung. Und der Luxus hier in den deutschen Familien. Haha, und erst der Onkel, der Lederhändler! Viktors Blicke schweiften entzückt über das große Besitztum.
Es war Ende April. Da lebte man hier in günstigen Jahren, wie dies eins war, schon auf dem Land! Bei ihm zu Hause lag wohl noch alles im Winterschlaf, in Schnee und Eis. Und die Wälder ringsum. So nahe bei Moskau und doch so groß und wild. Er hatte sogar Wölfe in der Ferne heulen hören. Stunden und Stunden konnte man reiten, keine Reitwege, sondern wirklich durch die Natur, über Bäche, Felder, durch Wiesen und Wälder. Keinen Menschen traf man. Diese wunderbare Stille weit und breit, kaum einmal unterbrochen durch das heisere Bellen eines Wolfes. Dabei immer der stille Reiz tief im Herzen: jetzt kann dich einer anfallen, jetzt mußt du dich deiner Haut wehren, deine Dame schützen. Viktor atmete hoch auf und sog mit tiefem Behagen die würzige frische Luft ein, die von den Wäldern ringsum kam. Herrlich war es, einfach herrlich. Solchen Ritt und solche Pferde und eine Reiterin wie Olga, das gab es in Deutschland nicht, absolut nicht. Wenn sein Vater wüßte, wie es ihm hier gefiel. Haha, würde der sich wundern. Er dachte es sich doch sozusagen als eine Strafe, daß er seinen Sohn nach Rußland geschickt hatte. Hier sollte er Buße tun für seine Schulden und dafür, daß er die kleine Brunek nicht heiraten wollte. Eine solche Strafe ließ er sich gefallen. Dabei eine solche Cousine. So ein schönes, aschblondes, großes Mädchen! Eine echte Gandern, aber freier erzogen, als es in Süddeutschland Mode war, selbständig, fabelhaft selbständig, und doch so weiblich, so weich. Viktor sah nachdenklich vor sich hin. Manchmal, auf diesen Morgenritten besonders, sah sie so selbstvergessen, sehnsüchtig ins Weite, und wenn er dann ein Wort sagte, schrak sie ordentlich zusammen und hatte ihre Not, sich für seine Worte zu interessieren. Er merkte das wohl. Es kostete sie Mühe, aus ihrer Welt zu ihm aufzutauchen. Sie war so zerstreut, wenn er in solchen Augenblicken zu ihr sprach. Und sie sah ihn dann oft so eigentümlich an. Wie einer, der aus einem Traum aufgeschreckt wird und sich nur mühsam ins wirkliche Leben zurückfindet. Auch im Haus fiel ihm diese innere Abwesenheit oft auf. Ihre Eltern bemerkten das ebenfalls. Aber sie ließen sie ruhig gewähren, tauschten nur stille Blicke miteinander. Onkel Philipp, der gerne neckte, der überhaupt viel sprach, bekam dann einen ganz sonderbaren Gesichtsausdruck. So weich und wehmütig sah er sein Mädchen an, ohne daß sie es in ihrer tiefen Versunkenheit merkte. Und es hatte für Viktor etwas Rührendes, wenn er sah, wie der Onkel, wenn Olga gar zu lange stumm, verträumt dasaß, so daß es für den Gast, für die Diener auffällig wurde, vorsichtig die Tochter wieder zum Sprechen brachte und für den Augenblick zu interessieren suchte. Er behandelt sie wie eine Nachtwandelnde, die man nicht laut anrufen darf, dachte Viktor, sonst geschieht irgendein Unglück. Was ihr nur zugestoßen sein mochte? Eine unglückliche Liebe? Aber, mein Gott, ein Mädchen wie Olga, das liebt gewiß nicht unglücklich. Er vergegenwärtigte sich ihre hohe, schlanke, edle Gestalt, das weiche, träumerische Gesicht. Wer sollte einem solchen Wesen widerstehen können? Nein, das konnte es nicht sein, das war unmöglich.
Überhaupt, irgend etwas stimmte nicht in dem Haus. Das fühlte er ganz deutlich, ohne zu wissen, was es sein könnte. Die Tante, eine immer noch schöne, stattliche Dame, sah oft aus, als laste ein schwerer Kummer auf ihr. Ihr bleiches Gesicht, das in jungen Jahren von herber, antiker Schönheit gewesen sein mußte, war zuweilen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, wenn Viktor unvermutet ins Zimmer trat, in dem sie allein gewesen, von einer tiefen, stummen Trauer erfüllt. Einmal hatte er sie sogar überrascht mit Tränen in den Augen. Es war ihm schon deshalb unvergeßlich und hatte ihm einen besonders starken Eindruck gemacht, weil sie so still über das bleiche Antlitz rollten, ohne daß dieses selbst irgendwie anders, irgendwie verändert oder entstellt aussah. Wie bei einem Brunnen das Wasser überfließt, weil zu viel da ist, weil er die Fülle nicht mehr tragen kann, so flossen diese Tränen über das Gesicht. Er war sofort wieder hinausgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Auch die Lustigkeit des Onkels kam ihm zuweilen recht gezwungen vor. Er wollte lustig sein, auch wenn er gar nicht mochte. Und wie ihn dann die Tante manchmal ansah. So weh lächelnd und zugleich so dankbar. Und wenn sie ihm dann still die Hand reichte, die er stumm küßte, schwand alles Lachen aus seinem Gesicht und machte einer schweren Sorge Platz. Was für ein Gespenst ging nur in diesem scheinbar so glücklichen Haus um?
Er seufzte plötzlich laut. Er hatte ja auch seinen eigenen Kummer. So viel er sich auch in diesen Tagen in Moskau umgeschaut, von Herrn Müller hatte er nichts zu sehen bekommen. Einmal, im Kreml, glaubte er schon, Herr Müller käme durchs heilige Tor. Aber als er dann genauer zusah, war es ein gleichgiltiger Fremder, mit einem Baedeker bewaffnet und einer großen Brille. Und sonderbar, wenn er Olga ansah, mußte er unwillkürlich an die Dame im Zug denken. Beide sahen sich nicht im geringsten ähnlich. Olga war blond, noch größer, schlanker, jene Dame tief schwarz, nicht so groß und ... und überhaupt ganz anders, sagte sich Viktor. Olga war weich, verträumt, anschmiegend, jene andere energisch, stark, selbständig. Schöner noch als Olga, sagte sich Viktor, und sein Herz wurde unruhig, so oft er an sie dachte, und das geschah nicht selten. Er sah wieder die Gepäckträger und die verkleideten Gendarmen vor sich, den berüchtigtsten Polizeidetektiv Rußlands ins Abteil steigen, offenbar doch, um sie und Herrn Müller zu suchen und festzunehmen, denn sonst wäre das ganze Benehmen dieses Herrn, als der Zug sich Moskau näherte, ganz unverständlich gewesen. Eine große Angst kam über Viktor. Wer weiß, ob der Detektiv sie nicht doch noch erwischt hatte. Wer weiß, ob sie nicht schon in der Peter-Paulfestung saß, bereit zur Verschickung nach Sibirien? Viktor stöhnte laut auf vor Entsetzen, während seine Phantasie ihm keine Ruhe gab, sich das immer breiter, immer schrecklicher auszumalen. Er hatte ja so manches über russische Gefängnisse, er hatte Kennans Buch über Sibirien, Dostojewskis »In einem toten Haus« und »Raskolnikow« gelesen. Er schauderte zusammen. Aus solchen Gedanken wurde er jäh aufgeschreckt durch die weithin hallenden Töne des Gong, das zum Frühstück rief. Eilig wandte er sich dem Haus zu.
Die Familie war schon anwesend, machte aber einen sehr gedrückten Eindruck, als Viktor eintrat. Die Tante hatte sogar geweint, wie er wohl bemerkte an den geröteten Augenlidern. Der Onkel nahm ihn hastig beiseite und flüsterte: »Wundere dich nicht und frage bitte nicht jetzt, Tante ist so erregt, es würde sie zu sehr angreifen, wenn ich dir jetzt gerade unsern Kummer erzählte. Eigentlich wollte ich es heute morgen tun, aber da wart ihr schon weggeritten. Nachher, wenn wir allein sind, sollst du nicht länger im Unklaren bleiben.«
Viktor nickte und trat zum Frühstückstisch. Er war etwas anders gedeckt als sonst, wie ihm sofort auffiel. Neben seiner Tante Platz war ein Gedeck gelegt, davor ein Stuhl gestellt, ein Platz, der sonst leergehalten wurde, was Viktor schon öfter aufgefallen, da dieser absichtlich freigehaltene Platz, über den niemand ein Wort verlor, fast etwas Gespenstiges hatte. Zuerst glaubte er an ein Versehen. Dann merkte er, daß es absichtlich geschah. Und jeden Morgen, wenn er hereinkam, stutzte er einen Augenblick. Was das nur heißen sollte? Heute war an dem Platz gedeckt und beim Service prangte in einem edlen, wundervoll geschliffenen Glas ein üppiger Strauß roter Rosen. »Erwartet ihr denn einen Gast?« fragte Viktor. Die Tante wurde etwas bleicher, Olga senkte den Kopf, der Onkel machte ein sehr verlegenes Gesicht. »Ach verzeiht, ich konnte nicht wissen ...« stammelte Viktor. Die Tante reichte ihm die Hand und erwiderte: »Freilich nicht, verzeihen Sie, daß wir Sie noch nicht aufgeklärt haben. Aber der Onkel hat wohl schon gesagt, daß ich es nicht vertragen kann, wenn davon in meiner Gegenwart gesprochen wird, da es mich zu sehr angreift. Gewiß erwarten wir einen Gast, Tag für Tag, und heute an seinem Geburtstag ganz besonders ... Aber er kommt nicht, er kommt immer noch nicht«, klagte sie und sah unwillkürlich zur Tür, als könne sie den Erwarteten zwingen, jetzt dort einzutreten. Ihre Hand fiel vom Tisch, sie wandte sich einen Augenblick ab, um ihrer Bewegung Herr zu werden.
Alle schwiegen. Viktor dachte, um einen Toten kann es sich nicht handeln, denn den erwartet man nicht mehr. Vielleicht war noch ein Kind da, ein Sohn, der auf Abwege geraten, dem man nachtrauerte, dessen Rückkehr man herbeisehnte. Die Bruneks fielen ihm plötzlich ein, wo es zuweilen auch eine solche Stimmung gab, weil man des verschollenen Sohnes gedachte. Teilnehmend blickte Viktor auf die zarte Gestalt der immer noch schönen, alternden Frau. Ihr Haar war grau, wieviel Gram lag in den Händen, um die Mundwinkel! Daß er auch so wenig von des Onkels Familienverhältnissen wußte. Sein Vater sprach ja nie davon. Er hatte diesen Bruder längst aus der Liste der Lebenden gestrichen. Schon deshalb mochte er, seitdem er hier war, nie nach derlei fragen, um sich keine Blöße zu geben, um nicht zu zeigen, wie wenig man sich bei ihm zu Haus um diese Verwandten gekümmert hatte. Es war eine peinliche Situation. Da half Olga, indem sie von ihrem Morgenritt zu erzählen begann. Der Onkel erkundigte sich auch geflissentlich nach diesem und jenem. Auch die Tante faßte sich wieder. Der Samowar summte, leise ging der Diener ab und zu, die Frühlingssonne sah mild durch die hohen Scheiben. Das Ganze hätte ein Bild vornehmen Behagens und Friedens geboten, wäre nicht der leere Stuhl gewesen und das unbenutzte Gedeck mit den duftenden Blumen. Plötzlich erschien ein Diener mit erregtem Gesicht, beugte sich zu dem Herrn und flüsterte ihm etwas zu. Der Onkel fuhr sichtlich zusammen.
»Was gibt es denn?« fragte Frau Sidonie verwundert.
»Nichts, gar nichts«, erwiderte Onkel Philipp hastig, ohne seine Erregung ganz unterdrücken zu können. »Nur, weißt du, Iwan läßt mir sagen, mein Pferd, mein Lieblingspferd, es ist krank.«
»Ist denn das so eilig und dringend gerade jetzt?«
Der Onkel erhob sich. »Gewiß, Sidi, entschuldige mich einen Augenblick, ich komme gleich wieder.« Er eilte hinaus. Olga und Viktor sahen sich erstaunt an Sie konnten nicht recht daran glauben, es schien ihnen wie eine Ausrede. Tante Sidonie aber lächelte, wandte sich an Viktor und meinte: »Sehen Sie, wie er ein Deutscher geblieben ist, das hat er noch von Haus. Ein Pferd, ein krankes Pferd, und gar sein Lieblingspferd, da hält ihn niemand.«
Olga und Viktor plauderten, aber beide warfen ab und zu einen verstohlenen Blick zur Tür.
»Was habt ihr denn, Kinder?« fragte Frau Sidonie, »was seht ihr denn immer nach der Tür?«
»O nichts, gar nichts«, beeilten sich beide zu erwidern, mußten aber wieder zur Tür blicken. Warum nur? fragte sich Viktor, der fühlte, wie seine Erregung wuchs. Ach was, dachte er dann, Tante hat ganz recht, sich über uns zu wundern, und daß ich etwas nervös bin, ist weiter auch nicht erstaunlich, die Rosen duften so stark, sie erinnern mich an das Gespenst in diesem Haus, das ich nicht kenne, das ich mir deshalb möglichst schrecklich ausmale.
Onkel Philipp öffnete die Tür und rief: »Olga, bitte komme doch einen Augenblick. Nein, Sidi, bleibe du nur ruhig, es ist weiter nichts, ich möchte nur Olga mit bei dem Tier haben«, fügte er etwas unsicher hinzu. »Wir kommen gleich wieder, Sidi!« Olga war sehr blaß geworden und verließ das Zimmer.
Nun wurde auch die Tante etwas erregt, eine leichte Röte stieg in ihr schmales Gesicht, am liebsten wäre sie auch aufgestanden, hinausgegangen. Doch nein, das war ja Torheit, was ihr durch den Kopf schoß. Torheit! Wenn Manja wiederkäme, würde es ganz anders sein. Sie wußte das ganz genau. Unzählige Male hatte sie es sich ausgemalt, und weil sie das so oft getan, glaubte sie fest daran, daß es sein würde, wie sie es sich ausgemalt. Plötzlich würde ungestüm die Tür auffliegen, Manja lachend, weinend hereinstürmen, die Mutter in ihre Arme pressen, so fest und gewaltsam, daß es ihr weh tat. Sie besaß ja nun einmal diese stürmische, kräftige Art. Die Mutter lächelte unwillkürlich. Wie gut sie diese Art kannte. Wie oft hatte ihr Liebling ihr fast körperlich weh damit getan. Wie gern möchte sie das wiederfühlen!
