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Kajütspassagiere

Von Heinrich Smidt

Unweit von dem Schulauer Feuerschiffe, in der Mitte der Wedeler Bucht, liegt vor einem einfachen Anker, zur langen Reise gerüstet, das Vollschiff »Hermann«. Die Wedeler Bucht, welche in das Land hineinrundet und die Blankeneser Berge in ihren Hintergrund stellt, hat etwas von einer Außenreede. Sie kann wild stürmen, und manchem stolzen Segler hat sie die Seitenborde zertrümmert. Aber an diesem Abend ist sie ein kristallener Spiegel, dem die winterliche Landschaft zum Rahmen dient. Selbst die Strömung der Elbe ist so schwach, daß das Ankertau des »Hermann« nur mäßig angestrengt wird. Die Dämmerung ist im Wachsen. Flagge und Wimpel sind längst zu Deck.

Der Bootsmann kommt mit einer hellbrennenden Laterne aus der Kajüte und befiehlt einem der Halbmatrosen, sie in dem Vormars aufzuhängen; dann geht er zu dem Obersteuermann auf das Halbdeck und sagt:

»Habe Euern Auftrag erfüllt, und das Signal ist nun weit stromauf und -ab sichtbar. Mir scheint es, mit Verlaub, nicht nötig, denn der ›Hermann‹ leuchtet schmuck und blank über alle anderen Schiffe hinaus.«

»Die Staatsschaluppe muß bald von der Stadt kommen, und der Kapitän, wißt Ihr, hat es gerne, wenn seine Passagiere, die er an Bord bringt, alles wohl gerüstet finden.«

»Sind's viele, diesmal, Herr?«

»Ihrer achte, soviel ich weiß, Damen und Herren,« antwortete der Obersteuermann.

»Weibsvolk auch?« sagte der Bootsmann, indem er nach dem Fockmast zurückkehrte. »Unterröcke in der Kajüte sind Sturmsegel an den Rahen. Gott gebe es gnädig.«

Der Obersteuermann, ist hinabgegangen, um noch einmal nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Die große Staatskajüte, herrschaftlich eingerichtet, bietet den Reisenden über See jede denkbare Bequemlichkeit. Rechts und links davon liegen die Kammern des Kapitäns und seiner Offiziere. Zu dem Kajütengange ist ein Teil des Zwischendecks gezogen, und hier befinden sich längs den Seitenborden die Wohnungen der Passagiere. Der Raum vor diesen, einzeln gesonderten, Kabinen ist eine Art von Foyer, welches die Verbindung der Staatskajüte mit der Treppe zu Deck vermittelt. Jenseits dieser Treppe Hausen der Steward mit seinen Gehilfen. Dort ist das Büfett, und die Art und Weise, wie dasselbe eingerichtet ist, gibt den Beweis, daß der Steward alles aufgewendet hat, um die Herzen der Passagiere schon in der ersten Stunde für sich zu gewinnen.

Die Deckwacht schlägt an die Glocke. Es ist ein Zeichen, daß sich jemand dem Schiffe naht. Ein leichtes Boot legt am Fallreep an, und der Kapitän steigt hinauf, begrüßt von seinem ersten Offizier.

»Ist mir gelungen, eine Viertelstunde Vorsprung zu gewinnen, und kann nun die Passagiere bei ihrem An-Bord-Kommen meinen Offizieren sogleich vorstellen,« sagte er selbstzufrieden. »Wo sind die anderen Herren?«

Der Untersteuermann und der Meister des Kabelgats, als erster Deckoffizier, treten vor.

