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Friedrich Gerstäcker
Das rote Haus

1

Es war im Herbst des Jahres 1851, als ein dichter Reisewagen durch das Tor der alten Stadt M– rasselte und in die zum Markt führende Straße einbog. Zwei junge Männer saßen darin, die eben von einem Ausflug in die nicht weit entfernten Gebirge zurückkehrten, und beide schauten, mit ihren Gedanken beschäftigt, auf das Leben und Treiben um sich her. Es waren zwei Maler, die ihre Mappen mit Skizzen gefüllt hatten, um im Winter auszuarbeiten, was ihnen der Sommer mit freigebiger Pracht geboten.

»Sieh dort, Gerhard«, sagte jetzt plötzlich der eine, ein junger, schlanker Mann mit schwarzem Haar und leichtem, gekraustem Bart, mit dunkeln, sprechenden Augen und etwas bleichen, aber belebten Zügen. »Wahrhaftig, da ist sie wieder! Merkwürdig: sooft ich nun auch in das alte M– hineingegangen oder gefahren bin, jedesmal, wenn ich von einem längeren Ausfluge zurückkehrte, ist mir jenes schöne Mädchenbild da drüben zuerst begegnet. Ich habe in meinem Leben keine tieferen Augen gesehen,« fuhr Werner fort, als die Fremde ihren Blicken entzogen war, »mir ist jedesmal, als ob sie mir Feuer ins Hirn hineinbrennten.«

»Dann nimm dein Herz vor der Glut in acht,« lachte Gerhard, »aber wer ist sie? Hast du es nie erfahren?«

»Nie, und sonderbarerweise habe ich sie auch sonst nie getroffen. Nur wenn ich eine Zeitlang entfernt gewesen, traf ich sie regelmäßig bei meinem ersten Einfahren in die Stadt.«

»Du machst mich neugierig«, lächelte Gerhard. »Ich möchte deine rätselhafte Schöne ebenfalls von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Los denn, je eher, desto besser! Halt, Kutscher!– Wir wollen hier aussteigen,« rief er rasch, indem er die Schulter des Führers auf dem Bock berührte, »fahre langsam zum Grünen Baum und warte auf uns, wir kommen gleich nach.«

»Was willst du tun?« fragte Werner erstaunt.

»Was ich tun will?« lachte Gerhard, indem er aus dem Wagen sprang. »Deiner geheimnisvollen Dame, wenn irgend möglich, begegnen, da man ihrer sonst, wie es scheint, doch nicht habhaft wird.«

Werner folgte, ohne ein Wort weiter zu erwidern, und die beiden jungen Männer schritten Arm in Arm rasch den Weg zurück, den sie eben gekommen waren. Obgleich sie aber beide ihre forschenden Blicke nach rechts und links schweifen ließen, war die Fremde nirgends mehr zu erkennen. Sie mußte irgendwo in ein Haus getreten sein. So schritten sie endlich langsam dem Gasthof zu, vor dem ihr Kutscher sie erwarten sollte.

»Deine schwarze Dame scheint durch eine Versenkung abgegangen zu sein«, sagte Gerhard.

»Möglich, daß sie in der Nähe wohnt,« erwiderte Werner, »aber was hätte uns auch ein zweites Begegnen geholfen? Wir durften sie doch nicht anreden.«

»Für mich wäre es jedenfalls ein erstes Begegnen gewesen,« lachte der Freund, »denn trotz deiner Beschreibung habe ich vorher auf dem ganzen Trottoir keine ähnliche Gestalt erkennen können. Nun – vielleicht ein andermal.« – – –

Der Winter verging, und trotzdem Werner manchen Ball besuchte und in den verschiedensten Gesellschaften ein oft und gern gesehener Gast war, traf er unter allen den jungen Mädchen nicht ein einziges Mal seine unbekannte Schöne. Das rege Treiben in der lebensfrohen Stadt brachte für ihn auch zuviel des Neuen und Interessanten, um einer flüchtigen Erscheinung aus früherer Zeit länger als dann und wann einmal mit einem ebenso flüchtigen Gedanken nachzuhängen.

So kam das Frühjahr heran und mit ihm die Zeit, da Werner M– wieder verlassen wollte. Er hatte eines Tages schon einige Abschiedsbesuche gemacht und den Abend in angenehmer Gesellschaft zugebracht, aus der er ziemlich spät nach Hause zurückkehrte. Die Straßen waren still und öde, die Lampen schon längst ausgelöscht, und nur der Mond, der hell und voll am Himmel stand, warf seinen lichten Schein auf die eine Seite, so daß die andere in desto tieferem Dunkel lag. Werner wohnte in einem ziemlich entlegenen Teile der Stadt, und der Nachtwächter war die letzte Person, der er begegnete, als er plötzlich vor sich, in dem vom Monde nicht beschienenen Teile der Straße, eine weibliche Gestalt bemerkte, die mit raschen Schritten denselben Weg zu verfolgen schien wie er.

Mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, achtete er wenig darauf und hatte eine ziemliche Strecke etwa gleiche Entfernung mit ihr gehalten, als vom anderen Ende der Straße her ihnen lautes Lachen und Singen entgegenschallte und ein Trupp etwas angetrunkener Wirtshausgäste den Weg herunterkam.

Die Gestalt vor ihm blieb zögernd stehen, als ob sie sich fürchte, dem Schwarm allein zu begegnen. Während sie noch in Ungewißheit verharrte, hatte Werner sie eingeholt.

Wenn es ihm auch auffiel, eine Dame zu so später Stunde noch allein auf der Straße zu treffen, ließ es seine Ritterlichkeit doch nicht zu, sie in Verlegenheit zu lassen, und er sagte artig:

»Sie scheinen die lustige Schar zu fürchten. Wenn Sie erlauben, werde ich Sie hindurchgeleiten.«

Die Fremde wandte ihm ihr Antlitz zu, das der Mond in diesem Augenblicke hell und klar beschien, und wie ein Schlag durchzuckte es Werner, als er sich den dunkeln, rätselhaften Augen seiner Unbekannten dicht gegenübersah.

»Ich danke Ihnen,« sagte die Fremde mit leiser, weicher Stimme, die alle Fibern seines Herzens erbeben machte, »ich fürchte allerdings jenen Leuten zu begegnen und nehme Ihre Begleitung an.«

Werner brachte keine Silbe mehr über die Lippen. Kaum wissend, was er tat, bot er der schönen Unbekannten seinen Arm. Diese aber wich der Berührung aus, wickelte sich fester in ihre Mantisse und schritt still und schweigend neben ihm her.

Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt, bis sie die Trunkenen lange hinter sich hatten. Nur manchmal warf Werner einen scheuen, forschenden Blick auf seine Begleiterin, die mit lautlosem Schritt neben ihm ging. Plötzlich wandte sie sich wieder gegen ihn und sagte freundlich:

»Ich danke Ihnen herzlich; ich habe nichts mehr zu fürchten. Die Straßen sind still und leer, und ich möchte Sie nicht weiter bemühen, denn meine Wohnung liegt noch fern.«

»Um soviel mehr Grund für mich, Sie noch nicht zu verlassen«, sagte Werner, mit Gewalt das Gefühl niederkämpfend, das ihn bis dahin befangen gemacht hatte. »Ein Spaziergang in dieser wunderbar schönen mondhellen Nacht ist an und für sich ein Genuß. Wieviel mehr, wenn –« Er stockte plötzlich, denn die Augen des Mädchens hafteten so ernst auf den seinen, daß er fast erschreckt innehielt, und schweigend wanderten beide wieder eine Strecke nebeneinander hin. Dies Schweigen wurde zuletzt Werner so peinlich, daß er es zu brechen suchte.

»Wahrscheinlich,« begann er, »bin ich Ihnen, mein Fräulein, ein Fremder, den Sie im Leben nicht gesehen zu haben glauben, und doch muß ich Sie fast wie eine alte Bekannte begrüßen. Oft bin ich schon nach M– gekommen, aber jedesmal, durch welches Tor auch immer ich einfuhr, begegnete ich Ihnen, freilich ohne später, selbst bei dem längsten Aufenthalt in der Stadt, auch nur noch ein einziges Mal Sie wieder anzutreffen. Heute abend ist es das erstemal, daß mir dies Glück zuteil wird.«

»Das Glück?« wiederholte leicht und fast schmerzlich das junge Mädchen.

»Dürfen wir das nicht ein Glück nennen, wenn uns ein Lieblingswunsch endlich erfüllt wird, und noch dazu auf so angenehme Art? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß mir nichts in der Welt ein größere Freude machen würde, als Ihnen wirklich einmal einen Dienst zu leisten.«

»Und wenn ich Sie beim Wort nähme,« sagte die Fremde mit traurigem Kopfschütteln, »Sie würden Ihr leichtsinniges Versprechen sicher bereuen.«

»Stellen Sie mich auf die Probe!« rief Werner rasch, und wieder schrak er zusammen, denn wiederum traf ihn jener unsagbare, fast unheimliche Blick.

»Ihr Menschen seid euch doch alle gleich!« sagte sie ruhig, indem sie wieder mit gesenktem Haupte neben ihm herschritt. »Pläne, Hoffnungen, Träume füllen euer Herz, und ihr wißt nie, wie weit eure Kräfte reichen.«

»Und doch,« rief Werner begeistert, »gelingt dem festen Willen des Mannes vieles, was beim ersten Anblick seine Kräfte zu übersteigen scheint.«

Seine Begleiterin antwortete nicht. Sie streckte nur die Hand gegen ein Gebäude auch an dem sie hinschritten, und sagte leise:

»Wir sind am Ziele!« Zugleich ergriff sie einen eisernen Ring, der ziemlich tief neben der gewölbten Tür hing, und zog daran. Im Innern tönte eine lautdröhnende, lang nachhallende Glocke. Die Tür flog wie durch einen Federdruck auf und gestattete einen Blick in den düsteren Vorsaal, in den der Mond, vielleicht durch ein hinteres Fenster, sein mattes, ungewisses Licht warf.