Viktor saß stumm, es schien ihm, als dufteten die Rosen stärker, immer stärker. Da draußen ging irgend etwas vor, was mit dem Kummer im Hause in Zusammenhang stand, das spürte er deutlich, das glaubte er fest und sicher. Nur, nur, was? Das wußte er nicht. Hoffentlich nichts Schlimmes, nichts Schreckliches. Da öffnete sich die Tür wieder.
Frau Sidonie fuhr auf und stieß einen leichten Schrei aus, denn sie kannte das Gesicht ihres Mannes zu genau, um es nicht deuten zu können. »Manja!« rief sie. »Was ist ihr geschehen?«
»Beruhige dich, Mutter!« rief Olga und stürzte in ihre Arme, »nichts Schlimmes, gar nichts Schlimmes!« Und sie hielt ein Stück Papier in die Höhe, nach dem die Mutter hastig griff.
Auch Onkel Philipp trat auf seine Frau zu, und hinter ihm näherte sich langsam, schüchtern, verwundert Ter, der kleine Perser. »Versteh' nicht, weiß nicht«, stammelte er auf Deutsch und blickte ängstlich von einem zum andern.
Endlich hatte Frau Sidonie den Zettel gelesen, und weil sie sich nicht satt daran lesen konnte, las sie ihn vor. »Liebe Mama! Der Zufall gibt mir eine schöne Gelegenheit, Dir einen Gruß zu senden. Es geht mir sehr gut, Du brauchst Dich gar nicht um mich zu ängstigen. Alles verläuft sogar besser, als ich es je geträumt, gehofft. Der Bewußte steht mir getreulich zur Seite. Es ist eine Lust, so zu leben und zu helfen. Also bitte, bitte, liebe Mama, rege Dich nicht auf, es ist gar nicht nötig. Einen heißen Kuß Dir und Olga und dem Papa – der Bewußte, dumm wie alle Männer, weigert sich, eine Zeile beizufügen. Er tät' es aber doch, liebe Olga, wenn er nicht so stolz wäre. Hörst Du, Olga? Immer Eure Manja.«
Frau Sidonie sank in ihren Stuhl.
»Ich weiß nicht, ich kann nicht dafür«, stammelte Ter, erschrocken über diese Tränen, und blickte ratlos von einem zum andern.
Philipp von Gandern räusperte sich energisch und sagte: »Jetzt wollen wir einmal ganz ruhig die Sache untersuchen.« Er blickte den Perser an: »Also, Ter, erzähle nochmals den Hergang, aber bleibe genau bei der Wahrheit, hörst du!«
Ter kreuzte die Hände über die Brust und sagte leicht gekränkt: »Lüge ich nicht, Sahib, lüge ich nie.« Man sah ihn erwartungsvoll an, ohne auf seine Beteuerung großen Wert zu legen. »Habe ich Kleider gereinigt«, fuhr Ter fort. »Draußen in Sonne, weil war schönes Wetter, und ist Sonne gut für Kleider, wie meine Mutter sagt zu Hause in Kalassar.« – »Weiter, weiter«, unterbrach Herr von Gandern ungeduldig, denn obwohl er die Erzählung schon zweimal angehört, hoffte er nun endlich den Punkt zu finden, durch den sich das Geheimnis lüften, erklären ließ. »Waren Kleider von dir, Sahib«, er deutete auf Philipp von Gandern. »Und waren Kleider von dem Sahib«, er deutete auf Viktor. »Habe ich stark geklopft, immer stärker, war viel Staub in Kleidern und Mäntel, wurde fast die Sonne dunkel vor soviel Staub.« »Weiter, weiter«, drängte Herr von Gandern wieder. »Als Staub vergangen, nehme ich Kleider auf, liegt ein Brief auf Boden, steht Adresse russisch darauf, lese ich und schreie, schreie laut, denn weiß ich, seh ich, ist Brief von Herrin Manja, welche ist fort, Armen zu helfen. Schrei ich und schrei ich. Kommt Iwan Iwanowitsch, will mich schlagen, weil ich schreie, und Katinka, seine Frau, will auch schlagen, die immer schläft. Sie schreit, hätte ich sie aufgeweckt, und schilt und greift nach mir. Halte ich Brief hoch, ganz hoch. Iwan Iwanowitsch fängt auch an zu rufen, reißt mir Brief fort, küßt ihn, reißt ihn Katinka fort, küßt auch, kommen andre, ist viel Lärm, sagt Wassil: ›Man muß den Herrn rufen‹, und läuft weg.« Ter schwieg erschöpft von der Anstrengung.
»Und hast du niemand gesehen, der den Brief dir zugeworfen haben könnte?« fragte Herr von Gandern.
»War niemand, nur Staub. Ist Brief vom Himmel gefallen, Allah il Allah!« fügte Ter gläubig hinzu und sah ehrfurchtsvoll auf den Sahib, daß ihn Allah eines Wunders gewürdigt.
»Aber das ist doch Torheit«, warf Viktor ein, der dem Bericht des Persers mit großem Interesse gefolgt war. »Wunder gibt's schwerlich, selbst in Rußland wohl nicht. Am einfachsten wäre die Erklärung,« fügte er gedankenvoll hinzu, »wenn der Brief aus einem der Kleidungsstücke gefallen wäre.«
»Aber wie sollte er da hineinkommen?« fragte Frau von Gandern erregt.
Viktor sprang auf, errötete und setzte sich gleich wieder.
»Was ist denn?« fragte sein Onkel erstaunt. »Du wolltest doch etwas sagen?«
»Allerdings«, erwiderte Viktor. »Mir schoß plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Aber nein, so kann es nicht sein, es wäre zu sonderbar, zu sonderbar.« Er sah träumerisch vor sich hin.
»Geh, Ter, wir brauchen dich im Augenblick nicht«, sagte Herr von Gandern. Ter verneigte sich und verließ das Zimmer.
»Nehmen wir einmal an, du hast recht, daß der Brief aus einer Tasche fiel. Aus einem meiner Anzüge kann er nicht gefallen sein. Es waren lauter Sachen, die seit Wochen nicht getragen wurden. Auch pflege ich stets am Abend meine Taschen auszuleeren«, sagte Onkel Philipp.
Viktor wollte reden, stockte etwas verlegen, fing aber dann doch an. »War mein Pelz unter den Kleidern, die gereinigt wurden?« Der Onkel verneinte. »Mein brauner Überzieher, den ich auf der Reise anhatte?« – »Allerdings«, erwiderte Onkel Philipp.
Viktor sah wieder eine Weile vor sich hin, während die andern gespannt an seinen Lippen hingen.
»Sind Sie auf einer Fährte, sehen Sie eine Möglichkeit?« unterbrach Olga die Stille.
»Allerdings«, erwiderte Viktor und blickte seine Cousine aufmerksam an. »Wenn mir auch trotzdem die ganze Sache nicht klarer wird, wenigstens nicht viel.« Wieder betrachtete er aufmerksam die Cousine. Ähnlich sahen sich Olga und die Dame, mit der er gefahren, nicht, gar nicht. Aber schließlich, das bewies noch nichts. Geschwister gleichen einander ja oft nicht.
»Erzählen Sie, Viktor«, bat Frau von Gandern leise.
»Nun ja, eine Möglichkeit wüßte ich, um die Geschichte zu erklären. Als ich meinen Überzieher neulich ablegte, schien es mir, als knistere etwas in seiner Brusttasche. Ich dachte noch: Wie sonderbar, sollte da ein Brief sein? Aber du trägst doch sonst keine Briefsachen an dieser Stelle. Es war, wie gesagt, nur ein Augenblick, daß es mir auffiel. Dann vergaß ich's wieder sofort, ohne überhaupt erst nachgesehen zu haben. Gleich alle die neuen Eindrücke hier. Seitdem hab' ich den Überzieher nicht mehr benutzt. Und erst jetzt erinnere ich mich wieder an die Sache.«
»Dann müßtest du ja aber doch wohl mit Manja zusammengewesen sein«, meinte skeptisch der Onkel.
Wieder musterte Viktor seine Cousine. »Ich fuhr von Minsk an mit einer Dame und einem Herrn. Beide waren recht freundlich zu mir.«
»Wie sahen sie aus?« fragten Onkel, Tante und Olga in einem Atem.
»Ja, die Dame kann ich euch schlecht schildern«, antwortete Viktor, vor sich hinblickend. Er hatte ja nur ganz kurz ihr Antlitz gesehen. Freilich hatte es sich ihm so eingeprägt, so unauslöschlich, daß er es hätte sofort niederzeichnen können, wäre er Maler gewesen. Aber das wollte er nicht beschreiben. Es war ihm, als würde er damit etwas von seinem besten Geheimnis preisgeben, als müßten die andern dann merken, was er empfand, wenn er an diese Dame dachte ... Und sie sollte seine leibliche Cousine sein? Das war unmöglich, das durfte nicht sein. Denn dann, dann? Seine Gedanken verwirrten sich immer mehr, waren gar nicht mehr bei dem, was seine Verwandten so interessierte.
»Aber den Herrn können Sie uns vielleicht beschreiben?« fragte Frau von Gandern mit einem leichten Seitenblick auf Olga, die etwas verlegen zu sein schien, als Viktor aufsah. »Freilich, den kann ich euch ziemlich genau schildern«, meinte Viktor und tat es. Was ist nur mit Olga? dachte er, während er sprach, sie schaut fast verstört drein. Ob ihr die Geschichte so nahe geht? »Stellte sich der Herr dir vor?«
»Müller nannte er sich, aber ich zweifelte keinen Augenblick, daß er anders heißt.« Viktor mußte lächeln. »Weiß der Henker, ich bin gewiß ein ganz guter Demokrat, wie viele von uns da unten in Süddeutschland, aber Müller kann er nicht geheißen haben.«
»Du hast ganz recht. Für mich besteht gar kein Zweifel, es war Herr von Rohden, ein Balte, der früher viel bei uns verkehrte.«
»Er sagte, er kenne Süddeutschland«, warf Viktor ein.
»Ganz recht, das hat er uns auch erzählt. Doch haben wir nicht weiter gefragt, da ihm das nicht angenehm zu sein schien«, sagte der Onkel. »Überhaupt,« er seufzte, »er hat offenbar manches auf dem Kerbholz.«
»Das weißt du wirklich nicht, Papa«, warf Olga ein.
»Aber daß er einer der wildesten Lebemänner hier war, das weiß ich«, brummte der Onkel unwillig. »Ein ganz toller Kerl!«
»Aber jetzt«, warf Frau von Gandern ein.
»Wollen's abwarten, wie lange es dauert«, knurrte Onkel Philipp und schielte zu seiner Tochter hinüber, die bleich geworden war.
Viktor schöpfte tiefer Atem. »Einen Augenblick sah ich auch die Dame ohne Schleier«, sagte er, denn nun wollte er selbst Gewißheit haben. Er schilderte sie.
»Sie ist's, sie ist's!« jubelte Olga.
»Und die Hand hat sie Ihnen gegeben?« sagte Frau von Gandern und nahm Viktors Rechte in die ihre. Leicht strich sie plötzlich darüber hin, als könne sie von dem Händedruck noch etwas verspüren.
»Auch sieht ihr der Streich ganz ähnlich, dir heimlich ein Briefchen in die Tasche zu bugsieren. Solche Streiche hat sie immer geliebt«, brummte Onkel Philipp.
Und nun mußte Viktor erst recht erzählen, wie sie ausgesehen, was er wohl glaube, wie sie sich fühle, wie es ihr ginge. Viktor erzählte alles, was ihm irgend im Gedächtnis haftete. Es wurde ihm nicht schwer, denn diese Begegnung war ja für ihn in allen ihren Einzelheiten unvergeßlich. Gerade jetzt, wo er alles wiederholte, sah er es selbst, manchmal nicht ohne Verwunderung, aber auch nicht ohne leisen Schmerz, es war ja seine Cousine. »Aber sie sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Olga«, fuhr es ihm plötzlich heraus.
»Es ist ihre Stiefschwester,« sagte Frau von Gandern, »aus meiner ersten Ehe.«
»Aber kein leibliches Kind könnten wir lieber haben!« rief der Onkel.
Viktor fühlte, wie auf einmal sein Blut wieder fröhlicher durch die Adern lief und eine große Erleichterung über ihn kam, und da man wieder in ihn drang, fing er wieder an zu erzählen. Viel farbiger, viel freudiger als bisher. Er wollte gerade die sonderbare Ankunftsszene in Moskau breit und mit allen Einzelheiten berichten, da bekam Onkel Philipp einen solchen Hustenanfall, daß Viktor erschrocken aufsprang; und da der Husten nicht aufhörte, trat er besorgt zu dem Onkel. »Dummkopf!« flüsterte der, »Mund halten! Daß du dich nicht unterstehst, davon zu sprechen.«
»Und wie war das, als ihr ankamt?« fragte Frau Sidonie mit glänzenden Augen.
»O, nichts Besonderes«, erwiderte Viktor. »Die beiden stiegen sehr schnell aus und wurden von einer Masse Leute geleitet.«
»Und ich stand in der Nähe«, knurrte der Onkel, der sich schon wieder von seinem Husten erholt hatte.
»Vielleicht ist sie noch hier in Moskau«, sagte Frau Sidonie und starrte schmerzlich ins Weite. »Hier in der Nähe, atmet dieselbe Luft mit uns und bleibt uns doch so fern.«
»Sorgen genug hat sie uns ihr Lebtag gemacht, das weiß der Himmel«, seufzte der Onkel und blickte bekümmert auf seine Frau. Sie stand auf, schlang die Arme um ihn und meinte: »Du mußt so viel Geduld haben mit mir ...«
»Mit dir?« fiel der Onkel ein. »Mit dir? Nicht die Spur.«
Frau Sidonie lächelte leicht. »Gewiß, Lieber, mußt du das. Ich weiß das ganz gut. Schon, daß es mit der Freude bei mir nicht mehr weit her ist, daß du so selten eine heitere Frau hast.«
»Na, na«, unterbrach Philipp. »Mach's nicht ärger, als es ist. Bist wahrlich tapfer genug.«
Frau Sidonie strich ihm über die Stirn. »Ich weiß, wie schwer dir das ist, Guter, diese Atmosphäre jetzt bei uns, der du Leben und Freude so gern um dich hast.«
Philipp küßte seiner Frau still die Hand. Sie fuhr fort: »Aber nicht wahr, du hast auch weiter noch Geduld, auch mit Manja.«
»Gewiß, gewiß. Doch freilich –« Philipp strich sich leicht über die Stirn, »ich hätte nichts dagegen, sie käme bald. Sonst ...« Er brach ab, er mochte das nicht laut sagen, was ihm in letzter Zeit viel Sorgen bereitete, wenn er auf seine Frau sah. Sonst ist's vielleicht zu spät, hatte er sagen wollen. Seine Frau verstand ihn recht gut, auch die andern beiden ahnten seine Sorgen. »Komm, ich führe dich auf dein Zimmer«, sagte er und geleitete Sidonie in den ersten Stock.
