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Die Bourrat zählten zu den angesehenen Familien in Valleyres, wo ihre Vorfahren seit einigen Jahrhunderten das bescheidene Leben kleiner Bürgersleute führten, die an der Scholle hängend, ihren Besitz verwalten und durch geschickte Heiraten vermehren.
Schon seit zwei Generationen hatten sie indes dieses Städtchen verlassen, in dem Politik und Kleinhandel sich breitmachten. Sie hatten sich auf ihre Familienbesitzungen zurückgezogen; ein Teil nach Prévoux, eine Meile östlich, der andere Teil nach Vermand, drei Meilen westlich von Valleyres.
Zum Markt in Valleyres traf Herr Ferdinand Bourrat aus Prévoux mit Herrn Karl Bourrat aus Vermand zusammen. Herr Karl fuhr zweispännig; Herr Ferdinand hatte nur ein Roß und noch dazu ein altes vor sein Wägelchen geschirrt. Die beiden Vettern plauderten auf dem Marktplatz, wo sie den einen oder anderen der vornehmen Bürger der Stadt trafen, wie Herrn Anton Verlot, Herrn Maigret oder Herrn Lanterle, deren angesehene Familien seit ein- oder zweihundert Jahren die gute Gesellschaft von Valleyres bildeten. Die Herren besprachen die Aussichten der kommenden Ernte und verkauften je nach der Jahreszeit ihr Getreide oder ihren Wein den anwesenden Händlern.
Nach Beendigung seiner Geschäfte besuchte Herr Ferdinand Bourrat eine alte ledige Tante, die nun schon seit zehn Jahren ihr Haus in der Hochstraße nicht mehr verließ; nachdem er schließlich bei den Krämern der Stadt noch einige Einkäufe gemacht hatte, kehrte er in langsamem Trab wieder den gleichen Weg nach Prévoux zurück.
Seine Frau, eine geborene Maigret, erwartete ihn. Sie war eine dürre und – wie alle Frauen ihrer Familie – herrschsüchtige Person, deren Tagewerk durch die tausenderlei Kleinigkeiten eines Haushaltes ausgefüllt war, den sie mit schmutzigem, systematischem Geiz führte. Sie zählte immer wieder die Wäsche, kochte im Sommer Obst ein, hängte im Herbst ihre Trauben in den Speicher, überwachte auf Schritt und Tritt ihre Mägde und erfand stets neue Möglichkeiten, um den ohnehin auf das Nötigste beschränkten Ausgaben hier oder dort noch einen Sou abzuzwacken. Sie gab auch dem Gärtner ihre Anweisungen, bestimmte, welche Gemüse zu pflanzen seien; sie überließ es niemandem, die Spargel zu schneiden und die reifen Früchte zu pflücken und wußte genau, wieviel Pfirsiche und Birnen am Spalier sein mußten.
Herr Bourrat beaufsichtigte die Arbeiten auf seinen Feldern. Ihre Kinder wurden auswärts erzogen, die Söhne bei den Geistlichen in der Provinzhauptstadt, die Tochter in einem Kloster im Süden. Das Leben in Prévoux verlief ohne Überraschungen. Die Entfernung von der Stadt verhinderte häufige Besuche; zwei- oder dreimal im Monat brachte ein altertümlicher Wagen eine der Damen aus Valleyres. Wenn Frau Bourrat in die Stadt wollte, ließ sie das Pferd, das ihren Mann zum Markt führte und das sonst auch zu Feldarbeiten verwendet wurde, vor eine Kutsche spannen: so war es ihr während der großen Arbeiten zur Zeit der Ernte oder Weinlese gar nicht möglich, Besuche zu machen.
Prévoux war ein Haus aus dem Ende des letzten Jahrhunderts mit einem schönen Dach und einem Giebel. Vor dem Hause lag mit einer Gruppe herrlicher Bäume der Garten, der durch ein kleines Wäldchen im Osten abgeschlossen wurde. Frau Bourrat wagte sich niemals bis dorthin, selbst in der größten Hitze arbeitete sie in ihrem Salon, dessen Fenster stets geschlossen blieben. Nur morgens vor dem Frühstück und abends vor dem Nachtessen verließ sie das Haus, um den westlich gelegenen Gemüsegarten zu inspizieren. Sie tadelte ihren Mann, daß er die Blumen liebe und zwei bis drei Beete Geranien und Rosen auf der Wiese hielt; die Zeit, die der Gärtner für ihre Pflege brauchte, wäre besser für die Gemüsezucht verwendet: denn der Überschuß an Gemüse ließ sich in der Stadt verkaufen.
Fräulein Bourrat verließ, achtzehn Jahre alt, das Kloster und kam im Juli nach Hause. Die Bewohner von Valleyres zerbrachen sich den Kopf, mit wem man sie verheiraten werde. Die Bourrat hatten, obgleich sie wohlhabend waren, weder das Vermögen noch die Beziehungen der Duret, deren Töchter gute Partien gemacht hatten, indem sie so angesehene Leute wie Roussy aus Marseille und Perquer de Bonnenfant aus Bourges geheiratet hatten, überdies gab es wenig junge Leute in Valleyres; obwohl ihnen doch mit allgemeiner Hochachtung begegnet wurde, pflegten sie die kleine Stadt frohen Herzens zu verlassen, um in der namenlosen Menge der großen Städte unterzutauchen. Nach ihrem Militärdienst kehrten nur sehr wenige in ihre väterlichen Häuser zurück. Paris hatte zwei junge Bourrat, Neffen von Ferdinand, einen Duret, einen Maigret und einen Lanterle behalten, die dort ungewisse Studien, Medizin oder Jus, betrieben. In Le Havre war ein Vertot, ein Loretty in Nantes, ein zweiter Maigret in Rouen und alle waren nur allzu glücklich, bescheidene Posten gefunden zu haben, die es ihnen ermöglichten, in den großen Städten zu bleiben, wo die meisten – sei es aus Überlieferung oder auch, weil sie guten Familiensinn hatten – mit kleinen, auf der Straße oder in Fabriken aufgelesenen Mädchen wie verheiratet lebten. Würden sie jemals nach Hause zurückkehren?
Keinerlei Aussichten für Fräulein Bourrat. Wird sie die große Zahl der alten Jungfern von Valleyres vermehren? Werden die Bourrat vielleicht den Winter in der Provinzhauptstadt verbringen, wo sie wohlhabende Verwandte besitzen? Werden sie vielleicht gar einen Ball geben? So diskutierten die Gevatterinnen der Stadt, aber sie wurden sehr enttäuscht; denn es geschah nichts von alledem und das ruhige Leben in Prévoux ging unverändert weiter.
Sonntags kam Fräulein Bourrat zur Messe. Sie war ein großes, eher häßliches Mädchen, von einer derben, ländlichen Gesundheit, die auch den Jahren im Kloster widerstanden hatte, mit ausdruckslosen Augen, schon entwickeltem Busen und einem etwas breiten Mund; gutmütig und schlaff wie ihr Vater, ganz eine Bourrat, hatte sie keinerlei Ähnlichkeit mit den Maigret.
Ihr Leben in Prévoux war grau und einförmig. Die Mutter hatte ihrer Rückkehr ohne Freude entgegengesehen: sie fürchtete die geringste Störung, die sie in der peinlichen Überwachung des Haushaltes behindern könnte. Sie regelte das Tagewerk ihrer Tochter nach ihren unantastbaren Geboten. Morgens sollte Fräulein Bourrat sie bei ihrem Rundgang durch das Haus begleiten, der täglichen Besprechung mit der Köchin beiwohnen, ihr helfen die Wäsche vorzubereiten, die nachmittags von den Hausmädchen geflickt werden sollte; so würde sie später imstande sein, ihren eigenen Haushalt mit Umsicht zu leiten. Dann war eine Stunde Klavierspiel und eine Nähstunde vorgesehen. Nach Tisch durfte sie in dem von Mauern umgebenen Garten spazierengehen. Dann mußte sie ins Haus zurückkehren, wo sie ihre Mutter im Salon traf, hatte wieder Klavier zu üben und schließlich für die von ihrer Tante, Frau Julius Maigret, geleitete Krippe zu arbeiten. Einmal wöchentlich kam sie in die Stadt; ihre Mutter wohnte den Klavierstunden bei, die der junge Herr Marthe ihr erteilte. Einmal im Monat verbrachte sie den Nachmittag bei ihren Cousinen in Vermand, die ebenfalls monatlich nach Prévoux zu Besuch kamen.
Maßlos lastete die Langeweile, die das alte Haus erfüllte, auf Fräulein Bourrat. Als Lektüre erlaubte man ihr nur die kleinen Traktätchen einer religiösen Bibliothek, die unerträglich fade waren, übrigens las sie überhaupt nicht gerne.
Ihre einzige Freude war der Garten, wohin sie vor den ewigen, nörgelnden Belehrungen ihrer Mutter gleich nach Tisch flüchtete. Lange, einsame Stunden verbrachte sie dort, ohne anderes zu tun, als zu schauen.
Sie kannte die Insekten und ihre Gewohnheiten, wußte, wo die Vögel ihre Nester hatten und wie sie einander riefen. Auch auf den Gutshof ging sie, aber nur im geheimen. Mit raschem Blick vergewisserte sie sich, daß der Hof leer sei, dann stieß sie die Türe zum Stall auf und schlüpfte hinein. Sie liebte diese dunstige Atmosphäre, in der gegen fünfzehn Kühe wiederkäuend vor ihren leeren Trögen standen, schmeichelnd glitt ihre Hand über die warmen Rücken. Manchmal stieg ihr eine merkwürdige Glut zu Kopf und sie ging ein wenig benommen hinaus. Im Geflügelhof verfolgte ein Hahn eine Henne und deckte sie. Fräulein Bourrat sah zu und eilte dann, wie auf schlechter Tat ertappt, davon, um auf einer Bank im Garten, gedankenlos, zu sitzen.
Die Regentage waren am traurigsten. Der Winter kam und schien endlos. Sie war bei zwei oder drei Gesellschaften, aber ohne sich zu unterhalten. Aus ihrer Einsamkeit plötzlich unter Leute versetzt, wußte sie nichts zu sagen; sie hörte nur zu. Wenn ein Mann zu ihr sprach, hatte sie, trotz der Mahnungen der Nonnen, eine fast peinliche Art, ihre guten, sanften Augen nicht von ihm abzuwenden, obgleich sie sich gar nichts dabei dachte. Während der schlechten Jahreszeit kam sie fast gar nicht aus dem Haus; hie und da begleitete sie Herrn Bourrat auf seinen Fahrten über Land. Sie sprachen nur einzelne Worte, trotzdem aber fand sie ihren Vater angenehm. – Sie sehnte sich allmählich nach dem Kloster zurück, obgleich sie sich auch dort sehr gelangweilt hatte; aber sie hatte doch wenigstens Freundinnen gehabt. Wenn das Licht im Schlafraum verlöscht war, konnte man mit seiner Nachbarin Dinge flüstern, die dadurch, daß sie im Dunkel der Nacht geheimnisvoll gezischelt wurden, unendliche Wichtigkeit bekamen. Hier in Prévoux gab es niemand; Vater und Mutter, beide alt, waren ihr gewiß keine Gesellschaft.
Sie schlief schlecht; Träume bedrängten sie. Gnadenbilder, die sie in der Kirche gesehen hatte, begannen vor ihr zu leben; eine Magdalena zeigte ihre nackte, goldig wie eine reife Frucht leuchtende Brust; vor einem Jesus mit kraftlosen Augen sah sie sich beten. Sie küßte mit solcher Inbrunst seine Füße, daß sie erwachte; heiße Wellen liefen über ihren Körper; sie war atemlos, als ob sie gelaufen wäre; sie drehte sich auf die andere Seite, fand aber lange keinen Schlaf. Früh erwachte sie müde und zerschlagen.
Sie wurde bleichsüchtig, ihre guten Farben verschwanden. Zwei oder drei Sonntage fehlte sie bei der Messe. Die guten Frauen von Valleyres bedauerten sie. »Armes Kind, wie muß sie sich in Prévoux langweilen.«
Mit dem wiederkehrenden Frühling nahm Fräulein Bourrat neuerdings vom Garten Besitz. Nach Tisch saß sie auf einer Bank beim Wäldchen. Das Leben summte ringsum; auf einem winzigen Pfad hasteten die Ameisen; auf der Wiese zirpten die Grillen; mit großem Lärmen verfolgten einander die Vögel auf den Zweigen; sie war aufmerksamer Zeuge der tausend kleinen, leidenschaftlichen Kämpfe in der erwachenden Natur. Manchmal ging sie auch wieder in den Stall, gern hätte sie in der reinen Streu geschlafen, sich in dem warmen, goldgelben Stroh ausgestreckt, bei den feuchten Kühen mit ihren langsamen Bewegungen, ihren im Halbdunkel phosphoreszierenden Augen. Eines Tages, als sie wieder vorsichtig auf den Hof schleichen wollte, bemerkte sie dort zwei Männer mit einer Kuh. Sie blieb stehen und verbarg sich hinter einer Fichte. Die Entfernung war groß genug, daß man sie nicht sehen konnte. Plötzlich kam der Stier aus seinem Stall. Sie wollte fort, doch eine unwiderstehliche Neugierde lähmte sie. Der Stier brüllte, die Männer verbargen ihn ihren Blicken; aber sie sah seinen mächtigen Kopf sich heben, seine Vorderbeine auf den Rücken der reglosen Kuh gestützt, seinen gestreckten Hals. Das war alles. Sie ging mit schweren, müden Schritten zu ihrer Lieblingsbank zurück und ihr Herz war unruhig.
In der folgenden Nacht weckte sie ein glühender Traum. Die Erregung war so groß, daß sie morgens im Bett bleiben mußte. Ihre Mutter warf ihr diese Faulheit mit bitteren Worten vor. Gegen Abend erst ging sie aus; sie war matt, wie nach einer Krankheit; nahe der Wiese nahm sie einen Sessel.