»Ich danke Ihnen«, sagte die junge Dame freundlich gegen Werner.

»Und darf ich Sie nicht wiedersehen?« fragte der junge Mann, dem ein eigenes, schmerzliches Gefühl das Herz durchzuckte.

»Vielleicht, wenn Sie wieder nach M– kommen«, lächelte sie und verschwand in der Tür, die sich so rasch hinter ihr schloß, als ob sie nie geöffnet gewesen wäre.

Werner stand allein vor dem Haus, wie ein Traum war das Ganze an ihm vorübergegangen. Er hatte die Fremde nach ihrem Namen fragen, er hatte ihr sagen wollen, daß er morgen schon die Stadt verlasse, vielleicht erst nach langer Zeit dahin zurückkehre, alles hatte er in ihrer Nähe vergessen.

Auch die Gegend der Stadt, in der er sich befand, war ihm fremd. Er mußte sich an der äußersten Grenze befinden, wo schon die Gärten begannen; niedere Mauern zogen sich an der anderen Seite der Straße hin, und das Haus, vor dem er stand, – was für ein altes wunderliches Gebäude war es doch!

Oben der Giebel mußte ganz unbewohnt sein, denn der Mondstrahl fiel durch Dach und offene Fenster, und die wettergraue Wand sah in dem düsteren Schatten, wo das Mondlicht sie nicht erreichte, schwarz und drohend aus. Die unteren Fenster waren mit hölzernen Läden geschlossen, zwei ausgenommen, die starke Eisenstäbe schützten, und nur der erste Stock schien bewohnt zu sein oder wenigstens bewohnbar, soweit sich das in der Nacht und Dunkelheit erkennen ließ. Da, im ersten Stock, zeigte sich plötzlich hinter den dichtverhangenen Fenstern Licht. Ein kleiner Balkon führte auf die Straße hinaus. Jetzt verschwand das Licht wieder, und nun blieb alles dunkel.

Der Platz erschien dem jungen Maler noch einmal so öde als zuvor. Kopfschüttelnd und die Arme verschränkt blieb er noch einige Minuten aus der Stelle stehen, wo ihn die Fremde verlassen hatte, als sein Auge plötzlich auf einen blinkenden Gegenstand vor ihm auf dem Trottoir fiel. Er bückte sich, hob ihn auf und fand, daß es ein schmaler goldener Reif sei, den niemand anderes als seine Unbekannte verloren haben konnte. Schon streckte er den Arm nach dem Klingelzuge aus, einen Diener herbeizurufen und ihm das Gefundene einzuhändigen, als ihn der Gedanke durchzuckte, dadurch morgen einen Anknüpfungspunkt mit der Fremden zu haben. Rasch schob er den schmalen Reif in seine Brusttasche, als plötzlich, nur wenige Schritte von ihm entfernt, aus einem der dunkeln vergitterten Fenster ein heiseres Lachen heraustönte und ihn, so wenig er sonst Furcht kannte, wie mit eisigem Schauer durchrieselte.

Erschreckt sah er sich nach den unheimlichen Tönen um; es war ihm fast, als ob er hinter dem Gitter die verzerrten Züge eines menschlichen Angesichts gewahrte. Mehr sah er nicht, denn von einem sonderbaren Grauen getrieben floh er im nächsten Augenblick die Straße, die er vorher gekommen, zurück. Als er den belebteren Teil der Stadt wieder erreichte, schlug es vom nahen Turme eins, und Werner merkte sich jetzt die Richtung, aus der er gekommen, um die Gegend am nächsten Morgen wiederzufinden. Er dachte nicht mehr an seine Abreise, bis er das Rätsel dieses Abends, das ihm Kopf und Herz erfüllte, gelöst hätte.

2

Vergebens suchte Werner die Ruhe auf seinem Lager. Wilde Träume peinigten ihn. Wieder und wieder schritt er mit dem schönen Mädchen durch die stillen mondbeschienenen Straßen. Hörte aufs neue das heisere Lachen aus dem vergitterten dunkeln Raume heraus. Auch das Haus selber betrat er und schritt an der Hand seiner schönen Begleiterin durch hohe, gewölbte Zimmer und weite Säle über weiche Teppiche, auf denen er ihren leichten Gang so wenig hörte, wie draußen auf dem harten Trottoir. Aber im Mondenlichte draußen, wie unter den strahlenden Kronleuchtern hier, konnte er keinen Schatten der Geliebten erkennen, und überall grinste ihm ein Fratzengesicht mit schielendem Blicke, narbenzerrissenen Zügen und wilden, struppigen Haaren entgegen.

Mit pochenden Schläfen und heftigem Kopfschmerz erwachte er endlich und war schon versucht, das Ganze für einen tollen Traum zu halten, als sein Blick auf das auf dem Tische liegende goldene Armband fiel. Rasch sprang er von seinem Lager auf und kleidete sich an, fest entschlossen, noch an diesem Morgen die geheimnisvolle Fremde aufzusuchen.

Während er eben seine Toilette beendete, öffnete Gerhard die Tür und blieb erstaunt auf der Schwelle stehen, als er den offenen Koffer und die ordnungslos umhergestreuten Kleidungsstücke erblickte.

»Was?« rief er aus. »Noch nicht fertig mit Packen? Und in einer halben Stunde fährt der Zug ab!«

»Ich reise nicht, Gerhard,« antwortete Werner und sah dem Freunde fest ins Auge, »ich – ich habe sie gesehen!«

»Sie? – Wen?« fragte dieser erstaunt.

»Erinnerst du dich nicht mehr jener fremden Dame, die uns begegnete, als wir hier einfuhren, und die wir damals nicht wiederfinden konnten?«

»Deine schwarze Dame?« lachte Gerhard. »Und deshalb reisest du nicht?– Wo hast du sie denn getroffen, und wann? Wir waren doch bis gegen zwölf Uhr gestern abend zusammen.«

»Gestern abend traf ich sie auf dem Heimwege.«

»Um Mitternacht?« lachte Gerhard.

»Ich kann dir deine Heiterkeit nicht übelnehmen«, sagte Werner. »So unerklärlich, wie es dir scheint, ist mir das Ganze selber noch, obgleich alles mit sehr natürlichen Dingen zuging. Aber höre:«

Und nun gab er jetzt dem Freunde Bericht über die Vorgänge des letzten Abends. Gerhard horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, ihm entging die Aufregung nicht, in der sich Werner befand. Als er aber auf das Armband kam, das noch immer auf dem Tische lag, sprang Gerhard auf und sagte:

»Gott sei Dank! Geister haben keine goldenen Armbänder, dein Ideal scheint also doch von Fleisch und Blut zu sein. – Hm, ein ganz einfacher altmodischer Reif, ohne das geringste Zeichen daran, ohne Chiffre oder Namenszug. – Doch – da ist etwas, das einem Buchstaben ähnlich sieht – ein A, wenn ich nicht irre. Sieh – hier gleich neben dem Schlosse. Das freilich kann vieles heißen.«

»Es versteht sich von selbst, daß ich ihr heute morgen meinen Besuch mache und das verlorene Armband wiederbringe.«

»Ich begleite dich,« rief Gerhard entschlossen, »und promeniere indessen in der Straße auf und ab. Nachher habe ich wenigstens den Vorteil, deine Schilderung gleich aus erster Quelle zu erhalten.«

Zehn Minuten später etwa waren die beiden Freunde unterwegs. Die Straße, wo er sich gestern abend zuerst nach der eigentlichen Richtung umgesehen und bei einem Nachtwächter erkundigt hatte, erreichten sie ohne Schwierigkeit. Hier aber mußte Werner sich erst orientieren, und es war schon längst elf Uhr vorbei, als sie endlich den ziemlich breiten, nur mit einzelnen Häusern besetzten und an der einen Seite von niederen Gartenmauern begrenzten Weg erreichten, den er als den richtigen wiedererkannte.

Werner verfolgte mit rascheren Schritten die Richtung, in der er das Ziel wußte. Nach wenigen hundert Schritten kamen sie an eine Mauer, die sich in einem weiten Bogen nach rechts hinüberzog. Da erkannte Werner in der Ferne das alte düstere Gebäude und machte seinen Begleiter darauf aufmerksam.

»In dem alten Steinhaufen wohnt deine Schöne?« lachte dieser. »Das muß ich sagen, im Innern mag es recht hübsch und wohnlich eingerichtet sein, aber von außen sieht es aus, als warte es nur auf eine günstige Gelegenheit, seinen Insassen ohne weitere Warnung über dem Kopfe zusammenzubrechen.«

Werner erwiderte nichts. Ihm selber kam das alte Gebäude gar wüst und verfallen vor.

»Das kann der Ort nicht sein«, nahm Gerhard das Gespräch wieder auf. »Du mußt dich in der Gegend irren.«

»Und ich bin doch recht«, rief Werner, indem er nach vorn deutete. »Ich erkenne jetzt das kleine, viereckige Türmchen wieder; auch der wettermorsche Giebel stimmt und der kleine Balkon –«

Er brach plötzlich ab, und Gerhard fühlte, wie er an seinem Arme zusammenschrak. In demselben Augenblicke riß er seinen Hut ab und grüßte nach dem Hause hinauf. Gerhard tat dasselbe; aber obgleich er mit raschem Blicke sämtliche Fenster der ersten Etage überflog, konnte er kein einziges lebendes Wesen darin erkennen.

»Hast du sie jetzt gesehen?«

»Hast du sie gesehen?« fragte Gerhard.