»Aber ich begreife nicht, wie konnte Ihre Stiefschwester ...? Und was treibt sie denn nun eigentlich!?«
»Sie haben ganz recht, so zu fragen,« erwiderte Olga, »und Sie haben auch ein Recht, daß Sie endlich die rechte Antwort erhalten. Sonst denken Sie am Ende, Gott weiß was.«
»Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar ...«
»Aber es ist keine kurze Geschichte, denn damit Sie alles und vor allem Manja recht verstehen, muß ich ein wenig weit ausholen.«
Viktor lächelte. Was konnte ihm lieber sein, als aus Olgas Mund recht viel über ihre Stiefschwester zu erfahren.
»Vielleicht gehen wir lieber ins Freie. Die Luft hier ist so trüb, die Blumen duften so schwer und traurig.«
Die beiden begaben sich in den Garten. Jenseits der Tannen schlängelte sich ein kleines, lustiges Gewässer. Dahin lenkten sie ihre Schritte.
»Wie begeistert Ter Ihnen nachschaut«, meinte Viktor.
»Da hätten Sie ihn erst einmal sehen müssen, als Manja noch hier war. Wir zogen sie gar manchmal damit auf, daß all diese Leute so unglaublich an ihr hingen. Wenn sie gesagt hätte: Ter, spring ins Wasser und ertränke dich für mich, er hätte es sofort getan. Sogar Iwan strahlte übers ganze Gesicht, wenn sie an ihm vorbeiging. Sie hat ihm einmal Vorstellungen gemacht wegen seines Trinkens. Er hat sich vor ihr gewunden vor Scham und Unglück und wahrhaftig acht Tage keinen Schnaps angerührt. Sogar Katinka vergaß das Schlafen, wenn sie Manjas Schritte hörte. Und wie mit denen ging es mit allen andern. Auch bei den Tieren war's nicht anders. Wir hatten bis vor einem Jahr eine furchtbar böse Dogge. Der Diener, der sie nachts losließ, und der, der sie am Morgen wieder anbinden mußte, zitterten vor Angst, weil das Tier tückisch, bösartig und gewaltig stark war. Sogar nach dem Vater hat es einmal geschnappt. Kam Manja, war das Tier wie ein Lamm. Es ließ sich schelten, sogar strafen von ihr, wenn auch unter Knurren. Schließlich versorgte sie die Dogge allein, weil sich niemand anders mehr an sie heranwagte und wir sie doch nicht weggeben mochten, da Mama sehr an dem Tier hing, das ihr einmal das Leben gerettet, als bei ihr eingebrochen wurde, kaum, daß ihr Mann gestorben war.«
»Er starb früh?«
»Sie waren kaum zehn Jahre verheiratet.«
Etwas leiser fuhr Olga fort: »Besonders schrecklich war es, als Manja eines Abends, nachdem sie uns nach schweren Kämpfen mitgeteilt, sie könne nicht anders, sie müsse tun, was ihr das Gewissen gebiete, wirklich uns verließ. Es waren überhaupt furchtbare Zeiten. Was haben wir alle damals gelitten, besonders Mama, und ach, Manja selbst wohl am meisten. Die ganze Nacht unaufhörlich heulte die Dogge, sprang von einem Gitter zum andern, zerrte daran herum und war nicht zu beruhigen. Am andern Morgen erbot sich Ter, sie an die Kette zu legen. Die Dogge biß ihn in den Arm, aber er hielt sich tapfer und legte die Dogge fest. Das Tier nahm von dem Tag an keine Speise mehr, lief meist unruhig an seiner langen Kette auf und ab, horchte, sah drüben nach dem Wald, fing wütend an zu bellen, lauschte wieder und lief aufs neue hin und her, rastlos, Stunde um Stunde. Am Abend mußten wir sie an der Kette lassen, da sie niemand an sich heranließ. Wieder begann das Heulen, es ging in langgezogenes Klagen über. Entsetzlich war es. Die ganze Nacht. Und am Tag wieder das rastlose Hin- und Herpendeln. Dabei verweigerte sie jede Nahrung. Nach drei Tagen konnten wir es nicht mehr mit ansehen, mit anhören. Mama selbst bat schließlich darum, und so wurde das Tier von seiner Pein erlöst, erschossen.«
Olga brach ab, denn die Erinnerung an jene ersten Tage nach Manjas Fortgehen überwältigte sie.
»Merkwürdig ist nur,« hub sie nach einer Weile wieder an, »daß Manja gar nicht besonders leutselig war, oder wie ich's nennen soll. Auch hatte sie eigentlich nie etwas sehr Sonniges, Heiteres, meist war sie sogar ernst, ein wenig zur Schwermut geneigt. Aber jeder fühlte, daß sie ein Herz für ihn hatte, daß er mit allen Sorgen zu ihr kommen konnte. Schon das ist etwas Großes. Früher nannten wir sie manchmal im Scherz den lebendigen Beichtstuhl. Aber es war nicht einmal richtig, denn sie nahm nicht nur alles, womit man zu ihr kam, willig auf, sie half auch mit Rat und Tat und scheute nie eine Mühe für eine Sache, wenn sie von ihrer Gerechtigkeit überzeugt war. Und sonderbar,« Olga mußte unwillkürlich lächeln, »von vornherein war es bei ihr ausgemacht, daß stets der Schwächere recht hatte. Mußte sie sich aber einmal vom Gegenteil überzeugen, konnte sie tagelang unglücklich sein. Es wollte ihr gar nicht in den Kopf. Erst wenn es wieder einem andern zu helfen galt, vergaß sie es; und hatte diesmal der Schwächere wirklich recht, dann war für sie damit sozusagen auch das Unrecht des früheren wettgemacht.«
»Das ist in der Tat ein merkwürdiger Zug.«
»O, Sie als Deutscher,« fiel Olga lebhaft ein, »können sich das gar nicht vorstellen. Das ist echt russisch, das gibt es kaum unter einem andern Volk, dies Von-vornherein-Partei-Ergreifen für den Schwachen. Papa sagt immer, so was könne nur unter einer Autokratie groß werden, und es sei auch ein Despotismus, genau wie der auf Thronen. Und er hat gewiß recht.«
»Ihrer Schwester Vater war ein Russe?«
»Gewiß, aus altrussischem Fürstengeschlecht, und er soll gerade gewesen sein wie Manja. Er nahm immer Partei für die Schwachen, Armen und Elenden, auch wenn sie unrecht hatten. Bei ihnen wußte er alles zu entschuldigen, bei den Mächtigen nichts.«
»Es liegt Größe, Heroismus darin, aber ...«
»Russische!« warf Olga ein, »echt russische. Lesen Sie Dostojewskis ›Die Brüder Karamasow‹, das russischste aller russischen Bücher, und Sie werden das verstehn. Manjas Vater kostete dieser Charakterzug die Stellung, das Vermögen.«
»Und Manja?« unterbrach Viktor.
Olga seufzte. »Hoffentlich nicht mehr als das.«
»Bitte, erzählen Sie weiter, Olga.«
»Ja, und eins hätte ich fast vergessen. Auch deshalb waren alle so begeistert für sie, viel mehr als für mich zum Beispiel, und gerade alle kleinen, geringen Leute. Auch das ist für die russischen geringen Leute bezeichnend, das gibt es wohl auch kaum in dem Maß in einem andern Land.«
»Sie sind ja sehr für Rußland begeistert«, meinte Viktor etwas ärgerlich.
»Aber selbstverständlich, und vielleicht gerade, weil ich auch Deutsche bin und nicht nur Russin. Ich meine Manjas Schönheit. Fragen Sie nur Iwan, der doch gewiß kein poetisches Gemüt hat. Für ihn gibt es neben Manja nur noch die Heilige Mutter von Kasan, die beiden sind das Schönste auf dieser Welt. Und Ter gar! Der kann sich überhaupt nur helfen, wenn er Sonne, Mond und Sterne zu Hilfe nimmt.«
Olga hatte sich auf einer Bank niedergelassen, ganz in Gedanken versunken. Leise plätscherten die kleinen Wellen auf dem Gewässer zu Tal, leise bewegte ein leichter Wind die jungen Äste, die ihr erstes Grün trieben, und führte den Duft der jungen Frühlingsblumen mit sich.
Viktor ließ sich neben seiner Cousine nieder. Beide schwiegen lange Zeit, in ihre Gedanken versunken.
Er merkte nicht, als Olga ihn plötzlich ansah, die Lippen öffnete, sie dann aber wieder schloß und vor sich hinblickte. Wieder schaute sie zu ihm auf. Dann fragte sie: »Sie sahen ja auch Herrn von Rohden. Fanden Sie ihn wohl aussehend?«
Viktor fuhr auf. »Wie meinten Sie? Ach so, ja, allerdings. Gewiß, er sah sehr wohl aus, natürlich.«
»Es ist ein vortrefflicher Mensch«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst.
Viktor musterte sie einen Augenblick. »Onkel Philipp scheint anderer Ansicht zu sein?«
Um Olgas Mund legte sich ein herber Zug. Jetzt sieht sie ihrer Stiefschwester direkt ähnlich, dachte Viktor erstaunt. Es fiel ihm zum erstenmal auf.
»Papa kennt ihn nur sehr oberflächlich, er beurteilt ihn zu sehr nach dem, was die Leute über ihn reden, und das ist nicht viel Gutes. Schon deshalb nicht, weil er sie verletzt durch seine meist sehr schroffe, rücksichtslose Art. Auch ist er ein Wahrheitsfanatiker, der nie ein Hehl daraus macht, wenn er jemanden nicht leiden kann«, sagte Olga ruhig und sicher. Der Art, wie sie das vorbrachte, merkte man an, daß sie es sich selbst schon oft in genau denselben Worten gesagt hatte. Dann schwieg sie wieder, sah den Wellen nach, die so lustig plätscherten, unberührt von allen Sorgen. »Man redet viel Schlechtes von ihm, von dem Leben, das er jahrelang geführt. Manches mag ja richtig sein, gewiß. Aber er ist auch ein andrer als die andern, und wer weiß, warum er so allen Zerstreuungen nachging.« Sie sah Viktor voll an. »Ich glaube, er hat viel Schweres hinter sich.«
»Mag schon sein«, erwiderte Viktor reichlich zerstreut, denn ihn interessierte es viel mehr, noch weiteres über Manja zu hören. Was ging ihn Herr Müller, Herr von Rohden oder wie der Mensch sonst hieß, an.
»Schon daß er alles im Stich ließ, um Manja zu folgen.« fuhr Olga fort, »schon das spricht sehr für ihn.«
Da horchte Viktor auf. »Wie? Was? Warum denn?« fragte er erregt.
»Ich bat ihn darum,« erwiderte Olga, »ich hatte meine Gründe dafür.« Sie atmete hoch auf. »Und er handelt genau, wie ich gedacht. Ich habe recht behalten, ich wußte es ja.«
»Darf ich fragen, weshalb ...?«
Aber Olga fuhr fort, ohne auf Viktors Frage zu achten. Es war, als hätte sie diese überhaupt nicht gehört, weil sie zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. »Er wird Manja verstehen lernen, für die er früher oft Worte hatte, die mich schmerzten ... er wird Manja lieben lernen ...«
Viktor sprang auf. »Das glauben Sie? Er! Der!«
»Ihr scheint euch ja sehr angeregt zu unterhalten«, hörten sie plötzlich Herrn von Gandern hinter sich, etwas spöttisch.
Auch Olga sprang auf, beide standen einen Augenblick, wie auf einem Unrecht ertappt.
Onkel Philipp konnte ein leichtes, wohlgefälliges Schmunzeln nicht unterdrücken, als er beide so verlegen sah. Schau, schau, dachte er, das gefällt mir. Laut aber sagte er: »Entschuldigt nur, daß ich euch störe, aber ich möchte mit Viktor ein Wort reden.«
Olga wandte sich sofort zum Gehen.
»Bist du böse?« fragte Herr von Gandern.
»Aber Papa, warum denn? Ich habe mich sowieso verplaudert, sollte längst bei der Mutter sein.«
»Ich stehe zur Verfügung«, bemerkte Viktor etwas steif, denn es wäre ihm viel wichtiger und lieber gewesen, von Olga noch mehr zu hören. Ihre Worte über diesen Herrn Müller, wie er ihn jetzt nur noch nannte, ärgerten ihn.
»Natürlich habt ihr von Manja gesprochen?« fragte Herr von Gandern, indem er seinen Arm in den Viktors schob und langsam mit ihm weiterging.
»Allerdings.«
»Sie wird dir nicht übel vorgeschwärmt haben, denn noch nie hat ein Mädchen das andere so bewundert, wie Olga Manja. Sie steht ganz unter ihrem Bann. Stellt sich selbst in den Schatten, damit die Schwester nur ja alle Sonne habe, und ist selbst gewiß soviel wert wie Manja.« Er sah Viktor herausfordernd an.
»Natürlich«, meinte der kleinlaut, ohne zu verstehen, was das sollte.
»Ich möchte dir unsere Manja nun mal in etwas weniger rosiger Beleuchtung zeigen«, fuhr Herr von Gandern fort. »Ich suche einen Bundesgenossen in dir gegen den Einfluß, den sie immer noch hier hat.« Er seufzte leicht.
»Solange sie hier war, stand ich freilich auch ganz in ihrem Bann.« Das kam so komisch heraus, etwas kläglich und voll leichter Selbstironie, daß Viktor lachen mußte.
