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Der Flüchtling.

Erzählung von Harry Weiß.

Gnade, wie bist du so groß
Denen Seelen, die sich können
Sünder nennen
Und die nur der Schmerzensmann
Trösten kann,
Denn die dürfen zu ihm kommen,
Wer da kommt, wird angenommen,
Jesus nimmt die Sünder an.

Hell leuchtend stand die Julisonne am wolkenlosen Firmament und sandte ihre Strahlen durch die geöffneten Fenster in die kleine Wohnung des Tagelöhners Brand, welcher in einem verkehrreichen Stadtviertel von G. hoch oben im vierten Stock zwei kleine Zimmer mit seiner Familie teilte. Reinlichkeit war hier zu Hause, und diese ziert mehr denn all nutzloser Schmuck und Tand. In der That, Frau Brand verstand es gar wohl, mit ordnender Hand die kleine Häuslichkeit immer schmuck und sauber zu erhalten, auch war dies wohl mit der Hauptgrund, weshalb der Mann nach gethaner Arbeit lieber daheim blieb, anstatt im Wirtshaus beim Kruge Bier seinen Feierabend zu verbringen. Wahre Gottesfurcht zeichneten die beiden Eheleute rühmlich vor so vielen anderen aus. Die Bibel stand nicht verstaubt und unbenutzt auf dem Bücherbrett, sondern sie ward des Morgens wie des Abends herabgeholt, und Vater Brand, als Priester seines Hauses, verfehlte es nie, aus dem immer fließenden geistigen Quell für sich und die Seinen Trost und Kraft zu schöpfen.

Mußten sie nun zwar auch nach dem Wort des Herrn im Schweiße ihres Angesichtes ihr Brot essen, so war es doch den beiden Eheleuten bisher immer wohl ergangen.

Da hielt es Gott für gut, unversehens den Mann mit Krankheit zu schlagen, der bis vor Kurzem unverdrossen sein Tagewerk gethan hatte. Nun lag er hilflos auf seinem Lager und mußte, so schwer es ihm auch oft ward, der züchtigenden Liebeshand seines himmlischen Vaters stille halten. Not und Mangel blieben nicht aus, und oft dachte der Kranke, da er in einsamen Stunden auf dem Lager sich hin und herwarf, mit Angst und Schrecken an die Zukunft. Heut war es nun schon die achte Woche, daß er nichts mehr verdient hatte. Zwar war die Krankheit selbst, – eine schwere Lungenentzündung, – gehoben, doch konnte es noch lange dauern, bis er wieder mit seiner Hände Arbeit sich und die Seinen ernähren konnte. –

An das Lager des Kranken trat jetzt dessen treues Weib, und wie sich der Brust des Kranken ein schwerer Seufzer entrang und er wie hilfesuchend sie anblickte, da legte Mutter Brand dem Gatten die Hand auf's Haupt und sagte mit weicher Stimme: »Hermann, vertrau' auf Gott, er wird auch über unsre beiden Söhne seine schützende Vaterhand halten, wie er auch dir glücklich hindurch geholfen hat.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thüre und ein junger Mann trat ein, der mit freundlichem Gruße den Beiden die Hand bot. Das war der Stadtmissionar, Herr Goltz, welcher schon öfters den armen Tagelöhner besuchte und sich selbst an dem kindlichen Glauben der alten Leute gestärkt hatte. »Wie geht es Ihnen, mein lieber Herr Brand«, frug der neu Eingetretene mitleidig, »haben Sie noch viele Schmerzen?« »O, Schmerzen habe ich zwar nicht«, entgegnete der Kranke wehmütig lächelnd, »aber«, – »nun?« »Ach, die Sorge bedrückt ihn gar sehr und lastet wie ein Alp auf seiner Seele«, wandte die Frau ein, »ja Herr, wir sind arme Leute, und die lange Krankheit meines Mannes hatte das wenige Ersparte bald aufgezehrt, denn mit dem, was wir aus der Krankenkasse erhalten, kommen wir nicht sehr weit. Um nun das Unglück noch voll zu machen, ist gestern unser Wilhelm mit verstümmelter Hand in das Hospital gebracht worden. Wilhelm ist 24 Jahre alt und arbeitet nun schon seit zwei Jahren in einer Möbelfabrik. Gestern ist er in die Dampfsäge gekommen, jetzt liegt er im Hospital und ist vielleicht für immer arbeitslos.«