Die Luft war ruhig und milde. – Der Gärtner kam und arbeitete an einem Blumenbeet in ihrer Nähe. Er war ein großer, stämmiger Bursche aus der Normandie. Fräulein Bourrat sah ihm zu, wie er die Erde mit kräftigen Spatenstichen umlegte. Sie dachte an nichts. Bei einer Bewegung, die er während des Bückens machte, öffnete sich sein Hemd, das nicht zugeknöpft war: sie sah seine Brust mit einem Büschel brauner Haare in der Mitte. Sie fühlte es wie einen Schwindel und wollte sich erheben, aber eine neuartige, geheimnisvolle Erregung hielt sie gegen ihren Willen zurück; sie blieb unbeweglich auf ihrem Stuhl und spähte jedesmal, wenn der Mann sich niederbeugte, um einen Stein aufzuklauben, wie gebannt nach dem Schimmern seiner Haut in der Hemdöffnung. Indessen beendete er seine Arbeit und, seine Geräte zusammenraffend, ging er grüßend an ihr vorbei.
Von nun an gab es in ihrem Leben das eine große Interesse: den Gärtner arbeiten zu sehen. La Bruyére war es, der einst sagte: »Den Damen der Gesellschaft ist ein Gärtner nur ein Gärtner und ein Maurer nichts als ein Maurer. Für manche andere, zurückgezogener lebende Frauen aber ist ein Maurer ein Mann und ein Gärtner ein Mann.«
In der fast gänzlichen Einsamkeit, in der Fräulein Bourrat lebte, wurde das Erscheinen dieses blühenden, kraftstrotzenden Burschen ein Ereignis. Sie suchte ihn geradezu im Garten. Manchmal arbeitete er an der Allee oder er war bei den Beeten beschäftigt; andere Male wieder setzte er Stecklinge bei einem kleinen Glashaus, das in einer sonnigen, geschützten Ecke des Gartens, weit vom Haus und vom Hof lag; oder auch fand sie ihn gar nicht, wenn er im Gemüsegarten arbeitete. Das war dann ein verlorener Nachmittag, denn seit ihre Mutter dort einmal den Abdruck ihrer Schuhe entdeckt hatte, traute sich Fräulein Bourrat nicht mehr hin.
Hatte sie ihn gefunden, dann blieb sie bei ihm stehen, als wäre sie unentschlossen, wohin sie gehen sollte. War eine Bank in der Nähe, dann setzte sie sich nieder. Sie sprach nicht, aber der Gärtner wurde, sobald er sie in der Nähe wußte, verlegen. Manchmal blickte er zu ihr hin, dann senkte sie die Augen Allmählich wurde sie kühner, sie kam noch näher, sie wechselte einige Worte mit ihm. Eines Tages, als er sich nach ihr umdrehte, hielt sie sogar seinem Blick stand; während einiger Sekunden sahen sie einander in die Augen. Ihre Brust hob sich. – Dann ging Fräulein Bourrat wieder fort.
Sie dachte nur noch an die Stunde, da sie ihn treffen könne. Sie hatte dabei keine bestimmten Wünsche, nur die Gegenwart des Gärtners brauchte sie. Er zog sie an, wie der Magnet das Eisen. Sie blieb, ohne ein Wort zu sprechen, drei Schritte vor ihm stehen. Er hatte eine merkwürdige Art sie anzusehen. Einmal rief er ihr einen Scherz zu, den sie nicht verstand: sie nickte trotzdem mit einfältigem Lächeln. Sie hatte den glühenden Wunsch, mit ihrer Hand seinen braunen Arm zu berühren, an dem die Muskeln wie straffe Stricke lagen, aber sie traute sich nicht. »Tu' ich's, tu' ich's nicht?« Sie blieb angstvoll unentschlossen. Der Mann fühlte ihren brennenden Blick; zuweilen unterbrach er seine Arbeit und starrte vor sich hin, dann preßte er die Zähne zusammen und setzte sein Werk hastig fort.
Fräulein Bourrat hatte unruhige Nächte. Sie erwachte mit schmerzenden Augen und müden Gliedern. Sie war bleich geworden, jetzt wurde sie auch noch nervös. Der geringfügigste Anlaß, oft bloß ein Wort ihrer Mutter genügten, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Dann wieder hatte sie ebenso unbegründete Lachanfälle, die nicht aufhören wollten.
Gegen Ende April fühlte sie sich eines Tages so elend, daß sie ihre Mutter nicht nach Vermand begleiten wollte. Sie blieb allein zu Hause und ging gegen drei Uhr in den Garten. Als sie den Gärtner auf der Wiese nicht fand, hätte sie fast geweint. Sie ging bis zu dem kleinen Glashaus; hier kniete er, damit beschäftigt, Stecklinge aus dem Frühbeet in Töpfe zu setzen. Sie kam näher und sagte ihm mit müder Stimme guten Tag; er erwiderte ihren Gruß. Dann setzte sie sich nahe bei ihm auf einen Sandhaufen, der heiß in der Sonnenglut lag. Von den weißen Mauern der Gartenecke strahlte einschläfernde Hitze. Der Gärtner hatte sein Hemd geöffnet; sie starrte zu ihm hin. Einen Augenblick schloß sie die Augen. Es war ihr, als wenn die Sonne sie röstete. Sie atmete heftig. Als der Mann sie so hörte, wandte er sich zu ihr um; sie hatte einen unruhigen, stieren Blick in den Augen. Er zögerte eine Sekunde, dann arbeitete er, an seiner Lippe nagend, weiter.
Sie vermochte ihre Blicke nicht von ihm loszureißen. Gerne wäre sie noch näher bei ihm gewesen, so nahe, daß er sie bei jeder seiner Bewegungen hätte streifen müssen. Sie streckte ein Bein so weit vor, daß sie an seinen mit starken Stiefeln bekleideten Fuß ankam, aber die Berührung war so schwach, daß er sie nicht fühlte. Sie zog ihr Bein wieder zurück, dabei schob sich ihr Rock ein wenig zum Knie hinauf. Sie saß nun mit an die Brust herangezogenen Knien und ihr Rock ließ die Beine frei.
Einen Augenblick später drehte er sich plötzlich um. Er sah die schwarzen Strümpfe von Fräulein Bourrat und höher oben, zwischen Strumpf und Höschen, schimmerte es weiß. Dieser Streifen weißer Haut raubte ihm die Besinnung. Er ließ den Blumentopf fallen.
»Teufel«, schnaufte er.
Er warf sich über sie. Sie fiel in den warmen Sand und wehrte sich nicht. Eine Flamme durchlohte sie: es war ein Entspannen aller ihrer Nerven.
Der Mann erhob sich, warf einen unruhigen Blick ringsum und nahm dann, einen Marsch pfeifend, seine Arbeit wieder auf.
Sie erreichte das Haus. Nur in ihrem Zimmer konnte sie sich verbergen. Schon aber fühlte sie sich zu ihrem Erstaunen gar nicht schuldig. Sie hatte diesen Wahnsinnsausbruch nicht provoziert. Was wußte sie überhaupt? Wie ein Gewitter im Sommer war's gekommen, wie ein wütender Platzregen, der vorüberrauscht und das verdurstete Land erfrischt.
Abends aß sie – wie schon seit Monaten nicht – mit großem Hunger und schlief, kaum im Bett, schon ein, um erst morgens aufzuwachen. Dann überlegte sie kalten Blutes, was geschehen war. Sollte sie dem Herrn Pfarrer beichten? Sie zögerte nicht allzulange mit der Antwort. Ein solches Geständnis könnte ernste und unvorhergesehene Folgen haben. Sie beschloß also zu schweigen; übrigens würde das Erlebnis keine Fortsetzung haben. Nie mehr wollte sie zu der Gartenecke gehen, das war ihr fester Entschluß. Zwei Tage hielt sie sich an ihren Vorsatz, dann hatte sie wieder eine schlechte Nacht; ein bedrückender Traum, deutlicher als früher, quälte sie. Doch noch widerstand sie.
Am vierten Tage aber war ihre Kraft erschöpft. Sie ging in den Garten. Der Mann war da, selbstbewußt, spöttisch, sicher, daß sie kommen werde. Er folgte ihr in das Wäldchen. Nun traf sie ihn zwei-, dreimal wöchentlich unter den Fichten. Es geschah nach Tisch in der größten Mittagsglut. Herr Bourrat hielt seine Mittagsruhe, seine Frau arbeitete im Salon. Fräulein Bourrat ging fort und der Garten lag so verlassen, das Leben in Prévoux war so gut geregelt, daß niemand ihre Zusammenkünfte störte.
Anfang Mai jedoch wurde sie unruhig. Sie wartete vergeblich. Noch ein Monat verging, ihre Unruhe wuchs. Indessen fühlte sie eine Schwere in ihren Gliedern, ein Unbehagen, einen unerklärlichen Widerwillen gegen Speisen. Dann schien es ihr, als wäre sie in ihrem Mieder eingepreßt, obgleich es doch immer so weit gewesen war. Eines Abends vor dem Niederlegen prüfte sie sich. Sie war sicher krank. Schon wollte sie mit ihrer Mutter darüber sprechen, als sie der Gedanke, es könne irgendein Zusammenhang zwischen ihrem Unbehagen und den Erlebnissen im Garten bestehen, die Absicht aufgeben ließ.
Das war zu derselben Zeit, als Frau Bourrat plötzlich selbst entdeckte, was sich zugetragen hatte.
Und das geschah folgendermaßen.
Wie die meisten alten Familien von Valleyres, hatten auch die Bourrat die Gewohnheit der großen Waschtage beibehalten. Es wurde nicht jede Woche gewaschen; das mochte für jene kleinen Leute gut sein, die in ihren mächtigen Kästen nicht große Stöße weißer Wäsche, den ehrwürdigen Stolz aller reichen Bürgersfrauen, behüteten. Viermal im Jahre wurden gewaltige Tröge in den Hof geschleppt, man nahm Waschfrauen und die Wäsche von drei Monaten ging durch ihre derben Hände. Es gab so wenig Unvorhergesehenes im Leben der Bourrat, daß die Hausfrau ganz genau vorher wußte, wieviele Leinentücher oder Servietten oder Wäschestücke jeder einzelnen Gattung nach getaner Arbeit in die Kästen zu räumen sein würden. – Die St.-Johannes-Wäsche war vorbei. Das Leinen trocknete zwischen den Apfelbäumen des Obstgartens an langen Stricken im Wind. Dann wurde geflickt und gebügelt und auf großen Tischen im Vorraum des Hauses alles schön zusammengelegt aufgestapelt. Das war dann der Moment, in dem Frau Bourrat mit ihrem großen Buch erschien. Sie zählte jeden Stoß nach, nicht ein einziges Stück fehlte. Aber als sie zu der Leibwäsche ihrer Tochter kam, stimmte die Rechnung nicht. Sie zählte nochmals, ging die ganze Wäsche ein zweites Mal durch, vergeblich. Mißtrauisch wie sie war, sagte sie kein Wort vor den Dienstboten. Sie ging zuerst in das Zimmer ihrer Tochter, um sie zu befragen. Das junge Mädchen war nicht da. Sie öffnete den Kasten, prüfte ihn von oben bis unten, durchwühlte den Wäschekorb, aber das, was sie suchte, fand sie nicht. Sie durchstöberte jetzt das ganze Zimmer, schob die Möbel von den Wänden, blickte in jeden Winkel. Der alten Waschweiber war sie ganz sicher, arbeiteten sie doch seit dreißig Jahren für ihre zweiundzwanzig Sous im Tag, viermal jährlich in Prévoux. Frau Bourrat suchte weiter. Ihre spitze Nase kam immer näher zu den schmalen Lippen, ihre Bewegungen wurden scharf und bestimmt, sie suchte jetzt ganz methodisch. Auch unter Bettdecke und Leintuch war ihre Mühe vergeblich. Jetzt packte sie ein so wütender Eifer, daß sie nicht einen Augenblick zögerte unter das eiserne Bett zu kriechen, um die Matratze zu untersuchen. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt und blickte hinauf – da erbleichte sie. Das, was sie suchte, war hier, zwischen die Spreizen gesteckt, sauber zusammengefaltet, als wäre es eben aus dem Kasten genommen.
Mit zitternder Hand griff sie danach und richtete sich mühsam auf. Sollte sie in der fleckenlosen Weihe dieser Wäschestücke die Schande der Familie Bourrat lesen? – Vielleicht blieb noch eine Hoffnung, vielleicht war ihre Tochter krank, anämisch? Sie erinnerte sich, wie bleich, wie nervös sie gewesen. – Warum dann aber dieses listige Verstecken? Frau Bourrat sank vernichtet in einen Lehnstuhl: ihre ganze dürre Gestalt war wie gebrochen, so erwartete sie die Rückkehr ihrer Tochter. Endlich erschien Fräulein Bourrat. Mit dem ersten Blick umfaßte sie die Anordnung im Zimmer und das Wäschepäckchen auf dem Tisch; sofort erkannte auch Frau Bourrat die Berechtigung ihrer schlimmsten Befürchtungen. Zwischen Mutter und Tochter war ein tragisches Schweigen. Dann verlangte Frau Bourrat alles zu wissen: unter Tränen und Schluchzen erzählte die Tochter, was geschehen war.
An diesem Abend hatte Frau Bourrat mit ihrem Manne hinter versperrten Türen eine lange Unterredung. Und da bewies sie die Überlegenheit ihrer Rasse, der zielbewußten Maigret, über die nervenschwachen Bourrat. Alle Maigret waren dürr und gelb, alle Bourrat dick und rosig; die Maigret verfolgten stets ihre Pläne; die Bourrat kannten keinerlei Pläne. Während der dicke, jammernde Mann nur Seufzer hören ließ, entwickelte Frau Bourrat einen ganzen Feldzugsplan. In den Nachmittagsstunden, als sie allein gewesen war, hatte sie schon alles genau überlegt.