»Du hast gut lachen. Aber leb' du mal Jahre mit ihr und bleib stark und selbstherrlich der gegenüber. Das bringt kein Mensch fertig. Ich gehöre doch nicht zu den Weichmäuligen, dafür hat schon mein Schicksal gesorgt, aber ich versichere dir, solange sie hier war, hat sie alles kommandiert, auch mich, wie ich ehrlicherweise bekennen muß.« Onkel Philipp lachte. »Wahrhaftig, es war so. Aber jetzt denke ich doch ein wenig anders, und damit du nicht auch von der allgemeinen Verrücktheit angesteckt wirst, eh' ich mich umsehe, will ich dir das Nötige sagen. Übrigens auch,« fügte er gutmütig hinzu, »damit du Manja nicht falsch beurteilst. Doch vorher ...« Onkel Philipp griff in seine Joppe und holte ein dickes Zigarettenetui hervor, das er auseinanderrollte wie eine lange Binde. Viktor sah es mit Verwunderung. »Eure windigen Etuis kann ich für meinen Bedarf nicht brauchen«, sagte Herr von Gandern, der Viktors Erstaunen über dies Riesenetui bemerkt hatte. »Dies da hab' ich mir extra bauen lassen, da hinein geht Vorrat für eine halbe Woche. Greif zu, sie sind empfehlenswert, eingeschmuggelt, denn russische Zigarren kann kein Mensch rauchen, auch die verzollten Importen nicht, die unerträglich nach Schreinerleim schmecken, weil die hohe Zollbehörde es für nötig findet, sie uns nur in Zehnstückverpackung in einem ganz gemeinen, kleinen Schreinerkasten zugänglich zu machen, auf daß wir uns die Importen langsam abgewöhnen und nur noch Zigaretten rauchen.«
Viktor griff schnell zu, schon um dieser Redseligkeit ein Ende zu bereiten, die ihn nervös machte.
Nachdem auch Onkel Philipp seine Zigarre in Brand gesetzt, was ein ziemlich umständliches Manöver war, fing er wieder an. »Also Manja.« Er brach aber sofort wieder ab, um andächtig den Rauch seiner Zigarre einzuatmen. »Nicht wahr, gut ist sie?«
»Sehr gut.«
»Also«, fing Onkel Philipp von neuem an. »Weißt du, wenn ich mit meinen Frauen zusammen bin, werde ich selbst ganz weibisch. Aber so, Männer unter Männern, ich atme ordentlich auf, mein Junge. Du weißt gar nicht, wie mir das wohltut. Es war wirklich gescheit, daß du herkamst, sehr gescheit. Dein Vater wird dich schön das Gruseln gelehrt haben vor Rußland und mir, was?«
»Aber Onkel, so war das doch nicht. Und dann verzeihe, du wolltest doch eigentlich von deiner Stieftochter reden.«
Onkel Philipp senkte die Zigarre. »Na hör' mal, Stieftochter, das klingt nicht hübsch.«
»Aber sie ist es doch.«
»Na ja, freilich, formell hast du, gewiß recht, aber in Wahrheit ... na, ja, Junge, man sieht doch, du warst nur kurz mit ihr zusammen, sonst würdest du dich doch anders, herzlicher ausdrücken. Sie ist das gescheiteste und hübscheste Mädchen, das mir noch vorgekommen ist.« Onkel Philipp sah erwartungsvoll zu Viktor auf. Da der aber schwieg, fuhr er fort. »Da sie von kleinauf großen Verstand zeigte, haben wir ihr die besten Lehrer gehalten, um ihren Wissensdurst zu befriedigen. Unter ihnen war besonders einer, den ich sehr gern mochte, ein hübscher Mensch und sehr gescheit. Wir haben viel miteinander disputiert über dies mögliche, am meisten aber über Rußland, denn darauf kam er immer wieder zurück. Über Rußland debattieren heißt über Politik reden, und seit vielen Jahren nichts anders, als sich über den Nihilismus aussprechen. Manja saß meist dabei. Ich hielt es für unschädlich, ich dachte, ein Mädchen versteht davon doch nicht viel. Ich täuschte mich aber, ich Dummkopf, denn ich bald hätte merken können, wie ihr das Herz brannte bei unsern Gesprächen. Petrow, so hieß der Lehrer nämlich, war äußerst radikal. Ihr in Deutschland versteht das nicht recht. Bei uns hier sind gerade die besten jungen Leute so radikal. Manchmal legt es sich dann mit den Jahren, aber oft auch nicht.« Der Onkel seufzte. »Meist kommen sie gar nicht zu Jahren, denn eines Tages verschwinden sie in der Peter-Paul-Festung oder gehen in Sibirien früh zugrunde. So beraubt sich Rußland selbst seiner besten Söhne und erhält sich nur die weniger guten Elemente, die in der Jugend nichts Besseres zu tun wissen, als zu »leben«. Nun, Petrow war, wie gesagt, so radikal wie möglich, ich nicht, denn ich sehe nicht ein, weshalb sich unsere besten jungen Leute nutzlos opfern sollen. So stritten wir uns denn fast jeden Abend, und Manja saß meist dabei und hörte zu. Wieder einmal war ein Attentat verübt worden. An dem Tag gerieten wir besonders heftig aneinander, denn ich konnte Petrow nun ja wieder einmal zeigen, wie nutzlos Terrorismus und Radikalismus waren. Sie stützten nur das System, das die jungen Leute vernichten wollten, und dezimierten die Jugend. Wochenlang wurden damals Haussuchungen über Haussuchungen vorgenommen, Schuldige und Unschuldige abgeurteilt, verbannt, vernichtet. Hat das einen Zweck? sagte ich zu Petrow, nützt ihr damit dem Vaterland? Ihr ruiniert es und euch selbst, das ist alles. Du hast ganz recht, fiel da auf einmal Manja ein. Wir lächelten erst, weißt du, so wie Männer lächeln, etwas nachsichtig und so, es ist ein verdammtes Lächeln. Aber Manja ließ sich dadurch nicht stören. Und wir hörten bald auf zu lächeln, denn wir sahen, wie intensiv gerade sie sich mit diesen Fragen beschäftigt hatte, ohne daß wir es ahnten. Alles mögliche hatte sie darüber gelesen, und nun setzte sie uns die Sache auseinander. So klar und geschickt, mit allem Für und Wider, daß wir lange Zeit ganz verdutzt und stumm dasaßen und zuhörten. Unglaublich, wie das Mädel der ganzen Frage nachgegangen war, um ihr auf den Grund zu kommen. Sie verurteilte allen Terrorismus, jedes gewaltsame Vorgehen. Das einzige, was geschehen müsse, was Rußland wirklich dienlich wäre, sei Verbreitung der Bildung. Dazu sollte man sich zusammentun, dazu eine große Organisation schaffen über das ganze Reich hin, sich dabei auch nicht auf die Russen beschränken, sondern allen Nationen des Ostens, soweit sie nur irgend für Rußland erreichbar seien, in dieser Weise dienen. Hier liege eine große lohnende Arbeit, die zwar nicht schnell zum Ziele führe, auch nicht morgen schon Früchte zeitigen werde, aber das sei auch gar nicht nötig, so etwas brauche Zeit, Entwickelung. Einige Generationen müßten sich dieser Aufgabe weihen in ehrlicher, unermüdlicher Arbeit, dann würde auch der Erfolg nicht fehlen. Wenn ich dir das so trocken nacherzähle,« meinte Onkel Philipp, »klingt es gar nicht als etwas Besonderes.
Aber wie sie es damals zuerst vorbrachte, durchglüht von Begeisterung, es machte auf mich und auch auf Petrow großen Eindruck. Nun, seit jenem Abend war sie nicht mehr stumme Zuhörerin, sondern sie debattierte eifrig mit. Mir machte das, offen gestanden, viel Freude, denn ich liebe solche Unterhaltung. Auch dachte ich wahrhaftig nie, daß aus diesen theoretischen Erörterungen für Manja allmählich ein praktischer Plan heranreifen könnte. Ich erschrak nicht wenig, als sie dann wirklich mit einem solchen hervortrat.« Onkel Philipp seufzte. »Nun ging unser Unglück an, denn sie war nicht mehr davon abzubringen, daß es ihre Mission sei, diesen Plan zu verwirklichen, für ihn wenigstens positiv zu arbeiten. Ich suchte ihr das auszureden, auch Petrow half mit, denn er meinte und mit Recht, die Regierung würde keinen Unterschied machen zwischen Manjas Plänen und denen der Radikalen, sie würde sie alle in einen Topf werfen und die Freunde der Bildung nicht anders behandeln als die terroristischen Nihilisten.« Wieder seufzte Onkel Philipp. »Daß Manja sich nicht halten ließ, weißt du ja. Eines Tages ging sie, trotz all meiner Vorstellungen, trotz aller Tränen ihrer Mutter, und seitdem haben wir sie nicht wiedergesehen. Ich glaube,« fügte er leise hinzu, »sie läßt sich nicht mehr bei uns blicken, weil sie jetzt auch weiß, daß sie in den Augen der Behörde nichts ist als eine staatsgefährliche Nihilistin, die sie aus dem Wege räumen wird, sowie sie ihrer habhaft wird, und die sich bei uns nicht mehr zeigen kann, um nicht auch uns zu gefährden ... Ob wir sie je wiedersehen werden? Ich bin in großer Sorge um sie. Meine einzige Hoffnung ist, daß sie doch noch erkennt, ihr Plan, so groß und edel er sein mag, ist nicht durchführbar. Schon deshalb nicht, weil ihn immer wieder hirnverbrannte Gesellen durchkreuzen werden, die eine Kugel oder eine Bombe für wirksamer halten als alle langsame, ernste Arbeit. Freilich, seitdem sie in der Bewegung Einfluß gewonnen, ist kein Attentat mehr vorgekommen, und daran sehe ich die Größe ihres Einflusses. Aber eines Tages wird sich das ändern, und dann ...«
Aufmerksam hatte Viktor zugehört. Auf einmal fiel ihm Herr Müller ein. Wieder bemächtigte sich seiner eine grenzenlose Eifersucht, zumal nach den Worten, die Olga vorhin gesagt hatte, und er fragte: »Und was tut denn dieser Herr Müller in ihrer Nähe?«
»Wer?« fragte Onkel Philipp.
»Nun, dieser Herr von Rohden, oder wie er heißt!«
»Ach so, der! Na ja, das ist wohl sein neuester Sport, seine neueste Sensation. Außerdem glaubt er Olga dadurch zu imponieren. Haha, und er hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, mein Schwiegersohn zu werden. Er irrt sich aber gewaltig, der Herr. Für den ist mir meine Tochter denn doch zu gut, für einen so unzuverlässigen Lebemann, bei dem man nie weiß, wie lange eine Laune gerade dauert.«
»Olga sagte vorhin, sie glaube, er interessiere sich für ihre Schwester.«
»Was?« Onkel Philipp war sehr überrascht. »So, so ... Hm, wenn Olga das sagt, dann ist sie selbst jedenfalls kuriert ...« Er brach ab, reichte Viktor die Hand und meinte: »Junge, du weißt nicht, wie angenehm es mir ist, daß Olga das gesagt hat.«
»Ja, aber würdest du es denn zulassen?« rief Viktor empört.
»Um Manja ist mir nicht bange, die weiß sich selbst zu helfen. Außerdem, nun ja, Rasse hat der Rohden schon, auch Geist, in einer festen Hand könnte schon noch was aus ihm werden.«
»Aber Manja!« rief Viktor wieder.
»Um die brauchen wir uns keine Sorge zu machen, wirklich nicht, die weiß, was sie tut ... Nur um Olga war mir bange«, sagte er leise vor sich hin. Viktor war empört, aber er konnte, er durfte nicht mehr sagen, sonst erriet vielleicht der Onkel, wie es um ihn stand.
Als gegen Abend Onkel Philipp einspannen ließ, um in die Stadt zu fahren, wo er zu tun hatte, entschloß sich Viktor, mitzufahren, denn die innere Unruhe trieb ihn weg von diesem stillen Haus, in das Manja gewiß nicht kam. In der Stadt, vielleicht, ein Zufall. Viktor wollte vor sich selbst nicht zugeben, daß er es plötzlich nur deshalb so eilig hatte, nach Moskau zu kommen. Aber es war doch so. In der Dshamgarow-Passage trennte er sich vom Onkel, denn es war gewiß ein Vergnügen, mit Onkels Gespann wie der Wind durch die Straßen zu rasen, aber sehen, erkennen konnte man dabei niemand.
»Willst du's wirklich allein wagen?« fragte Onkel Philipp verwundert.
»Aber gewiß, ich bin doch kein kleines Kind, und weiß ich gar nicht mehr ein und aus, nehme ich mir eine Droschke.« – »Iswoschtschik«, warf Onkel Philipp ein. – »Jawohl,« entgegnete Viktor, »und fahre zu euch zurück.« – »Wenn du Appetit bekommst, empfehle ich dir den Sslawjanskij-Bazar oder die Eremitage. Französisch genügt für beide.« – »Danke«, sagte Viktor. Onkel Philipp tippte mit dem Stock dem feisten Kutscher leicht an die rechte Schulter, und das Gefährt entschwand um die nächste Ecke.
Langsam schlenderte Viktor durch die Straßen. Ab und zu fesselte ihn eine Auslage. Er blieb stehen und besah sich die Sachen, scheinbar sehr interessiert. Dann erregte ein Mushik in Bastschuhen seine Aufmerksamkeit, ein Priester in langem Rock, Griechen mit rotem Fez, Perser in schwarzen Lammfellmützen, Tataren in der schönen Tscherkessentracht. Das alles wand sich über die schmalen Trottoirs, hastete oder schlenderte gemächlich durch den heranbrechenden Abend, bewacht von unzähligen Gorodowois (Schutzleuten), umlauert, umspäht von diesen hundert wachsamen Augen. So schien es Viktor wenigstens, der auf einmal eine große Abneigung gegen diese Menschen empfand, die so fabelhaft brutal und roh dreinsahen. Auf den schlecht gepflasterten holprigen Straßen rasten in einem unglaublichen Tempo Wagen aller Art vorüber und vollführten einen Heidenlärm, der an den Straßenecken und Übergängen noch vermehrt wurde durch das laute Geschrei der Straßenhändler, die tausenderlei Dinge feilhielten, durch die lärmenden Possylnyje (Dienstmänner) mit roten Mützen, roten Kragen und meist auch sehr roten Gesichtern, die ihre Dienste anpriesen, durch die Droschkenkutscher, die, wenn sie nicht besetzt sind, den Fremden fast vom Gehsteig herunterfahren, um ihn für ihre Kalesche zu gewinnen, und einander durch lautes Schreien in den Preisen unterbieten. Und in diesem Durcheinander glaubte Viktor, jemand finden, jemand erkennen zu können? Das war einfach unmöglich. Und da ihn all der Lärm bald ermüdete, stieg er in eine der schmalen Iswoschtschiks, die schon fünf Minuten neben ihm herfuhr, und ließ sich zur Eremitage fahren, da er den Namen des andern Restaurants inzwischen wieder vergessen hatte.
