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Von Hermann Heiberg
»Ein Buch.« Schreiter'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 10, Lützowstraße 107-108.
»Kommst du nun? Kommst du nun, Felix?« »Ja! Ja! Einen Augenblick!« Ich mußte meiner Mutter erst einige Schillinge abbetteln, die ich für das Vergnügen brauchte, um das es sich handelte.
»Wieder Geld? Ich gab dir ja erst vor wenigen Tagen! Was soll's denn jetzt?«
Einen Augenblick zögerte ich. Kleine Lügen gingen nach Knabenart wohl über meine Lippen; meiner Mutter hatte ich noch nie eine Unwahrheit gesagt.
»Nun, wozu?« wiederholte sie, erhob den Kopf und fuhr fort, Erbsenhüllen aufzuknipsen, die zu Hunderten auf dem Tische lagen, und deren Inhalt sie in eine braune irdene Schüssel gleiten ließ. »Ach! Nur so – – Hellmuth ist unten. – Bitte, Mutter« –
Dies war keine Antwort auf die von ihr gestellte Frage, und sie nahm sie auch nicht für echte Münze.
»Was heißt das? Ich frage dich, wozu du das Geld wieder brauchst?«
In diesem Augenblick erließ mein Freund durch langgezogene Flötentöne eine ungeduldige Mahnung. »Fü, fü, fü, fü, fü!« drang es von unten herauf. – Die Unruhe ergriff mich. Rasch trat ich auf meine Mutter zu, legte meinen Arm um ihren Nacken und wiederholte meine Bitte.
»Du wolltest mir doch helfen beim Erbsenauspalen! Schon heut Morgen bat ich dich! Was hast du nun während der Ferien eigentlich gemacht? Und nun geht's wieder zu einem Vergnügen. Wohin wollt ihr denn heute?«
Wenn meine Mutter so sprach, war ich stets machtlos. Es waren nicht ihre Worte allein, mehr noch der vorwurfsvolle und doch mit so viel Güte und Liebe vermischte Ausdruck, der in ihrem Auge schwamm. Hätte mein Kamerad nur nicht unten gewartet! Gleich würde ich mich mit an die Erbsen gemacht haben. Ja, brennend heiß durchflog es mich, daß meine Mutter, die vom Morgen früh bis Abend spät tätig war und sich kaum eine Erholung gönnte, mir ins Gedächtnis rufen mußte, wie wenig ich ihr ihre Aufgaben zu erleichtern suchte.
»Wenn ich einmal einen Wunsch habe, Felix, hast du immer wichtigere Dinge vor!« hatte sie noch jüngst in einem Tone gesagt, der mich quälend gefoltert hatte.
»Wir wollen aufs Wasser. – Schon lange ist es verabredet«, preßte ich nun schnell heraus. »Das Boot kostet eine halbe Mark, wir geben jeder die Hälfte. – Bitte, Mutter!« –
Sie schüttelte tadelnd den Kopf. Es ist mir wie heute! Der scharfe Duft der frischen Hülsenfrüchte drang aus der Schüssel hervor. Unser Dienstmädchen trat ins Wohnzimmer und tat eine Frage. Der Schlächter war da. »Was hat er?«
»En schöne Kalvkühl, fett! Fru Anger!« hörte man eine Stimme. Der Mann hatte nicht abgewartet, er steckte den Kopf in die Tür. Nun ging's ans Handeln, und ich stand auf Kohlen.
»Bekomme ich denn?« wagte ich mitten in die Erörterungen über Kalbskeulen und Lammfleisch zu fragen.
Abermals bewegte meine Mutter ungeduldig das Haupt, griff jedoch in die Geldtasche, nahm vier Schillinge hervor und sagte:
(Jetzt ertönte abermals von unten ein eindringliches »fü, fü, fü, fü, fü!«)
»Aber komme zur rechten Zeit wieder! Wir speisen heute früher! Und nehmt euch in acht. – Ich habe mit dem Hellmuth Ahn überhaupt nicht viel im Sinn! Du weißt es, Felix.« –
So folgte ich denn nun mit halb bedrückter, halb beglückter Miene dem Rufe meines Schulfreundes.
»Warte, Felix!« erscholl es aber doch noch einmal, als ich schon die Haustreppe hinabstürmte. Das Mädchen bestellte im Auftrage meiner Mutter: »Sie möchten nicht baden! Der Doktor hat gesagt, daß Sie aussetzen sollten.«
Ich nickte, keineswegs befriedigt, und war nun endlich an Hellmuths Seite.