Laut weinend fiel die arme Frau an das Lager ihres Mannes auf die Kniee und barg das thränenüberströmte Gesicht in das Kissen, während tief ergriffen Herr Goltz dem Bilde des irdischen Jammers zuschaute. »Fasset euch, liebe Frau«, sagte er, »und vertraut auf Gott, er ist der Kranken Trost und eine Stütze der Bekümmerten.«

»Was Sie aber bis jetzt vernommen, ist noch nicht das größte Leid, was uns treffen konnte«, sagte Brand bekümmert. »Unser jüngster Sohn, welcher hier bei einem Kaufmann in der Lehre ist, der macht uns den meisten Kummer. Schon seit Wochen scheint er in böse Gesellschaft hinein geraten zu sein. Er ist nicht mehr der gehorsame Sohn wie früher, auf alles, was man ihm sagt, hat er eine Widerrede, und anstatt des Abends nach Hause zu kommen, treibt er sich anders wo herum, alles Ermahnen und Strafen ist bisher nutzlos bei ihm geblieben, und wenn Gott der Herr ihn nicht selbst herumholt, müssen wir das Schlimmste für ihn befürchten.«

»Bei Gott ist aber kein Ding unmöglich«, wandte Herr Goltz ein, und wenn Sie Ihn recht darum bitten, wird ER dem verlorenen Sohne wieder den rechten Weg ins Vaterhaus zeigen. Lassen Sie nur den Mut nicht sinken, und denken Sie recht oft an den Vers unsers Gesangbuches:

»Glaub nur feste, daß das Beste
Ueber dich beschlossen sei.
Bleibt dein Wille nur fein stille,
Wirst du allen Kummers frei.«

Nachdem der Stadtmissionar bei seinem Abschiede ein blinkendes Geldstück unbemerkt aus den Tisch gelegt hatte, verließ er die Wohnung mit den beiden schwer geprüften Leuten, im Stillen Gott bittend, daß ER ihren Glauben in der Stunde der Anfechtung nicht zu Schanden werden lasse.

Von den Türmen der Stadt verkündete Glockengeläute die Mittagsstunde. Hans Brand, der Lehrling aus der Handlung Th. Liebers, war der letzte, der das Komptoir verließ. Nachlässig schlenderte er über die Straße seiner elterlichen Wohnung zu. Der halbwüchsige Bursche hatte ein gutmütiges Gesicht und fast sah er so aus, als könne er nie auch nur ein Wässerlein trüben. Doch keimte schon an seinem Herzen die Saat der Unzufriedenheit. Unzufrieden war er mit sich und seiner Umgebung, unzufrieden auch mit seinen Eltern, die ihm seiner Meinung nach das Jugendglück nicht gönnten.

Vielmehr war dies nicht seine Meinung, sondern die Meinung des Klaus, eines Burschen in seinem Alter, den er sich seit einigen Wochen zum Freunde erwählt hatte, derselbe war ebenfalls bei einer Firma als Lehrling eingestellt, war ein Waisenkind, und weil er schon von Kindesbeinen an unter fremden Leuten gewesen war und selten Liebe geerntet hatte, wußte er auch nicht, was Liebe ist.

Klaus ward von einem jeden, der etwas aus sich hielt, gemieden, und in aller Munde hieß er nur der »böse Klaus.« Der trat also jetzt an Hans Brand heran und ihm einen Stoß in die Seite versetzend, raunte er ihm ins Ohr: »Du, weißt du was neues? Ich habe jetzt viel Geld, nun kann's losgehen.« Hans hatte sich umgewandt und schien im ersten Augenblick viel mehr Lust darin zu finden, seinem Angreifer gleiches mit gleichem zu vergelten, als sich mit ihm in eine Unterredung einzulassen.

