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Ich habe ihn wiedergesehen, großer Gott, in welchem Zustande!
Jahre, viele, viele Jahre sind vergangen, da ich ihm zum letztenmale ins Auge geschaut – 's war auf der Universität in H..., wo ich zu gleicher Zeit mit ihm studirte. Ich will ihn Abner nennen, – der Name, unter dem ich ihn wiedergefunden. Er war von geringer Herkunft und Waise, aber ein viel versprechender junger Mann, der sich damals der Erfüllung des theuersten Wunsches, des höchsten Ehrgeizes seines Lebens – einer akademischen Laufbahn – nahe glaubte. Er selbst hatte eine kleine Summe Geldes zusammengespart und einige Freunde, welche Vertrauen zu seinen Gaben besaßen, sich erboten, das Fehlende aufzubringen. Jeder prophezeite ihm eine glänzende Laufbahn, und er selbst fühlte sich von Hoffnung und Freude trunken. Er war eine freundliche, mittheilsame Natur und bei allen Kommilitonen beliebt, wiewohl er keiner Verbindung angehörte, auch sonst die Wirthshäuser mied.
Als das Leben uns getrennt und auch der Briefwechsel, den wir eine Zeit lang gepflegt, aufgehört hatte, dachte ich noch oft an ihn und erwartete immer etwas Besonderes, eine bedeutende wissenschaftliche That von ihm zu vernehmen.
Und jetzt hatte ich ihn wiedergefunden – im Irrenhause!
Es kam so. Ich war als Kreisrichter nach – Burgstadt, will ich sagen, versetzt worden, woselbst sich in einem alten befestigten Schlosse eine Idiotenanstalt befand. Einst erhielt ich von zwei Bekannten eine Einladung zu ihrer Besichtigung, die ich annahm.
Unter Führung eines dienstfertigen Aufsehers gelangten wir aus einem kleinen Thorweg zwischen ungeheuer dicken Mauern in eine Art Vorhalle, welche freien Ausblick auf einen großen offenen Hofraum gewährte. Eine Steintreppe verband die Terrasse mit dem Hofe unten, in welchem verschiedene Gestalten friedlich auf und nieder schritten. Ich schaute über die eiserne Ballustrade und bemerkte etwa auf der Mitte des Stufenganges einen sonderbaren Gegenstand, der mir anfangs ein unordentlicher Haufen alter Kleider schien; erst ein zweiter Blick belehrte mich, daß das betreffende Etwas sich bewegte und ein menschliches Wesen in der abscheulichen gelbgrauen Gefangenkleidung war. (Ich muß hier einschalten, daß zur Zeit meines Besuches die alte barbarische und unmenschliche Behandlungsweise Geisteskranker noch herrschend war, die eine Schmach für die Menschheit gewesen.) Die Gestalt kauerte auf Händen und Knieen und mußte in langsames und schwieriges Schreiben oder Zeichnen auf den Steinstufen vertieft sein.
Der Aufseher bemerkte meine Aufmerksamkeit.
– 's ist einer unserer Idioten, mein Herr, erklärte er unaufgefordert. Wir nennen ihn Abner – ein ziemlich harmloses Geschöpf, wenn er nicht seine Anfälle hat; dann aber gehört er zu den Schlimmsten.
– Bekommt er seine Anfälle oft?
– Vier bis fünfmal im Jahre. Die Veränderung in seinem Blick, in seinem Wesen zeigt sie uns stets vorher an und läßt uns durch scharfe Wacht allem Unheil vorbeugen.
Inzwischen waren wir die Treppe hinabgestiegen und zu Abner gelangt; doch erhob er sein Haupt nicht, noch nahm er sonst die leiseste Notiz von unserer Gegenwart, bis der Aufseher ihn berührte und anredete:
– Nun, Abner, wie geht's heute? Siehst Du nicht, daß hier Besuch gekommen ist, um Dich zu bewillkommen?
Ein regelmäßiges, gefurchtes Gesicht – ein völlig ausdrucksloses Antlitz hob sich einen Augenblick zu uns empor, und ein Paar große graue Augen ruhten ohne jeden Blick des Verständnisses oder der Antheilnahme eine Sekunde abwechselnd auf Jedem von uns. Dann wandte sich der Arme ohne ein Wort oder ein Zeichen, daß ihm etwas Anderes als die vertraute Stimme des Aufsehers zum Bewußtsein gekommen, gleichmüthig seiner Beschäftigung zu und vertiefte sich wieder in sein langsames, schwieriges Kritzeln auf den Stufen.
Ich hatte ihn nicht erkannt – zu tiefe Spuren seiner grausamen Leiden hatte die Zeit in sein Antlitz gegraben!
– Was macht er da? fragte ich den Aufseher im Weiterschreiten.