»Durftest du nicht?« fragte dieser tadelnd. »Es dauerte ja eine Ewigkeit!«
»Doch, doch!« sagte ich, ihm die Schwierigkeiten mit gleichgültiger Miene verbergend.
Mein Kamerad hatte immer reichlich Taschengeld, auch fand er bei seinen Eltern nie Widerstand für seine Pläne, da er der einzige Sohn war und ihm zu seinem Schaden in allem nachgegeben ward. Mit dem stillen Neide vermischte sich bei mir die falsche Scham, daß das alles in unserem Hause ganz anders sei.
Die Sache ward auch nicht ferner berührt, und rasch machten wir uns davon.
Einige Häuser weiter stand der Bücherantiquar in der Tür und machte eine höfliche Verbeugung. Wir waren beide gute Kunden, namentlich mein Freund. Buttmanns Grammatik, neueste Auflage, war erst jüngst für einige Schillinge sein Eigentum geworden, als ich Rauchtabak brauchte. Und bei einem anderen Handel war Klemms Kulturgeschichte der Menschheit, das geliehene Eigentum eines eben verstorbenen Verwandten Hellmuths, in 24 Bänden verkauft worden und hatte für meinen Freund eine Summe ergeben, bei deren Umfang ich kühn gefragt haben würde, wie viel Marokko und alle Nebenstaaten kosteten?
Auch Thomas, der Fischhändler, mit starkgebogenem Rücken, Sommer und Winter stets nur mit einer Weste bekleidet, und immer mit derselben alten Mütze auf dem Kopf, die ich schon als kleiner Junge gekannt hatte, kam vorüber und rief mit einem vom Ausbieten schief gewordenen Mund:
»Hold frische Häring, hold frische Häring!«
Auch er grüßte. Er grüßte freilich jedes Kind, ja sogar den Hunden nickte er aus Höflichkeitsgewohnheit zu.
An der Ecke der Hauptstraße, die auf unseren Pfad abbog, stand ein hölzernes Häuschen mit einem offenen Schalter und einem halbrunden Dach. »Bäckerbude von Heinrich Theodor Pfingsten« war in Schreibschrift mit großen geschnörkelten Buchstaben darüber geschrieben. Drinnen waren Regale angebracht. Auf ihnen standen große durchsichtige Glashafen mit Bonbons und kleinen Kuchensorten. An jedem Brett saß eine aus einer grauen Tapete im Zickzack ausgeschnittene Borte, die außerordentlich wirkte! Vor uns lagen Pflaumentorten und anderes frisches Gebäck. Namentlich die großen Kringel, das Stück einen Sechsling, waren verführerisch.
Wir standen still und beschauten die Herrlichkeiten. Es störte uns nicht, daß der Verkäuferin, der »Alten Mite«, so nannte sie die ganze kleine Stadt, stets ein Tränlein in dem einen rotentzündeten Auge hing, das ihr langsam auf die Hand herabtröpfelte.
Hellmuth kaufte ohne Besinnen zwei Kuchen, einen Kringel und einen »Stuten«. Für mein Leben gern hätte ich's ihm nachgemacht, aber dann reichte das Geld für die Bootfahrt nicht.
»Auch einen?« nickte Mite auffordernd.
»Nein, heute nicht«, – erwiderte ich mit einer vornehmen Abwehr und einem Ausdruck, als ob es sich um die angebotene Würde des spanischen Königsthrones handelte.
Als wir weiter schlenderten, ärgerte ich mich, daß Hellmuth mich nicht über meine Zurückhaltung befragte und mir nicht nachfühlte, welche Qualen ich neben ihm empfand.
Aber ich kannte das schon bei ihm! Er gab nicht gerne, nie freiwillig, er war, wie fast alle Knaben, welche »einziges Kind« im Hause sind. Die Selbstsucht dringt unsichtbar, wie die atmosphärische Luft, in die Lungen dieser Armen.
Zuletzt konnte ich aber doch nicht widerstehen und sagte, auf diplomatischen Umwegen meine Zwecke verfolgend:
»Sind sie heute gut?« Ich behandelte das Thema, wie Studenten die Frage über das bayrische Bier zu erschöpfen pflegen.