»Guten Abend, Ihr Herren. Es ist unbehaglich, wenn Leute, die zu einemSchiffe gehören, auch nur eine Stunde nebeneinander auf- und abgehen, ohne sich zu kennen. Es ward Zeit, daß ich an Bord kam, denn schon höre ich den Ruderschlag unserer großen Staatsschaluppe. Jedermann an sein Werk.«

Vier Jungmänner schwangen sich rechts und links die Fallreepstreppe hinab, um den Passagieren beim Aufsteigen behilflich zu sein. Von dort bis zu der Kajütentreppe flammten mehrere Lampen auf, welche den Weg fast tageshell machten. Alles Volk war zu Deck und trug die Sonntagsjacken. Der Kapitän sagte heiter: »Wenn alle am Bord sind, gibt der Bottelier einen Extragrog. Laßt in der Staatskajüte den Tee servieren. Da sind unsere Gäste.«

Die Schaluppe legte am Fallreep an. Der erste, welcher das Deck erreichte, war ein rundbäuchiger Herr mit einem gutmütigen, dicken Gesicht, der dem Kapitän lachend die Hand bot. Dieser sagte rasch:

»Freue mich der Ehre Herr Brauns, dies sind meine Offiziere: Obersteuermann Schlosser, Untersteuermann von der Berg, Hochbootsmann Burkhard Walker. Meine Herren Offiziere, dies der Herr Partikulier Brauns aus Mecklenburg, Parchim denke ich, der dem ›Hermann‹ während der Überfahrt nach Saint Thomas die Ehre seiner Gegenwart schenken will.«

Herr Brauns und die Offiziere wechseln einige höfliche Worte, aber der Kapitän ist schon wieder am Fallreep, die beiden Damen begrüßend, die ihm entgegentreten. Er führt sie zu seinen Offizieren und nennt diesen Fräulein Charlotte und Fräulein Julie als die Schwester und die Nichte des Herrn Brauns. Und nach ihnen folgen der stets lächelnde Herr Lobegut, ein Allerweltsenthusiast, und Herr Warrens, der auf dem Kontinent mit englischer Fashion und englischem Komfort renommiert und auf seinem Eiland für deutsche Sitten und deutsche Gemütlichkeit schwärmt. Nach ihm kommt Herr Josua Berg, der die Industrie seiner sächsischen Heimat dem Neger der Kongoküste einimpfen will, und Herr und Madame Bardini, zwei italienische Virtuosen, die jenseits des Ozeans für das verlorne Metall ihrer Stimme das solidere Metall des Sakramento einzutauschen wünschen.

Mit hinreißender Beredsamkeit hat der Kapitän sich seiner Pflicht als Wirt entledigt. Die Zahl ist voll, und er weicht erstaunt zurück, als ein Mann im dicht zugeknöpften Überrock, den Hut tief in der Stirn, auf dem Verdeck erscheint, der ihm mit einer stummen Verbeugung einen Brief überreicht. Der Kapitän liest bei dem Schein der Laternen!

»Der Herr Überbringer ist von der Reederei als Passagier angenommen und wird dem Herrn Kapitän bestens empfohlen. Der Herr Überbringer hat genügende Gründe, während der Reise sein Inkognito so lange zu bewahren, als es ihm beliebt, und wird die strengste Diskretion von den Offizieren des ›Hermann‹ erwartet.«

Der Kapitän steht sprachlos. Schon fangen die Matrosen an, die in der Schaluppe befindlichen Passagiereffekten zu Deck zu bringen; schon steigen die Passagiere selbst unter dem Geleit der Offiziere die Kajütentreppe hinab, als der Kapitän noch immer mit offenem Munde vor dem Unbekannten steht. Dieser aber sagt kurz: »Dort liegt ja wohl die Kajüte, Herr Kapitän?« und folgt den anderen nach.

Auf dem Kajütengange ist einen Augenblick lang ein wirres Durcheinander. Ein Binnenländer unter Deck spielt in den ersten Tagen Blindekuh mit offenen Augen. Die Offiziere haben genug zu tun, jeden an seinen bestimmten Platz zu bringen.

»Hierher die Fräulein Brauns, wenn es beliebt. Gleich neben der Kajüte Ihres Oheims. Signor und Signora durch diese Tür, wenn es Ihnen gefällig ist.«

Die Paare verlieren sich. Herr Lobegut steht auf der Schwelle seiner Kajüte und schlägt applaudierend in die Hände: »Himmlisch! Herrlich! Wunderschön!«

Herr Warrens schlendert, beide Hände in den Taschen gleichgültig an seinen Bestimmungsort, und Herr Josua Berg irrt, unter jedem Arm ein Paket, ängstlich suchend umher.