– In dieser Weise beschäftigt er sich Tag für Tag, wenn ihn nicht sein Paroxismus befällt und wir ihn einsperren müssen. Er schreibt seinen Namen, wie Sie sehen, ein Datum und einige seltsame Schnörkel auf jede Stufe, von der niedersten bis zur höchsten; und wenn Alles bekritzelt ist, wischt er die Stufen wieder rein und beginnt von Neuem. Dieser Beschäftigung hat er in all den fünfzehn Jahren, die er sich hier befindet, obgelegen.
– Ist er ein irrsinniger Verbrecher?
– Ja, Herr, er hat einen Knaben mit einer Heugabel ermordet. Er war früher Schulmeister und wie ich hörte, ein sehr tüchtiger Lehrer.
Ich wandte meine Augen auf Abner zurück. Dort lag er auf Händen und Knieen, ununterbrochen kritzelnd und seiner Umgebung vollkommen unbewußt. Und so waren Tage und Wochen und Monate und Jahre – fünfzehn lange Jahre über sein Haupt hingegangen! Welch ein Tod im Leben! Ich sann und fragte mich, ob niemals ein Strahl der Vernunft, ein Blitz der Erinnerung die düstern leeren Kammern seines Gehirns einen Augenblick erleuchteten; die Welt ihm immer, wie in diesem Moment, so völlig Oede, furchtbares, entsetzliches Nichts sei! –
Ein gellender Schrei zerriß jäh meine Gedanken, ein Schrei – so schauerlich und erschreckend in seiner Plötzlichkeit, so gräßlich in seiner rasenden Wuth, daß ich mich einen Augenblick vor Verstörtheit wie gelähmt fühlte. Unwillkürlich dachte ich an Abner und warf einen schnellen angstvollen Blick zurück. Doch nein! Nimmer konnte das Geheul von ihm herstammen; ruhig saß er in seiner ewigen stumpfen Versunkenheit. Ich sah an den erschreckten Gesichtern meiner Gefährten, daß sie meine Besorgnisse getheilt hatten. Nur der Aufseher war unbeweglich geblieben und beschwichtigte unsere Angst mit ruhigem Lächeln, wie Einer, dem solche furchtbaren Töne so vertraut wie andern Menschen das Krähen des Hahnes sind.
– Das Gebrüll kommt aus dem Frauenrevier, meine Herren. Eins der Weiber ist heute von der Raserei befallen und wahrscheinlich soeben eingesperrt worden.
Er benahm uns jede Besorgniß, in persönliche Berührung mit dem Wesen, das dieses teuflische Geheul ausstieß, zu kommen, und wir beneideten diejenigen nicht, denen pflichtgemäß die Rasende einzukerkern oblag. Und auch dieses apathische, ruhige, gutmüthige Geschöpf, an dem wir soeben vorübergeschritten waren, konnte sich plötzlich in ein rasendes wildes Thier verwandeln? Ein unerklärlicher Antheil zog mich zu Abner, ich fühlte eine seltsame Neugierde, ihn in so furchtbarem Wuthanfalle zu beobachten, und äußerte diesen krankhaften Wunsch zu einem Begleiter. Der Wärter vernahm es und wandte sich mit düsterm Ausdruck zu mir:
– Ein zweites Mal würde Sie nicht danach gelüsten, Herr, wofern Sie nicht gegen alle Furchtbarkeiten gepanzert sind. Der Anblick ist gräßlich; erschütternd, seine Sprache zu hören.
Ich schämte mich meines albernen Wunsches. Während dem hatten wir den Hofraum erreicht, wo einige Dutzend oder mehr männliche Idioten, meist antheillos, wenige geifernd und schwatzend umherwandelten – zweck- und ziellos wie wilde Bestien in einer Menagerie: ein trauriger Anblick! Wer nicht die Symptome des Irrsinns zu beobachten gewohnt war, dem durften, abgesehen von einem gewissen ruhelosen, umirrenden Ausdruck der Augen, viele völlig gesund erscheinen: Alle zeigten sich ruhig und harmlos ...
Wir hatten unsern Rundgang vollendet, als der Leiter der Anstalt, welcher einen von meinen Gefährten kannte, zu uns kam und uns höflich zum Frühstück einlud. Meine Gedanken weilten noch bei Abner; und auf meine Frage erfuhr ich von dem Direktor, daß der Unglückliche einst mein Freund gewesen; erfuhr ich die vollständigen Einzelheiten seiner leidvollen und tragischen Geschichte.