Zuerst hatte sie daran gedacht, im Herbst mit ihrer Tochter zu verreisen und den Winter in Italien zu verbringen. Aber bald hatte sie eingesehen, welch' große Schwierigkeiten sich dem entgegenstellten. Was würden Freunde und Nachbarn, was würde man in Valleyres sagen, wenn man von dieser Reise hörte. Prévoux zu verlassen und nach Italien zu fahren – das stünde in so auffallendem Gegensatz zu den Gewohnheiten eines ganzen Lebens, daß es Verdacht erwecken mußte! Und dann, ein Hotel mit Fremden, von denen man kaum wußte, woher sie kamen. Man müßte einen falschen Namen angeben und das wäre gefährlich. Und auf wen sich verlassen in dieser ungewohnten Umgebung? – Nein, damit war es nichts!
Auch an eine schleunige Heirat hatte sie gedacht! Aber mit wem? Es gab niemanden, der in Betracht kam und selbst, wenn sie jemand gefunden hätte, es wäre schon zu spät gewesen. Und so kam sie zu dem Entschlusse, daß nur hier in Prévoux das Geheimnis und das Schweigen in planmäßiger Arbeit gewahrt werden könne. Der Boden war wohl gefährlich, unleugbar, aber sie kannte alle geringfügigsten Möglichkeiten. Nicht das Mindeste würde sie dem Spiel des Zufalls überlassen.
Zunächst galt es, den Gärtner in seine Heimat abzuschieben. Glücklicherweise stammte er aus der Normandie, weit entfernt von Valleyres. Wenn man sein Schweigen durch eine anständige Summe erkaufte, würde er sich gewiß dort verheiraten und niemals wieder etwas von sich hören lassen. Doch trotz aller Empörung, ihn noch in Prévoux zu sehen, konnte man ihn nicht plötzlich entlassen, ohne die Neugier der anderen Leute des Gutshofes zu erwecken. Man mußte die üblichen vierzehn Tage Kündigungszeit einhalten. Unerläßlich war es, daß er über den Zustand, in dem er Fräulein Bourrat zurückließ, völlig ahnungslos blieb. Aber war es nicht schon zu spät, ihm die Wahrheit zu verbergen? über diesen Punkt hatte die Mutter in dem Verhör, dem sie ihre Tochter unterwarf, durch eingehende Kreuz- und Querfragen genaueste Klarheit zu erlangen versucht und es blieb immerhin die Möglichkeit, daß er noch nichts wußte. Denn in der Tat, er hatte mit Fräulein Bourrat bei ihren Begegnungen keine drei Phrasen gewechselt, von ihrer Beunruhigung hatte sie nichts gesagt. Frau Bourrat fand sogar den traurigen Mut, ihre Tochter am nächsten Tage nochmals allein in den Garten zu schicken, nachdem sie ihr genau eingeschärft hatte, wie sie sich zu verhalten habe. Unter dem Vorwande eines gewöhnlichen Unwohlseins sollte sie sich ihm verweigern. Fräulein Bourrat spielte die Rolle, die man ihr vorgeschrieben hatte, mit schlecht verhehlter Beschämung.
Dies geordnet, blieben die gesellschaftlichen Beziehungen zu bedenken. Augenblicklich keine Gefahr! Mit einiger vorläufiger Vorsicht konnte ihre Tochter noch zur Sonntagsmesse gehen, ihre Klavierstunden fortsetzen und die seltenen Besuche empfangen, die nach Prévoux kamen. Später würde man sehen; gab es keine andere Möglichkeit, müßte sie im Bett bleiben und eine Krankheit vortäuschen. Eine größere Gefahr bildeten die Mägde, deren Beobachtung zu jeder Tagesstunde drohte. Frau Bourrat war recht gut versorgt. Die Köchin hatte sie seit dreißig Jahren, das Stubenmädchen seit fünfundzwanzig Jahren im Haus; außer diesen beiden war noch ein halbwüchsiges Mädel da. Besonders deren Neugierde war es, die Frau Bourrat fürchtete, und so entschloß sie sich, auf diese Aushilfe zu verzichten. Die Köchin hatte wohl keine Gelegenheit, Fräulein Bourrat zu sehen, wenn die bisherigen, morgendlichen Besuche in der Küche aufhörten. Blieb also nur Josephine, das Stubenmädchen. Mit der war es allerdings besonders heiklig, da Frau Bourrat es ihr zur Pflicht gemacht hatte, allen Dingen im Hause mit wachsamen Augen nachzuspüren. Frau Bourrat erbebte – sollten vielleicht auch Josephine die fehlenden Wäschestücke aufgefallen sein?
Für die Entbindung rechnete Frau Bourrat auf ihren leiblichen Vetter, den alten Dr. Maigret. Er würde ihrer Tochter beistehen und wohl schweigen, da ein Skandal ja auf die ganze Familie zurückfallen müßte. Schließlich wollte sie sich auch der Hilfe Victorias versichern, einer Bäuerin ihres Alters, die ihr mit Leib und Seele ergeben war; sie waren als Milchschwestern aufgewachsen, und Victoria war später die Amme von Fräulein Bourrat geworden. Jetzt wohnte sie einige Meilen weit von Prévoux in einem Dörfchen. Sie würde nötig sein und auf ihr Schweigen konnte man bauen.
Noch am gleichen Abend setzte sie ihrem Manne all dies auseinander: er unterbrach ihre Ausführungen nur mit weinerlichen Klagen. Zum Schluß gebot sie ihm in trockenem Tone strengste Verschwiegenheit.
Doch nachts, kaum war die Kerze verlöscht, kam ihr ein neuer Gedanke. – Ja, das wäre wohl das Allereinfachste, damit ersparte man sich tausend Schwierigkeiten. Die Hilfe Maigrets war nötig. – Er konnte sie nicht versagen.
Am nächsten Morgen eilte sie nach Valleyres und suchte den Arzt auf. Leider mußte sie bald einsehen, daß ihr neuester Plan an seinem hartnäckigen Widerstande scheiterte. Von diesem, ihr so einfach erschienenen Weg wollte er gar nicht sprechen hören. Frau Bourrat wurde wütend und er war hart daran, ihr die Türe zu weisen. Als sie endlich ingrimmig ihre Hoffnungen und diese radikale Lösung begraben hatte, mußte sie alle ihre Überredungskünste spielen lassen, um ihm wenigstens die Zustimmung zur Geheimhaltung seines ärztlichen Beistandes und zur Verheimlichung des Kindes selbst abzuringen. Er war ein rechter alter Fuchs und wußte, daß er mit dem Gerichte zu tun bekommen könne, wenn die Sache irgendwie ruchbar würde. Schließlich gelang es ihr doch ihn umzustimmen. Auch er war, wie sie, stolz und selbstbewußt wie ein Aristokrat. Der Schandfleck würde nicht nur seiner Familie, sondern seiner ganzen Gesellschaftsklasse anhaften und Frau Bourrat verstand es, seine Schwäche auszunützen. Sie ließ alle die höhnischen Reden vor ihm erklingen, mit welchen die kleinen und die kleinsten Leute der Umgebung einen Skandal der Familie Bourrat begleiten würden und sie stellte ihm die gehässigen Notizen vor, die das sozialistische Organ des Kreises über die Verderbnis der Sitten in den besitzenden Klassen veröffentlichen würde. – Endlich stimmte er zu.
Aber da er nun zum Komplizen geworden war, wurde es auch seine Sorge, daß nichts dem Zufall überlassen blieb, und so kam er schon zwei Tage später selbst nach Prévoux, um eine neuerliche, diesmal sehr eingehende Unterhaltung mit seiner Cousine zu führen. Eine Folge davon war, daß Fräulein Bourrat ihr Zimmer wechselte. Bis dahin hatte sie an der Westseite des Hauses, gerade unterhalb der Mansarden der Mägde, gewohnt. Nun übersiedelte sie in ein kleines südseitiges Zimmer neben das Schlafzimmer ihrer Eltern. Außer der gewöhnlichen Einrichtung befand sich hier ein gewaltiger, in die Mauer eingebauter Schrank.
Zunächst verlief alles so, wie Frau Bourrat es vorausgesehen hatte. Der verabschiedete Gärtner, dem man ein paar Banknoten in die Hand gedrückt und dabei etwas von Verführung Minderjähriger gemurmelt hatte, verstand sehr wohl, daß Verschwiegenheit in seinem Interesse läge. Im Juli und August besuchte Fräulein Bourrat mit ihrer Mutter noch die Messe, man mochte sie wohl stärker als früher finden, doch das war auch alles. Schlank war sie niemals gewesen.
Frau Bourrat überwachte die geringsten Kleinigkeiten mit der pedantischsten Genauigkeit. Es läßt sich nicht schildern, bis zu welchen Listen sie sich erniedrigte, um jeden Monat dem Verdacht des Stubenmädchens, das mit dem Forträumen der Schmutzwäsche betraut war, vorzubeugen. – Im Juli besuchte Fräulein Bourrat noch ihre Cousinen in Vermand, im August aber war sie an dem Tage, da sie dort erwartet wurde, zufällig unpäßlich.
So kam der September heran und jetzt galt es, alle Vorsichtsmaßregeln zu verdoppeln. Frau Bourrat regelte das Leben ihrer Tochter unter Bedachtnahme auf alle Möglichkeiten. Nur zeitig früh, da man von überraschenden Besuchen sicher sein konnte, durfte sie das Haus verlassen, doch nur, um sich im Garten aufzuhalten, den niemals eines der Mädchen betrat. – Den Garten betreute jetzt ein gebrechlicher, alter Mann, der halb erblindet war und vollkommen geistesschwach schien; er vermochte auch kaum noch die Wege zu rechen und das Gras zu mähen. Frau Bourrat hatte es freudigst begrüßt, daß sie bei dieser Gelegenheit den Luxus der Blumenbeete abstellen konnte. Den Gemüsegarten besorgte jetzt ein halbwüchsiger Bursche vom Pachthofe. –
Nachmittags mußte Fräulein Bourrat bei ihrer Mutter im Salon bleiben. Der Widerwille gegen das helle Sonnenlicht, den Frau Bourrat schon immer empfunden hatte, steigerte sich jetzt in größtem Maße; immer blieben die Jalousien nun bis zu dreiviertel geschlossen. Es war, als wäre man in eine Gruft eingetreten. Wenn Besuche kamen, fanden sie Fräulein Bourrat neben ihrer Mutter sitzend, eifrig mit einer Stickerei beschäftigt. Stets war ihr Rücken dem Fenster zugekehrt. Auf ihrem Schoß lagen in kleinen Strähnen zwanzig verschiedenfarbige Wollmuster ausgebreitet.
»Meine Tochter müßt ihr entschuldigen,« beeilte sich Frau Bourrat immer, auf die Wollmuster zeigend, den Eintretenden zu erklären »sie kann jetzt nicht aufstehen; sie ist ja so fleißig, das liebe Kind! – Sie überarbeitet sich geradezu,« fügte sie seufzend, mit halber Stimme, hinzu, »sie sieht schon ganz schlecht aus!«
So baute die kluge Mutter für die Zukunft vor und die Vorschriften, die sie ihrer Tochter gab und immer wiederholte, betrafen bald jede einzelne Bewegung. Niemals sollte sie sich von den Mädchen des Hauses oder von Freundinnen, die zu Besuch kamen, stehend sehen lassen. Im Garten mußte sie es vermeiden, Wege zu betreten, die aus den Fenstern des Hauses gesehen werden konnten. Frau Bourrat ging sogar so weit, ihre Tochter aus deren Zimmer stets zehn Minuten vor der Speisestunde abzuholen. Dann warteten sie im Salon, bis Josephine die Glocke im Hofe in Bewegung setzte. Diesen Augenblick benutzten sie, um in das Speisezimmer einzutreten, wo sich Fräulein Bourrat, noch bevor Josephine wieder hereinkam, auf ihren Platz setzte. Sobald das Essen vorbei war, kehrte das Stubenmädchen in die Küche zurück, so daß man ohne Bedenken den Tisch verlassen konnte.
Eines Tages im September, als Fräulein Bourrat aus ihrem Zimmer kommend die Treppe herabstieg, um zum Frühstück zu gehen, glitt sie plötzlich aus und wäre die ganze Treppe heruntergestürzt, wenn sie nicht zufällig am Geländer Halt gefunden hätte. Sie forschte der Ursache nach und entdeckte eine Orangenschale, auf die sie getreten war. Woher kam zu dieser Jahreszeit eine Orangenschale? Sie befragte ihre Mutter, die einige Minuten vor ihr heruntergekommen war. Diese hatte nichts bemerkt. Im ganzen Hause gab es keine Orangen, nur eines der Dienstmädchen konnte sie hereingebracht haben. – Die Sache blieb jedenfalls geheimnisvoll und fand keine Aufklärung.
Einige Zeit später, als sie ihrer gewohnten Bank im Garten zuschritt, strauchelte sie an jener Stelle, wo drei Stufen den Weg unterbrechen. Sie fiel, ohne sich zu verletzen, auf den Rasen. Wie groß war nicht ihre Überraschung, als sie einen dünnen Draht entdeckte, der quer über die steinernen Stufen gespannt und durch einen Nagel an einer Wurzel befestigt war. Wozu mochte man einen Nagel in die Wurzel geschlagen haben? – Da sie keinerlei befriedigende Aufklärung fand, dachte sie über dieses Ereignis nicht weiter nach; es gab ja so viele Dinge, die ihr unbegreiflich waren. –
Ihre Cousinen in Vermand waren sehr verwundert, sie gar nicht mehr bei sich zu sehen, doch Madame Bourrat hatte ihre Antwort wohl vorbereitet. Das Pferd, das bisher vor den Wagen gespannt wurde, war alt geworden, man hatte es verkaufen müssen, und ein Ersatz war noch nicht gefunden. Und wirklich war der arme Herr Bourrat jetzt gezwungen, den Leiterwagen des Pächters zu benutzen, wenn er zum Markte fahren wollte und wenn der Pächter seinen Wagen auf den Feldern brauchte, mußte er sogar zu Fuß gehen und war froh, wenn er unterwegs einen Bekannten traf, der ihn aufsitzen ließ.