»Ich kann meine Stube nicht finden!« ruft er einem der Offiziere zu, und dieser antwortet: »Sie waren ja schon darin! Halt! Da wohnen die Mecklenburger Fräulein! – Dort ist die Kajüte der italienischen Signora! – Herr, Sie sind ja ganz konfus und verwirren uns mir. Endlich! Gott sei Dank!«

Der Kapitän erscheint mit dem Unbekannten: »Meine Herren Offiziere! Herr ...«

Er sieht den Fremden erwartend an. Aber dieser bleibt unerschütterlich, und der Kapitän fährt kleinlaut fort: »Öffnen Sie diesem Herrn die blaue Kajüte.«

»Blau ist meine Lieblingsfarbe!« sagt der Unbekannte lächelnd und geht hinein.

Endlich ist alles still. Die Passagiere sind samt ihrem Gepäck untergebracht. Aus der Partikulierskajüte schallt ein heiteres Lachen, und der Virtuosenkajüte entsäuseln einige Gitarrenklänge. »Himmlisch! Herrlich! Wunderschön!« ruft Herr Lobegut, lebhaft applaudierend, und Herr Warrens, sein Nachbar, sagt ärgerlich: »Sein Sie still! Ich will schlafen.«

»Nu will der schlafen!« sagt verwundert die Industrie des Sachsenlandes zu sich selbst. »Und wir haben noch kein Abendbrot gekriegt.«

Die Glocke des Stewards klingt silberhell. Unbewußt erraten die Passagiere die Bedeutung dieser Töne und treten ihre Wanderung nach der Hauptkajüte an. Der Kapitän empfängt seine Gäste und macht die Honneurs. Die Damen bereiten den Tee, die Herren spenden den Witz dazu, und der elegante Zirkel am Bord des »Hermann« ist konstituiert.

»Und wo ist,« fragt der Kapitän nach einer Pause, »der letzte Herr?«

Er stockt, und der Steward sagt: »Der Herr läßt sich entschuldigen. Er wünscht in seiner Kajüte zu speisen.«

Der Kapitän macht gute Miene zum bösen Spiel und sagt wie entschuldigend zu der Gesellschaft:

»Hoffe, ihn den Herrschaften mindestens morgen vorstellen zu können. Denke, daß er die Artigkeit gegen Damen haben wird, nicht länger als Verkappter unter uns zu leben. Belieben von diesem Kuchen, Mademoiselle? Aus der besten Konditorei Hamburgs. Neelsen & Kompanie, Neuerwall Nummer achtzig, erster Stock. Bin ihnen neulich vorgestellt. Recht artige Leute. – Ah! da ist ja auch unser Lotse! Unser Lotse, meine Herrschaften, der das Schiff in See bringt. Herr Johann Popp aus Neumühlen. Johann Popp, Sohn nämlich. Herr Johann Popp, dies ist Herr Brauns ...«

Und die ganze Gesellschaft wird abermals auf das förmlichste aufgeführt. Der Lotse macht seine Scharrfüße und brummt vor sich hin: »In der Zeit hätte ich ein Glas Grog trinken können.«

Die Teestunde ist vorüber, und die Gesellschaft zieht sich zurück, um von den Strapazen der Landreise auszuruhen und sich auf die Strapazen der Seereise vorzubereiten.

Und wie das Leben unter Deck verstummt, wird es auf dem Decke lebendig. Um Mitternacht gibt sich eine frische Brise aus. Der Anker wird gelichtet, und als die Sonne aufgeht, befindet sich der »Hermann« querab der Kugelbaak; den Leuchtturm von Cuxhaven im Rücken, die offenbare See vor dem Buge.