– So wissen Sie also, daß Freunde ihm die Mittel zum Studium gewährten und er mit wahrem Feuereifer und hoffnungsreicher Freude dem erstrebten Ziele entgegenrang, – als ein Schlag all das geträumte Glück vernichtete. Seine einzige Schwester, die er leidenschaftlich liebte, verlor plötzlich durch einen Unfall ihren Gatten und blieb mittellos und allein mit zwei Kindern zurück. Bruder und Schwester waren in früher Jugend verwaist und zusammen von einer alten Tante, ihrer einzigen Verwandten, erzogen worden. Bald nach ihrer Nichte Vermählung starb die Tante, und so besaß die junge Wittwe Niemand auf der Welt, bei dem sie Hülfe und Stütze finden konnte, als ihren Bruder. Abners Entschluß war sofort gefaßt. Es war ihm klar, daß er seine ehrgeizigen Hoffnungen opfern mußte, um für seine Schwester und ihre Kleinen ein Heim zu schaffen. Die Lehrerstelle an der Volksschule seiner kleinen Vaterstadt wurde vakant; er bewarb sich und erhielt Anstellung. Das Einkommen war gering; doch setzte es ihn in den Stand, seiner Schwester und ihren Kindern eine Heimath anzubieten. Und in diesem Heim lebten sie mehr als vier Jahre recht glücklich zusammen. Abner widmete sich den Kindern, zwei Knaben, mit einer Sorgfalt und Liebe, als wären sie seine eigenen. Besonders dem älteren galt seine Neigung, er war sein Lieblingsgefährte. Acht Jahre zählte das Kind, als eine tödtliche Krankheit es befiel und hinraffte. Abners Schmerz war unsagbar, ergreifend; der Verlust schien unersetzlich, und erst spät und langsam begann er sich dem überlebenden Knaben hinzugeben und in der Gesellschaft des lebenden Bruders Trost für den Verlorenen zu suchen. Doch war er nie ganz der Alte, wie vor des Kindes Tod; eine tiefgreifende Veränderung mußte in ihm vorgegangen sein. Gelegentlich überfiel ihn eine Niedergeschlagenheit, ein Trübsinn, den all die liebende Sorge der Schwester, das süß-naive Geplauder des Kindes nicht zu bannen vermochten. Mehrere Monate ging Alles seinen gewohnten Gang. An einem Sommertag in der Erntezeit nahm Abner den Knaben zu einem Ausflug mit, von dem er gegen Mittag allein heimkehrte. Auf seiner Schwester Frage antwortete er, daß das Kind nicht fern mit andern Knaben auf dem Felde unter der Obhut eines Nachbarn spiele, der versprochen, nach dem Knaben zu sehen, bis er vom Spiel ermüdet nach Hause wünschte. Die Mutter beruhigte sich bei dieser Erklärung, doch fiel ihr auf, daß der Bruder übergewöhnlich schweigsam und traurig war. Als das Mahl beendet, sagte er zur Schwester:
– Komm, laß uns nach unsern Kindern sehen.
Sie erinnerte sich später, daß er auf die Mehrzahl Gewicht gelegt, im Augenblick verstand sie nur, daß er ihren Knaben und seine Spielgefährten meinte.
Sie gingen zusammen aufs Feld, und Abner führte sie zu einer schattigen Ecke der Wiese, wo, auf einem Heuhaufen bequem ruhend, das Kind anscheinend schlafend lag.
– Berühr' ihn nicht, sagte Abner, er ist zu glücklich, um gestört zu werden.
Eine seltsame Blässe bedeckte des Knaben gewöhnlich so rosiges Antlitz und beunruhigte die Mutter. Aengstlich bog sie sich nieder, als Abner sie rauh am Arme aufriß.
– Laß sie allein, flüsterte er heiser. Siehst Du nicht, daß sie beisammen und glücklich sind!
In ihrer mütterlichen Angst um den Liebling achtete sie kaum auf diese seltsamen Worte, neigte sich und berührte sanft des Kindes Wange – sie war todeskalt. Sie stutzte und riß dann wild den Knaben in ihre Arme – die kleinen Glieder waren steif, die Kleider blutgetränkt. Mit einem durchdringenden Schrei des Entsetzens sank sie ohnmächtig mit dem Kinde in ihren Armen nieder. Als die Mäher vom entgegengesetzten Ende der großen Wiese herbeigeilt kamen, fanden sie Mutter und Kind allein und beide anscheinend todt – Abner war verschwunden. Die arme Mutter erwachte wieder zum Leben, das Kind war kalt und todt, mit einer Heugabel, die im Heuhaufen verborgen lag, mitten durchs Herz gestochen.
Alle Nachforschungen nach Abner blieben erfolglos; erst zehn Tage nach der Katastrophe kehrte er völlig verändert, ganz unkenntlich, verstört und hager und zerlumpt in sein Haus zurück. Niemand hat erfahren, wo er in der Zwischenzeit geweilt. Er machte keinen Fluchtversuch, ließ sich ruhig festnehmen. Er war augenscheinlich wahnsinnig. Bis zur Verurtheilung sprach er zu keiner lebenden Seele ein Wort. Das Gericht schickte ihn als irrsinnigen Verbrecher für den Rest seines Lebens hierher.
Das war Abners Geschichte, in ihrer Einfachheit so rührend, und sie grub seine Gestalt unauslöschlich in meine Erinnerung ein.