»Na, na, war nicht so bös gemeint«, sagte Klaus besänftigend? »Also heute abend geht's fort, hast du mich verstanden?« »Aber wo willst du denn hin?« fragte Hans ungläubig. »Auf alle Fälle aus dem Neste heraus. Ich für meinen Teil bin flügge. Bist du es noch nicht, gut, so magst du da bleiben«, entgegnete der Gefragte lachend. »Ja, was werden dann aber meine Eltern dazu sagen«, wandte Hans nachdenklich ein. »O, die werden Gott danken, einen Topflecker weniger zu haben«, spottete der böse Klaus. Ungläubig schüttelte Hans den Kopf. »Nun, dann bleib hier, bis man dich begräbt«, sagte sein Verführer verächtlich.

»Ich will schon mitgehen«, wandte Hans ein, in dem die Lust zu Abenteuern wieder rege zu werden begann. »Gut, also heute Abend um acht Uhr bist du auf dem Bahnhof«, sagte Klaus befriedigt, und verzog das ohnehin häßliche Gesicht zu einem Grinsen, was ihm noch weit weniger gut stand. Dann bog er in die nächste Seitengasse, seinem zukünftigen Gefährten für die Stunden des Nachmittags dem eigenen Schicksal überlassend.

Im Westen versank die Sonne als blutrote Scheibe hinter einer gewitterschwangeren Wolkenwand, mit ihrem Lichte die dunklen Wolkenmassen goldig umsäumend. Schwül war es in den Straßen der Stadt, und noch schwüler in den Wohnungen derselben. Vater Brand warf sich unruhig auf seinem Lager hin und her. Das war aber nicht allein die Folge der drückenden Luft. Das Gesicht nach Westen gerichtet, blickte er immer und immer in die undurchdringliche Wolkennacht. »O, wie dunkel ist es doch in meiner Seele«, dachte er bei sich und wie zum Gebet falteten sich seine Hände. Da flammte ein greller Blitz durch die Dämmerung des scheidenden Tages und laut rollte der Donner über das Gewölbe des Himmels. Frau Brand, die bisher emsig strickend am offenen Fenster gesessen hatte, erhob sich, um dieselben zu schließen, und dazu war es eben die rechte Zeit. Das Wetter brach mit voller Macht los. Der Sturm heulte mit wilder Wut und prasselnd schlug der Hagel gegen die Fenster. »Gott sei uns gnädig«, sprach Frau Brand, die Lampe anzündend, und rückte dann ihren Stuhl dicht an das Bett des Kranken. Der Himmel flammte wie in einem Feuermeer und immer lauter rollte der Donner. – »Wo bleibt nur unser Hans diesen Abend?« frug unruhig der Vater, seinen Blick auf die Uhr richtend. »Jetzt ist es schon 8 Uhr, vor einer Stunde hätte er schon da sein können.« »Hans mag es wohl vorgezogen haben, auf dem Komptoir zu bleiben, bis das Wetter ausgetobt hat«, antwortete in anscheinend gleichgiltigem Tone Frau Brand.

Schon verkündete die Glocke der Turmuhr die zehnte Abendstunde und Hans war noch nicht zu Hause. »Ihn kümmert es nicht, ob Vater und Mutter von Minute zu Minute auf den Sohn warten«, sprach unmutsvoll der Vater. »Hans ist ein entarteter Sohn. Fast gleicht er dem der heiligen Schrift, und doch würde ich die Stunde segnen, da er gleich jenem zurückkehrte an das Herz seines himmlischen Vaters und somit auch uns aufs neue geschenkt würde.« Die Frau schwieg, aber Thränen standen in ihren Augen. Das Gewitter hatte sich entladen. Erquickend drang die kühle Nachtluft ins Zimmer. Die bekümmerte Frau begab sich zur Ruhe, nachdem sie das Licht gelöscht. Schlafen konnten aber beide diese Nacht nicht. Bei jedem Geräusch fuhr die Frau vom Lager empor und glaubte die Tritte ihres Sohnes auf der Treppe zu vernehmen, und sich dann getäuscht wieder nieder zu legen.