Er nickte bloß und machte sich an den zweiten Leckerbissen, jetzt an den Kringel. So, nun mußte es geschehen, oder ich ging mit leerem Magen davon.
»Du! Gib mir die Hälfte ab!« sagte ich entschlossen.
Schon während ich die erste Frage an ihn gerichtet hatte, stellte sich ein unziemlicher Eßeifer bei ihm ein. Er hatte offenbar die Ahnung, daß es sich um eine Rekognoszierung handelte, der ein Angriffsausfall unmittelbar folgen werde.
Als ich nun fortfuhr, biß er wie ein Haifisch in den Kringel, und die von mir in Aussicht genommene Hälfte verwandelte sich im Nu in einen rund angebissenen, kläglich kleinen Rest.
»Da!« sagte er, und ich nahm zögernd und innerlich erbost über die berechnende Manier – mein eigenes Verfahren schien mir durchaus entschuldbar – was er mir hinhielt.
Inzwischen hatten wir die Straße erreicht, die geradeswegs zur Brücke hinabführte. Zu beiden Seiten bot diese einen freien Ausblick über die den Fluß begrenzenden Wiesen. Zur rechten war der Weg von einem in unregelmäßigen, großen Feldsteinen aufgeführten Walle eingefriedigt. Beim Vorüberschreiten bemerkten wir in einer Öffnung, die mit trockener, graupulveriger Erde angefüllt und oberhalb mit zahlreichen rotblühenden Brennesseln bestanden war, ein Wespennest. Es war heute ein brütend warmer Sommertag. In der flimmernden Hitze wurden die Pflanzen gereizt, und die Nesseln dufteten stark.
»Komm! Komm! Ein Wespennest!« rief Hellmuth eifrig.
Wir ruhten auch nicht eher, als bis ein brummendes Singen die Luft durchzitterte und mehrere der dickleibigen, gelben Tiere unseren Kopf umschwirrten.
»Laß nun! Laß nun!« mahnte ich, aber Hellmuth stach mit einem Stock mehrmals heftig in die Öffnung.
Die Sache vollzog sich nun ganz, wie uns dies aus den moralischen Erzählungen unserer Lesebücher bekannt geworden war.
Eins der Tiere verstand diese Störung unrecht und versetzte Hellmuth einen derben Stich auf die Nase. Mit einem »Donnerwetter! Au, au!« und mit über den Kopf verschränkten Armen entfloh er.
»Warte!« sagte ich, als wir den sogenannten Graben (ein offenes Abflußsiel, das den Weg durchschnitt und sein Wasser in den Fluß ergoß) erreichten, erkletterte eine Erle und riß einige Blätter ab. Ich ließ ihn selbst mit der Zunge über die rauhere Fläche gleiten und schmückte das verwundete Wahrzeichen seines Angesichts. Er sah herrlich aus, und der Schmerz wich sogleich. Dies Mittel hatte mich ein Förster gelehrt, als ich einmal auf dem Lande zum Besuche gewesen war.
Nun erreichten wir die Schiffbrücke. Auf dem Fluß schaukelten die Böte. Das unruhige, erwartungsvolle Fieber in der Nähe des Wassers überkam uns. Wir eilten rasch vorwärts. Zur Rechten auf dem Grase meckerte eine Ziege, die ungeduldig an dem Tau riß, mit dem sie angebunden war. Man glaubte das schmerzhafte Gefühl mit zu empfinden, wenn sie einen ihrer unverständigen Anläufe nahm und das Seil in beängstigender Weise den Hals einschnürte.
Weiße Wäsche zum Bleichen war ausgespannt. Die unvorsichtigen Tritte eines Hundes waren darauf sichtbar. Aufgestapeltes Holz, beschnittene Baumstämme brannten in der Sonne, und ihr harziger Duft vermischte sich mit dem Teer- und Seegeruch, der vom Ufer herüber durch die unbewegte Luft drang. Nebenan lag auch ein umgestürztes, eben geteertes Boot, und die durch die Sonnenhitze spröde gewordenen Buckeln glitzerten und flunkerten in dem Gold, das die Luft durchleuchtete. Kleine Knaben schaukelten auf einem Brett. Jedesmal stieß es hart auf dem Erdboden an, und jedesmal flog es durch kleine arbeitende Beine rasch wieder empor.
