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Der russische Christ
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M. M. Prischwin

1873-1954

Das Kreuz im Walde

Eine vom Blitz getroffene und angezündete Fichte raucht. Der Rauch zieht sich über dem Walde wie der Schweif des Tieres mit den zehn Hörnern. Er scheint zu schlafen.

Die Pilger kehren von der Jahresfeier des heiligen Warnawa in ihre heimatlichen Urenischen Wälder zurück. Das Floß gleitet lautlos über die Wetluga. Die schwarzen Dreiecke der Kopftücher, die spitzen Nasen, die greisen Kinne, die mißtrauischen Augen der Waldbewohner – alles scheint gespannt und auf der Hut zu sein. Auf dem Wasser darf man nicht sprechen.

Das Floß stößt ans Ufer. Jemand Schwerer, der über dem Walde schlief, erwacht, kriecht an den Gipfeln der Fichten entlang, komme immer näher heran, bäumt sich und blickt finster und freudlos.

Die Pilger bekreuzigen sich vor der schlanken Kapelle und verschwinden einer nach dem anderen zwischen den Fichten.

Rechts und links ziehen sich viele Werst weit grüne Mauern. Es gibt viel Farnkraut, Eichhörnchen und maiglöckchenbewachsene Waldwiesen.

Es sind die von den Nachkommen der von Peter dem Großen verbannten Strelitzen bevölkerten Urenischen Wälder. In Warnawino wurde mir so viel über dieses Land erzählt, daß ich wieder meinen ursprünglichen Reiseplan aufgab und frei und unabhängig weiterfuhr, mich ganz auf die unsichtbaren geheimen Gefährten verlassend, die mich auf meiner ganzen Reise begleiteten. Vor mir lag das Buch Gottes – nun hieß es darin lesen und ein Blatt nach dem anderen umwenden.

Der Gott dieser Wälder ist streng und vierschrötig, er blickt mißtrauisch mit krauser Stirn und läßt sich mit zwei statt mit drei Fingern anbeten. Auch die Menschen sind hier unfreundlich. Ihre Kleidung, Sitten und Gesichter sind anders als bei den Bewohnern meiner heimatlichen Ebene. Kommt es denn nur daher, daß sie das Zeichen des Kreuzes mit zwei und nicht mit drei Fingern machen?

Um ihnen näherzukommen, vergesse ich die drei Finger, gebe das Rauchen auf, verzichte auf Tee und Fleisch. Und doch spüre ich etwas wie Angst. Die erste Bedingung für die Annäherung ist vollkommene Aufrichtigkeit. Wie soll ich aber aufrichtig sein, wenn die Dinge, die zu ihrem Kult gehören: die uralten Ikonen, die sieben Abendmahlbrote, der Gottesdienst nach dem Laufe der Sonne und das Zeichen des Kreuzes mit zwei Fingern – für mich nur einen ethnologischen Wert haben?

Ich klopfe nicht ohne Furcht an ein Fenster.

Ein alter Mann, schwarz und fest wie eine Eiche, die hundert Jahre im Moor gelegen hat, öffnet die Tür.

»Wo kommst du her? Was willst du?«

»Ich suche den rechten Glauben.«

»Komm herein.«

In der Ecke hängen Ikonen. Auf dem Tische ist ein großes Buch mit altslawischen Lettern aufgeschlagen; darauf liegt eine Brille mit schwarzen Rändern. Durch das in allen Farben des Regenbogens schillernde Fensterglas ist der Wald zu sehen.

Der Alte forscht mich aus: ob ich nicht irgendwo angestellt bin, ob ich nicht von der Regierung komme?

»Gott behüte. Ich bin nirgends angestellt. Ich komme von einer Zeitung. Ich werde für die Zeile bezahlt.«

»Für welche Zeile?«

»Für so eine!« sage ich, auf das Buch zeigend.

Er setzt sich die Brille auf und blickt in den Psalter.

»Für welche Zeile?«

»Zum Beispiel für diese:

– Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk. –«

»Für so eine Zeile zahlt man euch Geld?« fragt der Alte, mich über die Brille hinweg ansehend.

Ich war verwirrt und glaubte, daß der Alte mich mit der Frage in die Enge treiben wollte; ich hatte mich aber geirrt: er war einfach erstaunt wie ein Kind.