Anfang Oktober veranstalteten die jungen Bourrat in Vermand ein Weinlesefest. Es sollten Reben gepflückt werden, dann war ein gemeinsames Essen geplant und schließlich wollte man tanzen. Frau Bourrat aus Prévoux nahm für sich und ihre Tochter die Einladung an, doch am vereinbarten Tag ging sie allein nach Vermand.
»Meine Tochter hat heute einen schlechten Tag,« flüsterte sie ihrer Cousine ins Ohr, »sie muß liegen.« Übrigens, gestand sie, daß der Gesundheitszustand ihrer Tochter sie beunruhige. Sie habe öfter so starke neuralgische Schmerzen, daß sie gezwungen wäre im Bett zu bleiben, man werde schließlich doch Doktor Maigret rufen müssen.
Einige Tage später wurde Frau Bourrat, als ihre Tochter eben beim Klavier saß, durch den Besuch ihrer Verwandten aus Vermand überrascht. Trotzdem sie sich angewöhnt hatte, auf jedes noch so leise Geräusch ängstlich zu lauschen, hatte sie diesmal die Ankunft des Wagens überhört. Die Türen des Salons öffneten sich. Die Damen traten ein. Fräulein Bourrat blickte zitternd nach ihrer Mutter: diese blinzelte ihr rasch zu, ihren Platz nicht zu verlassen und stürzte ihrer Schwägerin in die Arme, um sie umständlich zu begrüßen. Während sie sie umarmt hielt, machte sie ihrer Tochter Zeichen, rasch vom Klavier zu ihrer Stickerei zu eilen.
Nicht eher, als bis sie ihre Tochter unter dem Schutz ihres Stickereirahmens geborgen sah, löste sie die Umarmung.
Einige Minuten später legte das jüngste der Mädchen aus Vermand zärtlich ihren Arm um die Hüfte von Fräulein Bourrat. »Nein, wie stark du geworden bist,« meinte sie erstaunt. Diese furchtbaren Worte hörte Frau Bourrat. Wie ein Schleier legte es sich über ihre Augen. Doch rasch überwand ihre Energie den schrecklichen Augenblick und geistesgegenwärtig begann sie mit ihrer Schwägerin ein Gespräch über die Rivalität zwischen den Damen Duret und Lanterle, da sie wußte, daß kein anderer Gegenstand das Interesse der Frau Bourrat aus Vermand in stärkerem Maße zu fesseln vermöchte.
Fräulein Bourrat errötete bis zu den Haarwurzeln, befreite sich hastig von der gefährlichen Umarmung ihrer Cousine und fand gerade noch die Kraft zu ihrer Antwort: »Ja, es ist wahr, hier auf dem Lande werde ich immer dicker!« Glücklicherweise beharrte ihre Cousine nicht weiter bei diesem Thema.
Die Damen waren jedoch nicht bloß gekommen, um einen Besuch zu machen, sie wollten das junge Mädchen in ihrem Wagen zu Nachbarn mitnehmen. Frau Bourrat lehnte bedauernd ab, gerade heute erwarte sie den Arzt wegen der neuralgischen Schmerzen ihrer Tochter. Lebhaft bedauernd nahmen die Damen Abschied. Fräulein Bourrat hatte unglücklicherweise eben ihre Wollmuster auf den Knien ausgebreitet; sie konnte sich nicht erheben.
Nach diesem Tage kam Fräulein Bourrat nur noch morgens in den Salon hinunter; gleich nach dem Mittagessen kehrte sie wieder in ihr Zimmer zurück. Dann, als nur noch drei Monate zu dem gefürchteten Zeitpunkte fehlten, gab Frau Bourrat ihre Tochter endgültig als krank aus; die neuralgischen Schmerzen seien chronisch geworden, das kleinste Geräusch, die geringfügigste Bewegung genüge, um Anfälle hervorzurufen. Doktor Maigret verurteilte Fräulein Bourrat zu vollständiger Ruhe. Sie durfte nur für wenige Stunden des Tages ihr Bett verlassen und unter keinen Umständen Besuche empfangen. Diese Nachricht, die gegen Ende des Jahres nach Valleyres drang, erregte allenthalben das größte Mitleid. Daß diese Unglückliche, die noch so jung war, so viel zu leiden hatte! Die Freidenker des Ortes erblickten darin eine notwendige Folge der verfehlten Erziehung im Kloster, die – ohne rechte Luft – die Gesundheit der jungen Mädchen untergrabe.
Was der Herbst und der Winter für Fräulein Bourrat bedeuteten, kann man erraten. Keine Seele hatte sie, mit der sie sprechen konnte. Ihre Mutter war seit jener schrecklichen Enthüllung kälter und mitleidsloser als vorher. Während der langen Tage, die sie allein mit ihrer Tochter zubrachte, hüllte sie sich in undurchdringliches Schweigen und hielt ihre Lippen zusammengepreßt, als würde jedes Wort, das sie an ihre Tochter richtete, sie selbst beschmutzen. – Immer tiefer, immer verzweifelter ließ Fräulein Bourrat ihren Kopf auf den Stickrahmen sinken! Manchmal, wenn sie ihre Augen zu heben wagte, traf sie der harte, durchdringende Blick ihrer Mutter, und sie fühlte erbebend, wie diese sie aus ganzer Seele verabscheute und erkannte, daß sie erbarmungslos von ihr verleugnet würde, wenn nicht der Ruf des Namens Bourrat auf dem Spiel stände.
Ihr Vater war rascher über die Sache hinweggekommen; sie erriet unschwer das Mitleid, das er mit ihr fühlte. Zwei- oder dreimal wäre er hart daran gewesen, sich von seiner Rührung übermannen zu lassen, aber Frau Bourrat war immer zur rechten Zeit zur Stelle. Sie hatte dann eine Art ihrem Manne Blicke zuzuwerfen, die ihn sofort erstarren ließ.
Des Morgens auf ihrer Gartenbank gab Fräulein Bourrat sich einsamen Tränen hin. Ihr Los war auch zu hart! Gezwungen, sich vor allen zu verbergen, im Halbdunkel leben, eine Krankheit vortäuschen müssen, obwohl sie sich doch nie wohler gefühlt hatte und dabei die Bürde ihrer Schuld in sich wachsen fühlen . . .!
Es war im Monat Oktober, als Victoria, die Amme von Fräulein Bourrat, einen Nachmittag in Prévoux verbrachte. Frau Bourrat schloß sich mit der Bäuerin in ihrem Zimmer ein. Als diese das Haus verließ, war alles geregelt. Anfang Januar sollte Herr Bourrat eines Tages, wie auf einem zufälligen Spaziergange durch Victorias Dorf kommen, um diese zu benachrichtigen. Sie würde dann gegen elf Uhr nachts allein nach Prévoux kommen. Das Haus wird im tiefsten Schlafe liegen, doch das Tor unversperrt sein und ohne Geräusch müsse sie in den Salon eintreten. – Kurz danach würde sie Herr Bourrat im Wagen bis zu der zwei Meilen entfernten Bahnstation bringen, von wo sie der Nachtzug nach halbstündiger Fahrt in ein anderes Dörfchen führen würde. Hier wird das Kind seine Heimat bei einer Frau finden, mit der alles vereinbart war. Ein Findelkind, dessen Vater und Mutter unbekannt waren, würde hier aufwachsen; die Pflegekosten von fünfhundert Francs würden im voraus bezahlt, obwohl Frau Bourrat wütend, aber vergeblich, gegen diese unerhörte Forderung ankämpfte. Zähneknirschend sah sie ein, daß in diesem Punkte Victoria ihr noch überlegen war. –
Fräulein Bourrat verließ jetzt nicht mehr ihr Zimmer. Das arme Kind war in dieser von Haß umgebenen Einsamkeit, in der man es ließ, schon so verzweifelt, daß es nur noch eine Hoffnung kannte: die schwere Stunde nicht zu überleben. Die Ungewißheit, in der man sie hielt, drückte sie nieder. Die Mutter hatte ihr nur das unbedingt Nötigste gesagt, daß sie ein Kind gebären und daß dieses Kind sogleich verschwinden werde. – Was wollte man mit ihm tun? Was würde aus ihr selbst werden? Sollte sie fortfahren, ein so freudeleeres Leben an der Seite ihrer Mutter zu führen? Nichts erfuhr sie. Auf allen Seiten hingen undurchsichtige Schleier, die sie vom Leben draußen trennten. Sie mühte sich, zu verstehen, zu begreifen, aber gleich einem Vogel, der gegen die Stäbe seines Käfigs anfliegt und erschöpft zurückfällt, gab auch sie es bald auf, den engen, geheimnisvollen Kreis, in den sie eingeschlossen war, zu durchbrechen.
Weihnachten und der Neujahrstag gingen vorbei. Ihre Cousinen hatten sich mit einigen herzlichen Gaben eingestellt, doch die Mutter hatte kein Wort gefunden, ihr die Festtage zu verschönen. Der Vater kam am Neujahrstag in ihr Zimmer und mühte sich, seine Rührung zu verbergen. Als die Mutter für einen Augenblick hinausgerufen wurde und sie sich mit dem Vater allein fand, sank sie schluchzend in seine Arme und der alte, unglückliche Mann weinte mit ihr. Während ihres ganzen Lebens waren sie einander in keinem Augenblicke so nahe gewesen.
Endlich, eines Vormittags gegen elf Uhr, fühlte Fräulein Bourrat, die seit einigen Tagen an Beklemmungen gelitten hatte, heftige Schmerzen. Sie benachrichtigte ihre Mutter, die sich in ihrem Zimmer niederließ. Herr Bourrat ließ anspannen – er hatte kürzlich wieder ein Pferd erstanden – und fuhr in die Stadt. Nach einigen Besorgungen trat er bei Dr. Maigret ein und dann fuhr er wieder davon, doch statt die gleiche Straße einzuschlagen, auf der er gekommen war, machte er einen großen Umweg, um noch Victoria aufzusuchen, bevor er nach Prévoux zurückkehrte. Seine Frau kam zum Mittagessen aus dem Zimmer ihrer Tochter herunter. Herr Bourrat vermochte seine Aufregung nur mit Mühe zu verbergen. Frau Bourrat dagegen war nun, da der gefährliche Augenblick immer näher rückte, vollkommen ruhig und Herrin ihrer selbst.
Seit dem Morgen hatte sie nicht aufgehört, ihre Tochter in Schrecken zu halten, ihr peinlichstes Schweigen zu gebieten, ihr beim geringsten Versuch eines Schmerzenslautes mit den unausbleiblichen Folgen eines furchtbaren Skandals zu drohen. Das unglückliche, geängstigte Mädchen lag nun allein in ihrem Zimmer, zerbiß ihr Taschentuch zwischen den Zähnen und wühlte ihren Kopf in die Kissen, sobald die Wehen einsetzten. Kein Seufzer entfuhr ihren Lippen.
Dem Stubenmädchen, das dem Fräulein wie gewöhnlich die Mahlzeit hinauftragen wollte, erklärte Frau Bourrat, daß ihre Tochter Fieber habe, daß sie tagsüber nichts essen werde und daß ihr die größte Ruhe nötig sei. Jeder Lärm im Hause sei zu vermeiden und niemand dürfe die oberen Stockwerke betreten.
Um drei Uhr langte der Doktor in seinem Wägelchen an, das er selbst kutschierte. Auch dieser Umstand war zwischen ihm und Frau Bourrat sorgfältig vorbestimmt. Dr. Maigret war in der Regel brummig und unwirsch. An diesem Tage aber war seine Stimmung furchterweckend.
Als Fräulein Bourrat ihn eintreten sah, wandte sie den Kopf zur Wand. Sie vermochte den Blick dieses mürrischen Greises nicht zu ertragen.
Trocken und hart befahl er ihr, sich auf den Rücken zu legen, und ohne ihren Protest zu beachten, entblößte er ihren Körper. Dann warf er die Decke auf den entstellten Leib zurück und erklärte, daß man noch warten müsse. Kein einziges Wort fügte er hinzu, stumm verließ er das Zimmer, bestieg seinen Wagen und fuhr in ein Nachbardorf, noch einen Krankenbesuch zu machen. Im Hofe begegnete er Herrn Bourrat, doch ohne ihn eines Wortes zu würdigen, ging er an ihm vorbei.
Qualvoll und eintönig verlief der Nachmittag, von heftigen Schmerzen, die in immer kürzeren Zwischenräumen kamen, unterbrochen. Frau Bourrat saß am Fußende des Bettes und strickte mit bitter zusammengepreßten Lippen. Nur, wenn die Anfälle kamen, wandte sie sich ihrer Tochter zu, als wollte sie sagen: »Schrei' nur nicht!« Und jedesmal, wenn Fräulein Bourrat schon den Schmerzen nachgeben wollte, überwand sie sich wieder.
Nach fünf Uhr kam der Doktor zurück. Neuerlich befühlte er seine Patientin und ungeduldig sprach er: »Noch immer nichts.«
Frau Bourrat, die ihre eigenen Gedanken hatte, nickte befriedigt mit dem Kopf. Warten zu müssen, störte sie durchaus nicht.
»Besser, wenn es erst in der Nacht ist . . .« murmelte sie vor sich hin.