Linksseitig Gärten, Planken, letztere durch wellige Kreidelinien verunziert. Man glaubte den Buben zu sehen, wie er im Vorüberlaufen den Unfug ausgeübt hatte. Auch ein Kerlchen war hingemalt mit dem üblichen dicken Bauch und den Stricharmen und Beinen. Ein viereckiger Haufen mit Mauersteinen, gelblich schimmernd und Schatten lassend! Ein großer, glatter Stein, darauf ein Dienstmädchen im rotgestreiften Brabanter Rock, auf dem Schoß ein zappelndes, nach einem bellenden Hündchen verlangendes Kindchen in weißem Spitzenkleidchen! Ein anmutiges Bild.
Das alles sahen wir im Fluge, eilten nun an die Brücke, verständigten den Bootführer, der nach Art dieser Leute stumm nickend und den Kautabak im Munde drehend, unseren Zweisegler »klar« machte.
»Abstoßen!« Die Segel unseres Schiffchens flatterten; noch lagen wir nicht im Wind, der zwar drüben kleine, weißgekrönte Köpfe auf die blaue Flut zauberte, hier an der Brücke aber nur leise die Wasserfläche zu kräuseln begann.
»Mehr rechts steuern! Siehst du nicht den Pfahl?« Hellmuth bog sich vornüber.
Nur durch eine Linie getrennt, glitt unser, jetzt sich majestätisch emporrichtendes und bereits mit vollen Segeln dahineilendes Boot an dem bedrohlichen Hindernis vorbei. Aber nun waren wir aus dem Gewirr der hier angeketteten Fahrzeuge, gewannen freie Bahn und trotzten gegen den Südwestwind auf. Und über uns der blaue Himmel ohne Wolken, aber schneeweiße Möwen in der Luft, deren unruhiger, schwirrender Gesang aus tausend Kehlen von einer Insel herübertönte, die wir zu erreichten suchten.
Zur Rechten lag das Städtchen mit seinen roten Dächern. Sanfte, weiße Rauchwolken schwebten empor. Hier hohes, schimmerndes Gemäuer, dort ernsthaft dreinschauende Kirchtürme, und alles im Hintergrunde umrahmt von den blühenden Armen des Waldes mit seinem helleren oder dunkleren Kolorit.
Hinaus! Hinaus! Es sprühte der Gischt um den Kiel, der stramme Wind prallte sich gegen die flotten Segel auf, und schrägseitig durchschnitten wir die Flut.
»So, nun laß mich mal steuern«, sagte ich nach halbstündiger, durch Kreuzen unterbrochener Fahrt, zu Hellmuth.
»Ne, laß, du kannst auf der Rückfahrt« – –
»Wieso?«
»Ich meine, ich steure nun und du später.«
»Nein, nein, geh nun mal nach vorne und lasse mich!« sagte ich entschieden, kletterte über die Sitzbretter und trat an ihn heran.
Aber er rührte sich nicht, er tat, als sei ich Luft. Den Blick gradaus, schaute er zur Insel hinüber, deren schilfumstandene Ufer sich schon schärfer abhoben.
Junge, graue Möwen (Kujabber) tanzten auf den Wellen auf und ab, erhoben sich wohl einmal im kurzen schwerfälligen Fluge und setzten sich dann von neuem in einen goldglitzernden Streifen, den die Sonne aufs Wasser gelegt hatte.
»Ih nun! Ih nun!« rief ich und stampfte mit dem Fuße. Immer maßte sich mein Kamerad in unserem Verkehr das Herrscheramt an. Er wollte stets der Hammer, ich sollte der Amboß sein! Auch wirkte noch die Kringelgeschichte nach. Daß er mir den angebissenen Rest hinzuhalten gewagt, konnte ich nicht vergessen, um so weniger vergessen, als er nie vergeblich Ansprüche an meine Gutmütigkeit machte.
»Laß nun doch!« rief er ungeduldig und heftig auf mein letztes Kommandowort, faßte mit der Rechten das Steuer fester, und erhob, als ich nicht nachließ, die Linke und stieß mir die geballte Faust gegen die Brust.
Ich verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts ins Boot. Das Fahrzeug schwankte und legte sich bis an den Rand ans Wasser. Die Wellen spritzten ihre übermütigen Tropfen hinein und durchnäßten mich. Aber mit einem Sprunge war ich auch schon wieder empor, stürzte mich auf Hellmuth, packte ihn an der Gurgel und riß ihn von seinem Sitze herunter.