»Es wird wohl so ähnlich sein, wie unser Arbeitslohn für die Ackerfurche,« bemerkte er lachend. »Mein Sohn ist auch so ein Bücherleser. Mischa! Da ist einer gekommen von deinem Fach ...«

Der aufgeweckte Bursche merkt sofort, wie er es anfangen soll. Er hat auf seinem Bücherbrett eine Menge heiliger Bücher in gelben Ledereinbänden mit Schließen stehen. In einem dieser Bücher sehe ich die mir vertrauten engen russischen und nicht altslawischen Zeichen. Es ist die »Lebensbeschreibung des Protopopen Awwakum« von Mjakotin. Dieses in Petersburg erschienene wissenschaftliche Werk ist aber genau wie die heiligen Bücher gebunden und steht neben den anderen auf dem gleichen heiligen Bücherbrett.

»Dies da sind unsere Zeilen!« rufe ich freudig aus.

»Sie sind also auch so einer wie Mjakotin?«

»Gewiß, gewiß, ich bin wie Mjakotin.«

Ich blicke durch das schillernde Fenster: es wird hell im Wald, das Gesicht des mißtrauischen und strengen urenischen Gottes heitert sich auf. Ich sehe plötzlich vor mir eine Brücke, an der ich auch selbst mitgebaut habe.

Michail Erastowitsch, der Sohn des Alten, will »für die Wissenschaft« alles tun, was er nur kann.

»Wir wollen Ihnen alles zeigen,« sagen mir die beiden. »Wir wollen Ihnen jeden Glauben zeigen. Es gibt hier heilige Orte, heilige Männer, himmlische Schriftgelehrte. Zu wem sollen wir Sie geleiten?«

»Zu Maxim Sjergejewitsch?« fragt der Sohn.

»Der disputiert jeden Popen zu Tode!« erklärt der Vater entzückt.

»Oder zu Alexander Fjodorowitsch?«

»Der ist tüchtig!«

»Oder zu Dmitrij Iwanowitsch?«

»Eine wahre Schlinge!«

»Oder zu Pjotruschka?«

»Bringe ihn zu Pjotruschka. Mit diesem wollen wir anfangen.«

Morgen früh werden sie mich in undurchdringliches Waldesdickicht bringen, zu einem Heiligen, der seit siebenundzwanzig Jahren in einer Waldgrube sitzt und seine Seele rettet. Heute bewirten sie mich. Dem »Gelehrten« ist es sogar erlaubt, etwas Tee zu trinken, eine Zigarette – am offenen Fenster – zu rauchen und Dinge zu essen, die in der Fastenzeit verboten sind.

Es ist ein Zufall, eine Ausnahme im Leben der Altgläubigen. Dann kommt noch ein Zufall, noch eine Ausnahme. So wird aus lauter Ausnahmen eine wunderbare Regel entstehen. Dies ist eben meine ganze Reise.

Der Heilige wohnt irgendwo in der Nähe des Dorfes Berjosowka. Der Weg geht durch den Wald über Stümpfe und gestürzte Bäume. Der durchgehauene Weg scheint unendlich: es ist, als ob der Waldteufel durch die hohle Hand zu uns aus seinem Dickicht herübergeblickt hätte und sinnend stehengeblieben wäre. Vielleicht betrachtet er einen schwanzlosen gerupften Kobold, der aus einer roten Lehmgrube auf den schwarzen Acker gekrochen ist und sich in der Sonne wärmt.

Der Waldteufel sinnt ... Mein Begleiter, Michail Erastowitsch, glaubt aber, daß dort jenseits des Waldes eine wunderbare Welt liege...

Um der »Wissenschaft« zu dienen, hat er seine ganze Wirtschaft im Stich gelassen und führt mich durch den Wald. Er glaubt, daß mir beide ein großes Werk für die unbekannte große Welt, die dort hinter den Wäldern liegt, tun.

»In der Nähe der Stätte, wo der Heilige wohnt,« erzählt er mir, »stand einst am Ufer der Usta die schöne und berühmte Einsiedelei Krutojar. Sie hätte wohl ewig gestanden, wenn nicht der Teufel den Kaiser Nikolai I. aufgehetzt hätte. Der Kaiser schickte einen Boten aus Petersburg, um das heilige Kloster zu vernichten. Man begann die Zellen abzubrechen. Alle wurden von Entsetzen ergriffen; man glaubte, ein neues Menschengeschlecht werde geboren. Die Zellen wurden abgebrochen. Ein Verräter von den unsrigen, Aljoscha Toska, riß das Kreuz von der Kapelle herunter. Das Kloster erlosch. Der Bote ritt heimwärts. Der Kaiser wurde aber um jene Zeit von einer schweren Krankheit befallen, er bereute und sagte: Ich sollte doch das fromme Kloster nicht vernichten lassen! Er schickte einen zweiten Boten, um den ersten Befehl zurückzuziehen. So eilten die beiden Boten: der eine aus Krutojar nach Petersburg, der andere aus Petersburg nach Krutojar... Und als sich die beiden Boten begegneten, so...«

Ein schrecklicher, unmenschlicher Tod ereilte Nikolai I. gerade in dem Augenblick, als sich die beiden Boten begegneten. Um die Todesart zu schildern, führt Michail Erastowitsch seine Hand an den Mund und dann an die Knie: so lang soll dem Toten die Zunge herausgegangen haben.