Auf dem Halbdeck ist es schon lebendig. Ein Passagier bleibt selten unten, wenn das Schiff in See geht. Jeder ist in seiner Weise beschäftigt. Herr Brauns weiß, was unter diesen Umständen leicht zu geschehe pflegt. Er hat sich ein stilles Plätzchen ausgesucht und wartet, eine tiefe Schüssel in den Händen, auf die Seekrankheit. Aber der Himmel und das Wasser sind ruhig, und sie will nicht kommen. Fräulein Charlotte sieht schmachtend nach dem allgemach schwindenden Ufer zurück und Hofmeistert ihre junge Nichte, die ihre muntern Augen überall umherschweifen läßt, ohne daß sie finden, was sie zu suchen scheinen. Herr Warrens sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen, dem Lande den Rücken zugewendet, den Kopf stolz in den Nacken geworfen. Er wittert die Luft Altenglands. Die Virtuosen träumen von ihren amerikanischen Siegen. Herr Josua Berg sieht kopfschüttelnd auf den Leuchtturm von Neuwerk. Er sagt, daß er sich an seiner Stelle so allein grausam langweilen würde und begreift nicht, daß der Untersteuermann bei diesem Witz nicht laut auflacht. Der Lotse tritt in den Kreis der Passagiere und ruft:

»Allstunds verlasse ich das Schiff. Wer noch etwas am Lande zu bestellen hat, kann es mir mitgeben.«

Die letzte Frist verstreicht. Mit dem Rufe: »Behaltene Reise!« springt der Lotse in das ihn erwartende Boot. Dahinten das Lotsgaliot und die rote Tonne. Der »Hermann« rollt der Nordsee in die ausgebreiteten Arme.

Die erste Woche ist vorüber. Das feierliche Zeremoniell der Kajüte beginnt sich zu klären. Das Bedürfnis, sich während der langen, geschäftslosen Reise zu zerstreuen, führt die Passagiere einander näher. Die steifen Formen weichen. Man sagt sich Artigkeiten, man leistet sich Dienste. Bei plötzlich einbrechender Brise holen die Herren für die Damen den in der Staatskajüte vergessenen Schal. Die Dame setzt sich, wenn sie die langweiligen Whistkarten drohen sieht, an den Flügel und bannt durch ihr Spiel die Spieler in ihre Nähe. Ein Gourmand spricht kurz vor dem Essen mit Begeisterung von einer seltenen Leckerei, und als er den Appetit der Gesellschaft auf das höchste gereizt, bringt er das Gepriesene aus seinen Reisevorräten triumphierend herbei, hier wird ein Buch geliehen, dort der mitgenommene Zigarrenbedarf zur Verfügung gestellt. Die Damen flüstern sich bereits kleine Geheimnisse zu und spinnen eine Intrige an. Die Herren bleiben nach weggenommenem Tischtuche sitzen und behaupten nach der dritten Flasche, man könne bei der sorgfältigsten Auswahl keine traulicheren und herzlicheren Reisegefährten zusammenbringen, als der Zufall sie an Bord des »Hermann« gesandt habe.

Nur der Unbekannte wird nicht sichtbar. Man hört, er sei krank und menschenscheu. Anfangs wird er bemitleidet, dann bekrittelt und endlich vergessen. Aber alle übrigen am Bord sind ein Herz und eine Seele, und Herr Lobegut ruft mit vollem Rechte: »Himmlisch! Herrlich! Wunderschön!«

Über Fräulein Juliens Gesicht fliegt zuweilen ein trüber Schimmer. Der Vater bemerkt es wohl und schüttelt mit dem Kopfe. Aber bald besinnt er sich eines Bessern und reibt sich fröhlich die Hände, als sei ihn, irgendein Streich ganz besonders gelungen.