Zwei Tage waren seitdem verflossen, eben war der junge Stadtmissionar im Begriff, seinen Morgengang durch die Stadt anzutreten, als ihm eine in der Zeitung stehende Bekanntmachung in's Auge fiel, welche etwa folgendermaßen lautete: »Am gestrigen Morgen wurde der Lehrling einer hiesigen Handlung, namens Klaus, vermißt. Fast zu gleicher Zeit wurde auf telegraphischem Wege nach P. gemeldet, daß die an das dortige Bankhaus abgegangene Summe in der Höhe von 7000 Mk. daselbst nicht eingetroffen sei. Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man das Flüchtigwerden des jungen Mannes mit dem Fehlen des Geldes in den engsten Zusammenhang bringt. Auch kehrte am Abend zuvor der Sohn eines Bürgers hiesiger Stadt nicht nach Hause zurück. Es ist leicht möglich, daß sich beide anderweitig einige gute Tage machen.« –

»Armer Hans Brand,« sagte Herr Goltz, »so weit mußte es mit dir kommen, aber unserm Herr-Gott kannst du so schnell nicht aus der Schule laufen, wie du das in deinem verkehrten Sinn wohl gern möchtest. Wehe aber deinem Verführer, er hat sich zweifacher Sünde schuldig gemacht.« Sein erster Gang war zu der Familie Brand.

Der freundliche Leser erlasse es mir, jene herzzerreißende Szene zu schildern. »Unser Sohn ein Dieb,« rief einmal ums andere der noch immer bettlägerige Vater. »O Gott, warum hast du das zugelassen?« rief wehklagend die Mutter. Herr Goltz versuchte die armen Eltern zu trösten, so gut er es vermochte. Er sagte ihnen, daß Gott wohl scheinbar ihr Gebet nicht erhört habe, aber Gottes Wege seien unerforschlich, und er sei überzeugt, daß auch Hans, wenngleich nach tiefer Demütigung, dennoch den rechten Weg wieder finden werde. Die Träber dieser Welt würden ihm ebensowenig auf die Dauer munden, wie einst dem verlorenen Sohn, von welchem die heilige Schrift erzählt. – »Wo mögen die Beiden nur jetzt sein?« sagte weinend Frau Brand zu ihrem Mann, nachdem Herr Goltz sie mit dem Versprechen, bald einmal wieder zu kommen, verlassen hatte. Die armen Eltern wären wohl gar erschrocken, wenn ihnen von Gott dem Allwissenden die Antwort geworden wäre: »In Algier.« Ja, dort waren die halbwüchsigen Burschen. In dem Wunderland, von denen sie so viel Glaubliches und Unglaubliches gelesen und auch wohl geträumt hatten. Wo waren aber die im Abendwind rauschenden Palmen, wo die feurigen Araberhengste, auf denen sie durch die Steppen jagen wollten, den Lasso zum Wurfe bereit, um im rasenden Lauf die Schlinge um den Hals des flüchtigen Tieres zu werfen?