Sie begleitete den Doktor die Treppe hinunter und forderte ihn vor dem Stubenmädchen auf, zum Abendessen zu bleiben; sie würden nachher eine Partie Whist spielen. Maigret tat, als wenn er zögerte und nahm schließlich an. Zu wiederholten Malen in den letzten Wochen hatte Frau Bourrat ihren Vetter schon auf gleiche Weise zu einem Spielchen Karten im Hause behalten. Das Mädchen war in keiner Weise überrascht, als er auch diesen Abend blieb. Wie gewöhnlich, nahmen sie nach dem Essen beim Spieltisch Platz, Frau Bourrat läutete, um noch eine Kerze zu verlangen, in Wahrheit aber, damit das Mädchen Zeugin sei, daß sie wirklich beim Spiele saßen. Sobald Josephine gegangen war, schlichen Frau Bourrat und Maigret geräuschlos zu dem Zimmer der Tochter hinauf, während Herr Bourrat allein im Salon blieb.
Das erste, was Frau Bourrat oben tat, war, einen dicken Vorhang aus dem Kasten zu nehmen und ihn mit kleinen Nägeln an dem Rahmen der Türe zu befestigen.
Fräulein Bourrat seufzte erschöpft, der Doktor untersuchte sie abermals und war der Meinung, daß nun die Zeit gekommen sei. Er flüsterte noch einige Augenblicke mit seiner Cousine in der Fensternische, zog dann ein Fläschchen aus seiner Tasche, aus dem er einige Tropfen auf sein Taschentuch fallen ließ und näherte sich dem Bett. Fräulein Bourrat verspürte einen ätzenden Geruch und erschrak. Was hatte er vor? Wollte man vielleicht auch sie beiseite schaffen? Der alte Doktor erschien ihr wie ein düsterer Zauberer, der über gewaltige, geheimnisvolle Kräfte verfügte. Sie versuchte sich aufzusetzen, wollte zu ihrer Mutter sprechen, wies nach dem Schrank, doch niemand achtete auf sie. Die Hand des Doktors legte sich um ihre Stirn und drückte sie auf das Polster nieder, das Taschentuch mit dem ätzenden Geruch kam immer näher. Verzweifelt streckte sie die Hände aus, um es von sich wegzuhalten. Da fühlte sie ihre Arme von den erbarmungslosen Fäusten der Mutter beiseite geschoben und in einem verzweifelten Aufbäumen des ganzen Körpers schlug das arme, furchtgepeinigte Mädchen mit den Beinen die Bettdecke zurück: es gelang ihr eine ihrer Hände freizubekommen und mit aller Kraft stemmte sie die Brust des über sie gebeugten Arztes fort. Doch trotz des Kampfes lag ihr das Taschentuch über Mund und Nase, sie fühlte ein Brennen auf ihrer Haut, sie meinte zu ersticken, alle Kraft verließ sie, der schreckliche Geruch drang immer tiefer in sie ein. Sie schnappte nach Luft und hatte schon das Bewußtsein verloren.
Eine Stunde war vergangen. Der Arzt hatte seinen Rock abgelegt, ein dumpfer Fluch entrang sich dann und wann seinen Lippen. Plötzlich klang ein heiseres Wimmern durch die Stube. Ein neues Wesen meldete sein Recht auf das Leben an. Die Stimme wurde heller und lauter. Es schien, als müßte sie durch alle Wände des Hauses zittern. Doch schon hatte Frau Bourrat das Kind gepackt und war mit ihm ins Innere des mächtigen Schrankes geflohen. Beide Flügeltüren zog sie hinter sich zu, um das Weinen des Kindes zu ersticken, das auch nur ganz schwach noch im Zimmer zu vernehmen war. Alles war hier im Kasten vorgesehen. Eine Kerze, die am Boden stand, zündete sie an, mit Tüchern, die bereit lagen, rieb sie besonnen das kleine Wesen ab, dann hüllte sie es in Decken und in Wäschestücke, aus denen sorgsam jede Marke entfernt war. Als sie ihre Arbeit beendet hatte, war das Kind eingeschlummert, sie trat aus dem Schranke heraus, legte es in einen Fauteuil und stieg, jedes Knarren ihrer Schritte vermeidend, die Treppe hinunter.
Das Haus war schon in tiefes Dunkel getaucht. Ihren Gatten fand sie im Salon. Erregt sprang er auf, als sie die Türe öffnete. Allen seinen Fragen barsch zuvorkommend, befahl sie ihm, seinen Wagen und den des Doktors geräuschlos anzuspannen und mit beiden auf der Landstraße vor der Einfahrt in den Hof zu warten. Dann kehrte sie in das Zimmer der Wöchnerin zurück.
Während der nächsten halben Stunde half sie dem Doktor seine Aufgabe zu vollenden, zusammen mit ihm trug sie Fräulein Bourrat, die immer noch schlief, auf den Diwan, sie überzog das Bett mit bereitgehaltener, frischer Wäsche und legte die Tochter dann wieder hinein. Die Uhr auf dem Kamin zeigte jetzt ein Viertel nach Elf. Victoria mußte schon da sein. Sie nahm das Kind und mit tappenden Schritten ging sie über den unbeleuchteten Gang die finstere Treppe hinunter, ein Wolltuch in der Hand, bereit, den Mund des Säuglings damit zu bedecken, falls er zu weinen beginnen sollte. Hinter ihr schritt Maigret, der vor dem Verlassen der Stube noch das Fenster weit geöffnet und der Schlummernden ein in kaltes Wasser getauchtes Handtuch auf die Stirne gelegt hatte.
Im Salon wartete schon Victoria. Wortlos hielt Frau Bourrat ihr das kleine Bündel entgegen und drückte ihr einen Briefumschlag in die Hand, den sie aus ihrem Korsett hervorgeholt hatte. Der Arzt war schon, ohne von der Bäuerin gesehen zu werden, aus dem Hause geschritten. Die beiden Wagen standen an der vereinbarten Stelle. Herr Bourrat selbst hatte so leise wie möglich die Pferde angeschirrt und die Wagen hinausgeführt. Der Stallknecht, derselbe gebrechliche, halbtaube Mann, der jetzt auch die Gartenarbeit versah, hatte in seinem ersten Schlummer nur ein schwaches Knirschen von Lederzeug vernommen. Er meinte, daß der Doktor nun nach Valleyres zurückkehre und war beruhigt wieder eingeschlafen. Frau Bourrat folgte Victoria bis zur Gartenpforte. Die Nacht war so schwarz und undurchdringlich, wie man es nur wünschen konnte, ein schwerer, feuchtkalter Wind blies vom Westen. Im Schritt verschwanden beide Wagen in der Dunkelheit. Frau Bourrat wandte sich zum Hause zurück, noch viel Arbeit lag vor ihr.
Als Fräulein Bourrat wieder zu sich kam, dauerte es lange, bevor sie sich in die Wirklichkeit zurückfand. Die frische Luft vom Fenster her strich über ihr Gesicht; sie war ganz willenlos, müde und so erschöpft, daß es ihr selbst um den Preis ihres Lebens nicht möglich gewesen wäre, auch nur die Hand zu heben. Und doch fühlte sie es wie eine Erleichterung, als hätte man ein schweres Gewicht, das auf sie niedergedrückt hatte, von ihr genommen. Nur die Haut um Mund und Nase schmerzte wie verbrannt. Dann kam ihr die Erinnerung an einen beißenden Geruch und jetzt verspürte sie ihn wieder rings um sich, aus dem Bett aufsteigen, von den Wänden auf sie eindringen . . . Sie vermochte ihm nicht zu entgehen. Ihre Lider klebten schwer auf den Augen . . . Was war bloß das Kalte auf ihrer Stirn? Ein Tropfen rann langsam über Schläfe und Hals und versickerte in den Haaren. Mühsam öffnete sie die Augen.
Was sie vor sich sah, vermochte ein Ordnen ihrer Gedanken nicht zu erleichtern. Vor einem großen Waschtrog, nahe beim Fenster, kniete ihre Mutter. Sie hatte sich des Mieders und der Bluse entledigt und mit heftigen Armbewegungen wusch sie Wäsche in dampfendem Wasser. Die Petroleumlampe vom Tische her beleuchtete diese seltsame Szene mit matten Strahlen. Oft, wenn ein Windstoß durchs Fenster drang, zuckte die Flamme auf und war nahe daran zu erlöschen. Doch rastlos fuhr Frau Bourrat in ihrer Arbeit fort. Ihre Tochter sah sie die Wäsche auswinden und über den Fensterrahmen breiten. Was mochte dies zu bedeuten haben? Es schienen Leintücher zu sein.
Fräulein Bourrat schloß wieder die Augen. Als sie nach langer Zeit abermals aufblickte, kniete ihre Mutter nicht mehr, sie stand jetzt aufrecht vor dem Trog und versuchte vergeblich, ihn zu heben. Endlich griff sie nach einer Blechkanne, die beim Waschtisch stand, füllte sie mit dem siedenden Wasser aus dem Trog und verschwand durch die Tür, die sie offenließ. Der Luftzug, der Fräulein Bourrats Gesicht traf, ließ sie erschauern. Die Lampe am Tisch zuckte auf und qualmte dann in winziger Flamme. Frau Bourrat kehrte nach kurzer Zeit zurück, um noch dreimal mit der gefüllten Kanne den gleichen Weg zu gehen. Dann endlich konnte sie den halbgeleerten Waschtrog aufheben, um ihn hinauszutragen, und als sie langsam beim Bett vorüberging, vermochte Fräulein Bourrat hineinzublicken. Was sie sah, war rot, rot wie Blut . . . Diesmal blieb ihre Mutter länger draußen und als sie zurückkam, waren ihre Hände leer. Jetzt begann sie mit einem Scheuertuch unermüdlich den Boden zu reiben.
Fräulein Bourrat gab es auf, die Gründe für diese ungewöhnliche Handlungsweise ihrer Mutter zu erforschen, sie war zu müde, um nachzudenken, wie ein Brechreiz lag es in ihrer Kehle, ein Summen erklang ihr in den Ohren. Willenlos schlummerte sie wieder ein. Willenlos erwachte sie später von neuem. Allmählich drangen einige Lichtstrahlen in ihre verworrene Gedankenwelt. Sie sah den alten Doktor wieder über sich gebeugt, wie er ihren Kopf in die Polster preßte . . . Ja, sie hatte viel gelitten. Doch sie wußte gar nicht mehr, was es wohl gewesen war, nur dumpfe Schmerzen lagen in allen ihren Gliedern, als wäre sie geprügelt worden. Ihre Gedanken wurden allmählich klarer und plötzlich kam ihr das ganze durchlebte Drama voll zu Bewußtsein. Ein schmerzlicher Seufzer verließ ihre Lippen. Die Mutter, mit einem Glas in der Hand, trat an das Bett. Immer noch hatte sie ihren harten Blick.
»Trink«, befahl sie.
Fräulein Bourrat hob mühevoll den Kopf und schluckte einige Tropfen heißen Grog.
»Ist es vorüber?« frug sie mit matter Stimme.
Ihre Mutter nickte, ohne sie anzublicken.
»Wo ist es?« flüsterte sie noch schwächer als zuvor.
Frau Bourrat zuckte die Schultern.
»Darum bekümmere dich nicht. Niemals mehr soll davon die Rede sein.«
Fräulein Bourrat stöhnte gequält wie ein wundes Tier. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Ihre Mutter aber war schon wieder an die Arbeit zurückgekehrt. Jetzt nahm sie das feuchte Bettzeug vom Fenster und hängte es in den Schrank. Sie brachte noch am Waschtisch alles in die gewohnte Ordnung und ließ ihre Blicke prüfend durch das Zimmer gleiten. Nichts war verändert, alles stand wieder an seinem Platz. Nur ein durchdringender Geruch wollte nicht aus der Stube weichen. Frau Bourrat versuchte, ihn durch Zucker, den sie auf einer Schaufel verbrannte, zu vertreiben. Dann gab sie ihrer Tochter nochmals zu trinken, verließ wortlos die Stube, die sie von außen versperrte und ging in ihr eigenes Zimmer.
Es war drei Uhr morgens geworden, selbst sie war jetzt erschöpft. Ihr Mann mußte jeden Augenblick zurückkehren. Sie dachte an seine Fahrt durch die Nacht; kein Mensch konnte ihn erkannt haben. Um halb zwei mußte er an seinem Ziel angelangt sein, Victoria würde allein den Bahnhof betreten haben, um drei Uhr fuhr der Zug ab, den sie benutzen sollte – von dieser Seile drohte keine Gefahr mehr, alles war, wie sie es vorbestimmt hatte, verlaufen und auch im stillen Hause konnte keines der Mädchen, deren Zimmer in einem entlegenen Flügel im Dachstock lagen, das ungewöhnliche Kommen und Gehen bemerkt haben. Die Geräusche aus dem Zimmer ihrer Tochter waren gewiß nicht durch die sorgfältig verhängte Tür gedrungen. – In diesem Augenblick fuhr sie zusammen: Ein Pferd wieherte im Hofe. Frau Bourrat erzitterte. Das ganze Haus mußte es gehört haben. Der Stallknecht konnte nachsehen kommen. Wie sollte man diese späte Heimkehr ihres Mannes erklären? Eine ganze Geschichte müßte man ersinnen, in der Küche und auf den Feldern würde sie Gesprächsstoff sein, ein Nichts konnte Verdacht wecken. Frau Bourrat wagte nicht, sich zu rühren. Das Pferd war indes schon wieder verstummt. – Der alte Gärtner in seiner Dachstube war wohl erwacht, doch meinte er, das Pferd sei nur im Stall unruhig geworden, er drehte sich, über die Störung fluchend, auf die andere Seite und schlief sogleich wieder ein. Herr Bourrat hatte behutsam ausgespannt, das Pferd sorgsam abgerieben und war dann ins Schlafzimmer hinaufgestiegen. Er beruhigte seine vor Schreck erstarrte Frau, es hätte sich ja niemand im Hause gerührt . . .