Das Steuerruder entglitt seiner Hand, das Boot kam aus dem Kurs, die Segel flatterten, der Wind stürmte, und die Möwen schrieen. Aber auf das alles achteten wir nicht! Wir hatten uns gefaßt und suchten uns gegenseitig zu Fall zu bringen. Mit unserem Widerstand wuchs unsere Wut. Backe an Backe, mit heißem Atem, mit abgestreiften Mützen, von denen schon eine über die Wellen tanzte, rangen wir miteinander.
»Willst du Ruhe geben?« hastete es aus Hellmuths Brust.
»Willst du deine infamen Manieren lassen?« brüllte ich.
Ah, da brachen wir zusammen! Rückwärts stürzten wir über den Sitz, und unsere Köpfe schlugen gegen den Hauptmast. Und die Segel flatterten klatschend hin und her, und der Wind legte sich gegen die Flanken des Bootes und trieb uns weit hinaus, an der Insel vorüber. Keuchend, blutend erhoben wir uns, zerrten an unseren Kleidern und schauten uns zitternd vor Wut ins Auge.
Und ehe ich mich's versah, – just wollte ich ans Steuer eilen, um das Boot wieder in den Wind zu bringen – stürzte hinterrücks Hellmuth auf mich zu, umklammerte meine Schultern und riß mich abermals ins Boot hinab. So lagen wir, kämpften und zerrten uns wie bissige Hunde.
Endlich gewann ich die Oberhand. Mit den Knieen auf seiner Brust hielt ich ihn, und während wilde Worte aus meinem Munde drangen, sah ich, wie auch der Geifer der Erregung über seine Lippen floß.
»Willst du Abbitte tun?«
»Nein!« –
»Du willst nicht!«
»Nein!« –
»Willst du jetzt?«
»La–aß, la–ß« – Ich schlug auf ihn ein. Ich war blind vor Wut.
Er lag wie tot in dem Boot. Ich erhob mich mit zitternden Gliedern und in furchtbaren Ängsten.
Jetzt aber tobte der Wind in den flatternden Segeln und riß es zur Seite. Ich schwankte, fiel an den Rand, griff um mich, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte plötzlich kopfüber ins Wasser. Nach mir quoll das Naß gierig ins Fahrzeug. Kalte Schauer durchrieselten mich, um meine Ohren dröhnte und wirbelte es; ich sank. Aber ich arbeitete mich rasch wieder empor, gewann Oberwasser, lugte atemlos nach dem Boote aus und strengte meine Kräfte zum Schwimmen an. Wehe! Durch die Bewegung war der Zweisegler wieder in den Wind geraten und setzte jetzt mit vollen Backen durch die Flut.
Das Schwimmen ward mir schwer in Kleidern und Stiefeln; ich mühte mich keuchend, zugleich überlegend, wohin ich mich wenden solle.
Mein erster Gedanke war, meinen Kameraden zu rufen. In solcher Lage schwieg jede Feindschaft! Mein zweiter Gedanke, ein schrecklicher, entsetzlicher: »War Hellmuth etwas zugestoßen? Hatte ich ihn besinnungslos gemacht?« Ich sah nichts von ihm!
»Dem Boote nach, dem Boote nach!« rief es in mir. Ich holte aus, und nun schrie ich über das Wasser: »Hilfe – Hil–fe, Hellmuth, – Hellmuth!«
Nichts! Nichts!
Was wurde aus mir, aus ihm, – aus dem Fahrzeug, das herrenlos dahinjagte? Schauer jagten durch mein Inneres, auch die Kräfte ließen nach.
Ich legte mich auf den Rücken zum Ausruhen. – Über mir der blaue friedliche Himmelsbogen und in der klaren, goldenen Luft eine einzige, tieffliegende Möwe mit schneeweißen Flügeln. An mein Ohr aber drang das Rauschen des Wassers.
So lag ich ausruhend, bis ich »Hellmuth! Hellmuth! Hilfe! Hilfe!« von neuem erschallen ließ und meine Stellung veränderte. Ich teilte mit frischen Kräften die Wellen. Aber ob's, unter solchen Verhältnissen nicht doch zweckmäßiger sei, an die Insel zu schwimmen? fragte ich mich dann. Da war ich wenigstens auf dem Lande, sicher vor größerer Gefahr, gar vor dem Ertrinken! Das grüne, hohe Schilf sah ich in nicht zu großer Ferne; es umsäumte, vom Winde durchrauscht, sanft sich neigend, die Ufer. In seiner Nähe war's auch flach! Dort gewann ich bald Grund unter meinen Füßen!