Als sie in der Hafenstadt Algiers anlangten, war es wenigstens zunächst eine sehr prosaische Entdeckung, welche der Dieb selbst machte, und zwar bestand dieselbe darin, daß er seinen Koffer leer fand. So schnell wie das Geld auf unrechtmäßige Weise in seinen Besitz gelangt war, ebenso schnell war es auch wieder dahin. »Siehst du,« sagte Hans, als Klaus ihm ganz entrüstet die Mitteilung von dem »unverschämten« Diebstahl »seines« Geldes machte, »unrecht Gut gedeiht nicht, das haben mir meine Eltern schon in frühester Jugend gesagt.« – In Hans war die Stimme des Gewissens noch nicht zum Schweigen gebracht, sie hatte ihm keine Ruhe gelassen, weder bei Tag noch bei Nacht. All das Schöne in der Schöpfung, woran sich der Mensch mit Recht sonst erfreut, hatte auf ihn keinen Eindruck gemacht. Das schöne Italien, welches sie mit dem dahinbrausenden Dampfroß durchfuhren, es hatte für ihn keinen Reiz. Ihm war es, als müßte jeden Augenblick der Zug entgleisen, um ihn und seine Begleiter dem Tod in die Arme zu liefern. Bei dem Anblick jedes Polizisten fuhr er zusammen, und atmete erst wieder aus, wenn er sich aus dessen Gesichtskreis glaubte und als sie mit schwellenden Segeln das mittelländische Meer durchfuhren, glaubte er aus den rauschenden Wogen die Stimme des zürnenden Vaters zu hören: »Hans, du bist ein entarteter Sohn, du bist ein Dieb.« – Wie, war er denn wirklich ein Dieb? Er hatte noch keinen Pfennig von dem berührt, was Klaus dem Geschäfte entwendet, derselbe hatte in »großmütiger« Weise die Fahrt selbst bezahlt und dennoch war er ein Dieb, wußte er doch sehr gut, daß die Fahrt auf Kosten der bestohlenen Kasse gemacht worden war.

Beim unsicheren Schein der Gasflamme treffen wir die beiden in einem der Wirtshäuser am Hafen. Um ihnen herum sitzen aus allen Ländern der Erde hier gelandete, wenn nicht »gestrandete« Menschen, der Deutsche, welcher den Eid, den er Gott und seinem Könige geschworen, durch Fahnenflucht gebrochen hat, um hier in die Reihen der Fremdenlegion einzutreten, der Jude, der nirgends fehlt, wo ihm gewinnverheißend das Glück entgegen blinkt, und dazwischen wieder leuchtet der weiße Turban des Arabers und der Kaftan des Türken. Durch den vom Tabaksqualm durchzogenen Raum schwirrt das bunte Sprachengewirr. Hier fühlt sich Klaus wohl, denn hier weiß er sich sicher. Was war nun zu thun? Der sonst in allen Dingen so erfahrene »weltkundige« Klaus wußte es selbst nicht. Noch stand ihm eine ziemlich bedeutende Summe zur Verfügung, die er bei sich getragen hatte, als ihm das Geld aus seinem Koffer entwendet worden war. Hans fühlte schon längst eine stille Sehnsucht nach dem Elternhause, obwohl er den Zorn des Vaters, und fast noch mehr die Thränen der Mutter fürchtete. »Klaus, wir wollen nach Hause gehen«, sagte er zu diesem. Als Antwort aber erhielt er von seinem »großmütigen« Nachbar einen derben Stoß. »Du verzogenes Muttersöhnchen«, sagte Klaus boshaft, »so geh doch, bist mir ohnedies schon lästig genug.« Hans schwieg und nur mit Mühe vermochte er die Thränen zurückzuhalten.

Beide übernachteten im Wirtshause. Am andern Morgen sagte Klaus zu seinem Begleiter: »Ich habe mir diese Nacht die Sache überlegt. Wir werden wieder nach Europa übersetzen, denn mit so einem Kind wie du eins bist, – Klaus war ein Vierteljahr älter, – kann ich unmöglich unbehindert meine Reise fortsetzen. Ich bringe dich zunächst nach S., von dort aus kannst du zusehen, wie du weiter kommst und wenn du dann hinter Schloß sitzst, dann denke auch einmal an mich und an deine Dummheit.«

In S. kam es aber anders, als wie sich Klaus dies zurecht gemalt hatte. Als die beiden jugendlichen Verbrecher eben den Zug verlassen hatten, der sie nach S. gebracht hatte und sich nun in das Gewühl der Reisenden mischen wollten, da fühlten sich beide von derben Händen gefaßt. Hans fuhr zusammen, ihm war es, als müßte sich die Erde aufthun, ihn zu verbergen, während der andere einen Versuch machte, sich den Händen der Kriminalpolizisten zu entwinden. »Ich verhafte euch hiermit im Namen des Gesetzes«, sagte der Polizist und wie mit eisernen Klammern hielt seine Hand den Arm des sich Sträubenden umfaßt. »Versuchet nur keinen weiteren Widerstand, sonst sehe ich mich genötigt, von den Handschellen Gebrauch zu machen.« Indem hatte sich eine Menge Schaulustiger hinzugedrängt. »Das sind aber ein Paar nette Vögel«, – »die spazieren jetzt auf Nr. Sicher«, – »was giebt es doch auf der Welt für schlechte Menschen!« Solche und andere Redensarten wurden den Verhafteten zugerufen. Hans stieg die Röte der Scham in das Gesicht, während Klaus trotzig um sich blickte. Eine bereitstehende Droschke nahm sie auf, der Polizist gesellte sich zu ihnen und einen Augenblick später rasselte der Wagen durch die Straßen von S. dem Gefängnisse zu. –