In ihrem dunklen Zimmer eingesperrt, erschöpft und müde, lag Fräulein Bourrat. Große Tränen rannen unaufhörlich über ihre Wangen und selbst sie zu trocknen fehlte ihr die Kraft. Endlich schlief sie, von Mattigkeit überwältigt, ein.
Als Erste im Hause war Frau Bourrat am nächsten Morgen wieder auf den Beinen. Sie begann damit, das Zimmer ihrer Tochter nochmals zu lüften und auszuräuchern, denn solange noch Spuren jenes verräterischen Geruches zu bemerken waren, konnte man nicht wagen, Josephine eintreten zu lassen. So sagte sie ihr, daß Fräulein Bourrat eine Nervenkrise als Folge ihrer Blutarmut und Schwäche gehabt habe, daß der Arzt ihr eine Morphiuminjektion hätte machen müssen und daß sie, Josephine, die Einzige im Hause sei, die davon erfahre, da man ihrer Verschwiegenheit sicher wäre. Das Stubenmädchen, geschmeichelt von so viel Vertrauen, konnte sich mit Klagen über das bedauernswerte Fräulein nicht genug tun. Es kam ihr übrigens nicht in den Sinn, auch nur im mindesten Verdacht zu schöpfen. Erst am zweiten Tage betrat sie das Zimmer von Fräulein Bourrat, und als sie ihr armes Fräulein, ein wahres Bild des Jammers, bleich, matt und, wie sie meinte, mit fieberentzündeten Lippen, in ihrem Bett liegen sah, begriff sie die übertriebene Vorsicht, mit der man das Fräulein umgab, da sie doch wirklich so sehr krank war.
Dr. Maigret kam während einiger Tage nach seiner Patientin zu sehen. Er war zufrieden, alles ging seinen normalen Lauf. Zwei Wochen später lehnte Fräulein Bourrat schon auf dem Sofa und erhielt den Besuch ihrer Basen. Die Tanten plauderten mit der Mutter, und Frau Bourrat flüsterte ihnen unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit einige Andeutungen ins Ohr. Man hörte die Worte: Blutarmut, Nervosität und schließlich als größtes Geheimnis: Heirat. Und auch Maigret, wenn man mit ihm von der Kranken sprach, zuckte bedeutungsvoll die Achseln. Ja, eines Tages, als Frau Louis Vertot in ihrer Neugier doch Näheres wissen wollte, da brummte er eine jener zynischen Bemerkungen, wie man sie von ihm zu hören gewohnt war, in ihr lüsternes Ohr und sie verfehlte nicht, diese pikante Äußerung brühwarm im ganzen Ort zu verbreiten:
»Fräulein Bourrat ist nicht weniger beisammen als Sie und ich. Was ihr fehlt, ist ein Mann und die Gelegenheit Kinder zu kriegen. Sonst nichts.« –
Traurig war die Genesung von Fräulein Bourrat. Wieviel Stunden verbrachte sie einsam oder in Gesellschaft ihrer Mutter! Frau Bourrat blieb auch jetzt noch stumm und eisig. Ihre ganze Haltung war ein einziger Vorwurf. Ihre düsteren Augen, ihr zusammengepreßter Mund, ihre knochige, gebogene Nase, jede Falte ihres verwitterten Gesichtes erzählten von der Demütigung, die sie durch Schuld ihrer Tochter erlebt hatte, von den beschämenden Arbeiten, die sie ihretwegen hatte verrichten müssen und verkündeten den unverrückbaren Willen, nichts von alledem zu vergessen.
Nur in ihrer Gegenwart fühlte Fräulein Bourrat sich schuldbeladen. Sobald sie allein blieb, wurden ihre Gedanken weniger peinigend. Sie war sich nicht bewußt, dies alles gewollt zu haben. Es war ihr wie Menschen ergangen, von denen sie hatte sprechen hören, die, unter dem Zwang eines Magnetiseurs stehend, obgleich wach, doch Dinge tun, die nicht ihrem freien Willen entspringen und für die sie keine Verantwortung tragen. Eine blinde unwiderstehliche Gewalt hatte sie in die Arme jenes Mannes gestoßen. Wie hätte sie Bedenken haben sollen? Wußte sie doch nicht, wohin sie ging.
Der unversöhnliche Zorn ihrer Mutter blieb ihr unverständlich. Wohl begriff sie, von welcher Wichtigkeit es war, ein solches Erlebnis geheim zu halten und daß es Gebot sei, den Namen Bourrat vor jedem Skandal zu behüten. Ohne zu überlegen, gab sie die Pflichten auferlegende, geachtete Stellung zu, die ihre Eltern genossen. Ja, die Bourrats gehörten wahrlich zu jenen wenigen Familien des Landes, die sich ihren Namen seit Jahrhunderten durch ein untadeliges Leben verdient hatten und dieser Name durfte durch sie nicht geschmäht werden. Alles dies stand fest. Aber der Fehltritt war doch geheim geblieben, niemand würde jemals Verdacht schöpfen. Warum also vermochte ihre Mutter, die doch jetzt beruhigt sein mußte, ihren Zorn nicht zu vergessen? In den ganzen sieben Monaten, die sie in quälendem Alleinsein mit ihr hatte verbringen müssen, war kein anderes Wort von ihr zu hören gewesen, als Befehle oder Ermahnungen.
Darum war auch Fräulein Bourrat glücklich, wenn die Mutter nicht neben ihr saß, wenn sie mit ihren Gedanken allein sein durfte. Dann träumte sie von dem kleinen Wesen, das dagewesen und wieder verschwunden war. Wie seltsam, wie bitter war es doch: sie hatte das Kind, das sie zur Welt gebracht, nicht einmal gesehen! Es war gekommen, während sie schlief und ehe sie noch erwachte, war es wieder fortgegangen. Fortgegangen? Hinter diesem Wort lag ein Schleier, den sie nur zagend betastete. War der gräßliche Maigret nicht auch imstande, so ein wehrloses Wesen am Weiterleben zu verhindern? – Doch nein, sie fühlte, das würde er nicht gewagt haben – nein, gewiß hatte man das arme Kind weit fort von Prévoux in Pflege gegeben. Doch wie dies geschehen war, das vermochte sie nicht zu erraten, sie ahnte nichts von der Rolle, die Victoria dabei gespielt hatte.
Nach Tagen und Nächten ruhelosen Grübelns und Zögerns faßte sie endlich den Mut, ihre Mutter zu fragen. Frau Bourrat verweigerte schroff jede Auskunft. Vergeblich flehte Fräulein Bourrat; die Mutter blieb verschlossen. Denn ihrer Meinung nach war dies die einzige Möglichkeit, ihre Tochter daran zu hindern, später einmal irgendwelche unbedachte Schritte zu tun, die sie alle verderben könnten. Fräulein Bourrat klagte und weinte umsonst. Sie vermochte sich nicht mit dem Gedanken zu befreunden, daß man ihr das Kind für immer genommen habe. Oh, sie hätte gar nicht verlangt es bei sich zu behalten, so weit wagten selbst ihre Wünsche sich nicht, doch sie hätte es in der Nähe haben wollen, um es wenigstens von Zeit zu Zeit zu sehen. – Und wieder fühlte sie, daß überlegene Kräfte in ihr Leben eingriffen, ihr Schicksal bestimmten und daß sie nichts zu tun vermochte, als ergeben den Weg zu gehen, den man ihr wies.
Am ersten Tag, als sie aus dem Bett aufstehen durfte, hoffte sie einige Augenblicke allein bleiben zu können, doch Frau Bourrat verließ sie nicht. So wartete sie bis zum Abend und als sie sicher war, daß selbst die rastlose Mutter endlich schlafe, suchte sie im Dunkel auf dem Tische das einzige Zündholz, das man ihr für die Nacht gelassen hatte. Nachdem sie es mit unendlicher Vorsicht entflammt hatte, zündete sie die Kerze an. Dann entstieg sie ihrem Bett und ging zu dem großen Schrank, dessen Tür sie behutsam öffnete. Sie hob das Papier, das eines der obersten Fächer bedeckte und holte aus dem hintersten Winkel ein flach zusammengedrücktes Päckchen hervor, das sie dort versteckt gehalten hatte. Auf schwankenden Beinen, ermüdet von dem langen Stehen, schlich sie in ihr Bett zurück. Sie entfaltete das Päckchen, es enthielt ein winzigkleines, gestricktes Kinderleibchen. Es war das seltsamste Leibchen, das es wohl jemals gegeben hatte, denn kunterbunt waren Wollreste von allerlei Farben darin verarbeitet. Hätte doch Fräulein Bourrat niemals ohne Wissen ihrer Mutter ein Strähnchen weißer Wolle in der Stadt kaufen können und so war sie gezwungen gewesen, von ihrer Handarbeit unauffällige Restchen abzusparen, um für ihr Kindchen sorgen zu können. Mühsam hatte sie die kleinen Endchen, in denen alle Farben ihrer Arbeit vertreten waren, miteinander verknotet und immer nur, wenn ihre Mutter für einige Augenblicke aus dem Zimmer gegangen war, hatte sie es wagen können, an dem bunten Kleidchen weiterzuarbeiten. Doch niemals war ihr der Gedanke gekommen, wie lächerlich so ein buntgewürfeltes Leibchen voll Knoten aussehen müsse und auch jetzt empfand sie dies nicht. Sie dachte nur an die vielen angstvollen Stunden, die sie daran gearbeitet hatte, gespannt lauschend, immer bereit, beim geringsten Geräusch, das sich näherte, die verbotene Arbeit in ihrer Bluse verschwinden zu lassen. Sie hatte darauf gerechnet, wenn die Stunde nahe sein würde, es ihrer Mutter zu übergeben, damit sie das kleine Wesen darein kleide, um es gegen die Winterkälte zu schützen. Doch immer wieder hatten die drohenden Blicke der Mutter sie zurückgeschreckt und ihr letzter Gedanke, als der böse Doktor mit dem drohenden Taschentuch sich ihr näherte, hatte noch dem Päckchen gegolten, das im Schranke versteckt lag. Sie hatte zu sprechen versucht, es war zu spät . . .
An diesem Abend hielt sie das kleine Leibchen ausgebreitet in ihren Händen. Sie preßte es gegen ihre Brust, sie sprach flüsternd zärtliche Worte zu ihm, die ihr selbst ganz neu waren und die sie weinen machten, und dann schlief sie ermattet ein, während ihre Tränen noch weiter flossen und sie die bunte Wolle noch zärtlich umfaßt hielt, als wiege sie das Kind selbst, das man ihr genommen hatte, in den Armen . . .
Am nächsten Morgen, als ihre Mutter zum Frühstück hinuntergegangen war, warf sie das Kleidchen in den Kamin, in dem ein helles Feuer brannte.
Indessen war Fräulein Bourrat bald wieder vollkommen hergestellt. Sie zeigte sich mit ihrer Mutter wieder in Valleyres, begleitete sie bei ihren Besuchen und überall war man von ihrem vortrefflichen Aussehen entzückt.
Zu ihrer größten Verwunderung lud Frau Bourrat während der Osterferien die befreundete Jugend, ihrer Genesung zu Ehren, zum Abendessen. Ihre beiden Cousinen kamen, Marie Vertot, Laura Maigret und Henriette Brière. Von jungen Männern waren, außer ihren beiden Brüdern, ein Vetter Bourrat, der aus Paris für die Ferien nach Vermand gekommen war, Moritz Lanterle, der noch nicht achtzehn Jahre alt war und schließlich Herr Nikolaus Allemand anwesend, dessen Gegenwart bei dem weiblichen Teil der Gesellschaft gewaltiges Aufsehen erregte.
Herr Nikolaus Allemand gehörte nicht zur Bürgerschaft von Valleyres. Erst wenige Jahre war er in dieser kleinen Stadt ansässig. Von wo er kam, wer seine Familie war – man wußte es nicht. Herr Allemand war die Verschwiegenheit selbst. Doch er erfreute sich der besonderen Gunst des Herrn Pfarrers, dem er nach seiner Ankunft einen Besuch abgestattet hatte. Herr Allemand hatte eine kleine aus drei Zimmern bestehende Wohnung genommen und bald sah man einen Möbelwagen vor dem Häuschen halten. Die Einwohner von Valleyres wollten kaum ihren Augen trauen: ein Fremder, der sich in ihrer Stadt niederließ, das war ein seltenes Erlebnis. Und gar ein junger Mann! Wahrlich, das war noch nicht dagewesen. Niemals noch ist ein Mensch sorgsamer beobachtet und belauscht worden, als Herr Nikolaus Allemand in Valleyres. Doch er lieferte der allgemeinen Neugier wenig Nahrung. Er ging niemals ins Kaffeehaus, er ging nicht auf die Jagd, er verbrachte, wie so viele andere Rentner von Valleyres, seine Tage, die zugleich inhaltlos und voll Geschäftigkeit waren. Die Zeit verging mit regelmäßiger Wiederholung der täglich gleichen Nichtigkeiten. Die größte Neigung schien er für geschichtliche Forschungen zu haben, doch fehlte es ihm an Bildung und Verstand. Um acht Uhr früh konnte man ihn täglich bei der Messe finden, dann eilte er nach Hause, wo er zwei Stunden damit verbrachte, in Hefte, die er zu diesem Zweck besonders angelegt hatte, die Geburts- und Todesdaten sämtlicher Könige Frankreichs und aller berühmten Männer ihrer Regierungszeit zu verzeichnen. Nach Tisch machte er den üblichen Spaziergang der Notabeln des Städtchens – die Runde um den Marktplatz – und mit dem Glockenschlage zwei betrat er den Saal der Stadtbibliothek.