»Sie stand ja am Fenster.«

»Dann bin ich mit Blindheit geschlagen; ich habe nicht das Mindeste entdeckt. Aber wo willst du denn hin? Ich denke, du wolltest ihr das Armband zurückgeben?«

»Laß uns doch bis zur nächsten Ecke gehen – mir schlägt das Herz wie ein Hammer.«

Schweigend gingen die beiden Freunde noch eine kurze Strecke weiter, kehrten dann um und hatten nun, sich jetzt dicht an die Mauer haltend, das in der Tat entsetzlich verfallene Gebäude wieder erreicht. Werner erfaßte ohne Zögern, nur mit einem scheuen Blick nach den vergitterten Fenstern, den Klingelgriff, den er noch von gestern abend im Gedächtnis behalten hatte, und zog daran – aber der Draht war in der Hülse eingerostet und regte sich nicht, und als er mehr Kraft anwandte, riß das morsche Eisen, und der Ring selber fiel klirrend zu Boden.

Gerhard lachte. »Sieh nur, wie die Tür in ihren Angeln hängt, und in dem Neste sollte jemand wohnen?«

»Aber ich habe sie doch vorhin gesehen! Sie muß hier wohnen«, rief Werner und pochte, fest entschlossen, an die Tür. Der Schall klang hohl im Innern wieder, aber nichts regte sich.

Ein Vorübergehender blieb stehen.

»Sie machen sich vergebene Arbeit«, sagte er. »In dem Hause wohnt niemand mehr, schon seit sechs oder sieben Jahren, und es soll jetzt, wenn sich ein Käufer findet, auf Abbruch verkauft werden.«

»Es wohnt niemand hier?« fragte Werner ungläubig. »Ich habe noch vor wenig Minuten eine Dame dort am Fenster gesehen.«

»Möglich,« erwiderte der Mann, »die ist dann durch die Hintertür und vom Kirchhof heraufgekommen!«

»Vom Kirchhof?« riefen beide Freunde.

»Dies Haus stößt mit seinem Hofe an den Gottesacker,« erklärte der Mann, »und man erzählt sich auch wunderliche Geschichten darüber; aber die Leute sprechen oft mehr, als sie verantworten können. Übrigens sind die letzten Mieter, arme Leute, die den Zins fast umsonst hatten, wirklich nur ausgezogen, weil es ihnen zu unheimlich tu dem alten Neste wurde. Übrigens«, setzte er hinzu, »können Sie das Nähere am besten von dem Totengräber erfahren, der den Schlüssel zu der Hintertür hat.«

Gerhard dankte dem Manne für seine Auskunft und machte dem Freunde den Vorschlag, erst den Kirchhof zu besuchen, ob sie der Fremden vielleicht dort begegneten, oder, wenn nicht, den Totengräber anzusprechen. Von ihm konnten sie dann Näheres erfragen, sich auch vielleicht selber in dem Hause herumführen lassen. Sie brauchten ja nur vorzugeben, daß sie die Absicht hätten, das alte Gemäuer zu kaufen.

Werner stimmte zu, und mit einem Umweg betraten sie den stillen Wohnort der Toten, der, mit tausend Blumen geschmückt, wohl den Namen eines Gottesgartens verdiente. Vergebens aber durchwanderten sie alle Gänge. Sie fanden wohl hier und da einzelne Damen, die der letzten Ruhestätte lieber Menschen die ersten Lenzeskinder brachten, aber die Gesuchte war nicht unter ihnen.

Gerhard erbot sich schließlich, den Totengräber herbeizuholen, während Werner seine Forschung zwischen den Gräbern noch nicht aufgab, und eilte mit raschen Schritten der kleinen, traulich gelegenen Wohnung des Alten zu.

Dieser war gern erbötig, dem Wunsche des Fremden zu willfahren, nahm seinen Schlüsselbund und ging mit ihm den breiten Hauptweg hinauf.

»Sie sind heute morgen wohl schon einmal in Anspruch genommen worden?« sagte Gerhard, der die Gelegenheit benutzen wollte, etwas zu erfahren.

»Heute? Nein,« sagte der Mann, »die Leute reißen sich gerade nicht um den Platz; er liegt weit ab von der eigentlichen Stadt, und dann baut sich auch niemand gern ein Haus dicht an einem Kirchhof.«

»Aber eine Dame hat doch heute morgen den Platz besucht, nicht wahr?«

»Heute? Nein. – Vor acht Tagen war einmal ein Herr mit einer Dame da; die sind aber nicht wiedergekommen.«

»Mir war es fast, als ob ich im Vorübergehen eine Dame im Fenster gesehen hätte«, sagte Gerhard gleichgültig. Aber der Alte schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie Spukgeschichten über das ›rote Haus‹ zu hören wünschen, müssen Sie sich an jemand anders wenden.«

»Ich kann sie nirgends finden«, sagte Werner, der in diesem Augenblicke zu ihnen trat. »War sie im Haus?«

»Nein«, erwiderte ihm Gerhard. »Ein Freund von mir,« stellte er ihn dann dem alten Mann vor, »er ist Baumeister, ich bat ihn, sein Gutachten abzugeben.«

Der Alte lachte.

»Dazu hätten Sie keinen Baumeister gebraucht«, sagte er, den freundlichen Gruß Werners erwidernd.

Er schloß eine kleine gewölbte Tür auf, die neben einem der Grabgewölbe hin, als ob sie mit zu diesem gehörte, durch die Mauer führte. Gleich darauf betraten sie den engen Hofraum, der von den beiden Flügeln des ›roten Hauses‹ eingeschlossen wurde.

Schon hier sah es ziemlich wild aus. An den kleinen Gebäuden, die früher zu Ställen und Waschhäusern gedient hatten, waren fast alle Türen, wie das Holzwerk, ausgebrochen, ein Werk, wie der Alte meinte, des letzten Gesindels, das hier gehaust hatte.

»Und wem gehört das Gebäude jetzt?«

Einem Advokaten irgendwo in Preußen, lautete die Antwort. Er, der alte Totengräber, war zum Kastellan dieser Hausleiche bestellt worden.

Der Alte hatte, während er diese Auskunft gab, die morsche Hintertür aufgeschlossen, und die beiden Freunde betraten mit einem eigenen Gefühl des Grauens den düsteren öden Raum.

Der Alte schritt langsam die Treppe voran; er warnte, nicht zu fest aufzutreten, und bald erreichten sie den nicht hochliegenden ersten Stock.

Die Unmöglichkeit, daß dieser Platz in den letzten Jahren bewohnt sein konnte, lag auf der Hand. Um so rätselhafter war Werner die Szene des vorigen Abends, fast wie ein Traum, hätte nicht das Armband die Wirklichkeit immer wieder frisch und warm ins Gedächtnis zurückgerufen.

Sie betraten jetzt die Zimmer, die einen traurigen Anblick boten. Schmutz und Gerümpel überall. Keine Spur von Wohnlichkeit. Selbst der mittlere Saal, dessen zerfallene Glastür auf den Balkon führte, glich eher einer ausgeräumten Rumpelkammer, als dem Hauptsalon einer ersten Etage. Und doch verrieten einzelne Spuren, daß in diesen Räumen einst Glanz und Pracht geherrscht und der Reichtum sie bewohnt habe. Ein Zimmer schien früher mit einer gemalten Tapete bekleidet gewesen, und Werner konnte kaum einen Aufschrei unterdrücken, als er aus den weißen Tapetenstreifen heraus ein halbes Menschengesicht auf sich herniederschauen sah. Jenes struppige Haar, das schielende Auge hatte er schon einmal gesehen; krampfhaft faßte er den Arm des Freundes und deutete hinauf.

Der alte Totengräber folgte ebenfalls der angedeuteten Richtung und sagte langsam, mit dem Kopfe nickend:

»Ja, früher muß es einmal prächtig hier gewesen sein. Die Tapete stellte ein großes Turnier vor, und das da oben war wohl eine von den Figuren, die vom Balkon herniederschauten. Wollen Sie vielleicht auch noch den obersten Teil des Hauses ansehen? Dort schaut es aber womöglich noch wüster aus.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Gerhard, der zu seinem Schrecken bemerkte, daß Werner totenbleich geworden war.

»Das ist derselbe Kopf, den ich im Traume gesehen«, flüsterte er dem Freunde zu, indem er den Blick nicht von den kaum noch erkennbaren Zügen des alten Tapetenbildes abwenden konnte.

»Unsinn!« sagte Gerhard, dem die Sache anfing unheimlich zu werden, indem er den Arm des Freundes ergriff und ihn der Tür zuzog. »Komm fort aus dem alten verfallenen Gemäuer.«

Unten im Hause verlangte Werner noch jenen Raum aufgeschlossen zu haben, der links von der Haustür lag. Es war derselbe, aus dem heraus er das Lachen gehört zu haben glaubte.

Der Alte willfahrte ihm augenblicklich und schloß die Tür auf. Knarrend drehte sie sich in ihren Angeln, konnte aber nur mit Mühe aufgeschoben werden, da ein Teil der Decke eingestürzt war und sich vor den Eingang gelegt hatte. Keiner von ihnen betrat den dunkeln Raum, aus dem ein feuchter Moderduft herausquoll.

Werner, mit seinen Gedanken beschäftigt, sprach kein Wort weiter, und da der Alte ebenfalls glaubte, seiner Pflicht genügt zu haben, schloß er die Tür wieder zu und trat den Rückweg an.

»Gott sei Dank!« sagte Gerhard und holte tief Atem, als sie aus den düsteren Räumen wieder hinaus in das freie, goldene Sonnenlicht traten.

