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C. Hedley Barker.
Das Unheils-As

 

Man kann sich vorstellen, dass der Gedanke Herbert Dawlish kaum erträglich gewesen sein muß, er hätte nie einen Mord begangen, wenn die Kellnerin nicht solange getrödelt hätte.

Dawlish hatte gerade noch zehn Minuten Zeit und rasenden Appetit. So eilte er noch schnell in ein A.B.C.-Restaurant und verlangte eine Tasse Tee und ein belegtes Brot. Die Kellnerin nahm die Sache nicht so eilig, und Herbert Dawlish rutschte höchst ungeduldig auf seinem Stuhle umher. Zehnmal innerhalb von fünf Minuten hatte er schon sicher seine Taschenuhr herausgerissen. Als endlich sein Tee und sein belegtes Brötchen auf der Bildfläche erschienen, war es ihm grade noch möglich, beides herunterzuschlingen und den Zug nach Herne Bay zu erwischen.

Er stürzte auf den Perron in dem Moment, als der Zug abging. Seine Lippen zogen sich vor Ärger zusammen, als ihm klar wurde, daß er unmöglich noch den Speisewagen erreichen konnte. Das bedeutete, daß er sein gewohntes Kartenspiel mit gewissen Leuten von der Küste nicht werde machen können.

Der Zug kam in Schuß. Dawlish packte seine Handtasche und fing an zu rennen, da ihm jetzt auch klar wurde, daß er sich glücklich preisen könne, wenn er ihn überhaupt noch erreiche. Mit gewaltigem Satz gelang es ihm schließlich noch (unter dem Warnungsschrei der Zugbeamten) auf dem Trittbrett des hintersten Wagens zu landen. Einen Augenblick lang klammerte er sich dort keuchend an, dann öffnete er die Tür und fiel mit einem Seufzer der Erleichterung ins Polster.

Der Mann, der Herbert Dawlish gegenübersaß, betrachtete ihn aufmerksam. Dieser Mann hatte irgend etwas Protziges an sich. Er trug ein goldenes Hufeisen in der Krawatte und aufreizend quadratische Stiefel. Er äußerte so das übliche, was man bei solchen Gelegenheiten sagt: Dawlish sei noch sehr glücklich daran, so knapp mitgekommen zu sein, wenn man das irrsinnige Tempo bedenke, mit dem er gerannt sei, und so noch weiteres in diesem Sinne. Auch schlachtete er in breitspuriger Weise eine schauerliche Anekdote aus, in der ein gewisser Sam Biggs die Hauptrolle spielte – welch letzterer, da ihm das Schicksal nicht so gelächelt habe wie Herrn Dawlish, zwischen Trittbrett und Perron geraten sei.

»Scheußlicher Anblick. So was möchte ich wahrhaftig nie wieder sehen.«

Herbert Dawlish (dem in diesem Moment eine Mordabsicht so fern war, wie der Planet Jupiter) starrte auf den Mann, den er später morden sollte. Durchschnittsschwätzer waren ihm schon immer unangenehm gewesen, und ihm schien, als sei dieser Kerl ein ganz ungewöhnlich aufdringliches Musterexemplar. Als aber der Mann ein Spielchen vorschlug, hob sich Dawlishs Stimmung beträchtlich, war er doch ein passionierter Kartenspieler, und so nahm er den Vorschlag begeistert an.

»Ich habe ein Päckchen bei mir«, sagte er und griff in seine Tasche. Jetzt aber gerieten seine Finger an etwas Hartes; und mit einem halb verlegenen Lächeln zog er diesen anderen Gegenstand heraus. Scherzhaft einen automatischen Revolver auf dem Tischchen deponierend, plauderte er:

»Keine Angst. Ich bin kein Revolverheld. Ich habe dieses Ding heute in der Stadt gekauft. Sie müssen nämlich wissen, daß ich zu dem Schützenklub von Herne Bay gehöre, und wir haben gerade einen Revolverkurs begonnen. Famoser Sport das.«

Der andere nickte zustimmend.