Von der Einsiedelei waren nur zwei Gräber und das gestürzte Kreuz übriggeblieben. Zweimal im Jahre versammeln sich hier im Waldesdickicht bei den Gräbern zahllose Gläubige.

Wir haben ja jetzt das Gesetz von der Glaubensfreiheit – denke ich mir, während ich diesen Erzählungen lausche. Man könnte alle noch im Volke lebenden Erinnerungen an die Einsiedelei sammeln, den Plan rekonstruieren, eine genaue Beschreibung anfertigen und dies alles dem bekannten Beschützer der Sektierer, dem Großkaufmann Bugrom zu Nischnij-Nowgorod vorlegen. Vielleicht wird er das nötige Geld geben, die Regierung wird wohl auch nichts dagegen haben – und so kann die alte Einsiedelei wieder erstehen. Zahllose Menschen werden darüber selig sein.

»Ich werde mein Leben lang für Sie beten,« sagt mir mein Begleiter.

»Gut, wir wollen es versuchen.«

Im Dorfe umringen uns viele Leute. Anfangs sind sie mißtrauisch.

Michail Erastomitsch flüstert aber ihnen etwas zu, immer auf mich zeigend.

Wie viele Legenden sind wohl dort im Walde über mich entstanden! Wenn man die Tiefe der lebenden Volksseele auch nur leise berührt, antwortet sie darauf mit nie verhallender Stimme.

Mein Begleiter raunt den alten Männern und Weibern etwas zu, und ich errate sofort den Inhalt der Legende: neue Zeiten sind angebrochen, der Zar hat aus der fernen Hauptstadt einen geheimen Vertrauensmann in die Wälder geschickt, der das Alte wiederherstellen soll.

Neue Zeiten sind angebrochen. Eine Alte schlägt vor, daß man im Psalter nachschlage und feststelle, ob jetzt das achte oder das neunte Jahrtausend sei und was alles zu bedeuten habe. Alle freuen sich über meine Ankunft, alle wollen am heiligen Werk mitarbeiten. Ich fühle, daß ich den innersten Nerv ihres Lebens berührt habe, daß ich in die innigste Berührung mit ihnen trete. Der eine bringt mir einen Ziegelstein – einen heiligen Rest von Krutojar, der andere – einen Splitter von einem ehernen Kreuz. Vor allen Dingen will man mir aber zwei uralte heilige Ikonen zeigen. Ein Greis mit vertieftem milden Blick, der vom Volke erwählte Hüter des Heiligtums, führt mich in die alte Kapelle, die auf dem Friedhofe unter einer Kuppel von Tannen- und Fichtenästen steht.

Die Kapelle sieht von außen düster aus; das Kreuz ist mit Gras und Moos bewachsen. Doch innen ist es freundlich und sauber. Wie vor uralten Zeiten ist die Kapelle durch einen leinenen Vorhang in zwei Hälften geteilt: der Vorhang scheidet die Männer von den Frauen, das Stroh vom Feuer.

Alle bekreuzigen sich mit zwei Fingern. Es riecht nach glimmendem Holz. Ein leises Flüstern geht von den uralten Büchern zu den finsteren Antlitzen der Ikonen.

»Die Einrichtung ist vortrefflich,« sagt mir der milde Priester, indem er mir die Geschichte eines jeden Buches, das der allgemeinen Zerstörung entgangen ist, berichtet. »Die Einrichtung ist vortrefflich,« wiederholt er immer; »auch die Bücher und die Gottheit sind gut.«

»Die Gottheit ist gut,« spreche ich ihm nach.

»Ein wunderbar erschienener heiliger Nikola,« sagt er freudig, auf eine alte dunkle Ikone zeigend. »Er ist uns in einem Bach erschienen.«

»Schwarz ist er ...« sage ich. »Man kann nichts erkennen...«

»Er ist verrostet,« entgegnet der Alte und versucht mit dem Ärmel das heilige Antlitz blank zu reiben.

Ja, es sind Götter, sage ich mir, echte Götter. Jemand hatte mir einst erklärt, daß es nicht Götter, sondern ihre Darstellungen, gewissermaßen Photographien seien. Jetzt begreife ich aber, daß diese Erklärung falsch war. Das Herz sagt mir, daß es doch Götter sind. In meiner Kindheit habe ich sie gekannt, gefürchtet und verehrt. Es sind die gefürchteten und doch geliebten Götter meiner Kindheit.