»Wie sonderbar dies Grabgewölbe hier mit der Tür zusammengebaut ist«, bemerkte Werner, als sie den Gottesacker wieder betraten und der Pförtner die kleine Tür in ihr Schloß zurückdrückte. »Gehörte dies vielleicht mit zu jenem Gebäude?«

»Allerdings«, sagte der Alte. »Früher lag der Kirchhof weit draußen vor der Stadt, und damals soll ein alter Malteserritter dies Haus hierher gebaut haben, ein Gelübde zu erfüllen. Wie er starb, zog seine Schwester hier ein, und mehrere Generationen herrschte Glanz und Reichtum in den jetzt verfallenen Räumen. Nachher geriet die Familie in Verfall, und vor etwa hundert Jahren ist der letzte Nachkomme in der Gruft beigesetzt worden.«

»Wer war das?« fragte Gerhard.

»Ein junges Fräulein,« sagte der Alte, »die in der Blüte ihrer Jahre starb. Hier gleich an der Marmorplatte können Sie die Inschrift noch lesen.«

Auch Werner war rasch zu dem Gitter getreten und las auf dem bezeichneten Steine die Worte:

Agnes von Hochstetten,
geb. den 29. Februar 1728
gest. den 29. Februar 1744.

»War sie denn die Letzte ihres Stammes?« fragte Gerhard. »Das arme Kind hat früh die Erde wieder verlassen müssen.«

»Ich glaube, ja«, erwiderte der Führer. »Von der Zeit an soll wenigstens das ›rote Haus‹ in anderen Händen gewesen sein, und ein alter wunderlicher Kauz, ein weitläufiger Verwandter der Hochstetten – einige sagen der dem Fräulein bestimmt gewesene Bräutigam – soll hier gehaust haben.«

Werner stand noch immer an dem Gitter und starrte auf die alte Marmorplatte mit ihrer einfachen und doch so rührenden Inschrift, bis Gerhard dem alten Mann für seine Bemühung ein Geldstück in die Hand drückte und des Freundes Arm nahm.

»Wunderbar – wunderbar!« flüsterte dieser und schien sich nur gewaltsam von dem alten Grabgewölbe loszureißen, auf das er wie gebannt den Blick geheftet hielt.

Werner folgte, wohin der Freund ihn führte, war aber auffallend still und schweigsam geworden, und Gerhard wußte am Ende selber nicht mehr, was er von der ganzen Sache denken sollte.

»Gut!« sagte er endlich. »Ein Mittel hast du immer noch in der Hand. Laß dein gefundenes Armband in das Morgenblatt rücken und sieh zu, wer sich meldet. Möglich ist's, daß du dadurch auf die rechte Spur kommst.«

3

Werner ließ die Anzeige über das gefundene Armband in das Blatt einrücken und erwartete mit Ungeduld den Augenblick, in dem sich die Eigentümerin melden würde.

Inzwischen konnte es seinen Freunden nicht verborgen bleiben, daß mit ihm eine auffallende Veränderung vorgegangen war. Er sah bleich und überwacht aus; die Augen lagen ihm tief in den Höhlen und hatten etwas Scheues, Wildes bekommen; sein sonst so elastischer Gang war unsicher geworden, und Gerhard besonders riet ihm, einen Arzt zu fragen. Werner dagegen versicherte, daß er sich vollkommen wohl und nur in der Stadt etwas beengt fühle.

Doch ihn peinigte die Erinnerung den ganzen Tag, während in der Nacht wilde Träume seine Ruhe störten. Eine furchtbare Macht hatte Gewalt über seine Phantasie gewonnen und zehrte an seinem Lebensmark. Wenn der Abend kam, trieb es ihn mit geheimnisvoller Kraft jenem Hause zu, als wenn er von dort ein neues Zeichen erwarte. Dann kehrte er nach Hause zurück, im Traume mit seinen unheimlichen Bewohnern sich weiter abzuquälen.

So hatte er eine volle Woche verbracht und auch wieder erst gegen Morgen sein Lager aufgesucht. Schon schien die Sonne in sein Schlafgemach, als er sich noch im Schlaf beunruhigt fühlte. Ihm kam das Gefühl, als ob ihn jemand starr ansähe. Langsam endlich und fast gewaltsam die noch müden Augenlider öffnend, fuhr er mit einem Schrei im Bett empor, denn am Fußende entdeckte er die auf einem Stuhle kauernde Gestalt eines fremden Mannes, der ihn lauernd betrachtete.

Sobald Werners Augen auf ihm hafteten, verzog sich sein Gesicht zu einem freundlichen, fast süßen Lächeln.

»Ich muß tausendmal um Verzeihung bitten, mein hochverehrtester Herr, Sie zu so früher Morgenstunde zu stören.

Ich komme nur mit einer einfachen Frage. Sie haben eine Annonce in die Zeitung rücken lassen, nach der Sie in der Gartenstraße ein goldenes Armband gefunden haben. Ich bin von der Eigentümerin abgesandt, es anzusehen und, wenn Sie eine Belohnung beanspruchen, gegen Zahlung zu reklamieren.«

Werner hatte sich unwillkürlich im Bett emporgerichtet.

»Wie heißt die Dame?« fragte er rasch und errötete dabei zugleich, als er den wie spöttisch lächelnden Blick des Fremden fest auf sich haften sah.

»Der Name tut wohl nichts zur Sache«, meinte dieser mit einer verbindlichen Verbeugung, die aber ebensogut wie Hohn als wie Höflichkeit aussah. »Zuerst möcht' ich den Schmuck sehen, um zu wissen, ob es der richtige ist.«

»Dann bitte ich Sie, sich einen Augenblick in das Nebenzimmer zu verfügen,« sagte Werner, »ich will mich rasch ankleiden und stehe augenblicklich zu Ihren Diensten.«

Der Fremde stand von seinem Stuhl auf und hinkte dem beschriebenen Zimmer zu.

Der junge Mann beendete rasch seine Toilette; gleich darauf betrat er sein kleines Atelier.

Der Fremde hatte indessen ein noch unvollendetes Bild von einer Staffelei genommen und betrachtete es mit dem größten Interesse.

»Mein Herr,« rief Werner, keineswegs erfreut, »dieses Bild –«

»Ist ausgezeichnet,« entgegnete der andere, ohne im mindesten das Unschickliche seines Benehmens zu fühlen; »ganz ausgezeichnet, sage ich Ihnen.«

»Dieses Bild«, sagte Werner, »war keineswegs bestimmt, von irgend –«

»Kann es mir denken« lachte das kleine Ungeheuer«, indem er das Bild vor sich auf die Staffelei stellte und sich vergnügt dabei die Hände rieb. »Sollte jedenfalls eine Überraschung für mich von meiner Braut werden.«

»Von Ihrer Braut?« rief der Maler erschreckt, und es war ihm, als ob eine Totenhand an sein Herz griffe.

»Versteht sich, versteht sich!« schmunzelte der Alte, und sein Gesicht verzerrte sich, wie es dem jungen Manne vorkam, fast zur Fratze. »Unendlich zarte Aufmerksamkeit das.«

Werner mußte sich an die Stuhllehne halten, um nicht umzusinken. Der Fremde mußte die Frage nach dem Armband wiederholen, ehe Werner nur hörte, was jener sagte. Mechanisch wickelte er dann den Goldreif aus dem Papier und hielt ihn dem hastig danach Langenden entgegen.

Aber diese Hast des unheimlichen Menschen brachte ihn wieder zu sich selber. Es war ihm, als ob er in diese Hände das Heiligtum nicht überliefern dürfte, er zog den Schmuck zurück und sagte:

»Ehe ich Ihnen das Armband übergebe, muß ich wissen, ob Sie bevollmächtigt sind. Es gehört jedenfalls einer Dame, und ich hatte mir vorgenommen, es nur deren eigenen Händen wieder zu übergeben.«

»Unsinn, verehrter Herr, barer Unsinn!« entgegnete der kleine Mann und tat einen vergeblichen Griff nach dem goldenen Bande. Werner wurde immer zurückhaltender.

»Dennoch erlauben Sie mir,« sagte er entschieden, »daß ich bei meinem Vorsatze beharre, ihn der Eigentümerin eigenhändig auszuliefern.«

»Würde das mit Vergnügen tun,« erwiderte der Fremde, indem sich sein Gesicht zu einem süßlichen Lächeln verzog, »aber – die Dame ist gerade verreist und hat mich beauftragt, den Schmuck für sie in Empfang zu nehmen.«

Werner zuckte die Achseln. »Dann behalte ich den Schmuck, bis sich eine Gelegenheit bietet. Sie wissen jetzt, in wessen Händen er ist.«

»Sehr wohl«, sagte mit einem bösen Blick der Lahme. »Ew. Wohlgeboren werden dann schon heut abend dazu Gelegenheit bekommen, da die Dame bis dahin, freilich etwas spät, zurückkehrt. Ich werde sie am Bahnhof erwarten und mir dann das Vergnügen machen, Sie abzuholen. Sind Sie einverstanden?«

»Gern«, sagte Werner. »Zu welcher Stunde darf ich Sie erwarten?«

»Weiß ich noch nichts mein Bester«, erwiderte der Fremde.

»Sie sollen mich bereit finden.«

» Sehr schön – aber – was ich noch fragen wollte, wann, in aller Welt, hat Ihnen denn die junge Dame zu dem Bilde gesessen? Ich weiß mich doch keiner Zeit zu erinnern – aber halt – antworten Sie mir nicht,« unterbrach er sich plötzlich wieder mit dem nämlichen süßen, widerlichen Lächeln, »die Frage wäre unter den jetzigen Verhältnissen indiskret. Ich habe die Ehre, mich Ihnen ganz gehorsamst zu empfehlen. Bitte, ich finde meinen Weg schon allein, bin hier bekannt im Hause.«

Er öffnete die Tür und eilte hinaus. Werner ging ihm nach, um ihn an die Treppe zu geleiten, sah ihn aber nicht mehr. Der Bursche, der morgens Werners Kleider reinigte, kam eben die Treppe herauf und mußte ihm begegnet sein.