»Gestatten?« fragte er, nahm die Waffe zur Hand und untersuchte sie mit Kenneraugen. »Niedliche kleine Kanone« war sein Schiedsspruch. »Sogar geladen, dunnerja.«

»Hm, ja. Ich habe auch das Magazin gefüllt; aber es ist ganz ungefährlich. Das Ding ist gesichert. Nun, was wollen wir jetzt spielen? Können Sie vielleicht Soixantesix? Für zwei Partner das gegebene Spielchen.«

»Soa – –?«

»Sixty-six, auf englisch. Es ist eine Sorte von – – –«

»Aha, Herr Nachbar. Jetzt verstehe ich Sie, Sixty-six. – Jawohl. Das haben wir immer drüben in Frankreich gespielt. Zum Beispiel weiß ich noch bei Vimmy Ridge –«

»Teilen Sie mal aus, ja?«

Herbert Dawlish gab.

»Machen wir einen kleinen Einsatz?«, murmelte er nach einem kurzen Kennerblick auf die äußerliche Ausstaffierung seines Partners.

»Sagen wir: fünf Schillinge der Punkt.«

Dawlish war überrascht. Dieser Einsatz war sehr viel höher, als er es gewohnt war. Aber er hatte genügend Vertrauen zu seiner Geschicklichkeit. Er teilte die Karten je drei und je zwei, und das Spiel begann.

Bald mußte sich Dawlish mit der Erkenntnis abfinden, daß dieser Geselle mit dem Hufeisen nicht das erstemal ein Spielchen machte. Er mischte und teilte die Karten mit jener feschen Selbstverständlichkeit, bei der sie leise knattern, wenn man sie zückt. Er leckte seine Daumen. Von seinen geschickten Fingern flogen diese gestärkten Kartonstücke wie geölte Blitze.

Dawlish zahlte. Fünf, zehn, fünfzehn bis zu fünfunddreißig und fünfzig Schilling. Nun hatte er sechs Pfund verloren. Matte Röte färbte seine hervorstehenden Backenknochen. Er stärkte sich mit einem tiefen Schluck aus seiner Reiseflasche, biß die Zähne zusammen und konzentrierte sich wütend aufs Spiel.

Aber lange bevor der Zug Chatham erreichte, waren aus den sechs Pfund sechsundvierzig geworden. Dawlish spielte schon völlig wild, um seinen Verlust hereinzubringen. Schlotternde Angst zog ihm das Herz zusammen. Sein Verlust war groß, viel größer, als er riskieren durfte. Es war heute der Tag, wo man Rechnungen zahlen mußte, und die meisten hatte er aus dieser Summe zu bereinigen, die er nun dem andern so sinnlos hatte hinwerfen müssen.

Bei siebzig Pfund lehnte Herbert Dawlish sich zurück und wischte sich den Schweiß mit zitternder Hand von der Stirn. Er war bleich, und seine Mundwinkel bebten haltlos. Er bot keinen erfreulichen Anblick.

»Ich fürchte«, stotterte er, »daß ich nicht weiterspielen kann. Ich habe meinen letzten Pfennig verloren.«

»Tatsächlich? Pech, Genosse. Ist aber ein ganz nettes Spielchen, was? Geht auf Biegen und Brechen.«

»Schauen Sie mal«, sagte Dawlish beschwörend. »'s ist zwar eine komische Frage, aber – könnten Sie mir nicht das Geld im Augenblick lassen? Nur noch 'ne kurze Zeit, meine ich. Ich will's Ihnen ja später zurückzahlen. Aber gerade jetzt habe ich – – hm, – –«

Sein flottes Gegenüber starrte ihn aufrichtig verblüfft an. Jetzt begriff er und wieherte.

»Na, das ist wirklich die Höhe. Das muß ich meiner Alten erzählen, wenn ich heimkomme. Sie wird vor Lachen heulen, Tatsache. Nee, nee, Verehrter. Nischt zu machen. Wir sind doch hier nicht in der Heilsarmee.«

»So lassen Sie mich doch erklären«, bettelte Dawlish und krümmte sich. »Sie verstehen mich ja nicht richtig. Die Sache liegt so …«

»He, jetzt halten Sie aber die Luft an, guter Freund. Wenn Sie wieder spazieren fahren, so nehmen Sie ja Ihre alte Amme mit … Nanu?? Was zum Teufel …«

»Hände hoch«, schrie Dawlish und starrte ihn tückisch an hinter dem erhobenen Revolver. »Hände hoch! – verstanden?«

Selbst jetzt noch hatte Dawlish keine Mordabsicht. Er wollte nur den Kerl erschrecken, damit er das Geld wieder herausrücke. Er war sinnlos vor Wut und Angst. Er wagte es buchstäblich nicht, heimzukommen und seiner Frau diesen Verlust von siebzig Pfund zu beichten. Aber mit Schießwaffen zu spielen ist keine harmlose Sache. Die Augen des flotten Mannes verengten sich. Er tat einen plötzlichen Satz, und Dawlish kniff die Lider zusammen und zog am Hahn.