Viktor atmete erleichtert auf, als er die lichten, weiten, vornehmen Räume betrat, in denen die Kellner auf geräuschlosen Schuhen in weißen Anzügen hin und her huschten. Kaum aber hatte er sich an einem kleinen Tisch niedergelassen, fuhr er erschrocken wieder auf, weil plötzlich das Riesenorchestrion zu spielen anfing. Viktor seufzte. Ohne Geräusch scheint man hier überhaupt nicht leben zu können. Er ließ sich eine Speisekarte geben und vertiefte sich in ihren vielversprechenden Inhalt.
»Guten Abend, Herr Baron!«
Viktor sah sich erstaunt um. In seiner Nähe stand Herr Müller. Viktor errötete vor Freude und war äußerst liebenswürdig.
»Bitte, Herr von Rohden, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen?«
Rohden nahm an, lächelte und meinte: »Aus Ihrer Anrede ersehe ich, daß bei Ihren Verwandten schon von mir die Rede war. Na, viel Gutes werden Sie nicht vernommen haben.« Es sollte lustig klingen, aber Viktor bemerkte doch, welch starke Spannung dabei auf Rohdens Gesicht lag. Doch er hatte ja im Augenblick gar keinen Anlaß, Rohden die Stimmung zu verderben. Im Gegenteil, gut wollte er ihn stimmen, um möglichst viel von Manja zu hören. Nachdenklich prüfend sah er ihn einen Moment an. Vornehm, fein, elegant, männlich, gescheit sah er aus, mußte sich Viktor bekennen, obwohl er es nicht gerade gern tat. Rohden lächelte sarkastisch. »Ihr Schweigen redet Bände.«
»Da verstehen Sie es durchaus falsch, verehrter Herr von Rohden, ganz anders ist es gemeint, meine Cousine ...«,
»Was sagte sie?« fiel Rohden ein.
»Sehr viel Schönes, ich darf Sie aber nicht eitel machen.«
Wie hübsch er eben aussieht, dachte Viktor, während Rohden sinnend vor sich hinsah.
Er richtete sich plötzlich energisch auf, als schüttele er etwas ab, das er nicht deutlicher sichtbar werden lassen wollte ... »Und wie befinden sich Onkel und Tante? Sie müssen schon verzeihen, aber wahrscheinlich wissen Sie ja, daß ich früher häufig dort verkehrte. Ich nehme wirklich allen redlichen Anteil an dem ganzen Haus, dem ich manches Schöne verdanke.«
»Onkel Philipp ...«
»Brummt!« fiel Rohden energisch ein und setzte wieder sein sarkastisches Gesicht auf. »Aber meint es stets gut und ist in allem ein Gentleman«, fuhr er schnell fort, da er sah, daß Viktor von dem burschikosen Ausdruck nicht sonderlich erfreut war. »Vor allem aber, wie fühlt sich Frau von Gandern?« warf Rohden eifrig hin, um auf ein ihm sympathischeres Thema zu kommen, denn wenn er an Herrn von Gandern dachte, wurde er stets gereizt, auch ungerecht und hart, wie er selbst recht gut wußte.
Nun hatte Viktor die beste Gelegenheit, von Manja zu reden, und er benutzte diese Gelegenheit auch sofort.
Es ergab sich bald ein etwas merkwürdiges Gespräch, denn während Viktor immer mehr über Manja erfahren wollte, bemühte sich Herr von Rohden, stets aufs neue von Frau von Gandern zu sprechen, um so unauffällig wieder etwas über Olga erfahren zu können, die er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Dabei taten beide, als ginge ihnen das Gespräch gar nicht so besonders nahe, als sei es mehr durch die Verwandtschaft Viktors mit der Familie, die sie ja nun beide kannten, verursacht, als durch tieferes, persönliches Interesse. Und weil sie beide so taten, diesen Grund zu ihrem langen Gespräch keinen Augenblick aus dem Auge ließen, wie man eine Mauer nicht aus dem Auge läßt, wenn man sie als Deckung benutzt, so glaubte wenigstens jeder, der andre müßte davon überzeugt sein, es handle sich nur um ein Gespräch, wie es die Höflichkeit in dieser Situation gebot, da es für sie ja sonst kaum einen Gesprächsstoff gab, der ihnen beiden gemeinsam war. Und weil das der eine vom andern glaubte, glaubte es schließlich auch jeder von sich selbst und war von seiner Klugheit höchst befriedigt. Als aber dann das Souper aufgetragen wurde und diese »Unterhaltung« damit vorläufig ein Ende nahm, hatten beide zu gleicher Zeit ein etwas unangenehmes Gefühl, wie es sich einstellt, wenn man sich bewußt wird, daß man nicht ganz ehrlich miteinander verfahren ist. Um so mehr suchten sie liebenswürdig zu sein.
»Könnte ich die Stiefschwester Olgas nicht bald einmal sprechen? Ich möchte ihr doch gerne von Haus erzählen«, meinte Viktor.
Rohden sah sein Gegenüber einen Augenblick durchdringend aus seinen scharfen, grauen Augen an. Was soll diese umständliche Umschreibung, dachte er und erwiderte laut: »Manja wird sich gewiß freuen, Sie wiederzusehen, denn sie hängt sehr an ihrer Familie und besonders an ihrer Stiefschwester.«
Warum sagt er nicht Olga? dachte Viktor mißtrauisch. Warum diese Umschreibung? Daß er vorhin ähnlich geredet, war ihm gar nicht bewußt geworden. In diesem Augenblick waren sich beide recht unsympathisch, und sie hätten es sicherlich auch gezeigt, hätte nicht der eine den andern für seine Zwecke so nötig gehabt.
»Ich könnte Ihnen morgen eine Gelegenheit verschaffen, Manja zu sprechen«, meinte Rohden nach einer Weile.
»Olga wird sich sicher sehr freuen, wenn ich Neues von ihr erzählen kann«, sagte Viktor.
»Es ist freilich eine etwas gewagte Geschichte,« wandte Rohden langsam ein, »und ich weiß nicht mal, ob Manja mit mir zufrieden sein wird, wenn ich Sie dahin mitbringe.«
»Das kann ich selbstverständlich nicht beurteilen, wenn Sie sich nicht ein wenig näher erklären«, antwortete Viktor kühl und gemessen.
»Es ist auch nicht ungefährlich«, begann Rohden wieder. »Sie dürfen mich nicht mißverstehen, ich stelle natürlich nicht Ihren Mut in Frage, das liegt mir durchaus fern, ich würde Ihnen sogar gar nicht mit diesem Vorschlag gekommen sein, wenn ich davon nicht überzeugt wäre, denn wenn Sie morgen meiner Aufforderung Folge leisten, kann sehr leicht eine Situation kommen, wo man all seinen Mut zusammennehmen muß. Aber auch ein Augenblick, wo persönlicher Mut gar nichts hilft. Sie kennen die russische Polizei noch nicht, und ich weiß nicht –« wieder fiel ein durchdringender Blick der grauen Augen auf Viktor – »ich weiß nicht, ob es Manjas Schwester lieb sein wird, wenn Sie durch meine Vermittlung die Bekanntschaft der russischen Polizei machen sollten, was in meiner Nähe nie ausgeschlossen ist.«
Viktor tat ihm nicht den Gefallen, er schwieg.
»Jedenfalls bringen Sie Ihren Paß mit. Es ist in Rußland immer gut, sich als Ausländer ausweisen zu können.«
»Ich werde nicht verfehlen ... und wo darf ich Sie erwarten?«
»Kennen Sie die Kapelle der Iberischen Mutter Gottes?«
»In der Nähe des Kreml?« fragte Viktor.
»Richtig. Warten Sie auf der westlichen Seite, in der Nähe des Historischen Museums, auf mich. Sie werden mich zwar nicht erkennen, da ich mich etwas maskieren muß. Aber ich werde fünfmal hintereinander das Kreuz schlagen und dabei den Namen ... ja warten Sie, welchen Namen doch gleich? ... Hm, sagen wir Amanda murmeln.«
»Wie? Welchen Namen?« fragte Viktor fast bestürzt.
Rohden sah erstaunt auf. »Es ist doch ein guter deutscher Name, nicht wahr? Deshalb wählte ich ihn. Er fiel mir zufällig gerade ein.«
»Allerdings, gewiß«, beeilte sich Viktor zu erwidern. Aber beunruhigt war er doch über diesen Zufall, der ihn plötzlich so lebhaft an zu Hause und an die kleine Brunek erinnerte.
»Wissen Sie, hier in Rußland wird selbst ein aufgeklärter Deutscher, wie ich, ein wenig abergläubisch. Vor der Iberischen Gottesmutter spann mein Schicksal schon einmal einen Faden, der zu einem Glück führte. Deshalb wählte ich den Ort zu unserer Zusammenkunft als ein glückliches Omen. Aber nehmen Sie nicht zuviel Geld mit und hüten Sie sich vor Taschendieben! Nirgends in ganz Moskau wird soviel gestohlen als gerade im Angesicht dieser Mutter Gottes, die eine der am meisten Verehrten im ganzen Reich ist. Auch das ist russisch!«
Man sprach noch eine Weile, ohne aber recht warm zu werden, denn jeder hing seinen Privatgedanken nach.
»Soll ich von unserm Zusammensein reden?« fragte Viktor, indem er sich erhob.
»Besser nicht«, meinte Rohden. »Später vielleicht, wenn alles glücklich von Stapel gegangen.«
»Sie tun ja sehr gefährlich.«
»Abwarten, Herr Baron. Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht. Und jedesmal, wenn er wieder dahingeht, hab' ich die Empfindung, diesmal wird er brechen. Bis jetzt sah ich noch immer zu pessimistisch, das geb' ich zu. Ich sage es mir auch oft genug. Aber weiß der Henker, wenn ich mit meinem Pessimismus doch einmal recht behielte, nur einmal, es wäre schon zu viel.«
Wie besorgt er um Manja ist, dachte Viktor, und wieder regte sich heftige Eifersucht.
Herr von Rohden hatte sich erhoben. »Also bis morgen abend neun Uhr. Ich begleite Sie lieber nicht auf die Straße. Vorsicht ist immer gut.«
Als sie sich verabschiedet hatten, dachte Viktor: Weiß Gott, er interessiert sich ernstlich für Manja. Rohden aber dachte, indem er ernst hinter der schlanken Gestalt hersah: Olga wird sich doch nicht am Ende ... Lieber ... lieber ... lieber soll mein Pessimismus diesmal siegen und alles zugrundegehen! –
Es war schon neun Uhr vorbei, und Viktor wartete immer noch vergeblich auf Herrn von Rohden. Es wird doch nicht jetzt schon ein Unglück passiert sein? dachte er, unruhig auf und ab gehend. Er horchte. Eine große Volksmenge schien sich der Kapelle der Iberischen Gottesmutter zu nähern, schon von weitem hörte man wie ein fernes Rauschen die Schritte und die Stimmen vieler Menschen. Langsam kam es näher. Ein seltsamer Zug! Auf einem sechsspännigen, vornehmen Wagen, geleitet von Dienern in goldfunkelnden Livreen, wurde ein Bild nähergefahren. Den Wagen begleiteten unzählige Menschen, Gebete murmelnd, sich immer wieder bekreuzigend. Auch die Leute, die zufällig den Weg des Wagens kreuzten, verneigten sich ehrerbietig tief zur Erde und schlugen ein Kreuz. Vor der Kapelle machte der Zug halt, das Bild wurde von seinem Wagen gehoben und in die Kapelle geträgen. Plötzlich fühlte Viktor, wie jemand nach seiner Tasche griff. Aha, ein Taschendieb, dachte er und faßte energisch zu. »Zum Donner, Sie haben eine feste Hand, Baron, hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, lassen Sie doch los.« Viktor lachte, denn er erkannte Rohdens Stimme. »Pardon, pardon!«
»Der Zug dort hat Sie so beschäftigt, daß Sie auf mich nicht achteten. So suchte ich mich denn auf diese Weise verständlich zu machen, eine Weise, die hier nichts Aufsehenerregendes hat«, flüsterte Rohden. »Folgen Sie mir langsam, ich habe mich sowieso schon etwas verspätet, es ging aber leider nicht anders.«
Langsam schritt Viktor hinter Herrn von Rohden her, den er niemals erkannt haben würde, so geschickt hatte er sich verkleidet, für Viktors Augen wenigstens. In einer kleinen Seitengasse machte Rohden einen Augenblick halt, bis ihn Viktor erreicht hatte, und nun gingen sie nebeneinander weiter ... »Sie haben sich da vorhin über den merkwürdigen Aufzug vor der Kapelle gewundert. Sehr begreiflich, denn wie könnte ein europäischer Mensch auf die richtige Erklärung dieses Vorganges kommen. Das Bild, das man da so feierlich trug, war die Iberische Gottesmutter, die jedermann, der Geld hat, gegen das entsprechende Trinkgeld ins Haus gebracht wird, zu Kranken, auch zu Hochzeiten, und was sonst so feierliche Augenblicke im Menschenleben heißen. Da die Iberische Gottesmutter aber eine sehr vornehme Dame ist, wird sie, wie Sie ja sehen, auch entsprechend eskortiert. Während sie unterwegs ist, leistet an ihrer Stelle drinnen in der Kapelle eine Kopie dieselben Dienste wie das Original. Naiv, was?«
»Gewiß, aber es liegt gerade in dieser Naivität doch etwas Ergreifendes«, meinte Viktor.
»Freilich, auch das läßt sich hören. Übrigens muß es sich um einen besonders vornehmen Besuch gehandelt haben, denn für gewöhnlich pflegt das Bild nicht mehr nach sechs Uhr abends auszufahren.«
»Wohin führen Sie mich denn eigentlich?« fragte Viktor.
»Ach so, ja. Gewiß, ein wenig muß ich Sie schon im voraus instruieren, sonst wird Ihnen das Ganze noch spanischer vorkommen als die Ausfahrt der Iberischen Gottesmutter. Zunächst also: nicht in eine Spelunke, wie Sie vielleicht erwartet haben, sondern in einen Palast, und zwar einen der reichsten und vornehmsten in Moskau. Ich werde Ihnen auch den Namen der Besitzer nennen, nur muß ich Sie bitten, den Namen für sich zu behalten.«
»Mein Ehrenwort«, erwiderte Viktor.