Herr Brauns hat viele Gesundheit, vieles Geld und vielen guten Willen, sich zu amüsieren. Nur zwei Dinge genieren ihn: seiner Schwester, die noch mit fünfunddreißig Jahren die Gurli spielt, einen Mann zu schaffen, und seiner Tochter einen Mann abwendig zu machen, der er ihr nicht geben will. Dieser unwillkommene Freier zählt nur nach Hunderten, wie der Partikulier nach Tausenden, und der Mecklenburger Rotschild erklärt die Worte des Mecklenburger Poeten:

»Arm oder reich!
Die Glücklichen sind gleich!«

für eine schändliche Lüge. Aber Julie bittet so schön, und ihr Auserwählter ist ein so ehrenwerter Mann. Darum, als Herr Brauns den Plan gemacht hat, seine westindischen Verwandten zu besuchen, sagt er zu dem jungen Mann: »Wenn Sie mich dahin bringen, daß ich freiwillig den Heiratskontrakt unterzeichne, ist Julie die Ihrige.«

»Befehlen Sie nur, wo diese Zeremonie vor sich gehen soll, und es ist so gut wie geschehen!« sagte jener rasch.

»So?« fragte Herr Brauns im langgedehnten Ton. »Nun, mein Herr, soll die Unterschrift verbindende Kraft haben, muß sie meinerseits nicht nur aus freien Stücken geschehen; ich muß mich auch noch dafür bedanken. Der feierliche Akt darf nicht in der Stadt und noch weniger auf dem Lande geschehen. Der Ort darf kein Zimmer, kein Salon, keine Galerie sein; es muß nicht im geschlossenen Raume, aber doch unter Dach vor sich gehen. Es muß mitten im Winter unter Blumen, aber weder in einem Garten, noch in einem Treibhause statthaben. Es geschehe auf einem Platze, der in aller Herren Länder nicht zu finden ist, und in einem Reiche, von dessen Bewohnern uns keiner sieht, obgleich wir uns mitten unter ihnen befinden.«

Lachend ging der alte Herr seines Weges, und der vorhin so zuversichtliche Bewerber kehrte mit einem ziemlich langen Gesichte heim.

Das waren die Zustände in der Familie des Mecklenburger Rotschild vor deren Einschiffung an Bord des »Hermann«, wo sie sich auf den schmalen Raum zweier Kajüten beschränkt sieht. Fräulein Charlotte ist regsamer als je. Der mildere Himmel, der sich über sie zu wölben beginnt, stimmt sie noch milder, noch hingebender. Sie schwärmt mit Herrn Warrens über die Schönheit und majestätische Wirkung der englischen Nebel; sie hört von Herrn Berg mit dem einnehmendsten Lächeln die Entwicklungsgeschichte der sächsischen Industrie; sie sagt den Schiffsoffizieren Artigkeiten über Dinge, die sie nicht versteht, und bezieht die Worte: »Himmlisch! Herrlich! Wunderschön!« womit Herr Lobegut an ihr vorüberfliegt, stets auf sich. Sie hat Augen für alle, nur nicht für ihre Nichte Julie, die stets in rosiger Heiterkeit bald auf dem Deck, bald unter demselben lacht und singt und die Bordinis zur Verzweiflung bringt, deren zarte Ohren sich beleidigt fühlen, und die innerlich für Neid platzen, daß hier in verschwenderischer Fülle vorhanden ist, was sie schon lange entbehren. Aber Julie hört es nicht und schwatzt unbefangen mit des Stewards Frau, die mit ihrem Manne bedeutungsvolle Blicke wechselt. Nichts ist unter den Passagieren verabredet; sie haben keine Ahnung von ihren gegenseitigen Wünschen und Intrigen und spielen doch eine lustige Komödie ohne Regie und Souffleur.

Der »Hermann« erreicht die Höhe des nördlichen Wendekreises. Die Mannschaft ist ungewöhnlich tätig und wirft ab und zu vielsagende Blicke aus die Passagiere des Halbdeckes. Der Kapitän hat dasselbe mit einem leichten Sommerzelte bedecken lassen, und die tropische Ruhe der See erlaubt es, diesen Aufenthalt nach Lust und Laune herauszuputzen. Zwischen zwei Kanonen hat der Flügel seinen Platz gefunden, und Fräulein Charlotte phantasiert auf demselben über die Träumereien ihres noch jugendlich schlagenden Herzens in unendlichen Variationen.