Ja! So sollte es sein! Alles andere außer acht lassend, schwamm ich gegen das Eiland und suchte dieses zu gewinnen. Von unserem Zweisegeler sah ich schon nichts mehr.
Endlich erreichte ich die Bucht und ließ mich sinken. Das Wasser ging mir noch ans Kinn, aber ich vermochte zu gehen und meinen arbeitenden Lungen Ruhe zu geben. Mit den Armen teilte ich die Flut und eilte vorwärts. Wie ängstlich kreischten die Möwen, aber wie viel stiller war's hier in der Luft, nahe dem Strande. Fast unheimlich still. – Im Schilfrohr schrie ein Wasserhuhn. Nun verstummte es plötzlich. Bald reichte mir die Welle nur noch ans Knie, und nach wenigen Minuten hatte ich den Strand erreicht. Er war bedeckt mit glattem, aufgespültem Sand, Vogelfedern, Steinchen und ausgeworfenem, mit trockenem Schaum bedecktem dunklen Holz aus schiffbrüchigen Fahrzeugen.
»Ah! Ah!« seufzte ich tief auf und betrachtete die nassen, schlotternden Kleider an meinem Körper. Die Stiefel ausziehen, war mein erster Gedanke. Ja, wenn das so leicht gewesen wäre! Endlich riß ich sie herunter, entkleidete mich gänzlich und eilte noch einmal in die Flut. Bewegung, Wärme!! Ich lief auf und ab und achtete nicht, daß die Grasstoppeln in meine Füße schnitten.
Nun breitete ich Rock, Beinkleider und Wäsche aus und stürmte die Anhöhe der Insel hinauf. Wie Robinson Crusoe kam ich mir vor, als ich hier so verlassen oben stand. Unheimlich wurden die Möwen aufgescheucht; mit betäubendem Gekreisch irrten sie über mir in der Luft, wie vom blauen Himmel herabgefallene im Äther tanzende Silberflocken erschienen sie meinem Blick.
Meine Augen beschattend, sah ich nach unserm Fahrzeug aus. Ah! Gottlob! Da war das Boot, und am Steuerruder saß eine Gestalt! In diesem Augenblick kreuzte der Führer und nahm seine Richtung zu mir.
Ich flog hinab, holte meine Wäsche und ließ sie im Winde flattern.
So stand ich wehend mit meinem Wahrzeichen und überlegte, ob er wohl kommen oder mich boshaft im Stiche lassen werde. Auf dem Flusse war's wie ausgestorben; sonst nirgend ein Fahrzeug, kein Boot, kein Kahn. Nur die Schneekämme der Wellen erschienen und verschwanden, nur der Wind wehte um meine Stirn, nur die Tiere über mir sangen ihre alten unruhigen Lieder.
Und während ich über das Wasser spähte, gedachte ich all der Umstände, die mich in diese Lage gebracht hatten.
Traf mich ein Vorwurf? War Hellmuth schuld? Wie war doch alles gewesen? – wie war's gekommen?
Leise Reue stieg in mir empor, und zu dieser gesellte sich die Furcht vor den Vorwürfen meiner Mutter. Konnte ihr verborgen bleiben, was geschehen war? Durfte ich ihr es verheimlichen? Würden meine nassen Kleider mich verraten?
Aber diese Überlegungen waren noch verfrüht. Ich wähnte mich schon wieder daheim im trockenen Nest, während ich doch vorläufig noch nackt und frierend dastand und es weit schlechter hatte als die ersten Menschen, die einst im Paradiese mit seligen Gefühlen umherwandelten und goldschimmernde Früchte naschten.
Nun war das Fahrzeug nahe der Insel!
Ich wiederholte meine Rufe und schwenkte von neuem das Leinen in meiner Hand. Jetzt stellte sich auch Hellmuth aufrecht ans Steuer und ließ sein Sacktuch wehen. Ah! Nun war alles gut! Freilich, unmöglich blieb's für den Zweisegler, ans Land zu kommen. Nur Kähne mit flachem Boden konnten durch die seichte Flut bis ans Ufer gelangen. Ich mußte meine Kleider in die Hand nehmen und bis ans Boot heranwaten! Und so geschah es!