Am nächsten Tag wurde Hans und Klaus an das Gefängnis in G. abgeliefert. Hans kannte die vergitterten Fenster, und Thränen der Scham und der Reue rannen über sein jugendliches Gesicht, als er den langen Korridor hindurch geführt ward, und die eisenbeschlagene Thür seiner Zelle sich hinter ihm schloß. Noch war ihm das Urteil nicht gesprochen. Klaus saß in einsamer Zelle für sich allein, während Hans mit zwei anderen Untersuchungsgefangenen ein und dieselbe Zelle bewohnte. Wie einsam gingen die Stunden dahin, nur die Zeiten des Essens brachten auf kurze Zeit eine Abwechselung in die grauenhafte Einförmigkeit des Tages. Die beiden anderen Gefangenen, die mit ihm wohnten, sprachen nur sehr wenig, jeder hatte mit sich selbst zu thun. In diesen einsamen Stunden redete Gott selbst durch die Stimme des heiligen Geistes zu dem verlorenen Sohn. Einst lag er des Nachts schlaflos auf seinem Lager. Durch das vergitterte Fenster sandte der Mond seine milden Strahlen in den dunklen Kerkerraum. Von unten herauf klang der feste Schritt der Schildwache und neben ihm schliefen seine beiden Mitgefangenen den seligen Schlaf, der den Menschen das Leid vergessen läßt, das seine Seele am Tag über so schwer bedrückt. Hans konnte nicht schlafen. Da erhob er sich von seinem Lager und einem innerlichen Zuge folgend, nahm er die Bibel zur Hand, welche in der Zelle bisher unbenutzt gelegen hatte; dann rückte er leise einen Holzschemel dicht ans Fenster und begann in dem Buche zu blättern, darin er immer noch recht gut Bescheid wußte, denn seine Eltern hatten ihn schon von früher Jugend an zum Bibellesen angeleitet. Erst in der letzten Zeit vor jener unglücklichen Flucht hatte er scheu und ängstlich das Lesen in dem Buche der Wahrheit vermieden. Des Mondes heller Glanz ermöglichte es ihm zu lesen. War's aber Zufall, oder eine Schickung Gottes, daß er gerade die Stelle ausschlug, in welcher der Herr des Nachts dem Nikodemus das sagte, was er nötig hatte, um ein Kind Gottes zu werden? »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.« So las Hans und las es zum zweiten- und drittenmal. Dann fiel er auf seine Kniee und betete inbrünstig zu Gott, er möge ihm doch vergeben und wieder auf den rechten Weg helfen. Schon flammte das Morgenrot am östlichen Himmel, als Hans sein Lager aufsuchte. Ein süßer Traum umschwebte ihn, er war wieder bei Vater und Mutter im trauten Elternhaus.

Am anderen Morgen wurden seine beiden Mitgefangenen in eine andere Zelle überführt, das Urteil war ihnen gesprochen, nun war er allein, mit sich und seinen Gedanken. Da horchte Hans auf, der Riegel an seiner Zellenthür ward zurückgeschoben, was wollte der Wärter denn jetzt von ihm, es war doch noch nicht Essenszeit. Der große Schlüssel ward in's Schloß gesteckt, knarrend bewegte sich die Thür in ihren Angeln und neben der Gestalt des Gefangenenwärters ward sein Vater im Eingang sichtbar. Mit einem Aufschrei fiel der Sohn um den Hals des Vaters. »Vater, vergieb,« rief er laut weinend, daß es grausig durch die langen Gänge des Hauses schallte, ach, wie hatte der gute Vater in den wenigen Tagen gealtert.