Das Frühstück wird angekündigt, und alle vereinigen sich um die Tafel. Der Kapitän ist heute besonders gesprächig. Er hat für jeden eine Artigkeit, und als er zum Schlusse das Glas erhebt, sagt er mit einer gewissen Feierlichkeit:

»Dies Glas trinke ich auf Ihr Wohl. Wenn wir uns zu Mittag wieder versammeln, werde ich die Ehre haben, Ihnen jemand vorzustellen, den Sie noch nicht kennen.«

»Hier?« fragen alle wie aus einem Munde. »Mitten im Ozean?«

»Nicht mitten im Ozean, sondern unter dem nördlichen Wendekreis, den wir bis zwölf Uhr erreichen,« fuhr der Kapitän fort »Dort hat von alters her der alte Neptun sein Reich aufgeschlagen und macht jedem Schiffe, das über seinen Wasserpalast hinfährt, und auf welchem sich Passagiere befinden, die noch nicht hier waren, einen Besuch.«

Die Passagiere sehen sich an: »Das ist allerdings ein Scherz. Aber zu welchem Ende?«

»Ich scherze nicht. Meine Herren Offiziere werden es mir bezeugen. Aber Sie brauchen sich nicht zu fürchten, denn Herr Neptun ist ein ganz angenehmer Mann, und mit einigen Dollars per Kopf ist alles abgemacht.«

»Die müssen auf die Provision geschlagen werden,« brummt der Industriell vor sich hin, und der Kapitän fährt fort:

»Ist eine Eigenheit des alten Herrn, von jedem Neuling einen Tribut zu fordern. Eine Art Sundzoll, wissen Sie. Zahlen und für gnädige Strafe danken oder drei Eimer kaltes Wasser über den Kopf, das ist so seine Manier. Denke, die Herrschaften zahlen lieber, als daß sie sich begießen lassen.«

Er ging lachend davon. Die Passagiere waren sichtlich erregt. Sie lachten einander zu, als wenn es eben nicht anders wäre als sonst, und doch konnte keiner seiner inneren Furcht Herr werden. Mit jeder Minute steigerte sich die Erwartung. Endlich erschienen die Offiziere mit ihren Sextanten, die Mittagsbreite zu nehmen. Noch stieg die Sonne um eine halbe Linie, noch um eine viertel! »Halt! Sie steht!«

»Zwölf Uhr!« sagt der Kapitän zu seiner Umgebung, und jeder Passagier hat die seine in der Hand, um sich zu versichern, wieviel sie seit gestern verloren habe.

»Zwölf Uhr!« ruft es über Deck. Aber der Koch läßt nicht wie sonst mit der großen Glocke läuten, um der Mannschaft zu verkünden, daß ihr Mittagsessen bereit ist. Es ist alles still, und eine Stimme, die vor dem Buge des Schiffes aus der Tiefe der See zu kommen scheint, ruft laut:

»Schiff ahoi!«

Der Kapitän antwortet durch das ihm dargereichte Sprachrohr:

»Halloi!«

»Was für'n Schiff und woher?«

»Vollschiff ›Hermann‹ von Hamburg.«

»Wohin?«

»Nach Sankt Thomas!«

»Passagiere am Bord?«

»Mehrere, die alle noch nicht den Tropicus passierten.«

»Beidrehen!« ruft die Stimme, und der Kapitän kommandiert:

»Backbrassen!«

Alsbald fliegen die Segel des Fockmastes gegen den Wind, und das Steuer wird festgebunden. Das Schiff liegt unbeweglich.

Eine erwartungsvolle Pause. Dann ein Ruf des Staunens seitens der unerfahrenen Passagiere. Ein Mann im langen Gewande, eine große Perücke von Seetang auf dem Kopfe, eine Maske vor dem Gesicht und einem Delphinelger als Dreizack in der Hand steigt aus dem Galion zu Deck. Ihm folgt ein zweiter im gleichen Kostüm, der statt des Dreizacks einen Besen führt. Der dritte hat ein großes Buch unter dem Arm. Das Schiffsvolk bildet mit abgezogenen Mützen Spalier und läßt Herrn Neptun still an sich vorübergehen. Dieser schreitet mit seinen Begleitern bis an das Halbdeck, wo er von den Offizieren empfangen wird.