»Hast du den Herrn gesehen, der in diesem Augenblick die Treppe hinunterging?«

»Den Herrn?« fragte der Bursche und sah erst rückwärts und dann Werner an. »Mir ist niemand begegnet.«

Werner stand betroffen. Dann kehrte er wie im Traume in sein Zimmer zurück. Hier schloß er sich ein und nahm seine Arbeit wieder vor, das Bild der holden, geheimnisvollen Unbekannten aus dem Gedächtnis zu vollenden.

Er arbeitete mit regem Eifer, und das Bild wuchs ihm unter den Händen, er wußte selbst nicht wie.

So verging ihm der Tag, er wußte selber kaum wie rasch. Verschiedene Male klopften Freunde an seine Tür, er antwortete ihnen nicht. Aber wie nun das Bild in größerer Lebensfrische aus der Leinwand sprang, fühlte er, daß sich ihm selber neue Lust und Freude durch die Adern goß. Immer rascher schlugen seine Pulse, seine Stirn brannte, seine Augen glühten, und frischer und lebendiger trat dabei das Ideal vor seine Phantasie. Zug um Zug konnte er erkennen: den feinen Rosenschimmer der zarten Haut, den feuchten Glanz des Auges, das sanfte Wogen selbst ihrer Brust, und jetzt – entsetzt trat er einen Schritt zurück, denn vor ihm, lebend, atmend, stand – nicht mehr nur das Bild seiner erregten Einbildungskraft, nicht mehr ein Schatten, den sich die aufgerührten Sinne aus dunkler Nacht heraufbeschworen, stand die Geliebte selber in all der zauberhaften Schönheit vor ihm da, und leblos brach er an der Staffelei zusammen.

Wie lange er so gelegen, er wußte es nicht. Als er wieder zu sich kam, dämmerte schon der Abend, und vor ihm, auf der Staffelei, stand das vollendete Bild der Fremden in fast schreckenerregender Wahrheit und Treue.

Werner konnte sich nicht losreißen von den lieben Zügen, und mit jedem Augenblicke sog er das süße Gift tiefer ein in seine Seele. So rückte der Abend mehr und mehr herauf.

Um neun Uhr endlich klopfte es an die Tür, und als er diese rasch öffnete, stand Gerhard vor ihm, der ihn verwundert vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete.

»Du bist es?« fragte Werner.

»Hast du jemand anders erwartet?« lachte der Freund, »weshalb so angezogen? – Willst du in Gesellschaft? Aber – um Gottes willen, Werner, du siehst totenbleich aus! Ich will bei dir bleiben.«

»Ich danke dir herzlich«, sagte Werner, verlegen lächelnd. »Nur ein wenig angestrengt gearbeitet habe ich die letzten Tage. Ein paar Tage Zerstreuung in den Bergen macht alles wieder gut.«

»Aber dann geh auch in die Berge«, drängte Gerhard mit herzlicher Bitte. »Du mußt Zerstreuung haben. Ich gehe mit dir.«

Er hielt ihm die Hand hin. Werner legte zögernd die seine hinein.

»Fest kann ich es nicht versprechen,« sagte er, »bald aber, vielleicht schon heute, wird es sich entscheiden, ob ich fort kann, und dann gehen wir zusammen. Ist dir das recht?«

»Es muß ja wohl sein,« sagte der Freund, »mir ist alles recht, wenn ich dich nur fortbringen kann.«

Gerhard blieb noch zögernd stehen. Es war ihm nicht entgangen, daß sich Werner in einer Art Aufregung befand und, während er mit ihm sprach, oft nach einem Geräusch draußen aufhorchte.

»Hast du noch etwas vor heut abend,« fragte er endlich, »oder Lust, mich noch ein Stündchen zu begleiten? Wir treffen uns in Behlers Keller draußen, nicht sehr weit von der Gartenstraße, mit mehreren Bekannten.«

»Heute kann ich nicht,« sagte Werner rasch, »wenigstens jetzt noch nicht. Vielleicht komme ich später nach, ehe ihr auseinander geht.«

»Du erwartest Besuch?«

»Eine Geschäftssache.«

»So will ich dich nicht länger stören. Bis elf oder halb zwölf triffst du uns dort. Guten Abend, Werner!«

»Guten Abend, Gerhard!«

4

Gerhard ging, und Werner schritt in immer peinlicherer Ungeduld in seinem Zimmer auf und ab. Es schlug zehn Uhr, niemand kam, ihn abzuholen. Es schlug elf, er hörte nur die Haustür unten zuschlagen und verschließen; der erwartete Fremde kam nicht, und Werner griff schon nach Hut und Stock, als er draußen Schritte auf der Treppe hörte. Er horchte – die Schritte hielten vor seiner Tür, es klopfte bei ihm an. Werners Herz stand fast still. Er war nicht imstande, »Herein« zu rufen, als sich die Tür langsam öffnete und auf der Schwelle, den Hut in der Hand, mit demselben widerlichen Lächeln, der Fremde stand.

»Ich muß inständigst um Entschuldigung bitten,« sagte der Lahme, indem er ins Zimmer glitt, »aber meine verehrte Braut hatte den ersten Zug versäumt und ist erst vor etwa einer halben Stunde eingetroffen. Wenn es Ihnen jetzt noch beliebt, mein Bester.«

»Aber werden wir die Dame so spät noch stören dürfen?« fragte Werner. »Sie wird von der Reise angegriffen sein.«

»O bewahre! Frisch wie ein Fisch im Wasser«, lachte der Kleine. »Sie haben doch das Armband bei sich?«

»Gewiß«, erwiderte Werner und fühlte nach der Tasche, in der er es trug.

Der kleine Mann folgte der Bewegung mit dem einen Auge und rieb sich vergnügt die Hände: »Vortrefflich, vortrefflich, mein Bester!«

Rasch stieg er die Treppe hinunter, so daß ihm Werner kaum zu folgen vermochte, und erst an der Haustür machte er Halt, die er verschlossen fand.

»Aha,« lachte er, »der würdige Bürger hat seine Zugbrücke schon aufgezogen und sein Schloß für die Nacht verbarrikadiert.«

Werner öffnete schweigend die Tür, die er wieder hinter sich schloß, und lautlos schritten beide die stillen Straßen entlang. Endlich erreichten sie die Gartenstraße und folgten der Mauer, die dem ›roten Hause‹ unmittelbar zuführte. Die einzige Person, die sie noch auf der Straße trafen, war der Nachtwächter, der eben, als es vom Turme zwölf schlug, die Stunde abrief.

»Und wohnt die Dame wirklich in dem ›roten Hause‹?« brach Werner zum erstenmal das Schweigen.

»Im ›roten Hause‹?« fragte der Fremde. »Wir steigen jedesmal hier ab, wenn wir nach M– kommen. Aber da sind wir schon an Ort und Stelle. Ich werde gleich« – er suchte vergebens nach dem Klingelzuge und stampfte ärgerlich mit dem Fuße: »Da hat die verwünschte Straßenbrut wieder den Glockenzug abgedreht. Ich werde auch morgen Anzeige bei der Polizei machen und mich beschweren.«

Zugleich klopfte er zweimal langsam an die Haustür, während Werner ein paar Schritte von dem Gebäude abtrat, um zu den Fenstern hinaufzusehen. Oben war alles totenstill und öde; kein Lichtstrahl aus den leeren Fenstern verriet ein lebendes Wesen, und in der sternenhellen, aber von keinem Mondstrahl erleuchteten Nacht lag das alte Gebäude finster und unheimlich da.

Wieder knackte das Schloß der Tür wie an jenem ersten Abend, und der Fremde sagte:

»So, mein Bester! Jetzt sind wir am Ziele, und nun möchte ich Sie freundlichst ersuchen näherzutreten. Die Damen werden uns wahrscheinlich schon erwarten.«

»Aber ich begreife nicht,« sagte Werner, »dies öde Gebäude kann doch nicht bewohnt sein?«

»Öde Gebäude?« lachte der Fremde, während er die Tür hinter dem Eingetretenen wieder ins Schloß warf. »Nicht übel! Meinen wohl, mein Verehrtester, weil es noch so dunkel ist? – Werden gleich Licht machen.«

Kaum hatte er dies gesagt, als er auf täuschende Weise den Ruf der kleinen Eule, gewöhnlich der Totenvogel genannt, nachahmte. In demselben Augenblicke wurden oben an der Treppe Schritte laut, Lakaien eilten mit brennenden Trageleuchtern herab, und rechts und links entzündeten sich zu gleicher Zeit weitarmige Wandleuchter, die ein warmes, fast blendendes Licht durch den weiten Raum strömten.

Werner traute seinen Augen kaum, so hatte sich der Platz verwandelt. Von Licht und Glanz durchflossen, fielen die blendenden Strahlen nicht mehr auf kahle Wände und faule Trümmer, sondern zierliche, mit seltener Kunst ausgeschmückte Reliefs, hier und da von Freskomalereien unterbrochen, schmückten die Wände, und weiche Teppiche deckten den Boden.

Sein Führer aber ließ ihm keine Zeit, sich zu besinnen, sondern flüsterte mit dem fatalen, süßlichen Lächeln, indem er sich an ihn drängte:

»Kommen Sie, Liebwertester, kommen Sie! Wir versäumen hier die kostbare Zeit, die uns nur sehr knapp zugemessen ist. Meine Braut erwartet uns in peinlichster Ungeduld.«

Dabei hinkte er, so rasch es ihm der lahme Fuß gestattete, der Treppe zu. Willenlos folgte ihm Werner. Wie auf weichem Moos stieg er die belegten Stufen hinan, in immer neuen Glanz, in neue Pracht hinein.

Überall standen Lakaien in glänzenden Livreen, und oben an der Treppe, während die Flügeltüren des Salons aufgeworfen waren und ein wahres Feuermeer von Glanz und Licht ausströmten, sprudelten kleine Fontänen wohlriechende Wasser aus.