»Wir gehen zum Fürsten Minkow, einem der eifrigsten Freunde unserer Sache, das heißt, es ist eigentlich nicht so sehr meine als die Manjas und ihrer Freunde. Meine jedenfalls nicht aus irgend welchen Weltanschauungs- oder Weltverbesserungsgründen, denn von beiden halte ich im allgemeinen gleich wenig, offen gestanden.«
»Also um Manjas willen?«
»Wenn Sie wollen, ja.«
Da hab' ich's, das ist nicht mehr weit von einer Liebeserklärung, dachte Viktor, dem sich das Herz zusammenzog. »Und worum handelt es sich dort eigentlich?« fragte er laut.
»Nur nicht gleich so laut,« bat Rohden, »immer leise, es ist gar nicht nötig, daß irgendein Passant etwas von unserm Gespräch versteht.«
»Wir reden ja deutsch«, warf Viktor ein, dem diese Geheimnistuerei doch etwas gar zu übertrieben vorkam.
»Andere Leute verstehen auch deutsch,« erwiderte Rohden trocken, »gerade solche, die wir nicht brauchen.« Ganz leise flüsterte er: »Schauen Sie nur einmal dort drüben in der Nähe der Laterne!«
»Ein Betrunkener«, erwiderte Viktor, ohne ein leises, etwas spöttisches Lächeln ganz unterdrücken zu können.
»So? Glauben Sie? Nun, haben Sie im Leben schon einmal einen Betrunkenen gesehen, der in so völlig gleichmäßigen Zickzackschritten einherschwankt? Soweit ich mich erinnere, pflegen diese Schritte unregelmäßiger zu sein bei einem, der wirklich betrunken ist. Und glauben Sie, der spiele hier in der abgelegenen Gasse zu seinem oder unserm Privatvergnügen den Betrunkenen?«
Viktor errötete leicht und mußte der scharfen Beobachtungsgabe seines Begleiters Bewunderung zollen. In der Tat, nachdem er darauf aufmerksam gemacht worden, kamen ihm die Bewegungen des Mannes auch unnatürlich vor.
»Er spielt den Betrunkenen wirklich sehr ungeschickt«, spöttelte Rohden, und eh' sich Viktor dessen versah, eilte er auf die andere Seite der Gasse und redete den scheinbar Betrunkenen russisch an: »He, Väterchen, Ihr macht Eure Sache aber schlecht. Werdet Ihr so übel bezahlt, daß Ihr Euch nicht mal mehr einen ehrlichen Rausch leisten könnt? Da nehmt,« Rohden zog einen Rubel hervor, »und trinkt wenigstens erst, wenn Ihr den Betrunkenen spielen wollt, daß man Euch die Nüchternheit nicht mehr schon auf zehn Werst ansieht.« Der Angeredete war so verblüfft, daß er ruhig, ohne ein Wort zu erwidern, den Rubel annahm, alle Betrunkenheit vergaß und langsam weiterschlich. Laut lachend wandte sich Rohden wieder zu Viktor.
»War das nicht gefährlich?« flüsterte er jetzt leise.
»Keine Spur. Erstens hat er nun einen Rubel, den er vor allem vertrinken wird, und zweitens schämt er sich so seines Untalents, daß er für heute genug vom Herumspionieren hat.«
Wieder nach einer Weile, als man um eine Ecke bog, raunte Rohden: »Sehen Sie sich mal dort den Dienstmann an. Hat man schon je gesehen, daß sich Dienstmänner gerade in einer Gasse aufstellen, wo sie sicher sein können, daß sie höchstens einmal in der Woche auf jemanden stoßen, der ihrer Dienste bedarf?«
»He, du da!« rief Rohden barsch. Der Mann kam näher. »Weihe der Iberischen Gottesmutter eine Kerze, daß du hier in dieser Gasse jemanden triffst, der deiner bedarf. Da, trage dies Päcklein in meine Wohnung.« Rohden zog ein kleines Päckchen aus seiner Überziehertasche, nach dem der falsche Dienstmann etwas verlegen, langsam griff. »Doch halt, zeige mir erst deine Marke, denn wer weiß, ob du nicht ganz wer anders bist als ein Dienstmann«, sagte Rohden spöttisch. Da nahm der Mann eilig Reißaus. »Da haben wir's«, brummte Rohden. »Unzweifelhaft hat die Polizei Wind bekommen, daß etwas vorgeht, nur scheint sie noch nicht ganz genau zu wissen, wo und was, denn noch sind wir ziemlich weit weg von dem Palais.«
Eine Weile gingen beide schweigend weiter. Als sie wieder um eine Ecke bogen, stieß Rohden einen leisen, aber durchdringenden Pfiff aus. Sofort hörte man einen Wagen näherrattern. »Verdammtes Pflaster!« schimpfte Rohden, »alles hört man auf ihm!« Die beiden sprangen hinein, und ohne daß Rohden dem Kutscher ein Ziel mitgeteilt, fuhr er in scharfem Trab vondannen.
»Jetzt lachen Sie mich, bitte, nicht wieder aus, wenn ich aufs neue einen kleinen Toilettenwechsel vornehme«, sagte Rohden, und Viktor sah verwundert, wie Rohden den Rücksitz aufschlug, der eine Kleiderlade enthielt, der er einen Smoking, einen frischen Kragen und eine schwarze Binde entnahm. Dann klebte er sich noch einen kleinen Backenbart an, der sich ebenfalls in der Lade befand. Währenddem plauderte er mit Viktor. »Sie fragten vorhin, worum es sich eigentlich handle bei der Zusammenkunft, zu der ich Sie führe? Nun, sagen wir, um eine Teegesellschaft. Für den Uneingeweihten wenigstens wird es so aussehen, eine vornehme Teegesellschaft, die sich zusammengefunden, um zu plaudern, zu medisieren und dergleichen. Wenn jemand ungesehen zuschaute oder unerwartet einträte, würde er nichts anderes sehen. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um etwas anderes. Sie werden die bekanntesten Nihilisten zu sehen bekommen, eine interessante Gesellschaft, wie Sie sie schwerlich schon gesehen haben und schwerlich wiedersehen werden. Es sei denn, daß Sie zu ihrer Ansicht bekehrt würden. Es sind Leute mit sehr merkwürdigen Schicksalen darunter, und da ich mich dort auch nur sozusagen als Gast fühle, werde ich Ihnen das Nötige dann erzählen, wenn es Sie interessiert!«
»Aber gewiß, sehr, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Sie haben gar nicht soviel Ursache dazu, wie Sie vielleicht glauben, denn offen gestanden, es ist mir recht lieb, daß Sie dabei sind. Sonst bin ich nämlich der einzig Nüchterne und ärgere mich oft gräßlich über all die edlen Verstiegenheiten, die dort ausgeheckt werden.«
Weshalb bleiben Sie nicht weg? wollte Viktor schon fragen. Doch er besann sich noch rechtzeitig. Er glaubte ja zu wissen, weshalb.
»Käme aber einer zu ganz ungelegener Zeit in den Saal,« fuhr Rohden fort, »so wäre das Schlimmste, was er sähe, daß die Leute auf den Knien lägen und beten.«
»Wie, verstehe ich recht?« fiel Viktor erstaunt ein. »Sind diese Leute denn zugleich auch fromm?«
»Die meisten nicht«, erwiderte Rohden, indem er sorgsam seinen falschen Bart prüfte, ob er auch gut saß. »Einige Duchoborzen und Malakaner sind freilich unter ihnen, seitdem die Nihilisten Volksbildung auf ihre Fahne geschrieben haben, seitdem wenigstens unter dieser wichtigsten Moskauer Gruppe der Terrorismus, die Gewalt, verpönt ist. Übrigens ein Verdienst der Halbschwester Ihrer Cousine«, fügte Rohden lässig hinzu, indem er einige Papiere in seinen Smoking schob. »Das kniende Beten zu Anfang und zu Schluß unserer Teegesellschaft geschieht hauptsächlich mit Rücksicht auf das Dienstpersonal im Hause des Fürsten.«
»Das verstehe ich aber wirklich nicht«, meinte Viktor.
»Es ist sehr einfach zu erklären. Das Personal vermutet doch natürlich mancherlei über diese Teegesellschaften bei ihrer Herrschaft, die früher nicht Mode waren, bei denen auch ab und zu Personen auftauchen, denen man es ansieht, daß sie weder zu der Verwandtschaft noch zu dem Freundeskreis des Fürsten gehören. Das Personal schwatzt natürlich auch darüber. Verlassen kann man sich jedenfalls nicht auf die Leute, auch nicht darauf, daß nicht einer der Diener oder Dienerinnen von der Polizei, die hier überall ihre Hände hat, bestochen oder eigens unter das Personal als Kutscher oder dergleichen ins Haus bugsiert worden ist. Nun sind ja in Rußland, wie Sie wissen, auch alle sektiererischen Bewegungen und Versammlungen verboten. Nehmen hochgestellte Persönlichkeiten an derlei teil, drückt man freilich wohl eine Zeitlang ein Auge zu, obwohl man auch dessen nicht lange sicher sein kann, denn schließlich hat auch ein Fürst Minkow Feinde, Neider, die ihm gern, wenn die Gelegenheit gerade günstig, ein Bein stellen. Kurz, man fingiert eben hier als das kleinere Übel eine Betgemeinschaft. Verraten es die Dienstboten, kommt es sonstwie heraus, steckt es ein falscher Freund der Polizei, so kostet es, wenn diese das Nest aufhebt, vielleicht nur einen Verweis oder nur eine Verbannung aus Rußland oder nach Transkaukasien, wenigstens nicht gleich Deportation nach Sibirien oder den Kopf. Wenn man freilich bei so einer Zusammenkunft einen bekannten Nihilisten erwischte oder sonst Unrat witterte, mein Gott, dann hilft schließlich auch das auf den Kniengelegenhaben nicht mehr viel ... Na, dann ist's überhaupt aus, Schluß.«
Der Wagen fuhr langsamer.
Viktor schüttelte verwundert den Kopf.
»Ja, der Kampf ums Dasein, auch ums politisch freiere Dasein, treibt wunderliche Blüten«, lächelte Rohden.
»Doch sehen Sie zum Fenster hinaus, gleich sind wir da.«
Man näherte sich einem hellerleuchteten Palast. Der Wagen konnte nur Schritt fahren, weil andere Wagen vor ihm nur langsam vorwärts kamen zur Auffahrt, die dicht von allerhand gaffendem Volk umlagert war, mit dem die liebe Polizei ihre liebe Not hatte, daß es vor lauter Neugier nicht unter die Räder geriet. »Sehen Sie, das ist doch wenigstens eine kleine, ganz nette Ironie, wie die Polizei uns dienen muß«, lächelte Rohden.
»Aber mein Gott, ist denn das nicht gar zu riskant, so offen!...« Viktor schaute verwundert auf den festlich erhellten Palast.
»So versteckt man sich am sichersten«, spöttelte Rohden. »Übrigens fahren nicht alle Gäste hier so festlich, feierlich vor. Es gibt auch Hinterpförtchen. Sie werden zugeben, daß bei dieser Beleuchtung und dieser Auffahrt keiner so leicht gerade an die denkt.«
Viktor nickte. Der Wagen hielt, sie stiegen aus, von einem silberbetreßten dicken Portier mit schwarzem Dreimaster empfangen, der mit einem schweren Ebenholzstab sie feierlich in die Vorhalle wies.
»Ihren Paß haben Sie wohl nicht vergessen?« fragte Rohden, während sie langsam auf der breiten Marmortreppe in den ersten Stock stiegen.
»Ich habe ihn bei mir, da Sie es rieten«, erwiderte Viktor, der interessiert um sich sah, ein wenig verwundert über dies prächtige geräumige Treppenhaus. In den Wänden waren alte, prunkvolle Gemälde eingelassen, deren Umrahmung nur so funkelte im Licht der Kerzen. Dieser Prunk wirkte gar nicht aufdringlich, er paßte zu dem Ganzen ausgezeichnet, erhöhte nur die Festlichkeit des Hauses.
Rohden beobachtete ihn, erriet seine Gedanken und meinte: »Stellen Sie sich einen ähnlichen Prunk in Deutschland vor. Wie geschmacklos er da aussehen würde, nicht wahr? Hier gehört er dazu, hier, wo der Gottesdienst hauptsächlich durch die reichen Kerzen, die goldenen Geräte und die kostbaren Gewänder der hohen Geistlichkeit wirkt. Bei uns wirkte solcher Luxus barbarisch, in dies barbarische Land paßt er, hier wirkt er harmonisch.«
Ein Diener öffnete vor ihnen und einigen andern Gästen eine schwere, reich geschnitzte Tür. Sie befanden sich in dem Festsaal. »Ein nettes, einfaches Teezimmer, was?« fragte Rohden lächelnd.
Auch Viktor mußte lächeln. »Da haben Sie wahrhaftig recht. Es ist mehr der Audienzsaal vor den Gemächern eines Fürsten, als ein Aufenthalt, um Tee zu trinken.«
»Und doch ist es nicht einmal ein besonders prunkvolles Zimmer dieses Palais. Sie sehen daran, wie reich manche russische Familien sind, und was für Schätze diese alten Palais bergen. Natürlich auf Kosten der Armen.«
Etwa zwanzig Personen befanden sich schon in dem großen Raum. Rohden führte von Gandern zu der Dame des Hauses, einer kleinen, blutjungen, zarten Blondine, lieblich, sanft, ja zerbrechlich wie die Knospe einer Heckenrose. Viktor hatte noch nie etwas Zarteres gesehen als diese junge Fürstin, die er niemals für eine verheiratete Frau gehalten haben würde, noch viel weniger aber für eine Nihilistin oder dergleichen. Er mußte sie immer wieder darauf betrachten, während er sich mit ihr über Paris und Berlin unterhielt, Städte, die sie erst kürzlich auf ihrer Hochzeitsreise besucht hatte. Nun trat auch ein junger, schlanker Herr in den Raum, der Viktors Aufmerksamkeit erregte, weil er besonders herzlich von den Anwesenden begrüßt wurde. Auch er war blond und zart, etwas Rosiges und Unschuldiges in dem jungen Gesicht. Die Fürstin trat einige Schritte vor, er winkte ihr und kam eilig auf sie zu. Die beiden zarten Wangen färbten sich rosiger, während er sie auf die Stirn und beide Wangen küßte. Dann stellte sie ihn Viktor vor, es war der Fürst. Wie füreinander geschaffen waren diese beiden jungen Menschen. Viktor konnte sich nicht satt an ihnen sehen. Und das waren Nihilisten! Was für andere Vorstellungen hatte er doch von diesen Leuten gehabt. Er schaute sich unwillkürlich nach den andern um. Jung waren die meisten. Einige unter ihnen ähnelten freilich eher dem Bild, das sich Gandern von solchen Menschen gemacht. Sie hatten etwas Düsteres, Fanatisches, Wildes im Auge, etwas Hastiges, Gewalttätiges in den kurzen schnellen Bewegungen der Hände. Und wenn sie schwiegen, vor sich hinsahen, in Gedanken versunken, etwas von jungen Raubtieren, Panthern, die, auch wenn sie einen Augenblick untätig zu sein scheinen, doch immer, in allen Gliedern, wie auf dem Sprung sind.