»Warum hast du uns das gethan?« sagte der Vater mit zitternder Stimme und thränenfeuchten Augen. »Hattest du es denn nicht gut bei uns?« »O viel besser, als im fernen Land mit dem selbstsüchtigen Klaus,« rief schluchzend der Sohn, und dann erzählte er dem Vater von seiner Flucht und Reise, wie dann der größte Teil des Geldes entwendet worden sei, und sie dann den Rückweg angetreten hätten, und als Hans geendet, fiel er vor dem Vater auf die Kniee und bat ihn wieder und immer wieder, ihm doch zu vergeben. »Ich zürne dir nicht,« sprach der Vater mit mildem Ernste, »aber das meiste hast du nicht deinen Eltern, sondern Gott abzubitten. Ach Hans, wenn du wüßtest, wie viele Gebete zu Gott emporstiegen, seitdem du das Elternhaus verlassen. Aber es mußte so kommen, du wolltest immer klüger sein, du glaubtest, wir gönnten dir nicht den Umgang mit dem Klaus. Wäre Klaus ein guter Mensch gewesen, wir hätten uns gefreut, daß du einen Freund gesunden, aber sag einmal selbst, ist das wahre Freundschaft gewesen, was ihn veranlaßte, dich zum Mitschuldigen seines Verbrechens zu machen?« In diesem Augenblick trat der an der Thür wachhaltende Wärter ein und mahnte zum Aufbruch. »Grüß die Mutter und den Bruder!« rief Hans schluchzend, und wieder knarrte die Thür in ihren Angeln und fiel dröhnend ins Schloß. Hans war allein.

Ein Jahr später. – Die Familie Brand sitzt wieder vollzählig am Abend um den Familientisch. Hans hat seine Strafzeit schon längst hinter sich. Er arbeitet wieder in demselben Geschäft, welches er verlassen, als er mit Klaus seine Reise nach Algier antrat. Wilhelm ist trotz seiner verstümmelten Hand nicht ganz arbeitsunfähig, und weiß sich noch hie und da nützlich zu machen. Vater Brand rauchte still vergnügt sein Pfeifchen. Ganz kann er sich von derselben nicht trennen. Frau Brand sitzt emsig strickend zwischen ihren zwei großen Söhnen. Fürsorglich denkt dieselbe schon an den Winter und an die dazu nötige Fußbekleidung. Nur dann und wann blickte der Vater ernsthaft zu Hans herüber. »Ja, Vater,« bricht letzterer das Schweigen, »ich weiß wohl, was dich so ernsthaft stimmt. Heute ist es gerade ein Jahr her, daß ich das Elternhaus verließ und zum Dieb wurde. Aber ich danke Gott und euch, daß ich, wenn auch durch schwere Demütigung, zu der Erkenntnis gelangt bin, daß derselbe Gott, der den verlorenen Sohn zurückführte ins irdische Vaterhaus, auch dermaleinst mir und euch einen Ruheplatz droben im Himmel bereiten wird.«

»Nicht wahr, Hans, dem lieben Herr Gott kann man nicht so leicht aus der Schule laufen,« klang plötzlich eine Stimme an das Ohr desselben, und als Hans sich umwandte, sahe er in das ernste Gesicht des Stadtmissionars. Vater Brand aber drückte diesem innig die Hand und sprach bewegt:

»Wenn die Stunden sich gefunden,
Bricht die Hilf mit Macht herein,
Und mein Grämen zu beschämen,
Wird es unversehens sein.«

Was aber ist aus dem bösen Klaus geworden? Der sitzt noch hinter vergitterten Fenstern, und sein Herz ist starr wie das Eisen, aber vielleicht kommt auch für ihn doch die Zeit, da er heimkehrt zu seinem Vater, gleich dem verlorenen Sohn in der Schrift. –


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