Werner stand wie gebannt. Sein widerlicher Begleiter flüsterte ihm etwas ins Ohr, da ward eine andere Tür plötzlich aufgeworfen, und eine ganze Gesellschaft glänzend gekleideter Damen und Kavaliere wurde sichtbar. Aber Werner hatte nur Sinn für die eine; vor ihm, mit allem Zauber übergossen, und dabei von Diamanten überdeckt, stand in vollendeter Schöne die Geliebte.

Er wollte sprechen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Stumm schaute er der Dame in die freundlichen Augen.

»Es ist schön von Ihnen,« sagte diese, und ihre Stimme klang melodisch und leise, »daß Sie mich gleich bei meiner Ankunft hier begrüßen. Ich hatte immer gehofft,« setzte sie dann langsamer und mit leichtem Erröten hinzu, »Sie in der langen Zwischenzeit wieder einmal bei mir zu sehen, aber umsonst, und meine kleine Reise ließ sich auch nicht aufschieben.«

»Mein süßes Leben,« nahm hier plötzlich der Lahme das Wort, indem er sich mit seltsamen Verbeugungen zwischen die beiden jungen Leute drängte, »ich habe hier das unschätzbare Vergnügen, Ihnen den außerordentlich geschickten Porträtmaler Werner vorzustellen. Herr Werner, mit Stolz und Freude stelle ich Ihnen Fräulein Agnes von Hochstetten vor, meine verehrte und geliebte Braut, die –«

»Halt! – Nicht so rasch!« rief fast zornig die junge Dame dazwischen, »den Titel verdiene ich noch nicht, Herr Graf.«

»Aber, meine Allerverehrteste –«

»Genug,« lautete der ernste Bescheid, »und nun, mein Freund,« wandte sie sich wieder mit gewinnendem Lächeln an den jungen Mann, indem sie ihm, ohne den Grafen weiter zu beachten, die Hand reichte, »treten Sie ein bei uns und lasten Sie uns ein Stündchen froh verplaudern.«

»Agnes von Hochstetten?« wiederholte Werner wie träumend. »War das nicht der Name jener sechzehnjährigen Jungfrau, die draußen auf dem Kirchhof in ihrem steinernen Sarge schon ein Jahrhundert lang begraben liegt?«

Agnes sah ihm starr und ernst in die Augen, dann aber legte sich wieder das liebe Lächeln um die zarten Lippen, und sie sagte freundlich:

»Pfui doch, lieber Freund, wer wird von dem Grabe sprechen! Uns allen steht es bevor, doch weshalb vor der Zeit diese traurigen Bilder heraufbeschwören? Lieber will ich Sie jetzt einführen.«

»Und jener Graf?« fragte Werner mit angstbeklemmter Stimme. »Ist es wahr – daß er – daß er ein Recht beansprucht auf diese schöne Hand?«

Die Jungfrau warf verächtlich den Kopf zurück und sagte finster:

»Daß er es beansprucht, glaub' ich wohl, und durch einen unglücklichen Zufall wäre ich auch fast in seine Gewalt gegeben. Doch davon nachher! – Hier kommen schon die edeln Herren und Frauen, die sich im Turniersaal versammelt haben und uns erwarten.«

Zugleich betrat sie mit ihm das weite Gemach, das Werner jetzt, dem Übrigen entsprechend, mit fabelhaftem Glanz geschmückt fand. Aber über die Gruppen stattlicher und reich geputzter Herren und Damen hin, die überall aus und ein strömten, flog sein Auge unwillkürlich nach den bunten, reich gestickten seidenen Tapeten, die die Wände deckten und in deren Bildern er auf den ersten Blick das von dem alten Totengräber beschriebene Turnier erkannte. Auf dem sich rings umherziehenden Balkon aber saßen in weiter geschmückter Reihe edle Frauen, und dort – unter Tausenden hätte er die holden Züge wieder erkannt, – war auch ihr liebes Engelsangesicht, während dicht hinter ihr die boshaft schielenden Augen, das struppige Haar jener Teufelsfratze niederstarrte, in der Werner entsetzt das verzerrte Bild des Grafen erkannte.

Fast erschreckt schaute er sich im Saale um. Da begegnete er nicht weit entfernt zwischen zwei der dicht verhangenen Fenster demselben boshaft zu ihm herüberblitzenden Auge, das auch aus dem Bilde der Tapete niedergrinste.

Noch starrte Werner, wie von dem Auge gebannt, hinüber, als plötzlich eine leichte Hand seinen Arm berührte und Agnes flüsterte:

»So ernst, mein Freund? Licht und Glanz scheint dich nicht aufzuheitern – vielleicht vermag es die Musik.«

Sie klatschte zweimal in die Hände, und ein unsichtbares Orchester mit gedämpften Instrumenten begann eine sanfte, wunderschöne Symphonie. Sie selbst aber führte den jungen Mann, der sich an ihrer Hand der Erde entrückt wähnte, in ein kleines, nur von einer düsteren Ampel erhelltes Nebengemach und winkte ihm auf einem Sessel neben ihr Platz zu nehmen.

Werner suchte gewaltsam den Zauber zu bannen, der ihn umdrängte. »Ich fasse nicht,« rief er, »ich begreife nicht, was um mich her vorgeht und wo ich bin. – Atme und lebe ich überhaupt?«

Die Jungfrau schaute ihm lächelnd und fest ins Auge. »Hast du nie gelernt, den Augenblick zu genießen? Muß denn immer ein Schreckensgespenst die frohe Stunde des Glückes trüben?«

»Kann es denn anders sein?« rief Werner in leidenschaftlicher, schmerzlicher Aufregung. »Du holdes Bild lebst hier in all dem Glanz, ich bin ein armer heimatloser Wandersmann. Warum ward mir erlaubt, die Hand nach einer Frucht auszustrecken, die dem armen Maler unerreichbar fern liegt?«

Er barg sein Antlitz in den Händen, und die heißen Tränen perlten ihm zwischen den krampfhaft gespannten Fingern durch.

»So unerreichbar?« sagte sie mit leiser Stimme, die aber zu den innersten Fasern seines Herzens drang. Rasch und fast erschreckt schaute er zu ihr auf.

»Und wäre es nicht?« rief er, von seinem Sessel aufspringend, und sank, während er des Mädchens Hand ergriff, in schwindelndem Entzücken zu ihren Füßen nieder.

»Nicht so, mein teures Herz«, sagte das wunderschöne Weib. »Ich kann dich nicht vor mir im Staube sehen, wenn ich durch dich selber Licht und Freiheit wiedererhalten soll.«

»Durch mich?« rief Werner und sah erstaunt zu ihr auf.

»So höre denn«, flüsterte die Jungfrau, während sie ihn mit leiser Gewalt vom Boden hob und es willig geschehen ließ, daß er ihre Hand behielt und mit heißen Küssen bedeckte. »Ich bin nicht frei und glücklich; eine fremde Macht hat Gewalt über mich. Nur ein Geschenk aus reinerer Hand enthob mich ihrem Einflüsse, ein einfach goldener Reif, den ich bis jetzt an meinem Arme trug, von Feenkraft geweiht. Sogar die Eule, die dir dort als Graf erschien, mußte sich dem mächtigen Schutze beugen. Da wollte es mein böses Geschick, daß ich an jenem Abende das Kleinod von meinem Arme verlor.«

»Die Eule? – Der Graf?« wiederholte Werner in unbegrenztem Erstaunen. »Von Feenkraft geweiht? Ist denn alles, was mich hier umgibt, nur tolles Blendwerk meiner Sinne?«

»Blendwerk?« sagte die Jungfrau lächelnd und schüttelte mit dem Kopfe. »Wirklichkeit? – Wer von allen Sterblichen wäre imstande, das zu unterscheiden?«

»Oh,« sprach Werner und streckte ihr in Todesangst die Arme entgegen, »der Gedanke schon ist Wahnsinn, daß auch du, Himmlische, ein Blendwerk sein und mir entschwinden könntest.«

»Still – still – die Eule naht!« sagte Agnes plötzlich, indem sie warnend den Finger hob. »Das Armband jetzt, ich muß es haben!«

Werner griff in die Tasche, in der er in Papier eingeschlagen das Armband trug, als plötzlich der Lahme, das widerwärtige Gesicht zu einem boshaften Lächeln verzerrt, in der Tür erschien, auf Agnes zuging, sich tief vor ihr verbeugte und dann, ohne ein Wort zu sagen, die beiden langen Arme in die Höhe warf. In demselben Augenblick flogen rechts und links die schwerseidenen Gardinen zurück, und dahinter, Reihe an Reihe gedrängt, standen die Gäste, im Halbkreis um ein kleines altarartiges Gestell, auf dem ein mit schwerem Eisen verschlossenes rot und schwarzes Buch und ein blanker Dolch lagen.

»Sehr verehrte Damen und Herren«, rief der Graf mit scharfer, gellender Stimme, »ich habe Sie heut abend zu uns eingeladen, Zeugen einer feierlichen Handlung zu sein, die mich zu dem glücklichsten Wesen über und unter der Erde, Agnes von Hochstetten aber zu meinem ehrbaren Weibe machen wird.«

»Halt ein, Unglückseliger!« unterbrach ihn die Jungfrau und schleuderte die nach ihr ausgestreckte Hand des Widerlichen in Zorn und Abscheu zurück. »Noch bin ich nicht in deiner Macht, noch hab' ich meine Freiheit, und ich will sie wahren bis zur letzten Stunde des Gerichts. Du vergaßest das Armband, das du selber mir wieder in die Hände liefern mußtest. – Her zu mir jetzt, Helfer in der Not!« rief sie, streckte ihre Arme dem wie in Verzückung stehenden Werner entgegen, »gib mir das Band, mein Retter aus mehr als Todesqual – das Band – das goldene Band.«

Der Lahme sprach kein Wort, regte kein Glied, nur das höhnische Lächeln zuckte über seine Züge, als Werner den goldenen Reifen, den er in der Hand hielt, rasch und mit fieberhafter Angst aus der Papierhülle befreite.