Nun kam Manja. Aus einer kleinen Seitentür, was Viktor sofort auffiel. Die Fürstin eilte auf sie zu, küßte sie, und dann schritten sie langsam im Gespräch durch das große, saalartige Zimmer. Wie ein Frühlingsmorgen und eine Frühlingsnacht sahen sie nebeneinander aus. Die Fürstin in leichter, weißer, russischer Seide, Manja in schwarzem, schwerem Samt. Viktors Herz klopfte laut. Da bemerkte sie ihn. Ein leichtes Erstaunen glitt über Manjas Gesicht, langsam trat sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Daß ich Sie gerade hier bei dieser Gelegenheit wiedersehe!«
»Herr von Rohden war so freundlich.«
»Kommen wir Ihnen sehr wie Verbrecher vor?« fragte die Fürstin lächelnd.
»Aber gewiß!« meinte der Fürst, der sich seiner Frau wieder genähert hatte.
Und wieder sah Viktor auf das junge Paar, und etwas wie Rührung wollte in ihm aufsteigen. Ein einziger kalter Windhauch, dachte er, und sie müssen vergehen wie Rosenblätter im Garten. Und diese beiden Menschen ...!
»Sie sehen ja, wie verbrecherisch Sie meinem Vetter vorkommen«, fiel Manja ein.
Viktor fuhr auf. Vetter hatte sie ihn genannt? Warum? Das gefiel ihm gar nicht besonders.
Da der Fürst und die Fürstin sich anderen zuwandten, die neu angekommen waren, bot Viktor Manja seinen Arm und erzählte ihr auf ihren Wunsch von ihrer Mutter, von Olga und dem Vater, wie sie ihn nannte.
Viktor bemerkte mit großer Freude, wie sehr ihr die Familie am Herzen lag, ein wie weicher Zug sich über ihre herben Züge legen konnte, namentlich wenn er von ihrer Mutter erzählte.
Sie hatten sich in einer Ecke auf einem Divan niedergelassen und vergaßen beide über dem Gespräch, wo sie waren. Als Viktor ihr noch nachträglich zum Geburtstag gratulierte und erzählte, wie an dem Tag ein Rosenstrauch an ihrem Platz im Elternhaus geduftet und auf sie gewartet habe, sah er, wie es Manja feucht in die Augen stieg. Er sprach, sie hörte zu, und beide fuhren fast erschrocken auf, sahen sich verwundert an, blickten einen Augenblick ganz verwirrt ringsum, als kämen sie aus einer andern Welt, als ein uralter Mann mit lauter Begrüßung sich ihnen näherte. Viktor traute seinen Augen nicht, als er bemerkte, daß alle dem alten Mann, der in einem ganz gewöhnlichen Bauernrock stak, dessen schwere hohe Stiefel laut auf dem Parkett dröhnten, das unter der schweren Gestalt knarrte, – daß alle in ehrerbietiger Haltung ihn umgaben. Er ging auf Manja zu, die sich rasch erhoben hatte, und küßte sie auf die Stirn. Die beiden sprachen russisch miteinander, und Viktor, der nichts davon verstand, hatte um so mehr Muße, diese merkwürdige Figur genauer anzusehen, die ihm so gar nicht in diese Gesellschaft, in diesen fürstlichen Raum zu passen schien. Ein ganz gewöhnlicher Bauer mußte es sein. Seine Hände sahen sehr verarbeitet aus, das Gesicht zeigte tiefe Furchen. Die Nase war höchst gewöhnlich, klein, dick, knorpelig, gerötet, die schmalen, wasserblauen Augen verschwanden fast hinter den starken, weißen Brauen. Und doch, sah man auf den ganzen Menschen, hatte er etwas Hoheitsvolles, das auch Viktor auffiel, als er sich von seiner ersten Verwunderung erholt hatte. Ein hohes Alter, wie es so deutlich über dem alten Bauern lag, hat ja an sich etwas Ehrfurchtgebietendes. Dazu kam noch ein starkes Selbstbewußtsein, eine große Sicherheit des Auftretens trotz des sonstigen bäurischen Habitus. Dabei merkte man allen, auch Manja, eine große Freude, ja Stolz darüber an, daß er gekommen war. Auch schien man nur auf ihn gewartet zu haben, um sich niederzusetzen. Da Manja den alten Mann zum Tisch geleitete, suchte Viktor Herrn von Rohden auf und fragte ihn nach diesem sonderbaren Menschen, der hier so großes Ansehen genoß.
»Der?« erwiderte Rohden. »Ich glaube schon, daß es Sie in Erstaunen setzt, daß man einen einfachen Bauern, denn das ist er, so behandelt. Ich muß ihnen zur Erklärung immer wieder das eine Sprüchlein wiederholen: es ist echt russisch oder wenigstens russisch-nihilistisch, dies Gebaren mit dem alten Mann. Die Bauern stehen hier nämlich jetzt in besonderer Gunst.« Ein wenig ernster fügte er hinzu: »Übrigens verdient er auch alle Ehrerbietung, denn er ist eine Macht in Rußland, eine starke Intelligenz, der wahre Führer der über ganz Rußland verbreiteten Sekte der Duchoborzen, die immer mehr wächst, trotzdem ihrer ungezählte jährlich von der Regierung ausgewiesen und verbannt werden.«
Nachdem Manja den alten Bauern bis zur Tafel geleitet hatte, nahm ihn die Fürstin in Empfang und wies ihm den Ehrenplatz ihr zur Seite an. Auf der andern Seite ließ sich der Fürst nieder.
Manja näherte sich wieder Viktor und setzte sich ihm zur Rechten. Zu ihrer Rechten nahm Rohden Platz.
Kaum saß man, sprach der alte Bauer einige Worte, alle erhoben sich und ließen sich auf die Knie nieder. Auch Viktor tat es wie die andern. Diese Situation berührte ihn höchst seltsam, weil sie ihm so durchaus ungewohnt war. Wann mochte er wohl zum letztenmal auf den Knien gelegen haben? Bei seiner Konfirmation. Wie lange das schon her war. Neben ihm kniete Manja. Da er die Worte, die der alte Bauer sprach, doch nicht verstand, sah er aufmerksam zu ihr hinüber. Wie seltsam es war, daß er hier neben ihr kniete und unter lauter wildfremden Menschen. Er so nahe neben ihr.
Als man sich wieder erhob, überkam ihn eine tiefe Mutlosigkeit. Der Traum, den er da eben geträumt, würde nie Wirklichkeit werden. Er warf einen zornigen Blick auf Rohden, der an Manjas anderer Seite gekniet. Nein, nein! murmelte er, und seine Zähne knirschten vor Leidenschaft leise aufeinander, nie würde er das geschehen lassen. Für sich würde er sie erobern, koste es, was es wolle.
»Was ist Ihnen?« fragte Manja, »Sie sehen ja so wild um sich.«
»Nichts Besonderes«, erwiderte er leise, weil er fürchtete, wenn er laut spräche, würde sie seine Leidenschaft aus seiner Stimme heraushören. Und das durfte nicht sein, noch nicht. Er fühlte ganz deutlich, sie würde ihn bestenfalls auslachen, wenn sie so etwas merke. Für sie war er ja nichts als ein unbedeutender Vetter aus Deutschland, weiter gar nichts. Und er konnte für sie, die in einer ganz andern Welt, in ganz andern Gedanken und Plänen lebte, gar nichts anderes sein. Aber das würde sich ändern, das müßte sich ändern, er gelobte sich das. Sie sollte sehen, wer er war ...
Da die Diener jetzt in den Saal kamen und Speisen auftrugen, gebrauchte man allgemein die französische Sprache, damit sie es nicht verstehen konnten und so zu Verrätern würden, denn die Diener waren alle Russen oder Tataren.
»Weshalb gabt Ihr mir goldenes Geschirr, meine Tochter?« hörte Viktor den alten Bauern fragen, und wunderte sich nicht wenig, daß er auch ein wenig Französisch konnte.
»Um dich zu ehren, Vater,« antwortete die Fürstin, »um unserer Freude Ausdruck zu verleihen, daß wir dich heute hier sehen dürfen. Peter der Große schenkte es uns einst. Seitdem benutzen wir es nur an besonderen Festtagen. Ein solcher ist heute, und nicht zum wenigsten, weil du hier bist.«
Der alte Bauer lächelte leicht. »O Eitelkeit der Eitelkeiten! Es ist nicht recht, meine Tochter, mich eitel zu machen. Aber es sei, ich werde von diesen goldenen Tellern essen, wenn es dir Freude bereitet.«
Viktor staunte über den Alten. Wieviel Würde lag in seinem ganzen Benehmen, und wie schlicht er die Ehrung hinnahm. Auch die kleine Galanterie, die in seiner Antwort an die Fürstin steckte, kam so hübsch aus seinem Mund.
Als die Diener hinausgegangen waren, erhob sich am andern Ende der Tafel eine tiefe Stimme, die Viktor bekannt vorkam. Er beugte sich vor. Es war ein mittelgroßer, breitschulteriger Mann, nicht elegant, der zu reden anfing. Auch seine Gestalt kam Viktor bekannt vor. Er fragte Manja nach ihm. »Es ist Petrow«, erwiderte sie. Jetzt wußte Viktor, wen er vor sich hatte. Es war jener Mann, der, als der Zug damals in Moskau einlief, als Gepäckträger gekleidet, mit Herrn Müller sprach und Manja in Sicherheit brachte. Es war zugleich offenbar jener Hauslehrer, von dem ihm Onkel Philipp erzählt hatte. Interessiert folgte Viktor seinen Ausführungen. Die Gruppe in Petersburg, die mit der Moskauer liiert war, wurde ungeduldig. Sie hatte Petrow beauftragt, dem Ausdruck zu geben. Bildung und Aufklärung seien gute Dinge, die sie auch nicht verachteten, aber damit sei dem Vaterland jetzt nicht geholfen. Erst müsse man aufräumen mit den Feinden der Aufklärung, dann sei Zeit und Gelegenheit zu friedlicher Arbeit.
Nun wurde es lebendig an der Tafel. Viktor staunte, wie lebendig. So etwas von Eifer, von Leidenschaftlichkeit hatte er noch nicht gesehen. Die Augen glühten, die bleichen Gesichter verzerrten sich förmlich vor Erregung. Manja seufzte. Wild platzten die Geister aufeinander, stritten für Aufklärung wider Terrorismus und umgekehrt. Man fühlte ordentlich, wie es glühte und flammte in diesen heißen Menschen. Da erhob sich ein schmaler, krank aussehender Mann, und die andern wurden still. »Wer ist das?« fragte Viktor. »Martyros Akunian, ein Armenier, der die furchtbaren Massakers in Konstantinopel mitgemacht hat und dann einen Trupp Armenier gegen Muajim Pascha, den Führer der Hamidiekurden, zusammenbrachte und ihn besiegte, als er ein armenisches Dorf in der Nähe von Wan angriff, um es zu vernichten. Sie waren dreihundert gegen achthundert Kurden. Von ihnen fielen zweihundert, von den Kurden kam nur einer lebend davon«, so berichtete Rohden, und Manja nickte bestätigend.
Viktor sah bewundernd auf diesen Menschen, dessen Körper von Not, Strapazen und Kämpfen wie ausgelaugt war.
»In jungen Jahren war er Priester, dann ging er nach Paris, um Chemie zu studieren«, erklärte Rohden weiter. »Als die Massakers in Konstantinopel vor sich gingen, hielt er sich gerade dort auf bei Verwandten, die vor seinen Augen getötet wurden. Jetzt ist er einer der fähigsten Führer unter den Jungarmeniern.«
Martyros Akunian sprach leise von dem, was er in Konstantinopel erlebt hatte, und seine Stimme schwoll erst an, als er von der Zukunft seines Landes zu reden begann. Auch seine Freunde hätten es mit Gewalt versucht. Zu kleinen Trupps und einzeln seien sie ausgezogen gegen die Kurden und gegen einzelne türkische Machthaber. Aber was habe das genützt? Gar nichts. Denn sie selbst seien schließlich vernichtet, aufgerieben worden, die Regierung aber habe nun erst recht den schönsten Vorwand gehabt, unter dem Beifall Europas gegen sein Volk mit den schärfsten Maßregeln vorzugehen. Und was hätten sie dadurch erreicht, daß sie sich selbst aufopferten und starben? Nichts anderes, als daß das Vaterland einige von den wenigen, allzuwenigen, die es mit ganzer Seele und ohne auf eigenen Vorteil bedacht zu sein, liebten, auch noch verlor. Auf dem Weg komme man nirgends zu etwas Wertvollem. Warten müsse man können, Geduld haben, das Volk aufklären, erziehen, die Jugend für das Vaterland und seine Zukunft begeistern, die heranwachsenden Männer in aller Stille militär- und kriegstüchtig machen, Pulverfabriken errichten, Gewehre zu Tausenden bereitstellen und warten, warten, wenn auch das Herz blute über all den Jammer ringsum, warten, bis man wirklich stark sei und einen großen Schlag führen könne. So sei es wenigstens mit Bezug auf Armenien, das man für die Armenier wiedergewinnen könne und unabhängig machen, so gut wie das die Schweiz vermocht. Aber nicht durch ein paar kleine Gewalttaten, sondern durch zielbewußtes, kluges Sichrüsten für die Erhebung der Besten eines ganzen Volkes. Ähnlich, so glaube er, verhalte es sich hier in Rußland. Nur daß man sich hier nicht kriegerisch vorzubereiten habe. Hier sei es genug, das Volk aufzuklären, für die Freiheit zu gewinnen, daß es reif würde für die Freiheit. Das andere käme dann von selbst, ganz von selbst. Denn kriegstüchtig würde hier die Jugend ja sowieso, fügte er leicht lächelnd hinzu.