»Donnerwetter!« sagte Hellmuth, als er mir die Kleider abnahm und die Hand zum Einsteigen reichte, »hab' ich aber eine Angst ausgestanden!«
»Na, und ich!« sagte ich beglückt, daß nichts mehr zwischen uns lag.
Für heute hatten wir aber beide genug. Zudem fanden wir, als wir uns gegenseitig betrachteten, die Spuren der Kämpfe auf unsern Gesichtern. Die Fragen daheim konnten nicht ausbleiben.
»So, nun steure du!« hub Hellmuth an.
»Nein, laß! Bleib du nur dabei!« gab ich, gerührt von seiner Willfährigkeit zurück.
Wir erreichten nach viertelstündiger Fahrt die Brücke. Als ich in die Westentasche griff, um meine vier Schillinge hervorzuholen, sammelte Hellmuth mit einem großmütigen: »Nein behalte! Ich bezahle heute!« – glühende Kohlen auf mein Haupt, und ich übersah sogar für Augenblicke meinen höchst ungemütlichen Zustand, ich vergaß, daß mein Hemd zusammengerollt in meiner Rocktasche steckte, und daß die Beinkleider sich feucht um meine Glieder steiften.
»Was sagst du nun zu Hause?« fragte mein Kamerad.
»Ich weiß selbst nicht.«
»Sag' nicht, daß wir uns erzürnt hatten.«
»Nein, nein!« beruhigte ich ihn rasch.
»Sag, daß wir gebadet hätten und daß« –
»Nein, das geht nicht. Baden war mir verboten.«
»Hm! Hm! weißt du, Felix, sag', daß Wasser ins Boot gelaufen wäre!«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter belügen?
»Nein! Ich werde garnichts sagen. Ich laufe in mein Zimmer und wechsle die Kleider!«
Hellmuth nickte. »Ja, so ist's gut. – Und nicht wahr? Du sagst nie etwas von dieser Geschichte? Gib mir dein Ehrenwort!«
Ehrenwort geben ist unter Knaben gang und gäbe. Freilich wird's bei der geringsten Veranlassung gefordert und bewilligt.
Als wir uns an unsern Haustüren trennten, war ich fast schon trocken. Ich hatt's sogar noch besser als Hellmuth, der seine Mütze bei dem Kampfe eingebüßt hatte. Sie schwamm jetzt herrenlos im Flusse, und die Möwen tauchten wohl herab, um nach einer Beute zu haschen.
Die Nachwirkung kam aber doch. Eine starke Erkältung machte sich zunächst bemerkbar, und bald lag ich schwer fiebernd im Bett.
Die sanften, traurigen Augen meiner Mutter waren über mir, wenn ich schrie und tobte, wenn ich immer wieder rief: »Ich will ans Steuerruder! – Ich will ans Steuerruder! – Wasser! – Wasser! – Das Boot! – Das Boot! – Hellmuth! Hellmuth, Hellmuth!«
»Was habt ihr eigentlich miteinander gehabt?« fragte meine Mutter meinen Kameraden, als er eines Tages mit bedrückter Miene erschien, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen.
Er beichtete alles! –
»Warum hast du mir nichts erzählt, Felix?« fragte sie, als ich zum ersten Male wieder aus dem Bette war, noch bleich dasaß, und ihr zärtlicher Blick mich traf. »Es war nicht recht!«
»Ich fürchtete, daß du schelten würdest –«
Sie schüttelte den Kopf und ihr Auge blieb auf mir ruhen.
»Du Hitzkopf, du! Wer war denn eigentlich schuld?«
»Ich – Mutter!« –
»So, so? Hellmuth sagt, er habe die Veranlassung gegeben. Das ist auch das Richtige. In dem Eingeständnis liegt die rechte Reue, – und die Reue, mein lieber Junge, ist immer der Vorhof zur Besserung. – Aber nun deck' dich nur zu! Deck' dich zu, Felix! So, und ruhe hier in Papas Lehnstuhl. – Schlafe! Du bist noch schwach, mein lieber Junge.«
Sie beugte sich über mich. Noch einmal traf mich ihr Blick, ein Blick, in dem ihr Herz schwamm.
O! welch ein Herz voll Liebe und Güte!