Es kann einen grausen, wie schnell der Tod manchmal kommt. In einer kurzen Sekunde hatte Dawlish diese Leiche aufgepackt bekommen. Mitten auf der Stirne saß ein blaues Loch, und die Gestalt sackte plump zu Boden wie ein lebloser Gegenstand. Mit Gewalt meisterte Dawlish seinen Schreck, und überlegte sich sofort, wie er aus dieser Klemme kommen könne.

Als er gerade dabei war, den Leichnam aus dem Waggon hinaus zur ewigen Ruhe zu befördern, traf sein Blick auf dessen Armbanduhr. Einer plötzlichen guten Eingebung folgend, veränderte er die Zeitangabe auf dieser Uhr auf fünf Uhr fünfzig. Er rechnete damit, daß die Uhr stehen bleiben würde, wenn der Körper auf den Boden schmettere, und wenn die Uhr dann (gesetzt natürlich den Fall, man entdecke die Leiche nicht sofort) auf fünf Uhr fünfzig stände, so würde man zwangsläufig annehmen müssen, der Mann sei mit einem früheren Zuge gefahren.

Er verrückte also den Zeiger, dann öffnete er die Waggontür, blickte vorsichtig nach vorn und hinten und schubste, bei einer Zuggeschwindigkeit von vierzig Meilen in der Stunde, die sterbliche Hülle des flotten Mannes in die Nacht hinaus.

+++

In dem Zuge, der am nächsten Morgen um acht Uhr vierzig nach der Stadt fuhr, saß Venner, ein Beamter von Scotland Yard. Er und zwei andere begrüßten, wie gewöhnlich, Dawlish mit munterem Zuruf. Diese vier nämlich spielten nun schon zehn Jahre lang auf der täglichen Fahrt (außer an Feiertagen) ihr Spielchen.

»Her zu uns, alter Halunke …« schrien sie. »Karten raus. Wo hast du dich übrigens gestern abend herumgetrieben?«

»Verspätet«, sagte Dawlish. »Ich mußte rennen, um den letzten Wagen noch zu erwischen. Habt ihr die Zeitung schon gelesen? Von diesem Mord, der auf dem 510 passiert ist?«

Smith, der die Karten von Dawlish gerade sortierte, nickte.

»Der arme Teufel ist ganz kaputtgeschmettert«, sagte er. »Vom Gesicht ist, genau gesagt, kaum noch was übrig, heißt's. Das kann er übrigens nicht mehr gespürt haben, meine ich. Hör mal, Venner, hast du außer der Zeitungsnotiz noch was darüber gehört?«

Venner lächelte still.

»O ja, ich habe so allerhand gehört, wovon ich aber nicht reden darf. Was die Leiche betrifft, so habe ich sie zwei oder drei Stunden nach dem Mord besichtigt. Man hat mich von Herne Bay per Auto hingejagt.«

»Sag mal, Freund Dawlish, du hast uns ja hier nur die Hälfte von deinen Karten gegeben. Das Unheils-As ist ja nicht dabei.«

Smith nannte das Pik-As immer das Unheils-As, weil die Wahrsager es in ihrem Jargon gewöhnlich für unheilvoll erklären.

»Dann muß es noch in meiner Tasche sein«, sagte Dawlish.

Aber Venner ersparte es ihm, danach zu suchen. Dieser Detektiv blickte plötzlich ernst drein, während er aus seiner eigenen Tasche eine Karte zog.

»Nein«, sagte er. »Wenn ich mich nicht täusche, ist es dieses hier.« Er legte das Pik-As auf das Tischchen – dasselbe As, das im Päckchen nicht vorhanden war.

»Donnerwetter, das muß es ja sein!« rief Smith. »Wo hast du's denn hergezaubert, alter Kartenzinker?«

Venner drehte sich um und schaute Dawlish an. Dann legte er ihm die Hand auf den Arm.

»Dawlish«, sagte er, »es geht mir an die Nieren, aber ich muß es tun. Du bist unter Arrest. Dieses Pik-As wurde im Ärmel des Ermordeten gefunden!«


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