»Die Gottheit ist gut,« sage ich ganz automatisch.

»Ja, die Gottheit ist gut, die ganze Einrichtung ist vortrefflich,« wiederholt freudig der milde Priester.

Ich sehe plötzlich das ferne Flämmchen meiner Kindheit; es ist so weit von mir, so geheimnisvoll. Unendliche alte kalte Parallellinien laufen zu dieser fernen Flamme zurück, und sie vereinigen sich alle zu einem unendlich feinen Faden. Dort hängt irgendwo mein heiliges, von einem schwarzen Blendschirm überschattetes Lämpchen. Soll ich zurückblicken und unter den schwarzen Schirm schauen?

Nein, es ist mir unmöglich. Die kalten Linien sind unendlich: ich kann unmöglich die Stelle finden, wo sie zusammenlaufen und einen einzigen Faden bilden.

»Die Gottheit ist vortrefflich,« sage ich, die Kapelle verlassend.

»Vortrefflich ist die Gottheit, die ganze Einrichtung ist gut,« wiederholen alle Gläubigen. Sie umringen mich und bestürmen mich mit ihren Bitten:

»Schaffe den Popen Nikola von hier fort. Er hat die Gottheit übermalt...«

»Was hat er getan?«

»Als man das Kloster zerstörte, nahm man die besten Ikonen weg und brachte sie in die Nikonianische Kirche. So hingen dort diese von Anbeginn heiligen Bilder lange Zeit. Der Pope Nikola hat sie übermalt.«

»Er riß von ihnen die silbernen Bekleidungen herunter.«

»Einem jeden Heiligen malte er einen dritten Finger hinzu.«

»Er hat sie jünger gemacht.«

»Sie sehen jetzt so lustig aus, wie betrunken.«

»Sage doch dem Zaren, daß der Pope Nikola die Gottheit übermalt hat.«

»Gut...«

»Sage es ihm doch, sage es ihm doch, Lieber! Wirst du es ihm sagen?«

»Ja, ich werde es ihm sagen.«

»Wie gut du bist! Gott beschütze dich auf deinen Wegen.«

»Noch etwas, Lieber,« bittet mich jemand. »sage noch dem Zaren, daß es ihm nicht ansteht, mit drei Fingern zu beten. Wirst du es ihm sagen?«

»Ich werde es ihm sagen.«

»Seht ihr?« wendet sich die Alte an die Menge, auf mich zeigend. »Seht ihr? Er war ein Saulus und ist ein Paulus geworden. Man soll doch im Psalter nachschlagen: das wievielte Jahrtausend mag jetzt sein?«

In jedem Dorfe wiederholte sich dasselbe: überall wurden mir heilige Überreste der Einsiedelei gezeigt, überall wurde ich mit Bitten bestürmt, den Altgläubigen zu helfen. Im Walde wurde unser Wagen oft von großen Kreuzen überschattet; es waren lauter altertümliche Kreuze mit acht Enden. Das Ganze erscheint mir wie ein altes Buch, das von uralten Zeiten handelt. Die lebendige Sonne und die lebendigen Bäume blicken auf die vergilbten Seiten mit den altslawischen Lettern herab. Auf den Seiten des Buches gibt es viele echte Blumen, besonders Maiglöckchen. Das Wichtigste fehlt aber: das Buch ist tot. Gott hat es verlassen. Er langweilte sich darin. Er hat sich aus dem Buche entfernt. Die Menschen suchen ihn aber noch immer in den vergilbten Seiten.

An einer Stelle erhebt sich über dem Walde eine mächtige Kuppel von Fichtenkronen. Es ist wohl ein alter verlassener Friedhof: der Wald wurde einmal abgehauen, und nur die Fichten über den Gräbern blieben verschont.

Ich will den alten Friedhof sehen und dringe in das Dickicht unter der Kuppel.

Nur zwei Gräber sind noch erhalten. Ein alter Mann in schwarzem Kaftan mit einem Rosenkranz in der Hand steht bei den Gräbern und betet.

Ich will ihm zurufen: »Großvater, es ist unnötig zu beten, denn es gibt hier keinen Gott. Er ist fortgegangen, denn es war ihm hier zu langweilig. Gott wohnt jetzt nicht mehr in den Wüsten.« Wie kann ich es ihm aber sagen? Der Alte tut mit leid; er wird mir auch nicht glauben. Soll nur alles so weiter leben, wie es immer gelebt hat.

In jedem Dorf wiederholt sich dasselbe.