»Kapitän vermutlich?« fragt der Alte lakonisch.

»Ja, Herr! Beliebt näher zu treten und ein Glas auf das Wohl des ›Hermann‹ zu leeren.«

Der Steward bringt den Wein, und der alte Neptun braucht vielen Stoff, bevor er die Salzkruste von der Zunge spült. Dann schüttelt er dem Kapitän die Hand, und dieser führt ihn in den Kreis der Passagiere:

»Meine Damen und Herren, dies ist der Ihnen bereits gemeldete Herr Neptun mit dem gefürchteten Dreizack. Dies ist sein erster Sekretär, der einen Besen besitzt, mit welchem er geschickt den Schaum vom Buge des Schiffes streicht, bei welchem sein Herr an Bord geht. Dieser, als zweiter Sekretär, trägt das große Buch, das nun auch bald mit Ihren Namensunterschriften versehen sein wird. Herr Neptun, dies ist Herr Brauns aus Parchim ...«

Der Kapitän ist in seinem Element. Er stellt den Meergott und dessen Gefolge allen Passagieren mit ihrem vollständigen Namen und Charakter vor. Er wird nicht müde, ihre gesellschaftlichen Tugenden zu rühmen, welche er während der Dauer der Reise schätzen lernte, und er zweifelt, daß der »Hermann« je so glücklich sein wird, nochmals Passagiere von solcher Vollkommenheit bei sich zu sehen.

Das große Buch wird aufgeschlagen, und der erste Sekretär liest:

»Wir, Zeus, Selbstgott und Beherrscher des Olymps, entbieten allen, die dieses lesen, Unseren Gruß zuvor. Sintemal es in der letzten Plenarversammlung als unbestritten festgestellt ist, daß bei der zunehmenden Kultur des Menschengeschlechts der Olymp allmählich zu einem Sandhügel zusammenschrumpft, und die raffinierte Klugheit der Menschenkinder die Einfalt Unserer Götterpoesie nicht mehr begreifen will, als üben Wir, Zeus, von Dichters Gnaden zum letzten Male das Amt eines olympischen Präsidenten und verkünden, was folgt: Wir verbannen uns gegenseitig, den einen hier-, den anderen dorthin, wo er mit dem Menschenvolke in keine Berührung mehr kommt. Und weisen Wir Unseren vielgeliebten Bruder Neptunus an die Grenzen des nördlichen Wendekreises, damit er allda seinen Wasserpalast erbaue und in stiller Beschaulichkeit des Tages warte, wo auch für die Olympier das tausendjährige Reich beginnt. Damit er aber – weil von jetzt ab jede Naturalverpflegung von Nektar und Ambrosia aufhört – zu leben habe, überweisen Wir ihm als auskömmliches Traktament eine beliebige Steuer, die er von jedem Menschenkinde und von jedem Schiffsteil zu erheben hat, so zum ersten Male über die Zinnen seines Palastes wegsegelt. Gegeben am Tage usw.«

Der Sekretär macht das Buch zu, und Neptun fährt fort:

»Weil nun dies ein göttlicher Beschluß ist, gegen den sich kein Sterblicher auflehnen darf, ohne daß ich die Torflügel meines Palastes öffne und den ganzen ›Hermann‹ verschlinge; ich aber hier am Bord viele Personen sehe, die mir vorher nie zu Gesicht kamen, so bitte ich die mir zugesprochene Steuer in den Beutel zu tun, den mein jüngster Begleiter Ihnen zu präsentieren die Ehre haben wird. Ich aber ersuche alle, dies Blatt mit Ihren wertesten Namenszügen zu zieren.«