Denn Valleyres hatte eine Bibliothek, die den Stolz des Städtchens bildete und die ihm eine gewaltige Überlegenheit über Villeneuve und Chateauvieux gab, zwei Nachbarstädte, die, obgleich größer als Valleyres, doch keine Bibliothek besaßen. Die Bibliothek von Valleyres gehörte zur Hälfte der Stadt, zur Hälfte jenen Familien, die die Nachkommen der seinerzeitigen Stifter waren. So war es auch abwechselnd die Stadt und die Familiengruppe, die den Bibliothekar, dem sein Amt auf Lebensdauer übertragen wurde, wählte. Solange die Majorität des Gemeinderates konservativ gewesen war, ging alles gut. Seit fünfzehn Jahren aber war die Stadt in der Gewalt radikalerer Parteien und als Herr Bärbel, der ehrenwerte Bibliothekar, gestorben war, hatte der Gemeinderat, an dem damals die Reihe war, zu seinem Nachfolger den Ketzer Mailleser bestimmt. Entrüstet mußten die Honoratioren von Valleyres dies mitansehen. Wie, ein Jakobiner sollte jetzt in den Archiven der Stadt wühlen, in denen auf jedem Akt die alteingesessenen Namen der Vertot, der Bourrat, Maigret, Lanterle, Duret und all der anderen verzeichnet waren? Es war nur ein Glück, daß diese Familien wenigstens in dem Ausschuß, der die Neuanschaffungen für die Bibliothek zu genehmigen hatte, noch die Majorität behielten. Die Bibliothek von Valleyres war zu Frommen der rechtgläubigen Bürger bestimmt. Allerdings, dies muß zugegeben werden, fanden sich auch einige Bände aus dem achtzehnten Jahrhundert in ihr, die nicht gerade nach orthodoxem Geschmacke waren. Sie waren ein Geschenk, das seinerzeit einmal ein Maigret gestiftet hatte, der, ein Spötter, ein Zweifler und ein Schürzenjäger gewesen sein soll, für dessen Sünden die Familie aber seither viel Buße getan hatte. Man vermochte diese Bücher nicht verschwinden zu lassen, denn die Wachsamkeit der städtischen Vertreter im Ausschuß vereitelte alle derartigen Versuche, die vom besten Willen erfüllt gewesen waren. Doch wenigstens eine fromme Seele hatte sich gefunden, die einige Jahre ihres irdischen Lebens damit ausgefüllt hatte – und dadurch die Zeit des Fegefeuers um vieles zu verkürzen hoffte – alle unpassenden Stellen in den Bänden des seligen Maigret sorgsam mit Tinte zu überstreichen, um sie unleserlich zu machen. Candide fand sich auf diese Weise auf zwanzig Seiten, die aus unzusammenhängenden Teilen bestanden, verkürzt.
In dieser Bibliothek nun verbrachte Herr Allemand seine Nachmittage. Er liebte den Duft altertümlicher Dinge, jeder Pergamentbogen wurde von ihm ehrfurchtsvoll angefaßt, eine einzige Zeile einer alten Handschrift vermochte ihn durch Stunden zu fesseln; denn seine ganze Natur war langsam und schwerfällig und überdies fehlte ihm jede paläographische Erfahrung. Indessen erwarb er nach und nach – die Zeit spielte ja in Valleyres keine Rolle – eine gewisse Übung. Und es dauerte gar nicht allzu lange, da verstand er seine Kenntnisse in geschickter Weise zu verwenden, um die wohlwollende Achtung der Honoratioren der Stadt zu gewinnen. Wenn er in den alten Schriften über die eine oder andere der angesehenen Familien etwas Bemerkenswertes aufgestöbert hatte, dann teilte er dies dem Herrn Pfarrer mit, der sich beeilte, es in angemessener Form, die den Ruhm Herrn Allemands gebührend unterstrich, den Betreffenden zur Kenntnis zu bringen.
So gelang es Herrn Allemand, nach zweieinhalbjähriger Arbeit mühevollen Forschens einen Akt aus dem Jahre 1584 zu entdecken, der einen Kaufvertrag enthielt, wonach ein gewisser Nikolaus Vertot den herrschaftlichen Besitz von Vouzins erworben hatte. – Besagter Nikolaus Vertot war ein Wucherer, der die Unruhen seiner Zeit und das Aussterben der älteren Linie der Vouzins geschickt ausnützte, um sich zu einem Spottpreis dieser Herrschaft zu bemächtigen. Allerdings war er einige Jahre später, als Béarnais die Ordnung im Königreiche herstellte, genötigt, seine Beute wieder herzugeben. – Immer schon hatten die Vertot behauptet ein Recht dazu zu haben, ihrem Namen das Prädikat »von Vouzins« beizusetzen, doch sie taten, als würde ihnen nichts daran liegen, als hätte ihr altehrwürdiger Name Vertot es nicht nötig, durch ein Prädikat geschmückt zu werden und eine geringschätzige Geste begleitete jedesmal die Erwähnung der Grafen Vouzins-Baufflers, dieser im Vergleich zu ihnen doch so lächerlich jungen Generation, die ihr Vermögen schließlich bloß Hofintriguen verdankte. Man vermag sich die Genugtuung auszumalen, die ihnen die Entdeckung jenes Kaufvertrages aus dem Jahre 1584 bereitete! Doch wie groß auch ihre Freude war, sie verbargen sie sorgfältigst, um nur ja nicht durchblicken zu lassen, daß sie jemals an ihrem guten Rechte hätten zweifeln können. Herrn Allemand aber pflegten sie seit seinem Fund, wenn sie ihm in der Kirche oder auf dem Marktplatz begegneten, zuerst und ein wenig tiefer, als es sonst ihre Gewohnheit war, zu grüßen.
Eine andere Entdeckung des Herrn Allemand betraf die Familie Griolle. Von diesem Geschlecht gab es nur noch eine Überlebende, eine alte Dame, die mit Herrn Franz Maigret, dem Vater von Julius Maigret und von Frau Bourrat aus Prévoux verheiratet gewesen war. Auch die Griolle zählten zu den Familien von Ansehen und Rang. Der Akt, den Herr Allemand, diese Familie betreffend, fand, stammte aus dem Jahre 1498 und übertraf um fünfzig Jahre den ältesten Akt, in dem der Name Duret Erwähnung fand, obwohl sich die Durets bisher immer als die älteste Familie der Stadt betrachtet hatten. Die Maigret fanden sich nicht vor 1602, die Bourrat erst 1615 in den Akten. Allerdings tat Herr Allemand dessen keine Erwähnung, daß er gleichzeitig auch Dokumente gefunden hatte, die sogar aus dem vierzehnten Jahrhundert stammten und die Namen Frappart und Langlois enthielten; denn die Nachkommen dieser Familien gab es nur noch in den niedersten Schichten der städtischen Bevölkerung, und Herr Allemand sah keine Veranlassung, sie darüber aufzuklären, daß in Wahrheit ihnen der ruhmreiche Titel gebührte, den wirklich ältesten Familien der Stadt zu entstammen. Nur das Dokument, das die hochangesehene Familie Griolle betraf, behielt er nicht für sich. So kam es, daß Herr Nikolaus Allemand durch den Pfarrer der Witwe des Familienoberhauptes Maigret vorgestellt wurde, die ihn einlud, acht Tage später den Abend bei ihr zu verbringen. Damit war der findige Herr Allemand in die Gesellschaft von Valleyres aufgenommen und es war ein einzig dastehender Fall, daß ein Fremder nach nur vierjährigem Aufenthalte in der Stadt in den Kreis der Honoratioren Eingang gefunden hatte.
Herr Nikolaus Allemand fuhr in seinen nützlichen, leidenschaftlichen Forschungen geduldig fort und man gewährte ihm, als einem Mann von verläßlichem Charakter, Zutritt in die Familien von Valleyres, bei denen er wohl nicht Anspruch darauf erheben konnte, als gleichberechtigtes Mitglied behandelt zu werden, die ihm aber immerhin aus Rücksicht für seine verdienstliche Arbeit und die Achtung, die er der Vergangenheit zollte, mit geziemendem Wohlwollen gegenüberstanden. Frau Julius Maigret, die in allen gesellschaftlichen Fragen tonangebend war, weil sie, sorgfältig auf alle Umstände Bedacht nehmend, auch in den heikelsten Fällen den richtigen Ausweg zu finden wußte, lud ihn für einen Abend zu einer Whistpartie ein, ohne ihn indes auch zum Abendessen zu bitten, das vielmehr schon vor der Stunde, die für sein Erscheinen festgesetzt wurde, beendet war.
Und bald ward ihm auch ein anderer Lohn für seine Mühe. Herr Mailleser, der Bibliothekar, verschied unerwartet und die Nachkommen der Stifter, auf die diesmal die Neuwahl fiel, beriefen einstimmig Herrn Nikolaus Allemand zu seinem Nachfolger. Auf diese Weise sah Herr Allemand sein Einkommen, das bisher aus fünfzehnhundert und etlichen Francs bescheidener Renten bestanden hatte, durch die Bezüge, die die Stelle des Bibliothekars abwarf, mehr als verdoppelt; doch auch jetzt pflegte man ihn noch nicht anders, als zum schwarzen Kaffee einzuladen.
So traf ihn die Karte der Frau Bourrat, die ihn zum Souper bat, recht überraschend. Wuchs doch das kleinste Ereignis im seichten Provinzleben von Valleyres zu ungeahnter Bedeutung – wie erst diese Einladung, die gewiß nicht zu den kleinen Ereignissen gezählt werden konnte!
Herr Allemand hatte vier Jahre im Orte verbracht, nicht ohne zu bemerken, daß die alteingesessenen Familien, mit deren Stammbaum er sich befaßte, Töchter besaßen, Töchter, die im Städtchen blieben, während Söhne und Neffen in die Fremde zogen, um nicht mehr in die enge Heimat zurückzukehren. Nikolaus Allemand fühlte wohl seine eigene Unwürdigkeit. Was vermochte er den zwei oder drei Jahrhunderten hochangesehenen Bürgertums, das die Vertot, die Bourrat, die Maigret in den Archiven der Stadt nachzuweisen vermochten, gegenüberzustellen? – Nichts leider als seine eigene Person! Denn dieser Mann, wie geschickt er auch sein mochte, um für andere Vorfahren aufzustöbern, vermochte für sich selbst nicht einmal den eigenen Vater ausfindig zu machen. Er war von Mönchen in Lyon bescheiden erzogen worden, hatte Schreibarbeiten und Rechenarbeiten für sie besorgt, bis eines Tages, als er zweiunddreißig Jahre alt war, der Prior ihm eine kleine Summe Geldes mit dem Rat einhändigte, deren Zinsengenuß in einem wohlfeilen Provinzstädtchen in beschaulicher Ruhe zu verzehren. Er hatte ihn an seinen Freund, den Pfarrer von Valleyres, gewiesen und diesem seinen Schützling in einem vertraulichen Schreiben besonders ans Herz gelegt.
Doch andererseits wieder war es Herrn Allemand auch nicht entgangen, wie die Blicke der Mädchen in den Häusern, in denen er verkehrte, an ihm haften blieben. So hatte sich Fräulein Lucie Maigret, die gute fünf- oder sechsundzwanzig Lenze zählte, von ihm die Genealogie ihrer Familie eingehend erklären lassen und Fräulein Helene Vertot, eine pikante Brünette von achtundzwanzig Jahren, mit einem leichten Schnurrbartanflug allerdings, hatte ihn gebeten, sie in der Heraldik zu unterweisen. Die Eltern, beruhigt durch das Äußere Herrn Allemands, das alles eher als einnehmend genannt werden konnte, hatten in all dem nichts Unschickliches gesehen.
Denn Herr Allemand war ungemein häßlich. Er war dick und unbeholfen in jeder seiner Bewegungen: seine allzu kurzen Arme endeten in übergroßen Händen, sein Gesicht war bleich und glänzte fettig, seine gelblichen Haare sträubten sich erfolgreich gegen jeden Versuch, sie in eine Scheitelfrisur zu zwingen und seine Kleider verrieten jedem oberflächlichen Betrachter, daß sie nicht nach Maß gemacht worden seien. – Und doch mußte irgendetwas anziehend an ihm wirken. Waren es seine Augen, die wohl klein waren, aber lebhaft funkelten? War es ein gewisser Eindruck von Kraft, der von diesem schweren Körper ausstrahlte? – Es ist schwer zu entscheiden, doch irgendwo mußte wohl der Grund liegen: denn sonst wäre die Aufmerksamkeit unverständlich gewesen, mit der alle die Mädchen ihm zuhörten. Er sprach übrigens mit achtungsvoller Bescheidenheit zu ihnen. Und seine vorsichtigen Blicke verrieten, wo man ihn erzogen hatte.
Ein wenig vor sieben Uhr erschien er an jenem Abend in Prévoux. Frau Bourrat empfing ihn liebenswürdig, stellte ihn ihrer Tochter vor und ließ dann beide einige Augenblicke allein, um noch die letzten Anordnungen in der Küche zu treffen.
Es war das erste Mal seit ihrer langen Einsamkeit, daß Fräulein Bourrat allein einem Manne gegenüberstand. Das arme Mädchen wußte vor Verlegenheit nicht, wie sie sich benehmen solle. Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich durch ihr Erlebnis etwas an ihr verändert und als müßte dies jeder Mann augenblicklich erkennen. Doch Herr Nikolaus Allemand war vollendet in seiner bescheidenen Zurückhaltung. Seine halblaute Stimme verstand es so geschickt sich in farblosen Gemeinplätzen zu ergehen, daß Fräulein Bourrat ihre zitternde Scheu bald überwand. Sie wagte sogar, einen flüchtigen Blick auf ihn zu werfen und bemerkte erleichtert, daß seine Augen gesenkt blieben. Dafür war sie ihm so dankbar, daß sie sich einbildete, einen gütigen Ausdruck an ihm zu entdecken.