In der Nähe von Berjosowka soll aber ein richtiger Heiliger wohnen: so berichtet mir mein Begleiter. Er betet so, daß sich die jungen Birken vor ihm verneigen. Vor beinahe dreißig Jahren floh er noch als Knabe aus der Wolgagegend und kam her, um Gott in diesem Walde zu suchen. Ein gewisser Pawel Iwanowitsch, ein Verehrer Christi, richtete ihm eine Zufluchtsstätte ein: er grub eine Grube im Walde, brachte ein Heiligenbild und eine ewige Lampe hinein und verdeckte sie von oben mit Brettern und mit Moos.

»Bete,« sagte er dem Knaben, »lies und bete, Pjotruschko, bete für meine sündige Seele.«

Siebenundzwanzig Jahre brannte die Lampe in der Waldgrube. Jede Nacht kam der Verehrer Christi heimlich zur Grube, brachte Brot und Wasser und flüsterte: »Lebst du noch, Pjotruschko? Gott sei Dank! Lies und bete!« Siebenundzwanzig Jahre lang saß Pjotruschko in der finsteren Grube und betete für Pawel Iwanowitsch und alle Christenmenschen.

Die Kunde vom Gesetz von der Glaubensfreiheit drang auch in die Urenischen Wälder. Pjotruschko kroch aus seiner Grube hervor und baute sich eine Zelle über der Erde. Dann baute er noch eine zweite Zelle, eine dritte, eine vierte... Mehrere fromme Greise und Greisinnen zogen in diese Waldzellen. So entstand eine neue Einsiedelei.

Während Michail Srastowitsch dies erzählte, sagte ich mir: Nein, ich habe mich geirrt: Gott ist gar nicht fortgezogen. Er wohnt noch hier. Der Wald ist aber groß und dunkel. Farnkräuter laufen hie und da aus dem Dickicht auf den Weg.

Vielleicht ist es gar nicht wahr, daß die Welt auf den Spuren Gottes immer weiter und weiter wandelt. Vielleicht dreht sie sich immer um einen Punkt, um das einsame Flämmchen in der Waldgrube.

Noch eine Waldkuppel, noch ein gestürztes Kreuz, ein Durchhau, eine Feldmark – und der Wald flieht plötzlich nach allen Richtungen. Ich sehe gelbe, grüne und blaue Felder. Es ist das finstere Walddorf Berjosowka.

Der Verehrer Christi, Pawel Iwanowitsch, empfängt uns mißtrauisch. Mein Begleiter Michail Erastowitsch ist hier zwar bekannt, doch noch zu jung; er weiß zu wenig von der Gottheit und genießt kein rechtes Vertrauen. Pawel Iwanowitsch ist gelb von Angesicht, wie der Einband eines heiligen Buches. Seine Alte ist freundlich, doch falsch, seine Tochter Annuschka ist weiß wie Schnee und hat ungewöhnlich große Augen.

Wir erzählen von Krutojar und zeigen die heiligen Reliquien. Die gelbe Pergamenthaut glättet sich; man bewirtet uns mit Brot und Kwaß.

Sie hätten uns wohl auch wirklich zu Pjotruschko geleitet. Doch das Ei! Ein gewöhnliches Hühnerei fiel aus meiner Reisetasche heraus und rollte auf den Boden. Es war aber Fastenzeit. Das verbotene Ei erschien in der Hand des Erneuerers der Krutojarer Einsiedelei wie das Horn des Antichrist, wie die Uniformmütze eines Regierungsbeamten.

Auf den Gesichtern der Alten konnte ich aber nichts wahrnehmen. Die Alte geleitete uns freundlich lächelnd auf den Hausflur und erklärte uns, als ob nichts vorgefallen wäre, den Weg: »Dieser Fußpfad führt euch zur Usta, dort findet ihr einen Nachen. Auf der anderen Seite des Flusses, rechts von der Grenzmarke, liegt eine schwarze Eiche; sie liegt seit Noahs Tagen da. Auf dieser Eiche überschreitet ihr einen Bach und gelangt ins Moor. Zwei Werst weit geht ihr durchs Moor und kommt zum Wald. Im Walde gibt es einen Hügel, und dort wohnt Pjotruschko.«

Das Gesicht der Alten drückte keinerlei Hintergedanken aus. Der Russe hat oft die Fähigkeit, seine Gedanken unheimlich tief zu verwahren. Eine böse Vorahnung folgte uns aber in die Wildnis, böse Vorzeichen begegneten uns auf jedem Schritt. Bei der Überfahrt über die Usta wären wir beinahe ertrunken. Auf der Eiche Noahs glitten wir aus. Im Moor stürzte unter uns ein morscher Balken ein. Vor dem Hügel, auf dem die neue Einsiedelei liegt, stießen wir auf einen unpassierbaren Sumpf.

»Pjotruschko!« rufen wir hinüber.