Die Gesellschaft ist sofort bereit. Die Dollars fallen klingend in den Opfersack, und Papa Brauns aus Parchim setzt mit zierlichem Schnörkel seinen Namen unter das vorgelegte Blatt, indem er hinzufügt:

»Scharmanter Spaß das! Eine kleine Komödie auf See. Ich danke Ihnen, Herr Neptun, daß Sie mir die Ehre Ihres Besuches geschenkt haben, und bin stolz darauf, in Ihrem Stammbuchs zu stehen, das gewiß viele berühmte Namen enthält.«

»Ganz gehorsamer Diener, Herr Schwiegervater,« sagte Herr Neptun, indem er Perücke und Maske abnahm, und der geheimnisvolle Passagier sichtbar wurde, der am Abend der Einschiffung die blaue Kajüte bezog.

Tante Charlotte fiel in Ohnmacht. »Himmlisch! Herrlich! Wunderschön!« rief der Enthusiast, und der Kapitän sagte:

»Er hat mich in sein Vertrauen gezogen. – Aber, ich vergesse. Meine Damen und Herren, dies ist Herr Doktor Eduard Meiners aus Dömitz. Herr Doktor, dies ist ...«

Aber der Doktor hört nicht, sondern fährt fort, indem er auf das Blatt deutet:

»Das ist mein Heiratskontrakt mit Fräulein Julien und ich danke Ihnen herzlich, daß Sie ihn durch Ihre Namensunterschrift bestätigt haben.«

»Er gilt nicht!« schrie Herr Brauns. »Die Unterschrift ist erschlichen.«

»Mit nichten!« entgegnete der Doktor. »Ich sollte Sie dahin bringen, daß Sie den Kontrakt unterzeichneten und sich noch dafür bedankten. Dies ist so eben vor all diesen Zeugen geschehen. Es sollte weder auf dem Lande, noch in der Stadt, in keinem Zimmer, keinem Salon, auf keiner Galerie geschehen, welches, wie Sie bemerkten, auch nicht der Fall war; es sollte mitten im Winter, aber nicht in einem Garten oder Treibhause, und der Schauplatz doch mit Blumen geziert sein. Es ist heute der zehnte Januar, und Sie sehen, wie der Kapitän die von mir bei der Abreise an Bord gebrachten Blumen aus Zelttuch und Ankerwinde üppig hervorwachsen läßt. Das Gebiet soll nicht in aller Herren Länder zu finden sein, welches sich hier im Ozean buchstäblich erfüllt; auch hat schließlich kein Bewohner dieses Gebietes zugesehen, denn alle Fische befinden sich wohlbehalten unter Wasser. Ich habe also alle mir gestellten Bedingungen erfüllt, und bitte nun um die gleiche Gunst von Ihrer Seite.«

Herr Brauns wollte ein verdrießliches Gesicht machen, aber Julie sah ihn so bittend an, daß er vor sich hinbrummte:

»Verdammtes Volk! Hat mich doch geprellt!«

»Braßt voll!« rief der Kapitän. Die Segel des Fockmastes schwellten an, die Steuerpinne hob sich, und der »Hermann« schoß fröhlich weiter durch die heranrauschende Flut.

Alle Passagiere umringten das junge Paar mit lauten Glückwünschen. Der Brautvater aber rief: »Sei es denn! Kapitän! Schicken Sie mir den Steward! Heute abend ist Verlobung, und alles, was am Bord eine Kehle hat, ist dazu eingeladen.«

»Auch die Kehlen jenseits des großen Mastes, Herr Brauns?«

»Alles! Vom Kieltop bis zum Sahlingsdeck!« sagte der Alte, erfreut, einen Schiffsausdruck gebraucht zu haben, bei dem jeder sich etwas denken konnte; nur ein Seemann nicht.

Die Kunde von der Einladung aber war vor den Fockmast gelangt, und als zu Ehren des Tages die Staatsflaggen gehißt wurden, ertönte ein donnerndes Hurra zum Halbdeck herüber.

 

Aus: »Seegeschichten und Marinebilder«

 

 


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