Die anderen Gäste stellten sich ein. Alle, mit Ausnahme Herrn Allemands, waren junge Leute unter zwanzig Jahren, doch trotzdem fand dieser seinen Platz am untersten Ende der Tafel, allerdings neben der Tochter des Hauses. Er sprach zu ihr, ohne den Blick vom Rande seines Tellers zu erheben, mit gleichmäßig milder Stimme von den Reizen, die er der würdigen und befriedigenden Tätigkeit in der Bibliothek abgewann. Es war dies ein Thema, das er, seitdem er beobachtet hatte, wie es älteren Leuten gegenüber verfing, mit Vorliebe ausschmückte. Man konnte, wenn man ihm zuhörte, wahrlich glauben, daß er aus vollem Herzen dafür dankbar sei, daß man ihm gestatte, in dieser gesegneten Provinzstadt sein Leben zu verbringen. Fräulein Bourrat gewann von ihm den Eindruck eines zarten und wohlerzogenen Menschen.
Nach Tisch plauderte er – noch um ein weniges bescheidener – mit Herrn Bourrat und bezeichnete es als seinen langgehegten, sehnlichsten Wunsch, den Stammbaum der Bourrat auszuarbeiten, so wie er jenen der Vertot bereits beendet hatte. Herr Bourrat hörte ihn wohlwollend an. Es traf sich gut, daß er eine ganze Anzahl Familienpapiere in Prévoux verwahrte, sie ständen Herrn Allemand zur Verfügung, wenn er sich wirklich dieser Arbeit unterziehen wolle. Als man in den großen Salon zu den Damen zurückkehrte, wurden von den Mädchen harmlose Gesellschaftsspiele arrangiert. Man unterhielt sich mit Pfänderspielen, mit »Alle Vöglein fliegen« und, unter den wachsamen Augen Frau Bourrats, mit einem dezenten Blinde-Kuh-Spiel. Nur an der Hand durfte man einander erkennen. Fröhliches Lachen begleitete die köstlichen Irrtümer, die sich ergaben. Moritz Lanterle – sollte man es für möglich halten? – hielt die Hand Marie Vertots für jene des jungen Paul Bourrat. Auch Herr Allemand mußte sich die Augen verbinden lassen. Nach einigem Herumtappen griff er nach Fräulein Bourrat und befühlte voll zarter Sorgfalt ihre Hand. Das junge Mädchen vermochte eine gewisse Erregung, die sie bei dieser Berührung empfand, nicht zu leugnen. Endlich gab Herr Allemand seine Meinung ab. Er hatte richtig geraten.
Später, als man vor dem Aufbrechen noch Erfrischungen nahm, faßte Fräulein Bourrat Mut und sie frug Herrn Allemand, wieso er ihre Hand erkannt habe. Herr Allemand senkte den Blick und gestand, daß er sie bei Tisch betrachtet hatte.
Fräulein Bourrat errötete und zog sich zurück.
Der Stammbaum der Bourrats wuchs indes langsam und begann einen Zweig nach dem anderen auszustrecken. Herr Nikolaus Allemand war zu häufigen Besuchen in Prévoux genötigt, manchmal wurde er auch zum Essen dabehalten und eines Sonntags spielte er sogar eine Partie Croquet mit Fräulein Bourrat. Seine Ungeschicklichkeit war wohl groß, doch mangelte es ihm nicht an Kraft und wenn es ihm hie und da gelang eine Kugel wirklich zu treffen, dann verlor sie sich weitab vom Spielfeld in den Büschen.
Als mit dem Monat Mai die warme Jahreszeit begann, wurde die Gesundheit Fräulein Bourrats wieder schwankend. Frühmorgens zeigte sie dieselbe abgespannte Miene wie ein Jahr zuvor, ihr Appetit ließ nach, ihr verlorenes Vorsichhinstarren nahm zu. Frau Bourrat aber war auf ihrer Hut. Ihr Plan stand schon lange fest.
Ende Mai – Herr Allemand arbeitete jetzt jeden zweiten Tag in Prévoux und jedesmal hatte er Gelegenheit, mit Fräulein Bourrat zu sprechen – zog sie aus, um dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.
Enttäuscht verließ sie den Pfarrhof. Ihr schöner Plan war zerronnen . . .
In der Woche, die nun folgte, wußte sie es so einzurichten, daß Herr Allemand bei seinen Besuchen ihre Tochter nicht mehr zu Gesicht bekam. – Doch das Befinden Fräulein Bourrats verschlechterte sich zusehends. Sie schlief wenig und unruhig und erwachte müder noch als vor dem Einschlafen. Frau Bourrat begann emsig Briefe zu schreiben. Stunden verbrachte sie, in denen sie immer wieder das gleiche, unlösbare Problem in ihrem Kopfe wälzte. Ihre Tochter mußte verheiratet werden! Sie gehörte nicht zu jenen, die ruhig zu warten vermögen, bis sie, wie Lucie Maigret, siebenundzwanzig Jahre – also schon siebenundzwanzig! – oder wie Helene Vertot achtundzwanzig Jahre alt würde. – Doch in Valleyres gab es keine Partie. Und alle Antworten, die sie auf die vielen Briefe bekam, waren entmutigend. Niemand fand sich, niemand – außer Herrn Nikolaus Allemand. Herr Allemand allerdings hatte keine Familie. Doch dies hätte ihr wenig gemacht. Die Bourrat würden es schon zuwege bringen, ihm eine Stellung in der Gesellschaft durchzusetzen. So hatte sie seit dem Frühling ihren Plan verfolgt. Doch was sie dann beim Pfarrer erfahren mußte, das war allzu niederschmetternd!
Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, wenn sie sich ausmalte, wie die Heiratsankündigung auf dem Brett der Kirche aussehen würde! »Herr Nikolaus Allemand, Sohn der verschiedenen Marie Allemand und des . . .«! –
Dieser leere Fleck, der nicht zu umgehen war, bildete eine Unmöglichkeit. Ein uneheliches Kind, Vater unbekannt . . . ganz Valleyres würde mit den Fingern auf sie zeigen! – Ohne das öffentlich angeschlagene Aufgebot wäre die Sache wohl noch durchführbar gewesen, aber jetzt, seit den lächerlichen Forderungen einer Gesellschaft, deren sich die Freimaurer bemächtigt hatten, war das Aufgebot nicht zu umgehen. Von der Kanzel herab hätte der Pfarrer es wohl mit dem Takt eines Weltmannes verstanden, über diesen heiklen Punkt hinwegzugleiten . . . Ach, es war nicht daran zu denken.
Indessen war man schon mitten im Juni und seit vierzehn Tagen war Herr Nikolaus Allemand nicht mehr nach Prévoux gerufen worden. Fräulein Bourrat hatte die gleichen nervösen Zustände wie im vergangenen Frühjahr und während der Messe schweiften ihre Blicke immer wieder nach jener Ecke des Seitenschiffes, in der sie die gelben Haare Herrn Allemands zu sehen vermochte.
Gegen Ende des Monats bemerkte Herr Allemand eines Tages, durch das Fenster der Bibliothek blickend, Frau Bourrat, die allein im Wagen vorbeifuhr. Er folgte ihr, durch die halbgeschlossenen Laden spähend, mit den Augen. Zweifellos fuhr der Wagen nach Vermand. Ohne Zögern steckte er rasch einige Papiere zu sich und schlug den Weg nach Prévoux ein. Kurz vor vier Uhr langte er dort an. Herr Bourrat war nicht zu Hause, doch Herr Allemand drang unbekümmert in dessen Arbeitszimmer ein, wo er, wie er sagte, die Rückkehr Herrn Bourrats erwarten wollte. Das Mädchen, das ihn hier ja oft schon hatte schreiben sehen, gab sich damit zufrieden und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Kaum war Herr Allemand allein geblieben, schlug er mit heftigem Lärm die geschlossenen Läden des Fensters auf, das in den Garten ging und bemerkte, wie er erwartet hatte, auch bald Fräulein Bourrat, die unweit des Hauses auf einer Bank saß, gab sich jedoch den Anschein, als hätte er sie nicht gesehen. Er setzte sich zum Tisch.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür. Fräulein Bourrat trat ein und versuchte, allerdings wenig geschickt, Überraschung bei seinem Anblicke zu zeigen.
Herr Allemand erhob sich und trat zu ihr. Er nahm ihre Hand, sie errötete. Sie blickte auf ihn, doch jetzt waren seine Augen nicht mehr gesenkt und sie errötete nur noch mehr. Er richtete eine Frage an sie, in maßloser Verwirrung wollte sie entfliehen. Er hielt sie zurück, sie antwortete endlich und lief aus dem Zimmer. – Kurz danach verließ Herr Allemand, ohne weiter auf Herrn Bourrat zu warten, das Haus und ging, die Fahrstraße vermeidend, der Stadt zu.
Am Tage darauf sah man den Herrn Pfarrer, trotz Staub und Sonnenglut, den Weg nach Prévoux hinansteigen. Frau Bourrat führte hinter geschlossenen Türen ein Gespräch mit ihm, das länger als eine Stunde dauerte. Als er fortgegangen war, suchte sie ihren Mann auf, mit dem sie in wesentlich kürzerer Zeit fertig wurde. Dann endlich sprach sie noch eine halbe Stunde mit ihrer Tochter, die, als die Mutter sie verlassen hatte, schluchzend in ihrem Zimmer blieb. Den ganzen Nachmittag ging Fräulein Bourrat mit rotgeweinten Augen im Hause herum und erst abends, in ihrer Einsamkeit, begann die Freude in ihr aufzudämmern, daß sie das Elternhaus nun endlich verlassen werde.
Am zweitnächsten Tage wurde Herr Nikolaus Allemand zum Abendessen gebeten. Wie stets, verließ ihn auch diesmal seine bescheidene Zurückhaltung nicht und mit Demut nahm er das Glück entgegen, das man ihm bestimmt hatte.
Wie ein Blitz fuhr die Neuigkeit von der Verlobung Fräulein Bourrats mit Herrn Allemand auf alle Familien von Valleyres nieder – und es waren nicht wenige –, in denen sich heiratsfähige Töchter befanden. Daß man auch nicht früher an Herrn Nikolaus Allemand gedacht hatte! Jetzt hatte Fräulein Bourrat sich ihn geangelt, die kaum zwanzig Jahre zählte, während so viele Mädchen mit fünfundzwanzig Jahren und darüber in vergeblichem Hoffen zu alten Jungfern wurden! Lucie Maigret erkrankte auf die Nachricht hin.
Frau Bourrat wartete das Aufgebot nicht ab, um die Frage der Herkunft ihres künftigen Schwiegersohnes ein für allemal zu ordnen. Der Herr Pfarrer lieh ihr dazu seinen ganzen, bedeutenden Einfluß. Er flüsterte einigen seiner weiblichen Beichtkinder, die sich in Valleyres besonderen Ansehens erfreuten, selbstverständlich als strengstes Geheimnis, mancherlei vertrauliche Andeutungen zu. Doch das Geheimnis war zu aufregend, um bewahrt zu werden. Es dauerte nicht lange und die Einwohner von Valleyres raunten einander ins Ohr: »Sie wissen schon . . .? Herr Allemand . . .? Ja und finden Sie nicht auch, daß er ihm ähnlich sieht? – Sicher, es läßt sich nicht leugnen. Schon die Haltung, nicht? – Erinnern Sie sich noch, wie er damals vor dreißig Jahren hier in der Stadt war?« Man beneidete die Bourrat wegen der Verbindung mit einem berühmten Geschlechts, das in der Geschichte des Landes einen Ehrenplatz einnahm, wenn sie auch nur durch einen illegitimen Sprößling zustande kam.
In Wahrheit allerdings war Herr Nikolaus Allemand bloß das uneheliche Kind eines Dienstmädchens und einer stets im tiefsten Dunkel gebliebenen Persönlichkeit, deren Stellung es unmöglich machte Kinder zu haben, geschweige denn sie anzuerkennen. Doch dank der Bemühungen des Herrn Pfarrers, der das Versprechen, das er Frau Bourrat gegeben hatte, getreulich einhielt, verlor sich ganz Valleyres auf einer Spur, die bei weitem romantischer war.
Während der Verlobungszeit erhielt Frau Bourrat einmal den Besuch der alten Victoria. Sie brachte die Nachricht vom Tode eines sechs Monate alten Kindes in einem entfernt liegenden Dorfe . . .
Ende August fand die Hochzeit statt. Die ganze Familie Bourrat vergoß dabei heiße Tränen.
Das junge Paar bezog eine freundliche Wohnung und der Pächter von Prévoux fand sich gemäß den Bestimmungen seines Vertrages wöchentlich mit Obst, Gemüse, Eiern, Butter und Milch bei ihnen ein, wozu noch das regelmäßige Sonntagshuhn, vier Schinken im Jahr und zu Weihnachten und Pfingsten ein Fäßchen Wein kam.
Nach angemessener Zeit gebar Frau Nikolaus Allemand ihrem Manne ein Kind und von da ab vermehrte sich die Familie regelmäßig alle zwei Jahre – Herr Nikolaus Allemand hielt in jeder Beziehung auf pünktliche Gewohnheiten – um ein neues Mitglied. Nach dem fünften Kind erkrankte Frau Allemand ernstlich und mußte von da ab auf Mutterfreuden verzichten. Sie war indes dreißig Jahre alt geworden, war stark und schwerfällig wie alle Bourrats, vergötterte ihren Mann und ihre Kinder, die sie übrigens mehr verwöhnte, als für ihre Erziehung gut gewesen wäre. Einer ihrer Brüder war gestorben und auch ihren Vater verlor sie kurz darauf. So sah die Familie Allemand ihren Wohlstand wachsen und Herr Nikolaus Allemand gehört zu den geachtetsten Mitgliedern der Gesellschaft von Valleyres – zweifellos, weil die hervorragendsten Eigenschaften seines illustren Vaters auf ihn vererbt worden waren.
Fräulein Lucie Maigret und Fräulein Helene Vertot sind alte Jungfern geblieben.