Niemand antwortet. Irgendwo krächzt ein Rabe.

Da wir keinen Steg entdecken können, ziehen wir unsere Kleider aus, waten nackt durch den Sumpf und wischen uns dann mit Farnblättern ab. Auf dem Hügel stehen schlanke Fichten und Tannen, blühen Maiglöckchen und wilde Rosen. Es ist unheimlich still. Die Bäume scheinen zu leben: wir gehen ihnen entgegen, und sie weichen vor uns immer zurück.

Die erste Hütte, die ich sah, erschien mir wie ein großer Ameisenhaufen. Dann entdeckte ich noch eine zweite, eine dritte – sechs Hütten standen im Kreise, die Blicke auf den Mittelpunkt gerichtet. In der Mitte standen unter einem Schutzdach Bänke und rauchte ein offenes Feuer zum Schutz gegen die Mücken. Dies war der Empfangsraum.

Zunächst gehen wir zum Feuer. Wir baden uns im Rauch und heilen uns so von den bösen Bissen der Mücken und Bremsen.

Niemand tritt aus den Zellen. Es ist unheimlich still. Eine weiße Katze schleicht ins Gesträuch, und wir erschrecken beinahe.

Warum zeigt sich niemand?

Jetzt erst fiel mir das sündige Ei ein. Man hat vielleicht einen Boten vorausgeschickt? Vielleicht sind alle vor uns geflohen?

»Herr Jesu Christe!« klopfen wir an ein Fenster. Wir klopfen an ein zweites, an ein drittes und versuchen es an jeder der sechs Zellen. Alles schweigt.

Der schwere Rauch vom Scheiterhaufen ruht auf den Gipfeln der Fichten. Er bewacht die Wildnis und sieht von oben herab, was wir wohl anfangen werden.

Wir kriechen in eine der Zellen, die ist voller Mücken. Sie pfeifen und heulen. Wir finden ein Bündel hausgemachter Schwefelhölzer und brennen eins nach dem andern ab. Die Zelle füllt sich mit Rauch.

Auf dem Boden liegt eine leinene Decke. Schläft vielleicht jemand darunter? Nein.

Auf einem Wandbrett neben dem Ofen stehen selbstverfertigte hölzerne Geräte, wie bei Robinson. Ein kleiner schwarzer Kessel hängt über dem Herde. Auf anderen Wandbrettern stehen viele große Bücher.

Mein Begleiter tut, als ob er zu Hause wäre, nimmt einen Band vom Brett, zieht das Lesezeichen heraus und liest:

»O Wüste! O herrliche Mutter, nimm mich in deine wortlose Stille, in deine freie Waldhalle auf!«

Wir setzen uns auf eine Bank und blicken zum Fenster hinaus. Wieder schreit ein Rabe. Die Mücken heulen. Die jungen Birken bewegen leise die Wipfel.

»Ist das ein Leben!« sagt mein Begleiter.

»Ein stilles Leben,« erwidere ich.

In der nächsten Zelle ist es genau so. Auch in allen anderen Zellen.

Wir gingen auf den Friedhof. Zwei Gräber schienen ganz neu. Zwischen ihnen stand ein hölzernes Lesepult mit einem aufgeschlagen heiligen Buch. So war also erst eben jemand hier gewesen.

Natürlich haben sie sich alle versteckt. Das Ei hat den Frommen Angst gemacht: sie haben einen Boten auf dem trockenen Wege hergeschickt, uns aber den Weg durch den Sumpf gezeigt. Das ist alles.

Mein Begleiter will für die »Wissenschaft« alles tun, selbst Jagd auf seine Glaubensgenossen machen. Ich muß aber an das grüngebundene Buch denken, das ich in meiner Kindheit gelesen: »Die Schädeljäger«. Irgendwo in den sibirischen Wäldern verfolgen bewaffnete Männer unbewaffnete; sie töten sie und bekommen für jeden abgelieferten Schädel Geld.

»Lassen Sie es doch,« bitte ich ihn.

Mein Begleiter versteht aber keinen Spaß, wenn es sich um die Interessen der Wissenschaft handelt. Ihr zuliebe hat er ja auch seine Wirtschaft im Stich gelassen. Nein. Ohne etwas erreicht zu haben, will er von hier nicht fort.