»Hier,« sagte er, »hier nimm, Geliebte.«

»Was ist das?« unterbrach ihn Agnes, indem sie totenbleich zurücktrat und die ausgestreckten Arme jetzt wie abwehrend ihm entgegenhielt. »Unglücklicher – ich bin verloren!«

»Haha!« lachte der Graf, »was haben wir da, Verehrteste, ein goldenes Armband? Das ist ja der Ring von der Straßenklingel, den Ew. Wohlgeboren aus Versehen eingesteckt haben.«

Werner stand wie zu Stein erstarrt.

»Was ist das?« rief er mit vor innerer Angst fast erstickter Stimme. »Wie kommt der Ring in meine Tasche und wo ist der Schmuck, den ich –«

»Der Schmuck?« kreischte der Lahme, »hier ist das Armband – hier in meiner Hand. Ich habe den Schatz, das echte Band, das dich, mein holdes Liebchen, an mich fesselt für die Ewigkeit.«

»Wir gratulieren, wir gratulieren!« riefen die Anwesenden und beugten sich und knicksten und wehten mit den Tüchern, und das lahme Ungeheuer hinkte auf die wie zu Marmor erstarrte Schöne zu, die wie ein gescheuchtes Reh dem Tische zu floh, auf dem das Buch und der Dolch lagen.

»Rette mich vor ihm«, rief sie und brach vor dem Tisch ohnmächtig nieder. Wie elektrisch Feuer schoß der Hilferuf durch Werners Adern.

»Teufel!« schrie er, indem er in wenigen Sätzen an dem Tisch war und den blanken Dolch vom Buch herunterriß, »Taschendieb! Mit deinem Leben hol' ich mir mein Eigentum zurück!« Mit den Worten warf er sich, seiner Sinne kaum noch mächtig, auf den Grafen, der vor der blanken Waffe scheu zurückwich. In wilder Hast folgte er dem entsetzt die Treppe hinabfliehenden Grafen. Von allen Seiten stürzten die Lakaien herbei, alle Türen wurden geöffnet, wilde, entsetzliche Fratzen lachten ihm höhnisch überall entgegen, aber er sah nur ihn, mit wildem Griff krallte sich seine Hand in die Schulter des Flüchtigen und jetzt – jetzt faßte er das Kleinod, das jener eben von sich schleudern wollte.

»Hahaha«, lachte da der Graf, indem er ihm unter den Händen entschwand und als Eule aus der geöffneten Haustür auf die Straße flog. »Was hilft dir der Ring – mein ist sie doch – mein ist sie doch!«

»Nicht dein – nicht dein,« schrie Werner in fast wahnsinniger Wut, indem er, den Dolch wieder gefaßt, hinter dem Tückischen herfloh, »dein Leben ist mir verfallen und ich will – ich muß es haben.« – – –

»Aber, Werner, um Gottes willen, komm zu dir!« rief ihm eine bekannte Stimme ins Ohr, »du bist ja außer dir. Was hast du? Was ist geschehen?«

»Gerhard – dich sendet mir Gott!« rief der Unglückliche. »Ihm nach! – Noch ist es Zeit – er will Agnes zum Altare schleppen. Laßt mich! – Laßt mich los! – Zu Hilfe, Gerhard, zu Hilfe!«

»Aber so komm doch zu dir!« bat dieser in Todesangst. »Was hast du nur, und wo bist du gewesen?«

»Wo er gewesen ist?« sagte da eine tiefe Stimme, die einem der herbeigeeilten Nachtwächter gehörte, »drin im ›roten Haus‹, so wahr ich selig zu werden hoffe, und das bei finsterer Nacht und zwischen zwölf und ein Uhr. Mir könnte einer das Haus mit Gold pflastern, ich sollte die Stunde darin zubringen.«

»Im ›roten Haus‹?« rief der junge Mann erschreckt.

»Er ist fort – er ist fort!« rief Werner, in wildem, herzzerschneidendem Schmerz laut aufschreiend, »verloren, verloren für immer!« Und während er sich mit so gewaltigen Kräften gegen die Arme sträubte, die ihn hielten, daß ihn die vier starken Männer kaum noch bändigen konnten, ließen plötzlich seine Anstrengungen nach, seine Arme sanken, er lehnte den Kopf zurück und lag ohnmächtig an Gerhards Schulter.

Dieser, der eben erst aus dem Weinhaus kam, in dem er eigentlich nur Werner so lange erwartet hatte und durch den Lärm auf der Straße gerufen war, suchte das Nähere von den Nachtwächtern herauszubekommen. Diese wußten aber selbst sehr wenig.

Der in dieser Straße stationierte Wächter erzählte, er habe Lärm und Geschrei gehört. In der Nähe des ›roten Hauses‹ sei er zu seinem Erstaunen inne geworden, daß der Lärm von dort herausschalle, und dann sei plötzlich der Herr hier in voller Wut und Flucht herausgesprungen. Wie er da hineingeraten, wisse er freilich nichts denn bis jetzt sei die Tür stets verschlossen gewesen. –

Gerhard bestärkte die Wächter gern in dem Glauben, daß der Unglückliche »etwas zu viel getrunken«. Mit ihrer Hilfe klopfte er aus einem benachbarten Gebäude ein paar Arbeiter heraus, die den noch immer Ohnmächtigen gegen eine gute Belohnung nach seiner Wohnung trugen.

5

Gerhard blieb, als er Werner wieder zu sich gebracht, die Nacht an seinem Bett, und der Kranke fiel gegen Morgen in einen sanften, ruhigen Schlaf, aus dem er erst nach zehn Uhr erwachte.

Vollkommen ruhig öffnete er die Augen, sah den Freund einige Augenblicke an, und schloß sie wieder. Aber das dauerte nicht lange, und Gerhard glaubte, daß er ihn fragen würde, wie er in sein Zimmer gekommen. Werner dagegen schien alles genau zu wissen, dankte ihm für seine Teilnahme, als er in der Straße halb ohnmächtig zusammengebrochen, und bat ihn dann, auf seinem Tische nachzusehen, ob das gefundene Armband noch dort liege.

Gerhard beruhigte ihn darüber. Er hatte es gestern abend, als sie ihn fanden, in der Hand gehalten, und er selber hatte es an sich genommen. Es lag jetzt auf dem Tischchen neben seinem Bett.

Werner ließ es sich geben, betrachtete es einen Augenblick und dann, auf sein Kissen zurücksinkend, sagte er ruhig:

»Gott sei Dank, der verdammte Lahme hatte es mir unterwegs schlau entwandt und mir dafür den eisernen Klingelring in die Tasche geschoben – aber es ist doch alles vorbei und Agnes auf immer für mich verloren.«

»Aber, Werner«, bat Gerhard, »nimm dich doch zusammen und sei ein Mann.«

»Glaube nicht, daß ich mich täusche«, sagte Werner. »Ich weiß alles, was geschehen, aber zugleich, daß ihr alle mir nie glauben werdet. Jetzt habe ich auch den Schlüssel dazu, daß du jene Fremde, die an uns vorüberging, nicht sahst, daß du sie später nicht am Fenster entdecken konntest. Kein anderer in der Stadt hat sie gesehen, nur meinem Auge erschien sie, und – nenn' es Segen oder Fluch – noch immer liegt in ihren Händen mein Geschick.«

»Werner«, sagte Gerhard unruhig, »daß du so ruhig über den Unsinn reden kannst! Du mußt alle deine Kräfte zusammennehmen, um über diese tollen Bilder Meister zu werden.«

»Du hast recht,« sagte Werner ruhig, »ich glaube auch, daß es in meiner Macht stände. Was aber hülfe mir ein Leben, das seines Zieles beraubt ist?«

»Werner,« rief Gerhard besorgt, »rede nicht so Entsetzliches! Was willst du denn tun?«

»Aufstehen. Es ist zehn Uhr vorbei, und ich schlafe sonst nie so lange.«

»Aber du bist krank.«

»Nie gesünder gewesen. Aber ich muß aufstehen, denn ich habe einen Besuch abzustatten.«

»Besuch? – Bei wem?«

»Laß das – du würdest mich doch nicht verstehen. Aber sei versichert,« setzte er herzlicher hinzu, »daß ich meinen Verstand noch vollständig beisammen habe.«

»Was willst du denn tun?« rief Gerhard besorgt.

»Nichts, was dich beunruhigen könnte«, lachte Werner. »Es ist jetzt heller Tag, und ich glaube nicht, daß ich da etwas von den Geistern zu fürchten habe. Sobald es dämmert, bitte ich dich selber, zu mir zu kommen und die Nacht bei mir zu bleiben. Beruhigt dich das?«

»In etwas, ja; aber doch noch nicht ganz. Darf ich dich nicht begleiten?«

»Als Wächter?« lächelte Werner. »Lieber Freund, ich bin ein halber Fatalist. Was kommen soll, das kommt doch.«

Er war indessen aufgestanden und zum Ausgehen völlig gerüstet.

»Darf ich dich wenigstens eine Strecke begleiten?« fragte Gerhard nach einigem Zögern.