Man hatte ihn ruhig ausreden lassen, aber nun erhob sich wieder ein Heißsporn und redete wider die Gewalthaber und für die Ansichten der Petersburger Gruppe.
Da erhob sich der alte Bauer. Laut rief er: »Vergeltet nicht Böses mit Bösem, liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch verfolgen!«
Alles schwieg einen Augenblick. Dann begann ein leises Murmeln, das bei einzelnen zum lauten Murren wurde. »Des Nazareners Lehre paßt nicht für uns und unsere Not!« rief einer.
Manja stand auf. Wenn man wirklich ein Volk zum Guten führen wolle, dürfe man auch nicht vergessen, welche Verantwortung man damit auf sich nähme. Was habe man durch den Terrorismus erreicht. Gar nichts. Nur Unglück über Unglück habe man über Hunderte von Familien gebracht, ohne dadurch dem Ganzen wirklich zu dienen und zu helfen. »Bruder Akunian hat ganz recht. Warten können, nicht ungeduldig werden, das Volk aufklären, das ist die Hauptsache. Und wenn wir alle den Tag der Freiheit für Rußland nicht erleben sollten, für den wir leben, nach dem wir uns sehnen, besser, wir sterben in der Hoffnung und felsenfesten Zuversicht, die Saat, die wir ausgesät durch stille, aber gründliche Aufklärungsarbeit, müsse doch einmal aufgehen, in späteren, glücklicheren Geschlechtern, als wir sterben, vom Staat gerichtet, vernichtet, nachdem wir nichts als Unglück über das Volk gebracht haben, das nur stärker geknechtet und unterdrückt wird, je mehr von uns den Gewalthabern den Gefallen tun, den Vorwand dazu zu geben.«
So ging die Rede hin und her, und Viktor konnte beobachten, wie schwer die Aufgabe für die Gemäßigten und insbesondere für Manja war, diese Leute von Gewalttaten abzuhalten, von denen sie allen Ernstes glaubten, sie geschähen im Namen und zum Vorteil der Freiheit. Viktor sah interessiert von einem zum andern.
Wie wild manche Gesichter glühten! Wie manche Stirnen brannten, manche Lippen bebten, manche tiefe, fanatische Falten sich über die Augen gruben! Es wurde Viktor angst um Manja, die so fest an den Fortschritt glaubte, ohne mit der Unvernunft all der Heißsporne ringsum zu rechnen. Schließlich, nachdem sich die Wogen ein wenig gelegt, erbat sich Martyros Akunian nochmals das Wort für seine besondere Sache.
Er habe, führte er aus, mit seinem Zug gegen Muajim Pascha gezeigt, wo wirklich Pulver und Blei angewandt werden müßten, dann nämlich, wenn es gar keinen andern Ausweg mehr gäbe, um eine ganze Gegend vor der Vernichtung zu retten, wenn also Notwehr vorliege.
Viktor blickte interessiert auf den Mann, der so überzeugend sprach und schließlich vorschlug, man solle einen Bund gründen, einen »Orient-Bund«, mit dem Ziel, alles aufzuwenden zur Aufklärung und Kultivierung der orientalischen Völker ohne Unterschied der Religionen und Nationen. Zugleich solle festgesetzt werden, daß man seine Haupthilfe immer dem Glied des Bundes zuwende, das zurzeit am bedrängtesten sei und der tatkräftigsten Hilfe am meisten bedürfe. Auf diese Weise würde man auch die kampflustigen Elemente beschäftigen können und sie nicht tatenlos sich verzehren oder an falscher Stelle und zur Unzeit losschlagen lassen, denn z.B. in Persien und den türkischen Grenzbezirken gäbe es immer für die Heißsporne zu tun.
Der alte Bauer lächelte leicht und wohlgefällig und meinte, das sei ein Ausweg, wohl zu überlegen. Da unten würde sich dann schon das allzu heiße Blut ein wenig abkühlen. Er verstand sofort, daß es Akunian dabei nicht am wenigsten darum zu tun war, seine russischen Freunde von den gefährlichen Terroristen zu befreien und sie zugleich an einen für ihre Art geeigneten Ort zu verpflanzen, wo auch sie der großen Sache der Freiheit nützlich sein konnten.
Während eifrig über diesen Gegenstand disputiert wurde, hielt Viktor wieder einmal in dem prächtigen Saal Umschau. Sonderbar und auffallend erschien es ihm, daß sich in der Nähe der kleinen Tür, durch die vorhin Manja eingetreten war, in Mannshöhe über dem Parkett zwei Nischen befanden. Sie standen leer und kahl und störten dadurch den schönen Raum. Einst mochten sich in diesen beiden Nischen Götterstandbilder oder dergleichen befunden haben. Warum man sie wohl entfernt hatte? Weshalb man wohl nicht etwas anderes in sie hineingestellt? So sahen sie abscheulich aus. Je länger er hinsah, um so mehr störten sie ihn, um so mehr wunderte er sich aber auch über diese Geschmacklosigkeit in einem Haus, in einem Palais, das im übrigen soviel Schönes von dem guten Geschmack seiner Bewohner zu sagen wußte. Seine Aufmerksamkeit wurde davon wieder abgelenkt durch Manja, die sich ebenfalls sehr für den Plan Akunians aussprach und zu Viktors nicht geringem Schrecken zugleich erklärte, sie wolle sowieso in Kürze einmal nach Täbris reisen im Interesse einer engeren Verbindung mit den armenischen Komitees. Sie bäte um Bevollmächtigung, bei der Gelegenheit auch über Akunians Plan mit den armenischen Komitees verhandeln zu dürfen. Man war damit einverstanden.
Nachdem man noch ein wenig geplaudert hatte, sprach der alte Bauer wieder auf Russisch einige Worte, die Viktor nicht verstand, und aufs neue ließen sich alle auf die Knie nieder. Wieder bewegte Viktor diese Situation aufs tiefste. Sollte er vielleicht doch schon jetzt Manja, wo sie offenbar vorhatte, Moskau bald zu verlassen ... sollte er doch? Da bemerkte er, wie sie leicht zusammenzuckte, erblaßte und horchte. Er blickte um sich. Auch die andern waren zusammengezuckt, horchten gespannt und sahen einander besorgt an.
Wie gelähmt in jähem Schreck blieben sie auf den Knien liegen. Noch ehe sich Viktor klar wurde, was los war, wurde die große Tür aufgerissen, und herein trat ein Polizeioffizier mit mehreren Gendarmen und Polizisten. Wie der Blitz saßen alle wieder auf ihren Stühlen. »Gott sei Dank!« murmelte Rohden, »es ist wenigstens nicht der Kleine, Graue, nur ein gewöhnlicher Tölpel.« Die Fürstin hatte einen kleinen Schrei ausgestoßen, als sie den Polizeioffizier erblickte, der nun langsam, mit einem höhnischen Lächeln um die Lippen, sich ihr näherte. »Bin ich nicht ein getreuer Verehrer, Fürstin?« sagte er mit heller, lauter Stimme, der man den Triumph anhörte.
»Was führt Sie hierher zu dieser Stunde, Sergei Alexandrowitsch?« fragte leise der Fürst.
»Sie fragen noch?« rief laut der Polizeioffizier und lachte höhnisch dazu. »Sie wissen doch, wie sehr ich Marja Feodorowna verehre. Oder bin ich nicht ihr treuester und ältester Verehrer?«
Der Fürst und die Fürstin schwiegen, denn das Schicksal aller Anwesenden war in ihre Hand gegeben. Reizten sie den Polizeioffizier durch ein Wort, wurde die Situation für alle nur schlimmer.
Lächelnd sah der Offizier von einem zum andern.
»Dacht ich's doch, daß ich eine solche Gesellschaft hier fände. Hätten Sie auf mich gehört, Fürstin, wären Sie jetzt besser geborgen. Aber Sie wollten ja nicht, Sie zogen ja den Minkow vor, haha!«
Die Fürstin erhob sich stumm und wandte sich zu der kleinen Ausgangstür. Sergei Alexandrowitsch sah ihr spöttisch nach. Als die Fürstin die Tür öffnete, prallte sie erschrocken zurück, denn in ihrem Rahmen erschien ein Gendarm.
»Du siehst, ich kenne dein Haus gut«, wandte sich Sergei Alexandrowitsch wieder an den Fürsten, der Marja Feodorowna zu ihrem alten Platz geleitete.
»Was willst du eigentlich hier? Siehst du nicht, daß wir Gäste zum Tee haben?« fragte der Fürst ruhig.
Sergei Alexandrowitsch lachte wieder laut. »Ich habe noch nie gesehen, daß man den Tee auf den Knien liegend trinkt. Oder ist das eine neue westeuropäische Sitte, die du mit aus Paris gebracht hast, Minkow? Dann verzeihe mir ungebildetem Russen, der nie sein Vaterland verließ, weil er es mehr liebt als alle andern Länder, daß er so dumm ist.«
Der Fürst würdigte ihn keiner Antwort.
»Es täte mir leid, fände ich Marja Feodorowna in schlechter Gesellschaft, Minkow, denn du weißt, wie ich sie verehre, wie ich ihr nur die beste gönne.«
Viktor sah, wie der Fürst aller Selbstbeherrschung bedurfte, um dem Hallunken nicht die einzig richtige Antwort zu geben. Aber er beherrschte sich und schwieg.
Sergei Alexandrowitsch rief barsch einige Gendarmen näher, die sich an der Tafel niederließen, und befahl den Anwesenden, ihre Legitimationspapiere vorzuzeigen,
Manja hatte sich erhoben. »Sie haben Ihren Paß mit?« flüsterte sie.
Viktor nickte zustimmend.
»Bleibe nur hier, mein Täubchen, flattere nicht weiter, du flatterst doch nicht aus diesem Haus!« rief ihr Sergei Alexandrowitsch zu. Aber sie kümmerte sich nicht um diese Worte, sondern schlenderte, scheinbar gleichgültig, als ginge sie das alles gar nichts an, durch den Saal. Viktor folgte ihr voll Sorge um sie.
»Sehen Sie dort die Nische zunächst der kleinen Tür?« Viktor nickte. »Folgen Sie mir langsam, unauffällig dorthin.« Viktor tat es. Manja lehnte sich scheinbar sorglos an die Wand in nächster Nähe der bezeichneten Nische. Aber zum erstenmal sah Viktor, wie sie erbleichte, während sie sorgsam die Entfernung vom Boden bis zur Nische abschätzte. »Ich habe keine Legitimationspapiere«, flüsterte sie. »Auch keine falschen, weil ich alle Unehrlichkeit hasse ... Verhaftet man mich, schleppt man mich mit aufs Kommissariat, ist die Lage für mich übel, denn dann werde ich wohl dem Chef vorgeführt, und der identifiziert mich leicht.« Ihr Atem ging schneller, und ihre Augen verdüsterten sich über den Gedanken, der ihr kam, wenn sie sich als Gefangene, Verdächtige vorstellte, die der Chef mit Leichtigkeit agnostizieren konnte, denn sie wußte, daß man dort ihr Bild hatte, daß man nach ihr fahndete.
»Kann ich etwas für Sie tun? Ich bin zu allem bereit!« flüsterte Viktor.
Zum erstenmal sah Manja den Vetter etwas genauer, interessierter an. Bleich war er auch. Aber das waren sie alle. Jedoch energisch, klug, tatkräftig sah er drein. Langsam meinte sie, während sie den Blick nicht von ihm ließ: »Sie können etwas tun. Aber es ist sehr gefährlich. Mißlingt es, sind wir beide verloren, denn wenn die Polizei in Rußland einmal erst ernstlich Verdacht schöpft, kommt man so schnell nicht wieder aus ihren Händen.«
»Bitte, worum handelt es sich?« fragte Viktor kurz, bestimmt, als gelte es irgendeinen militärischen Befehl.
»Wenn der Offizier sich über die Papiere beugt und die Gendarmen gerade nicht hierher sehen, dann schieben Sie mir ihre Hand unter den Fuß, so, als wollte ich zu Pferd steigen, und heben mich blitzschnell in die Nische. Ebenso schnell werde ich mich erheben, und in demselben Augenblick, wo Sie merken, daß ich stehe, drücken Sie hier an diese Stelle, fest und kurz ... Die Hauptsache ist, daß niemand mich sieht, wenn Sie mich zur Nische heben, und daß alles so schnell wie möglich, in ein paar Sekunden geschieht. Sehen Sie die Stelle, die Sie drücken sollen?« Viktor nickte. Er bemerkte mit dem guten Auge des Reiteroffiziers an der Stelle, auf die Manja gedeutet hatte, einen kreisrunden Einschnitt.
»Wenn Sie kurz und stark drücken, setzt sich ein verborgener Mechanismus in Bewegung, die Nische dreht sich blitzschnell, geräuschlos, und ich bin gerettet, denn sie führt durch einen besonderen Gang zu den Ställen, von wo ich leicht das Freie gewinnen kann.«
Der Polizeioffizier sah zu den beiden. »Gehen wir ein paar Schritte weiter,« flüsterte Viktor, »sonst fallen wir ihm auf, und er wittert etwas.« Seine Stimme klang so ruhig, beherrscht, daß Manja ihn wieder musterte. Es wollte ihr scheinen, als sei dieser unbekannte Vetter aus Deutschland ein ganzer Mann.
»Jetzt!« sagte Viktor leise und faltete die Hände, um sie unter ihren Fuß zu schieben. Aber im selben Augenblick bemerkte er, wie einer der Gendarmen herübersah. Er beugte sich noch etwas tiefer und wischte sich mit dem Taschentuch sehr interessiert den Staub von den Schuhen.
»Was Sie für Not mit mir haben, es tut mir aufrichtig leid«, meinte Manja leise, und Viktor spürte, wie sie selbst aufgeregt, nervös wurde.
»Seien Sie ruhig, Manja,« flüsterte er, »es wird schon geraten.«
Sie lächelte leicht, wußte selbst nicht recht, weshalb. Vielleicht wegen dieser Anrede? Doch in demselben Augenblick fühlte sie sich hochgehoben. Viktor drückte auf die Stelle an der Wand, die Nische drehte sich blitzschnell und geräuschlos. Manja war verschwunden.