»Wollen wir etwas in den Wald gehen,« flüsterte er mir zu, »und dort warten. Sie werden bald herauskommen. Sie stehen wohl alle hinter den Fichten.«

Wir legen uns auf die Lauer ins Gras, ganz wie die echten Schädeljäger. Um uns her wachsen Heckenrosen, wilde Himbeeren und unzählige Maiglöckchen, die zwar schon gelb sind, aber noch immer herrlich duften. Ich pflücke mir einen Strauß und flüstere meinem Begleiter zu, daß solch ein Strauß in Petersburg zwanzig Kopeken kostet. Nein, wie er sich wundert! Auch er beginnt die Blumen zu pflücken. Er pflückt für zwanzig Kopeken, für vierzig, für einen Rubel, für zwei Rubel. Er will gar nicht aufhören. Er kriecht unermüdlich herum. Sein Strauß wird riesengroß. Er duftet berauschend. Einen Augenblick lang habe ich den Eindruck, daß wir uns beide im Süden befinden, auf einem hohen, sonnenlichtüberfluteten Berge liegen und duftende Azaleen sammeln.

In den Wäldern des Nordens sind solche südliche Offenbarungen nichts seltenes. Es kommt wohl daher, daß die Fichten und Tannen, Moos und Heidekraut in der Tiefe ihrer freudlosen Seelen immer vom Süden träumen. Ihr Leben ist ein Traum vom Unsichtbaren.

Das Feuer raucht, der Rauch zieht sich wie ein riesengroßer Schweif. Zwischen den Fichtenstämmen erscheint ein Einsiedler in blauer hausgewebter Kleidung und Schuhen aus Birkenrinde. Er schreitet so unsicher, als ob er erst eben lerne, sich auf der Erdoberfläche zu bewegen. Er schleicht langsam zum Feuer, blickt nach allen Seiten, setzt sich auf eine Bank und verschwindet ganz im Rauche.

»Pjotruschko!«

Der große rothaarige Mensch fährt zusammen und zittert an allen Gliedern. Seine kleinen Augen drücken höchstes Entsetzen aus, als sie einen Menschen gewahren.

»Pjotruschko!«

»Ich bin nicht Pjotruschko.«

»Pjotruschko, wir beißen nicht. Wir sind hergekommen, um mit dir ganz aufrichtig zu sprechen, jetzt herrscht ja Freiheit für alle, und niemand darf dich anrühren. Du darfst in Frieden auch auf der Oberfläche der Erde leben.«

Es folgen noch einige freundliche Worte und etwas Kleingeld für Kerzen.

Die kleinen Augen finden irgendwo einen Stützpunkt.

»Es ist gut auf der Erde. Sehr gut. Gott sandte Regen, nun gibt es Pilze und Beeren ... Wir bekommen Himbeeren und andere Beeren. Das Heu ist gut. Gut ist es auf der Erde.«

»Und wie ist es unter der Erde?«

»Auch unter der Erde ist es gut. Der fromme Mann machte seine Grube geräumig. Anfangs hatte ich Angst: sie suchten mich, sie suchten unaufhörlich. Sie gingen auch über die Grube: ich hörte, wie die Bretter klapperten. Im Winter lag der Schnee dick über der Grube, daß ich kaum atmen konnte. Die Lampe wollte nicht brennen. Ich konnte nicht lesen. Ich mußte dann Feuer machen, das gab einen Luftzug, die Lampe brannte wieder, und ich konnte wieder lesen. Sie suchten unaufhörlich. Das Volk im Dorfe ist ja schwach, sie wollten vom frommen Mann immer wieder Geld haben. Sie spürten nach, wohin er nachts das Brot trug und sagten: So, du willst deine Seele retten? Gib Geld, sonst zeigen wir dich an. – Es kostete Pawel Iwanowitsch viel Geld. Sie hätten ihn wohl ganz zugrunde gerichtet, wenn ihm nicht der Förster geholfen hätte. Ein guter Mann war der Förster. Der Fromme bat ihn: Euer Wohlgeboren, erlaubt mir im Walde eine Grube zu graben, ich habe einen Mann hier. Er kann noch erfrieren oder ertrinken. Erlaubt mir eine Grube zu graben: dann wird er weder erfrieren noch ertrinken können. Ich will meine Seele retten.

›Grabe.‹ sagte der Förster –

Der Fromme grub aber sieben Gruben im Walde. So oft etwas drohte, brachte er mich in eine andere Grube.«

Das Feuer raucht. Der Einsiedler erzählt, ohne uns anzublicken. Es ist, als ob er auch auf der Erde irgendwo das Flämmchen seiner Lampe, seinen Schutz sähe.

»Sie suchten, sie suchten unaufhörlich.«

»Wer brauchte dich denn? Warum suchte man dich?«

»Sie wollten es nicht leiden. Ihr Leben ist weit und offen, mein Leben ist schmal. Sie wollten es nicht leiden. – Soll ich das Buch holen? Wollen wir etwas lesen?«

Das große bärtige Kind holt ein dunkles Buch und bekreuzigt sich. Die Schließen knarren. Er bekreuzigt sich wieder. Die Fichten lauschen dem Worte Gottes. Auch die Blumen lauschen. Alte Männer und Frauen erscheinen plötzlich wie aus der Erde und setzen sich um das Feuer.