»Und warum nicht? Nur störe mich nicht in dem, was ich vorhabe.«

»Du willst das ›rote Haus‹ besuchen?«

»Ja.«

»Und weshalb?« bat Gerhard. »Muß das nicht all deine früheren Phantasien nur noch mehr reizen?«

»Das Gegenteil«, sagte Werner ruhig. »Das helle Tageslicht soll mir helfen, die toten Bilder zu verscheuchen. Ich muß mich selber überzeugen, daß dort nur Schutt und Zerstörung herrschen.«

»So laß mich mit dir gehen.«

»Bis zu dem Haus, ja – aber nicht hinein. Dort muß ich mit mir allein sein«, sagte Werner. »Und noch eins«, setzte er, wie plötzlich sich besinnend, hinzu, »laß mir noch eine halbe Stunde Zeit, einen Brief zu schreiben. Dann holst du mich hier ab.«

»Du gehst nicht ohne mich?«

»Ich gebe dir mein Wort.«

Gerhard ging, und als er nach etwa drei Viertelstunden zurückkehrte, fand er Werner schon in der Tür, ihn erwartend. Langsam schritten die beiden die Straßen entlang, und unaufgefordert erzählte Werner bis in die kleinsten Einzelheiten hinab seinen gestrigen Besuch im ›roten Haus‹.

Er sprach so ruhig, so überlegt und bei vollem Bewußtsein, und widerlegte alle Einwendungen des Freundes in so sicherer Weise, daß diesem zuletzt nichts übrigblieb, als sich zu fügen.

Um vier Uhr versprach Werner, wenn irgend möglich, in einer nicht sehr entfernten Restauration mit Gerhard wieder zusammenzutreffen.

»Und noch eins«, sagte Werner und hielt des Freundes Arm, als dieser, nicht weit vom ›roten Hause‹, Abschied nehmen wollte. »Eins habe ich dir bis jetzt noch verschwiegen. Du erinnerst dich des Namens des jungen Mädchens, das in der Gruft dahinten beigesetzt ist?«

»Agnes von Hochstetten, wenn ich nicht irre –«

»Ganz recht – auch ich heiße Hochstetten«, sagte Werner ruhig.

»Du?« rief Gerhard erstaunt. »Davon hast du mir noch nie ein Wort gesagt.«

»Werner ist der Name, den ich als Künstler angenommen habe«, entgegnete dieser.

»Dann ist dies der unglückseligste Zufall,« rief Gerhard, den Kopf schüttelnd, »den ich mir denken kann.«

»Zufall«, sagte Werner ernst, »ist ein wunderliches Wort. Doch genug. Auf Wiedersehen, Gerhard, auf ein frohes Wiedersehen!«

Er drehte sich mit den Worten ab und schritt allein dem ›roten Hause‹ zu, während Gerhard traurig und wirklich ernsthaft um den Freund besorgt die andere Richtung einschlug.

Die Tür des ›roten Hauses‹ war verschlossen, aber ein fester Druck schob das morsche Schloß leicht auseinander, und der junge Mann betrat mit einem eigenen Schauder den düsteren, dumpfigen Raum, der wieder in seiner ganzen Öde um ihn lag. Nur durch die zerbrochenen und erblindeten Scheiben eines Fensters über der Hintertür fielen die Sonnenstrahlen herein und erhellten den Platz hinlänglich, ihm die halbzerfallene Treppe zu zeigen, die er jetzt vorsichtig, aber mit festen Schritten hinanstieg. So betrat er die wüsten Gemächer, die ihm in letzter Nacht einem Feenpalast gleich erschienen waren, und suchend schweifte sein Blick umher, als ob der Raum nicht leer sein könne, und die, die er hier suche, ihm jeden Augenblick entgegentreten müsse. Aber alles lag still und öde wie das Grab, nur ein paar Ratten glitten raschelnd über umherliegendes Gerümpel. Werner stand auf der Schwelle des Saales und lehnte, die Arme verschränkt, am Türpfosten.

»Und wäre denn alles – alles das, was mir mein ganzes Herz erfüllt, wirklich nur ein leerer Traum gewesen?« sprach er mit leiser Stimme vor sich hin. »Dort der Balkon, aus dem die Damen saßen, und da – da, wo das Auge auf mich niederschaut –«

Er hatte den Arm nach jenem Kopfe ausgestreckt und stand plötzlich, wie zur Bildsäule geworden, mit fast aus den Höhlen dringenden Augen der Stelle gegenüber, auf der das Bild da oben Leben und Bewegung gewann. Das Auge blinzelte auf und zu, die Züge des halben Gesichts nahmen einen fast teuflischen Ausdruck an.

»Ha, bist du da?« ries Werner, indem er das Armband ergriff und wie einen Talisman der Teufelslarve entgegenhielt, »da, da sieh, hämischer Geist, wie ich deinem Grimm trotze. Deine Macht ist aus, und wie ich dir hier entgegentrete, will ich dich –«

»Halt, nicht weiter«, flüsterte plötzlich, während er mit dem hochgehobenen Armband auf das scheu zurückweichende Haupt zuschreiten wollte, eine leise, süße Stimme. Neben ihm stand Agnes und legte ihre weiße Hand leicht und kaum fühlbar auf seinen Arm.

Nicht mehr in all der Pracht und Herrlichkeit des letzten Abends freilich, sondern wie er sie zuerst gesehen, in jenem einfachen schwarzen Kleide.

»Agnes!« rief Werner, und unwillkürlich beugte er fast das Knie vor der herrlichen Gestalt, der gerade die sanfte Schwermut in den Zügen einen noch viel unwiderstehlicheren Reiz verlieh.

»Nicht doch, mein Freund,« flüsterte fast ängstlich das Mädchen, »nicht mir die Huldigung, die nur Gott gebührt. Ich komme auch nur,« setzte sie hinzu, während ihr liebes Antlitz ein eigener Zug von Wehmut überflog, »Abschied von dir zu nehmen.«

»Abschied?« rief Werner in tiefem Schmerze, »und was habe ich getan, daß du mich meiden willst? Hier ist das Band, das dir die Freiheit gibt. Willst du mir selber jede Hoffnung rauben?«

»Zu deinem eigenen Besten, Freund«, sagte die Jungfrau ernst und doch tief betrübt dabei. »Du kannst nicht leben in der Welt da draußen, und mit uns fortverkehren hier. Wie ein tückischer Wirbel zieht die Geisterwelt alles, was ihr geboten wird, in ihren Kreis hinein. Nein, lebe fort, das Leben beginnt ja erst für dich. Gib mir das Armband und nimm den besten Dank, den ich dir geben kann für deine Lieb' und Treue – den Dank, daß ich mich dir zum letztenmal gezeigt.«

»Nein! nein!« rief Werner, in wilder Angst die Hand ergreifend, die sie ihm entgegenhielt. Du selber hast gesagt, dies Band verleihe dem, der es besitzt, Kraft und Gewalt, dich ihm zu erringen!«

»Weißt du, was du begehrst?« fragte mit warnender Stimme die Jungfrau, »weißt du, daß du, um mir zu gehören, erst der Seligkeit entsagen mußt?«

»Alles ist tot für mich!« rief Werner, in wilder Aufregung und Sehnsucht die Arme der Geliebten entgegenbreitend. »Sei du mein Gott und mein Himmel!«

Da richtete sich die Gestalt der Jungfrau hoch und ernst auf. Alle Milde und Sanftmut war aus dem marmorbleichen Antlitz gewichen.

»So komm, Unglückseliger«, sagte sie. »Wer wie du in wilder Leidenschaft den Himmel und die Erde von sich stößt, der hat auf beide sein Recht verscherzt. Was wir dir bieten können, soll dir werden. Du bist der Unsere – sei uns denn willkommen!«

Gerhard wartete vergebens auf den Freund. Die Unruhe trieb ihn endlich nach Werners Wohnung. Aber Werner war noch nicht zurückgekehrt, und Gerhard nahm sich einen Wagen, um das ›rote Haus‹ noch vor der einbrechenden Dämmerung zu erreichen.

Da er die vordere Tür des alten Gebäudes verschlossen glaubte, hatte er dem Kutscher Befehl gegeben, bei dem Totengräber vorzufahren und diesen mitzunehmen. Aber dort in der Straße standen eine Menge Leute und schauten nach den Fenstern des ›roten Hauses‹ hinauf. Er ließ den Wagen halten und stieg aus; niemand konnte ihm gewissen Bescheid geben. Einige meinten, es spuke da drinnen, andere, das Haus wolle einfallen, weshalb sich niemand näher hineinwage. Ein anderer Wagen fuhr in diesem Augenblicke vor, und ein ihm befreundeter Arzt stieg mit einem Polizeidiener aus und näherte sich dem Eingänge.

Er eilte, sich den beiden anzuschließen, und was er von ihnen hörte, reifte auch seine schlimmste Befürchtung zur Gewißheit.

Der Totengräber hatte, in der Nähe des alten Gebäudes beschäftigt, einen lauten Aufschrei darin gehört, und als er die Räume visitierte, einen jungen Mann tot oder ohnmächtig in einem der oberen Zimmer gefunden. Er hatte augenblicklich nach der Polizei und nach einem Arzt geschickt, und diese trafen gerade ein, die Untersuchung vorzunehmen.

Was Gerhard gefürchtet, war geschehen. Oben in dem einen Zimmer, zwischen Schutt und Trümmern, lag Werner ausgestreckt auf dem Boden – tot, das Antlitz unentstellt und ruhig, den einen Arm von sich gestreckt. Die linke Hand aber hielt ein schmales, goldenes Armband, das Gerhard augenblicklich als das gefundene erkannte.

Gerhard brachte die Leiche nach Werners eigener Wohnung. Hier wurde der Körper untersucht, und das Urteil lautete: »Tod, herbeigeführt durch einen plötzlichen Gehirnschlag!«

Der Brief, den Werner zurückgelassen, war an Gerhard gerichtet und enthielt kurze Verfügungen über seine kleine Hinterlassenschaft. Am Schlusse des Briefes bat er – wofür er eine nicht unbedeutende Summe dem städtischen Armenhause vermachte – in der Gruft der Hochstetten, nahe dem ›roten Haus‹, beigesetzt zu werden.

Sein Wunsch ward erfüllt, und auch das Armband, das die erstarrte Hand noch festgehalten, ruht bei ihm in der Gruft.


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