Der Antichrist herrscht. Das Ende naht, es fehlen nur noch dreiundeinhalb Jahre. Das Ende sollte schon längst eintreten. Es tritt aber noch immer nicht ein. Wann kommt es endlich? Was bedeuten diese dreiundeinhalb Jahre?

»Auf diesen dreiundeinhalb Jahren ruht die Hand Gottes. Es kommt darauf an, was man als ein Jahr rechnet.«

»Ja, was man für Jahre rechnet!«

»Kurze oder lange.«

»Es gibt aber verschiedene Zeichen.«

Es gibt viele Zeichen. Mein Gott! Zahllos sind die Zeichen. Man kann sie gar nicht alle aufzählen ... Erstens, zweitens, drittens...

Der Einsiedler liest aus dem Buche vom Glauben.

So wird es wohl auch in der grauen Urzeit gewesen sein. Eine Alte wetzte ein verrostetes Messerchen an einem roten Ziegelstein ... Nackte vereiste Äste drohten zum Fenster herein... Hinter dem Ofen zirpte ein Heimchen. Eine Stimme flüstert: »Ist jetzt das achte oder das neunte Jahrtausend?«

Ihr werdet es erleben. Wenn das neunte Jahrtausend anbricht, werdet ihr am Rande, am äußersten Rande gehen. Es ist noch gut, wenn es Beter zum wahrhaften Heiland gibt. Wenn es aber keine Beter mehr gibt, wird das Volk ganz frech werden.

Wie du jetzt die göttliche Leiter emporsteigst, so geht mit dir auch die Zeit. Ihr werdet es noch erleben, daß ihr eure Dächer mit euch herumtragen werdet. Wenn es zu regnen anfängt, werdet ihr eure Dächer über euren Köpfen aufstellen.

Ihr werdet es erleben.

»Großmutter, ich werde weglaufen.«

»Mein liebes Kind, du wirst nicht weglaufen, sondern niederknien, alle werden dann niederknien, und es wird keinen Schuh geben, der nicht ausgemessen wäre.«

»Ich werde niederknien und Buße tun.«

»Mein liebes Kind, Er, der Wahrhafte, wird dir dann sagen: Du hast auf meine Schrift nicht gehört. Wenn du doch etwas aus der Schrift bewahrt hättest! Fahre in die Finsternis, stürze in den flammenden Strom.«

»Sie werden schreien, doch es wird zu spät sein. Wenn man den ganzen Sand der Erde, ein Sandkörnchen nach dem anderen durchnehmen könnte, würde das Ende eintreten. Wenn man nur wüßte, daß der Sand gezählt ist, würde alles ein Ende nehmen, und die Menschen würden frohlocken.«

»Er ist ja gütig, Großmutter.«

»Er ist aber freudlos. Er ist nicht frei. Als man ihn kreuzigte, weinte die heilige Gottesmutter.«

»Weine nicht, meine vielgeliebte Mutter, weine nicht: ich werde am dritten Tage auferstehen.

»Er ist auch auferstanden und hat die Sünder aus der Hölle geführt.

»Und Satanas stöhnte.

›Stöhne nicht, o Hölle!‹ sagte der Wahrhafte. ›Stöhne nicht, daß du leer bleiben mußt. Wenn die letzte Zeit kommt, wirst du wieder gefüllt werden. Doch nicht mit Kindern und Gerechten, sondern mit Kaufleuten, Popen und reichen Bauern. Stöhne nicht...‹

Das wievielte Jahrtausend mag jetzt sein: das achte oder das neunte?

Eine Stimme flüstert: »Das neunte ... ihr habt es erlebt ...«

Irgendwo im Walde soll noch das Kreuz von der Kapelle der Einsiedelei Krutojar erhalten sein. Wir suchen es und können es nicht finden. Wir stoßen schließlich auf den »Faulen See«. Hier ist das Dickicht undurchdringlich. Weiter können wir unmöglich gehen.

›Hier hält sich noch einer versteckt,‹ sagte mir einer von meinen Begleitern.

»Warum kommt er denn nicht heraus?« fragte ich. »Hat er denn noch nichts vom Gesetz von der Glaubensfreiheit gehört?«

»Er hat es schon gehört, doch er fürchtet noch immer. Er sagt: Das Gesetz kann noch umgestoßen werden.«

»Gewiß wird es umgestoßen werden,« bemerkte ein anderer.

Es war inzwischen spät geworden. Der Abend brach an. Und so mußten wir die Suche nach dem Kreuz im Walde aufgeben.


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